Das schlechte Gewissen des Fürsten
Constantin
Herrscher eines Hauses zu sein, bedeutet einsam zu sein. Nie wurde mir dies so deutlich, wie in den Tagen nach Vladimir Breskoffs Tod. Ich hatte immer gedacht, nein gehofft, ich könnte dieser Einsamkeit entgehen, indem ich versuchte, eben nicht der typische Herrscher, einer, der sein Haus autoritär und autokratisch führt, zu sein. Jedem Mitglied meines Hauses, egal ob Vampir oder Mensch, stand meine Tür offen. Zu jeder Zeit und egal, ob es sich um etwas belangloses, hochdramatisches, witziges, bedrohliches oder staatstragendes handelte. Egal ob Gorden, unser Day-Trader und Finanzgenie einen besonders erfolgreichen Deal abgewickelt hatte und seine Freude darüber mit jemandem teilen wollte, oder eine Hausmeisterin, die mit einer zickigen Zentralheizung kämpfte, ich hatte für jeden ein offenes Ohr. Doch bei aller Nähe und Lockerheit, die ich meiner Familie, denn so betrachtete ich jeden und jede in meinem Haus, entgegenbrachte, es blieb immer eine letzte Hürde, eine unsichtbare Mauer übrig, die mich von ihnen trennte und wirkliche Nähe verhinderte.
Es gab Ausnahmen. Laurentius, Christiano und, sehr erfrischend, Jungwächter Simon behandelten mich wie einen normalen Menschen respektive Vampir. Laurentius. Wer ihn nur oberflächlich kannte und ihn nach seiner Erscheinung und seinem Auftreten beurteilte, hätte niemals vermutet, dass mir dieser glatzköpfige Eisblock näher stand als mein eigenes selbst. Laurentius wirkte distanziert, nur sollte man sich davor hüten, anzunehmen, dass er es wirklich war. Es war eine Rolle, die er spielte – Marshall des Hauses Varadin. Kühl, schweigsam und latent bedrohlich, so wollte er wirken und tat es auch. In all den Jahrhunderten, die er meinem Haus diente, hatte er es zur absoluten Meisterschaft gebracht. Sein Ruf war ebenso legendär wie gefürchtet. Und ausgerechnet dieser Mann, dessen zweiter Name »Unnahbarkeit« lauten könnte, stand mir nahe, wie es sonst nur Christiano tat. Zwischen Laurentius und mir gab es keine Tabus, nichts was nicht ausgesprochen werden konnte. Vielleicht war es gerade dieses absolute Vertrauen, das ich zu meinem Marshall besaß, dass sein vermeintlicher Verrat so sehr schmerzte.
Christiano mit Laurentius zu vergleichen, erinnert stark an das klassische Unterfangen, gleiches mit Äpfeln und Birnen zu tun, dabei waren sie sich in gewisser Weise weitaus ähnlicher als das besagte Fallobst. Ihre Unterschiede ergänzten sich. Christiano war all das, was Laurentius nicht war. Während Laurentius Introvertiertheit, sein unnahbares, verschlossenes Auftreten seine Maske war, war es bei Christiano gerade seine Extrovertiertheit, hinter der er sein wirkliches Selbst versteckte. Mensch und Vampir fühlten sich von Laurentius einschüchterndem Auftreten verunsichert und fragten sich, was diesem zombieähnlichen Kerl wohl gerade durch den Kopf ging, ob er einen bereits durchschaut hatte oder wie viel er wohl von dem wusste, von dem er lieber nicht wissen sollte. Vermutlich wusste er bereits alles, anderenfalls hätte er kaum so cool auftreten können. Im Gegensatz dazu meinte jeder, von Christiano sofort alles zu wissen. Er war laut, schrill, trat extravagant auf, kokettierte mit dem Image des Partyvampirs und war wohl alles in allem ein total oberflächlicher Typ. Dabei hatten sie keine Ahnung. Sie kannten ihn nicht, nicht so gut wie ich. Christiano besaß Tiefgang, hinter der Kasperrolle verbarg sich ein messerscharfer Verstand und für mich am allerwichtigsten, ein wirklich guter Freund.
Christiano – er fehlt mir. So wichtig seine Aufgabe auch war, er fehlte mir, gerade jetzt, wo einschneidende Veränderungen anstanden.
Vladimir hatte mir sein Haus vermacht. Mit seinem Tod war ich nun Oberhaupt zweier Häuser. Natürlich sah ich mich geehrt und auch verpflichtet, dem besten Freund meines Vaters seinen letzten Wunsch zu erfüllen. Unsere Häuser waren seit alters her eng miteinander verbandelt. Trotzdem fühlte mich überfordert. Es war ja nicht so, dass ich mit der Führung meines eigenen Hauses nicht schon genug zu tun gehabt hätte. Blieb mir eine Wahl? Natürlich nicht. Ich musste beide Häuser vereinen, und das so schnell wie möglich.
Fragen mit ungewissen Antworten und unerfreulichen Konsequenzen quälten mich. Wie würden die Angehörigen des Hauses Breskoff wohl auf mich als ihr neues Oberhaupt reagieren? Schließlich starb Vladimir durch meine Hand. Ich nahm nicht an, dass man mich sonderlich willkommen hieß. Es galt also, das Terrain vorsichtig abzutasten und auszuloten, wie eine Verbindung eingegangen werden konnte, ohne dabei die Gefühle der Beteiligten zu verletzen. Dies war ein heikles Unterfangen. Auf der einen Seite durfte bei Breskoffs Leuten nicht der Eindruck entstehen, sie wären von nun nur ein Anhängsel des Hauses Varadin und würden zukünftig nur die zweite Geige spielen. Umgekehrt durfte ich bei meinen Leuten auch nicht den Eindruck erwecken, dass sie mir nicht mehr so viel bedeuteten, wie bisher.
Wie führt man zwei Häuser zusammen? Stundenlang brütete ich über dem Problem, bis mir eine Idee kam. Als erstes entsandte ich Laurentius, um die Stimmung und Lage im Hause Breskoff auszuloten und meinen Besuch vorzubereiten. Wie gesagt, die neuen Angehörigen meines Hauses sollten gar nicht erst den Eindruck gewinnen, sie wären mir gleichgültig. Eigentlich gab es nur einen Ausweg, beiden Häusern gerecht zu werden. Ich musste einen Neuanfang wagen, bei dem es weder Varadins noch Breskoffs gab. Meine Untertanen brauchten etwas Neues, mit dem sich beide Häuser identifizieren konnten.
Wobei mit das Wort Untertanen überhaupt nicht gefiel. Die Gesellschaft der Vampire mochte von aristokratischen Strukturen geprägt sein. Es gab die Königswürde, es gab Fürsten, es gab sogar bürgerliche Vampire und natürlich unsere religiöse Kaste der spirituellen Nosferatu. Ich war Constantin, Fürst des Hauses Varadin, seit dem Tode Vladimirs auch Baron des Hauses Breskoff und voraussichtlich in ein paar Tagen der König aller Vampire. Doch war ich der Letzte, der diesen Adelszirkus wollte oder akzeptierte.
Nichts von alledem entsprach meinen Wünschen. So sehr die anderen Häuser nach der Königswürde gierten, so sehr empfand ich sie als Last. Ich wusste, was es bedeutete. Verantwortung, Gefahr und noch mehr Einsamkeit. Mit der Gefahr konnte ich leben, mich mit der Verantwortung arrangieren, doch die Einsamkeit konnte und wollte ich nicht akzeptieren.
Doch genau sie quälte mich am meisten. Ich saß in meinem Büro und studierte den täglichen Stapel Akten, den man mir auf meinem Schreibtisch deponiert hatte, und fühlte mich einsam und verlassen. Laurentius war seit zwei Tagen im Haus Breskoff zugange, die Hauszusammenführung auszuloten, Christiano undercover damit beschäftigt, meinen blonden Engel Florian zu beschützen und gleichzeitig unserer Welt näher zu bringen. Einzig Simon, mein fröhlicher und erfrischend unschuldiger Jungwächter heiterte gelegentlich meine Stimmung auf.
Simon – entwickelte sich da gerade ein Problem? Ich mochte den quirligen Jungen. Wobei Simon als Jungen zu bezeichnen bei einem Alter von mehr als achtzig Jahren die Sachlage nicht wirklich traf. Simon, der als Hans Teske in Pommern zur Welt kam, wurde von Christiano im Alter von achtzehn Jahren verwandelt. Und wie achtzehn sah er immer noch aus, obwohl inzwischen mehr als sechzig Jahre vergangen waren und wir inzwischen das 21. Jahrhundert schrieben. Simon hatte sich seine jugendliche Natur bewahrt. Oft benannte er Dinge mit erschreckender Deutlichkeit, wo wir alten Vampire mit unseren Jahrhunderten an Lebenserfahrung, verdorben von Konventionen und schemenhaftem Denken den Wald vor lauter Bäumen nicht sahen. Simons Nähe war erfrischend und eben auch ein Problem.
Ich hatte mit ihm geschlafen. Nicht einmal, sondern mehrfach. Ich habe ihn sogar von mir trinken lassen. Ich mochte ihn. Ich liebte ihn sogar, nur… Mein Herz gehörte jemand anderem – Florian. Die Frage nach einer Entscheidung zwischen Simon und Florian stellte sich erst gar nicht. Florian war… Meinem Wortschatz fehlten die passenden Begriffe, um zu beschreiben, was ich für Florian empfand und was er mir bedeutete und, überraschend genug, was ich ihm bedeutete.
Wie lange kannte er mich? Wenige Tage. Er lernte mich als einen Auftraggeber kennen, für den es in dessen Häusern Tischlerei- und Schreinerarbeiten ausführen galt. Schüchtern und scheu, immer den Kopf gesenkt, um ja keinen Blickkontakt aufkommen zu lassen, war er mir begegnet. In Sekunden war es um mich geschehen. Ich wusste, dass ich diesen Mann liebte, dass es niemals jemand anderen geben würde, den ich in dieser Form lieben konnte. Ich musste in Erfahrung bringen, wer er war und so folgte ich ihm, heimlich, die Schatten ausfüllend, wachend und beobachtend.
Florians Leben war eine einzige Hölle. Seine Kollegen mobbten ihn und wurden sogar handgreiflich. Sein Vater war nicht besser. Er gab ihm die Schuld am Tod seiner Mutter und ließ seine Wut an ihm aus. Es passierte, was passieren musste. Die Situation eskalierte. Angestachelt vom Hass eines unfähigen und Neid zerfressenen Vorgesetzten fielen seine Kollegen über Florian her, quälten, demütigten und vergewaltigten ihn. Es war unerträglich, seine Pein mit ansehen zu müssen. Florian zerbrach, sein Lebenswille zerbrach. Ich wusste, was kam. Ich kannte den Blick, die ausdruckslose, emotionslose Miene, die Menschen zu eigen ist, die mit ihrem Leben abgeschlossen haben.
Als wenn nichts passiert wäre, folgte Florian seinem täglichen Feierabendritual. Er duschte, zog sich an, stieg auf seinen Roller und fuhr los. Doch statt nach Hause zu fahren, schlug er einen anderen Weg ein. Einen Weg, der sein Leben beenden sollte. Die Brücke überspannte ein weites Tal in einer Höhe von zweihundertfünfzig Metern, hoch genug, um seinem Leben ein wirklich sicheres Ende zu bereiten. Doch dieses Ende kam nicht. Ich fing ihn auf, hielt ihn und bot ihm ein neues Leben, ein anderes Leben an ohne Furcht und Demütigungen. Florian sagte Ja.
Reicht es, jemandem das Leben zu retten, damit sich dieser in einen verliebt? Wohl kaum.
Wir pflegten Florian. Heilten seine Verletzungen, zumindest die körperlichen. Was die Wunden auf seiner Seele betraf… Das stand auf einem anderen Blatt.
Christiano enthüllte ihm, wer und was wir sind. Natürlich wollte mein Engel nicht glauben, dass wir wirklich Vampire sind. Wer glaubt schon an Vampire? Meine Beißzähne überzeugten dann aber doch.
Florian – wie konnte ich erwarten, dass er meine Liebe erwiderte? Aber er tat es. Ich drängte ihn nicht, ließ ihm alle Freiheit zu entscheiden, was und wen er wollte. Ich überließ es Christiano, unserem neuen Familienmitglied unsere Welt zu zeigen, wohl wissend, dass es ein Leichtes war, diesem wilden Portugiesen hoffnungslos zu verfallen. Ich gebe es offen zu, ich hatte Angst, Florian an Christiano zu verlieren. Dieser wilde, schwarzhaarige Teufel war ein Herzensbrecher vor dem Herrn. War es ein Test? Wenn ja, dann nicht für Florian, sondern für Christiano und mich. Florian widerstand nicht nur Christianos Charme, er knackte sogar dessen Panzer. Bei allen Bekanntschaften und lockeren Beziehungen, die mein Topagent, denn dies war Christianos primäre Funktion in meinem Haus, pflegte, seine wirklichen Freunde konnte man an einer Hand abzählen. Umso erstaunter war ich, als die beiden in meinem Büro aufkreuzten und mir ein Christiano gegenüberstand, der von einer inneren Freude erfüllt war, wie ich sie seit Jahrzehnten nicht mehr bei ihm erlebt hatte. Florian hatte innerhalb weniger Stunden Freundschaft mit ihm geschlossen.
Florian – ich halte mich für ausgesprochen bodenständig. Professionelle Spiritualität überlasse ich den Nosferatu. Doch was dann in meinem Büro geschah, konnte ich nur als magischen Moment bezeichnen. Ich konnte fühlen und sehen, wie es plötzlich zwischen uns funkte. Die Art, wie mich Florian ansah, mich musterte, die Art, wie ich errötete und mir das Blut in den Kopf schoss. Plötzlich wusste ich, wofür sich mein blonder Engel entschieden hatte. Und trotzdem, als er es aussprach, mir vor Laurentius und Christiano seine Liebe erklärte, wäre ich fast in Tränen ausgebrochen.
Doch dann änderte sich alles. Gegner meines Hauses verübten ein Bombenattentat auf mich, während Laurentius und ich uns auf dem Weg zu Vladimir befanden. Tödlich verwundet brachte mich Laurentius in unser Haus. Ich lag im Sterben. Die Autobombe hatte einen Großteil meiner inneren Organe zerfetzt. Ich verblutete. Die Aussicht auf Rettung war gleich null. Ich wusste, dass mich nur frisches, junges Blut retten konnte. Blut, das es in unserem Haus nicht gab. Ich war bereit. Ich hatte die Liebe erlebt. Was gab es mehr?
Florian – hatte ich wirklich gelaubt, ich hätte die Liebe erlebt? Nein! Was wirkliche Liebe war, musste mir dieser unschuldige und allerliebste Engel erst noch zeigen. Ohne zu zögern, die Bedenken Laurentius und Christianos in den Wind schlagend, drückte er sein Handgelenk direkt auf meine Saugzähne. Der mit dem Tod ringende Jäger in mir übernahm die Kontrolle. Mit aller Gewalt bohrten sich meine Zähne in seine Schlagader und entrissen ihm den Saft, der für mich Leben bedeutet.
So wie ich Florian das Leben schenkte, schenkte er mir meines. Wenn ich jemals zweifelte, dass wir füreinander bestimmt waren, bestand jetzt absolute Klarheit.
Florians selbstloser Akt mich zu retten verkomplizierte die eh schon kniffelige Situation. Um meine tödlichen Verletzungen zu heilen, entriss ich ihm sehr viel Blut. Mehr, als ein menschlicher Körper vertragen kann. Laurentius versorgte meinen Schatz zwar sofort mit Blutkonserven, doch änderte dies nichts daran, dass nun Florian in Lebensgefahr schwebte. Es gab nur eine Möglichkeit, ihn zu retten. Ich musste die Verwandlung zum Vampir einleiten, wenn auch nicht vollständig. Es reichte, wenn ich ihn so weit brachte, dass sein Körper genug vampirisches Wesen erlangte, um sich selbst zu heilen. Doch damit schuf ich etwas, das die anderen Häuser als einen abscheulichen Bastard bezeichnet hätten, einen Zwitter, nicht mehr Mensch, aber noch nicht Vampir. Es wäre ein mehr als willkommenes Argument, mir den Anspruch auf den Thron zu verweigern, wenn nicht sogar mein ganzes Haus zu entehren. Zum Glück war Florian in unseren Kreisen noch gänzlich unbekannt. Außer Laurentius und Christiano wusste niemand von seiner Verbindung zu mir und so sollte es auch bleiben, zu meiner, aber insbesondere zu Florians Sicherheit.
Wir, Laurentius, Christiano und ich, entwickelten einen Plan. Florian sollte für eine Weile in sein altes Leben zurückkehren. Während wir seine Erinnerungen an mich und unser Haus blockierten, sollte Christiano über ihn wachen. Zum einen, um zu verhindern, dass meinem Schatz etwas zustieß, zum anderen aber auch, damit niemand anderem etwas geschah. Florian mochte immer noch wie Florian aussehen, nur war er es nicht mehr. Er war jetzt zu einem winzig kleinen Teil ein Vampir, was aber völlig reichte, um aus ihm einen Hecht im Karpfenteich zu machen.
Florian – ich musste ihn schützen, was hieß, ihn für eine Weile von der Bildfläche verschwinden lassen. Er wäre ein zu leichtes Ziel gewesen, als Mensch, aber insbesondere als frisch erweckter und damit unerfahrener und sehr verletzlicher Vampir.
Und Simon? Ich konnte ihm die Wahrheit nicht sagen, weil dies bedeutet hätte, Florians Deckung zu gefährden. Doch durfte ich mit Simons Gefühlen spielen? Was sah er in mir? Liebte er mich und erhoffte sich, dass ich diese Liebe erwiderte?
»Schickt bitte Simon zu mir!«
Ich saß in meinem Büro, hätte eigentlich Akten wälzen müssen, konnte aber meine Gedanken nicht auf den Berg in meinem Eingangkorb fokussieren. Dafür quälte mich mein schlechtes Gewissen. Ich musste mit Simon sprechen.
»Chef?«
Simon steckte vorsichtig seinen Kopf durch den Spalt meiner halb geöffneten Bürotür.
»Komm rein. Ich möchte mit dir reden.«
Ich musste entweder die falschen Worte oder den falschen Tonfall gewählt haben, vielleicht auch beides. Auf jeden Fall runzelte Simon besorgt die Stirn und kam nur zögernd näher. Am liebsten hätte ich mich selbst geohrfeigt, beschränkte mich dann aber darauf, über mein Unvermögen nur die Augen zu verdrehen.
»Hab‘ ich irgendetwas falsch gemacht?«, fragte Simon mit zittriger Stimme.
Da war sie wieder, die unsichtbare Mauer zwischen mir und den Mitgliedern meines Hauses. Ich war der »Chef«. Zu mir zitiert zu werden, konnte einfach nichts gutes bedeuten.
»Nicht dass ich wüsste, hast du?«, versuchte ich es mit einer scherzhaften Antwort. Ich rang mir sogar ein Lächeln ab. Simon zögerte einen Moment, gab sich dann aber einen Ruck und ging auf mich zu.
»Und?«, fragte der jüngste Vampir meiner Wache, nachdem er meinen Schreibtisch erreicht und auf dem ihm angebotenen Stuhl Platz genommen hatte.
Ich schwieg. Was sollte ich ihm sagen? Innerlich begann ich mich zu verfluchen, nicht vorher überlegt zu haben, wie man ein solches Thema anzugehen hat. Verzweifelt rang ich nach Worten, nur fiel mir auf Teufel komm raus nichts ein. Dafür muss ich aber ein paar merkwürdige Grimassen gezogen haben, die meine Verzweiflung verrieten.
»Chef, Constantin, was willst du mir sagen?«, fragte mein Gegenüber, »Es ist etwas persönliches, oder?«
»Wie kommst du darauf?« War meine Köpersprache so einfach zu lesen?
»Wenn es um offizielle Angelegenheiten des Hauses ginge, würdest du niemals derart zaudern.«, meinte Simon, fixierte mich kurz scharf und meinte dann, »Es geht um das, was wir in deinem Sarg getan haben, oder?«
Was war ich nur für ein peinlicher Jammerlappen. Und so was wie ich schimpfte sich Stammvater und wollte sogar König werden. Ich brachte kein Wort über die Lippen sondern nickte nur matt. Ich wollte Simon nicht kränken, wusste aber nur zu gut, dass mein Verhalten derart schäbig war, dass ich froh sein konnte, wenn mir Simon keine knallte. Verdient hätte ich es.
Simon knallte mir keine. Stattdessen grinste der junge Kerl mich frech an.
»Constantin, du musst mir nichts erklären.«
»Doch muss ich. Das gebietet der Anstand.«, und mein Seelenheil.
»Constantin, ich weiß, was du mir sagen willst.«, der Kleine schaute mir direkt in die Augen.
»Du weißt es?«, fragte ich skeptisch.
»Oh, sicher.«, Simon lächelte lieb und erschreckend verständnisvoll, »Glaubst du wirklich, ich hätte nicht bemerkt, dass dein Herz für einen anderen schlägt?«
Mir verschlug es die Sprache, was Simon nutzte, um weiter zu reden.
»Du magst mich, sehr sogar. Du liebst mich – ein wenig – was mich stolz und glücklich macht. Oh, keine Angst. Ich bin keiner dieser Schleimer und Speichellecker, die sich nach der Zuneigung ihres Fürsten verzehren. Gott, wenn ich diese blasierten Günstlinge der anderen Häuser nur sehe, wird mir schlecht. Das mag jetzt ein wenig respektlos klingen, Constantin, trotzdem werde ich es sagen: Ich mag dich. Aber nicht, weil du mein Fürst bist, unser Stammvater, und ich dir indirekt meine Existenz verdanke. Ich mag dich, um deiner selbst willen. In deinen Armen zu liegen, mit dir zu schlafen, von dir gefickt zu werden oder dich zu ficken ist hammergeil – gleichzeitig sinnlich, wild, zärtlich und intensiv. Liebe ich dich? Absolut! Möchte ich dein Partner sein und mein Leben an deiner Seite mit dir teilen? Nein, ich glaube nicht, dass dies meine Bestimmung ist. Genauso wenig, wie die deine.«
»Ähm…«, meinte ich und schnalzte mit der Zunge. Waren plötzlich alle meine Leute zu Beziehungsphilosophen geworden? Ich meinte mich daran zu erinnern, vor wenigen Tagen eine ähnliche Diskussion mit Christiano geführt zu haben. Christiano… Natürlich! Simon war sein Geschöpf. Ich hätte ahnen sollen, dass seine Wahl auf keinen Dünnbrettbohrer fiel.
»Simon, bist du glücklich?«
»Oh ja, sehr, sehr glücklich.«, Simon strahlte, »Ich liebe mein Leben. Für Laurentius zu arbeiten ist anspruchsvoll, aber auch sehr interessant und befriedigend. Er verlangt nicht weniger als das Beste, was einem möglich ist. Erwartet aber nicht, dass man das Unmögliche möglich macht. Mit jedem Tag, den ich für ihn in der Wache arbeite, lerne ich etwas dazu. Ich bin jetzt seit vierundsechzig Jahren ein Vampir und lerne immer noch jeden Tag etwas Neues. Ich habe drei sehr, sehr gute Freunde – Laurentius, Christiano und dich! Ich besitze eine Familie, das Haus Varadin, das für mich sorgt und für das ich sorge. Wie geil ist das denn? Als Mensch hatte ich nichts dergleichen. Ja, Constantin, ich bin glücklich, wirklich glücklich.«
Man konnte es sehen. Er war glücklich und das steckte an. Für einen Moment schienen die Sorgen, mit denen ich mich als Stammvater eines Hauses herumzuschlagen musste, ein paar Nummern kleiner zu sein.
»Oh, du verrückter Kerl.«, lachte ich Simon an, »Komm her, lass dich ein wenig in den Arm nehmen. Natürlich nur, wenn du möchtest.«
Simon antwortete auf seine Weise. Er erhob sich, umkurvte meinen Schreibtisch und ließ sich auf meinem Schoß nieder. Innerhalb weniger Momente hatten sich unsere Münder miteinander verkoppelt und waren unsere Hände auf Wanderschaft gegangen. In Windeseile hatten wir uns gegenseitig die Hosen aufgeknöpft. Simon konnte es nicht schnell genug gehen, meinen Schwanz aus seinem Gefängnis zu befreien, während ich gleichzeitig seinen knackigen Hintern von seiner textilen Hülle befreite. Vampire und ihre Libido – man könnte Bücher darüber schreiben.
»Übrigens,«, ließ sich Simon verlauten, während er sich genüsslich auf meinem Schwanz niederließ, »Florian scheint wirklich ein lieber Kerl zu sein. Er passt zu dir.«
»Was?«
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Vor Schreck hätte ich Simon fast von meinem Schoß geworfen. Die Beiläufigkeit, mit der der junge Wächtervampir seine Bemerkung zu Florian von sich gab, ließ darauf schließen, dass er ihr keine sonderlich hohe Bedeutung beimaß. Ich sah das natürlich etwas anders.
»Was?«, wiederholte ich meine Frage, »Woher weißt du von Florian? Wer weiß noch davon?«
»Öhm«, meinte Simon verblüfft und starrte mich verdattert an, »Woher? Es war eine naheliegende Vermutung. Wer sonst noch davon weiß? Wissen tut es niemand, ein paar vermuten etwas.«
»Scheiße!«, meine Lust auf Sex war in Sekundenbruchteilen verpufft, was auch Simon merkte und sich verständnisvoll von mir erhob.
»Ich versteh nicht.«, fragte Simon verwirrt, während er seine Kleindung in Ordnung brachte, »Wo ist das Problem?«
»Er ist ein Mensch. Verstehst du nicht? Er ist verwundbar. Ich soll in wenigen Tagen zum König gekrönt werden. Vorher muss ich noch unser Haus mit Breskoffs vereinigen. Während des Interregnums herrscht Hochkonjunktur für Attentate, Verschwörungen und Umstürze. Unsere Gegner werden alles versuchen, um mich zu schwächen, mich zum Verzicht zu zwingen oder besser noch gleich umzubringen. Die meisten anderen Häuser sind gegen mich, so wie sie auch gegen Breskoff waren. Das Einzige, was sie davon abhält, offen dagegen in Opposition zu gehen, ist das Gesetz und die Angst vor den Nosferatu, die dem Gesetz Geltung verschaffen. Wenn unsere Gegner von Florian erfahren, werden sie ihn gegen mich einsetzten. Was meinst du, warum ich ihn aus dem Haus geschafft habe?«
Simons Stirn runzelte sich kurz, dann straffte sie sich wieder und seine Augen strahlten freudig auf: »Dann hast du Christiano gar nicht verbannt? Er ist Flos Schutz! Oh Mann, das ist die schönste Nachricht seit Tagen. Hast du eine Ahnung, wie ich zurzeit angegafft werde? Christianos Entehrung färbt nämlich auf mich als seinen Freund und Geschöpf ab.«
So sehr ich Simons Freude verstand, mich quälten andere Fragen. Wenn meine Beziehung zu Florian allgemein bekannt wurde, erfuhr auch der Verräter in unseren Reihen davon. Was dies für Flos Sicherheit bedeutete, wollte ich mir lieber nicht ausmalen. Zum Glück verfügte ich mit Simon über ein ziemlich plietsches Kerlchen, was er mit seiner nächsten Bemerkung unter Beweis stellte.
»Oh, ich verstehe.«, meinte der junge Wächter, »Ich glaube aber, dass das Problem kleiner ist, als du denkst. Florian wurde zwar vom ganzen Haus gesehen, da ihn aber Christiano überall vorgestellt hat, hält man Florian für die neueste Eroberung unseres Portugiesen. Dass du und er zusammengehören, ist nur ein Gerücht, eines von vielen, die hier ständig durchs Haus wehen. Ich wusste es auch nicht mit Bestimmtheit, bis du eben meintest, dass es jemanden geben würde, dem du dein Herz geschenkt hast. Ich brauchte nur eins und eins zusammenzählen. Das beliebteste Gerücht ist übrigens ein völlig anderes. Danach hast du Christiano nur deswegen verbannt, um an mich ranzukommen. Ihr seid über meinen – ich zitiere wörtlich – Arsch in Streit geraten, was bei Christiano alle Sicherungen durchbrennen ließ. Südländische Typen sollen ja sehr impulsiv sein. Wie auch immer, ich soll dein aktueller, entschuldige den Ausdruck, Fickschlitten sein.«
»Simon, das tut mir Leid.«, bei aller Sorge um Florian machte mich Simons Offenbarung betroffen. Objekt der Hausgerüchte zu sein, war sicherlich kein angenehmes Gefühl.
»Ach, das ist schon ok«, erwiderte Simon trotzdem fröhlich, »Als deine männliche Mätresse bin ich quasi unantastbar. Man behandelt mich momentan erstaunlich zuvorkommend, um sich dann allerdings hinter meinem Rücken das Maul zu zerreißen. Vampire sind auch keine besseren Menschen.«
»Wem sagst du das…«, ich überlegte. Vielleicht war noch nichts zu spät und ich konnte die Gerüchte um Simon für mich nutzen, wenn auch um den Preis, den armen Simon noch mehr ins Rampenlicht zu zerren, »Was hältst du davon, wenn ich dich wirklich zu meiner Mätresse mache?«
Simon musterte mich mit einem verschlagenen Blick: »Böse! Sehr, sehr böse. Muss so ein Stammvater, der Fürst eines Hauses denken? Lügen in Lügen verstecken. Wahrheiten als Lügen ausgeben? Pläne in Plänen einbetten?«
»Es ist Politik, immer nur Politik. Simon, Florian hat nichts getan. Ihn in die Ränkespiele der Häuser mit rein zu ziehen wäre grausam. Ich liebe diesen Mann nicht nur, ich bin ihm auch etwas schuldig – mein Leben.«
Mit kurzen Worten schilderte ich einem staunend und ungläubig dreinschauenden Jungvampir Florians Geschichte, einschließlich, wie er mein Leben rettete.
»Jetzt verstehe ich, was euch verbindet.«, meinte Simon nachdenklich, »Und jetzt möchtest du, dass ich demonstrativ deinen Fickschlitten spiele, damit sich die Aufmerksamkeit auf mich richtet und von Florian ablenkt? Gut, ich mach’s! Ich spiele deinen Günstling. Ich werde sogar noch etwas mehr machen.«
Simons diabolisches Grinsen hätte mir eigentlich eine Warnung sein sollen, trotzdem fragte ich: »Was?«
»Vertrau mir. Es ist besser, wenn du nichts davon weißt. Sollte meine Idee funktionieren, wirst du dir um Florians Sicherheit keine Sorgen mehr machen müssen.«
»Simon… Du hast dich verändert. Vor ein paar Tagen, bei Laurentius Verbrennung und später bei seiner Wiedererweckung in der Gruft, warst du ein schüchterner, liebenswert naiver Jungvampir. Was ist passiert?«
Simon schaute mir nicht sofort in die Augen sondern traurig zu Boden, bevor er sich zu einer Antwort aufraffte: »Du bist passiert. Du hast es bereits in der Gruft bei Laurentius Wiedererweckung ausgesprochen. Es täte dir Leid, mich in die ganze Sache mit hineingezogen zu haben. Inzwischen verstehe ich, was du damit gemeint hast. Laurentius hat mich eingeweiht und ich habe begriffen, dass meine Naivität zwar liebenswert war, aber auch weltfremd. Du bist mein Fürst. Bisher dachte ich, so ein Fürst wäre halt einfach ein lieber Kerl, der das Glück hatte, adelig geboren worden zu sein. Laurentius öffnete mir die Augen. Es war kein Glück, es war ein Fluch. Du trägst eine unendliche Last auf deinen Schultern und trotzdem bist du dieser liebe Kerl. Da wurde mir klar, dass ich meine Naivität ablegen muss. Ich musste erwachsen werden, um meinen Beitrag für unser Haus zu leisten und dir damit ein klein wenig die Last von den Schultern zu nehmen.«
»Simon, es tut mir Leid. Ich wollte dich nie deiner Unschuld berauben.«
»Constantin, es muss dir nicht leidtun.«, erwiderte Simon mit einer Festigkeit in der Stimme, mit der man Diamanten schneiden konnte, »Ich bin stolz, dir dienen zu können. Und wenn es sein muss, «, hierbei umspielte ein hinterhältiges Grinsen seine Lippen, »auch als dein Fickschlitten.«
Die Situation war alles andere als angemessen, um sich sexuellen Genüssen hinzugeben, aber verdammt… Ich war ein Mann mit Bedürfnissen und Simon ein Mann, der diese Bedürfnisse weckte. Bei aller Sorge um Florian konnte ich ihm unmöglich vierundzwanzig Stunden am Tag das Händchen halten. Ganz im Gegenteil, ich musste Christiano erlauben, seinen Job zu machen und durfte ihm dabei nicht ins Handwerk pfuschen. Wenn mein Spitzenagent und bester Freund sagte, dass er Flos Sicherheit garantieren konnte, dann gab es keinen Grund, daran zu zweifeln.
Shit, ich war einfach rollig. Ich begann Simon provozierend anzugrinsen, was dieser natürlich sofort verstand, sich vom Stuhl vor meinem Schreibtisch erhob und erneut meinen Schreibtisch umkurvte. Wenige Momente später ließ er sich ein zweites Mal auf meinem harten Schwanz nieder und ich begann, ihn nach allen Regeln der Kunst zu ficken. Oh, der Kerl war gut, richtig gut. Er wusste sehr genau, uns beiden maximale Lust zu bereiten. Ich nahm Simon in meine Arme, zog ihn zu mir heran und begann ihn tief zu küssen.
»Mhhhh…«, stöhnte ich in Simons Mund. Seine intensive Massage meines Schwanzes brachte mich ziemlich schnell zum Höhepunkt. Ich packte den jungen Vampir an den Flanken, synchronisierte meine Bewegungen mit seinen und stieß kräftig zu, um mich dann sehr ergiebig in ihm zu entladen. Simon hatte seine Augen geschlossen und stöhnte ebenfalls. Während ich kam, drückte er sich noch stärker gegen meinen Schoß und begann mit einer freien Hand sein eigenes Fortpflanzungsorgan zu massieren, um ebenfalls zum Höhepunkt zu kommen. Allerdings hatte ich mit Simon andere Pläne. Ich schob seine Hand beiseite, beugte mich vor und nahm sein bestes Stück in meinen Mund. Simon jauchzte auf, als ich begann, ihn nach allen Regeln der Kunst zu blasen.
Wir waren gerade munter bei der Sache, als Gorden in mein Büro platzte, sah, was wir taten, grinste und schlich wieder hinaus.
»Perfekt!«, murmelte Simon und grinste mich hintersinnig an. Langsam begann ich zu ahnen, was mein Freund plante. Natürlich würde Gorden seine Beobachtung nicht für sich behalten. Die meisten Vampire sind fürchterliche Plaudertaschen. Sobald Gorden sein Wissen verbreitet hatte, dürfte es zum Selbstläufer werden. Jeder würde annehmen, dass Simon mein Günstling wäre.
»Junge, du bist böse.«, nuschelte ich kurz, um mich sofort wieder seinem Schwanz zuzuwenden. Wie gesagt, die Libido eines Vampirs ist sehr stark.
»Bist du hungrig?«, fragte ich Simon.
Ich liebe ein schönes Steak. Auf den Punkt gebraten, mit feinem Fettrand, am besten T-Bone. Ja, es darf ruhig noch etwas blutig sein. Dazu noch ein paar grüne Bohnen und natürlich Kartoffeln. Doch so gut so ein Stück Rind auch schmecken mag, einen nutzbaren Nährwert besitzt es nicht. Für einen Vampir gibt es nur eine Nahrungsquelle – menschliches Blut.
Wie man sich denken kann, konfrontiert uns die Versorgung mit ausreichend frischem Blut mit einem nicht unerheblichen Problem. Menschen stellen sich im Allgemeinen etwas knickerig an, wenn es um ihr Blut geht. Über die Jahrtausende haben wir daher verschiedene Techniken entwickelt, um trotzdem nicht zu verhungern. Eine der effektivsten Methoden lautet Sex. Florians Vergleich, Vampire wären wie Venusfliegenfallen, mochte zwar wenig schmeichelhaft sein, traf die Sache allerdings ziemlich genau auf den Punkt. Mit einem kleinen Unterschied: Wir töten nicht.
Christiano hatte es zu einer wahren Meisterschaft darin gebracht, attraktive Jungs in seine Fänge zu locken. Er nutzte seinen Vampirlockruf, eine Art unterschwelliger telepathischer Befehl, um seine Opfer zu umgarnen. Wobei Opfer die Sache nicht richtig trifft, da niemand zu Schaden kam. Die 100ml Blut, die er abzapfte, steckten die Jungs locker weg, außerdem besitzt unser Biss eine heilende und stärkende Wirkung. Ohne ihr Wissen hat Christiano eine ganze Reihe seiner unfreiwilligen Blutspender von zum Teil schweren Erkrankungen geheilt. Ganz im Gegensatz zum Moskito, der beim Blutsaugen eher das Gegenteil vollbringt.
Ich gebe zu, dass ich Christiano beneidete. Die Jagd macht Spaß und ist sehr erregend. Sie stellt einen integralen Bestandteil unserer Natur dar, weswegen ich mich auch nie dafür schämte, ein Blutsauger zu sein. Wir sind Raubtiere, wenn auch mit einem zivilisatorischen Anspruch. Wir halten uns für vernunftbegabte Wesen. Das heißt, wir haben gelernt, unsere Opfer nicht bis auf den letzten Tropfen auszulutschen. Die dezente Vorgehensweise, bei der der Gebissene gar nicht bemerkt, dass er gebissen wurde, stellte sich einfach als die strategisch schlaueste heraus. Die Menschen gelten zu Recht eben auch als vernunftbegabt und sind durchaus in der Lage, eins und eins zusammenzuzählen: Bisswunden plus blutleeren Leichen gleich Vampire. Daraus folgten dann meist die weidlich unerfreulichen Dinge, wie Vampirjagden, Holzpflöcke und Scheiterhaufen.
Nur weil der Mensch genauso wie wir als vernunftbegabt galt, hieß dies noch lange nicht, dass wir unsere Nahrungsquellen als ebenbürtig betrachteten. Jedenfalls nicht alle Vampirstämme, aus denen sich später die Häuser entwickelten. In der Ideologie der Dracul galt der Mensch als weniger weit entwickelte Art, ganz wie sie einen Löwen als höher entwickelt betrachteten als eine Gazelle. Die Dracul hielten sich für die Krone der Schöpfung. Die Menschen waren in diesem Weltbild minderwertige Lebewesen, weswegen man ihnen die Kontrolle über die Welt entziehen sollte.
Ich sah das ein wenig anders und war mit meiner Position auch nicht völlig allein. Zum einen war ich der Meinung, dass es an der Spitze der Evolution genug Platz für mehr als eine Art gab. Zum anderen hielt ich den Maßstab der Dracul für fragwürdig. Ich war der Überzeugung, dass die Position in der Nahrungskette noch lange nichts über die Position auf der Evolutionsleiter aussagte. Ich hielt Menschen für mindestens genauso schlau oder dumm wie Vampire und deswegen für sinnvoll, vernünftig miteinander auszukommen. Leider brachten uns die Menschen, teils aus Unwissenheit, teils aus schlechter Erfahrung, wenig Liebe entgegen. Die beste Lösung bestand darin, unsere Existenz grundsätzlich geheim zu halten. Dies sahen sogar die Dracul ein.
Unabhängig aller rationalen Überlegungen liebte ich die Jagd. Doch leider bot sich mir, wie den meisten anderen Mitgliedern meines Hauses, nur sehr selten die Gelegenheit, selbst auf die Pirsch zu gehen. Wir mussten andere Wege finden, um an das lebensnotwendige Blut zu gelangen. Während manche Häuser mit zumindest fragwürdigen, oft aber gänzlich verwerflichen Methoden operierten, wählte ich den kaufmännischen Weg. Zum einen betrieben wir kommerzielle Blutbanken. Von einer 500-ml-Spende zweigten wir für uns 50ml als Nahrung ab. Danach blieben immer noch reichliche 450ml, die wir zum Selbstkostenpreis an Krankenhäuser und Notdienste weiter veräußerten. Frantz, ein Vampir, der noch von meinem Vater initiiert wurde, war in unserem Haus Leiter der Varadin Human Blood and Serum Division.
Für den täglichen Bedarf kamen wir mit diesen Blutspenden sehr gut über die Runden. Je frischer es war, desto größer war der Nährwert. Gelegentlich waren wir aber gezwungen, direkt von der Quelle zu zapfen. Nur körperwarm und direkt aus der Blutbahn besitzt Blut Heilkräfte. Wenn es darum ging, Verwundungen zu heilen, waren wir auf frisches Blut angewiesen. Aber auch im normalen Leben mussten wir dann und wann direkt zapfen, da sich andernfalls Mangelerscheinungen zeigten.
Als ich Simon fragte, ob er Hunger hatte, schwebten mir keine Konserven, sondern frisch gezapftes vor. Die meisten Menschen fürchten Vampire, einige wenige standen uns hingegen aufgeschlossen gegenüber. Sportler zum Beispiel nutzten uns zum biologischen Doping. Wo andere mit risikoreichen Mittelchen von Epo über Steroide bis zu Hormonen ihre Gesundheit aufs Spiel setzten, griff der schlaue Leistungssportler zum vampirischen Aderlass. Ein Biss von uns konnte locker ein mehrwöchiges Höhentraining überflüssig machen, von den Auswirkungen auf Stärke, Ausdauer und Widerstandsfähigkeit gegen Krankheitserreger gar nicht erst zu reden. Wenn man es genau nahm, konnte man diese Art der Nahrungsaufnahme als fast schon symbiotisch betrachten. Schließlich profitierten beide Seiten von der Sache.
»Mir knurrt der Magen!«, antwortete Simon auf meine Frage, »Ich könnte eine Konserve gut gebrauchen.«
»Ich dachte eigentlich nicht an eine Konserve.«, erwiderte ich genüsslich.
»Wie, frisch von der Quelle?«, japste Simon aufgeregt und leckte sich die spontan ausfahrenden Eckzähne.
»Ich erwarte in ein paar Minuten den Besuch von zwei Freunden. Eigentlich war einer der beiden für Christiano gedacht. Der ist bekannterweise anderweitig involviert. Wenn du nicht interessiert bist, könnte ich natürlich Gorden oder Marcello fragen…«
»Hey!«, schnappte Simon, »Mit so was macht man keine Scherze! Natürlich will ich!«
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen: »Schon gut, ich zieh dich nur auf. Komm mit. Die Jungs müssten inzwischen im kleinen Salon auf uns warten.«
Das Haus Varadin
Der kleine Salon befand sich im sogenannten öffentlichen Teil des privaten Bereichs meiner damaligen Residenz. Wenn man die Lebensumgebung eines modernen Vampirs verstehen will, muss man erst einmal verstehen, dass unsere Häuser mit Staaten vergleichbar sind, nur, dass unsere Häuser kein Territorium besitzen. Das Domizil eines Stammvaters oder Vampirfürsten ist meist auch gleich sein Regierungssitz. Entsprechend groß fallen unsere Residenzen aus. Zu jener Zeit hielten sich bis zu dreihundert Menschen und Vampire in meinem trauten Heim auf. Das Gebäude war dementsprechend groß. Genaugenommen handelte es sich um einen ganzen Gebäudekomplex. Nach außen hin präsentierten wir uns als Zentrale eines großen Unternehmens, was nicht einmal gelogen war. Ein Großteil der Gebäude beherbergte tatsächlich die gleichen Büros und Besprechungsräume, die man in jedem anderen Unternehmen ebenfalls vorfände. Selbst die Tätigkeiten der darin arbeitenden Leute waren die gleichen. Es handelte sich um ein völlig ordinäres Verwaltungsgebäude mit Großraumbüros, kleinen Büros, Besprechungsräumen, Fluren, Treppenhäusern, Serverräumen, Teeküchen und Waschräumen. Wir verfügten sogar über eine Kantine mit Großküche. In der warmen Jahreszeit verbrachten unsere Angestellten ihre Pausen auf der Terrasse mit Garten und Springbrunnen oder im großen Innenhof mit Zengarten und Teich. Ansonsten wurde bei uns genauso gearbeitet, wie in anderen Firmen auch. Das Haus Varadin war an unzähligen Firmen beteiligt, die sich über den gesamten Erdball verteilten.
Neben diesem konventionellen Bereich beherbergte der Gebäudekomplex allerdings auch Teile, die nicht jedem zugänglich waren. Die meisten Mitarbeiter kannten mich nur als Herrn Varadin, dem etwas exzentrischen, aber dafür nicht minder netten Chef. Weder ahnten sie, noch konnten sie sich vorstellen, dass sie für eine Herde Vampire arbeiteten. Einem kleinen Teil war meine wahre Natur hingegen genau bekannt. Es waren Menschen, die über mein Vertrauen verfügten und als Schnittstelle zwischen unseren konventionellen Unternehmungen und den internen Angelegenheiten des Hauses vermittelten. Sie residierten in einem Bereich, der offiziell den Namen »Geschäftsleitung« trug, was als Erklärung für gewisse Zugangskontrollen ausreichte. Wobei man sich keine bis an die Zähne bewaffneten Bodyguards vorstellen darf, die an den Türen der Firmenleitung Wache standen. Ganz im Gegenteil kultivierten wir einen sehr offenen Umgang. Wer nicht gezielt drauf achtete, hätte niemals bemerkt, dass er sich in einem Gebäudeteil mit erhöhter Sicherheit aufhielt. Niemand sollte Verdacht schöpfen, dass hinter der Varadin International Holding Group, mehr steckte, als ein international operierender Konzern. Jeder Mitarbeiter sollte bei seinem Vorgesetzten stets ein offenes Ohr für Probleme oder Fragen vorfinden, was offensichtliche Sicherheitsbarrieren natürlich ausschloss. Trotzdem waren sie vorhanden. Niemand betrat die Räume der Geschäftsleitung, ohne dass Laurentius Leute davon wussten.
Varadin International Holding Group war das, was das Auge sah. Eine zwar moderne, aber alles andere als kalte Sammlung von Gebäuden, die mehrfach internationale Designpreise eingeheimst hatten. Die wirklich interessanten Dinge lagen verborgen vor neugierigen Blicken unter der Oberfläche. Im zweiten Untergeschoß des Hauptgebäudes war unsere Regierungszentrale angesiedelt. Hier befand sich die Kommunikationszentrale, mit der wir Kontakt zu anderen Häusern, aber auch zu den anderen Residenzen meines Hauses unterhielten, die Informations- und Analyseabteilung, die Hauptbuchhaltung, die Sicherheitszentrale, das Oberkommando der Wachen, halt all das, was man benötigt, um einen kleinen Staat zu managen.
Etwas abseits der Verwaltungsgebäude, aber im Herzen des Firmengeländes befand sich eine kleine Villa. Von einer gesonderten Einfahrt führte ein schneeweißer Kiesweg zu einem Rondell, dessen Mitte eine Rasenfläche mit kleinem Springbrunnen zierte. Ein Portikus überdachte den Eingang und verlieh dem Gebäude eine fast schon antike Aura. Man wähnte sich an das alte Rom der Cäsaren erinnert. Wer sich fragte, was es mit der Villa auf sich hatte, wurde von einem stets auf Hochglanz polierten Messingschild ins Bild gesetzt. Varadin Stiftung gemeinnützigen Rechts konnte man dort lesen. Auch dies entsprach voll uns ganz der Wahrheit. Einen Teil unseres Vermögens setzten wir für gemeinnützige und wohltäterische Zwecke ein. Trotzdem erfüllte das Gebäude noch einen ganz anderen Zweck. Es beherbergte den Hauptzugang zum privaten Teil meines kleinen Reichs.
Hier lebten die Vampire meines Hauses. Oberirdisch verfügte die Villa gerade einmal über zwei Stockwerke. Nach unten erstreckte sich das Gebäude über sieben Ebenen. Es gab Wohnungen, Aufenthalts- und Entertainmenträume, Büros, zwei Bankettsäle. Im untersten Stockwerk verbarg sich die Gruft, die wie erwähnt gleichzeitig auch als Panikraum konstruiert war. In ihr konnte man sich eine ganze Weile verschanzen, sollte das Haus tatsächlich einmal von Feinden angegriffen und eingenommen werden. Im Notfall gab es sogar eine geheime Fluchteinrichtung.
Über der Gruft folgten zwei private Stockwerke. Im von unten gesehen ersten befanden sich mein Appartment und Büro mit Vorzimmer, Laurentius Appartment und Büro, unser Lagerzentrum, eine Bibliothek, Gemeinschaftsräume, die Appartments von Christiano, Marcello, Gorden und, so hoffte ich, bald auch wieder von Florian. Nach der Geschichte mit Breskoff und der Wiedererweckung Laurentius hielt ich es für sinnvoll, Simon in meiner Nähe zu wissen, weswegen ich ihn in einer der Suiten dieses Stockwerks unterbrachte.
Das nächste Stockwerk bewohnten die restlichen Angehörigen meines Hauses, wozu neben den Vampiren auch eine ganze Reihe Menschen zählte. Allen zu eigen war, dass sie sich mir verpflichtet hatten. Nicht jeder, der zu uns stieß, schlug den Weg des Vampirs ein. Ich ließ jedem die Wahl, womit ich mich deutlich von den meisten anderen Häusern unterschied. Mitglied des Hauses Varadin zu werden hieß, sein bisheriges Leben verloren zu haben. Florian war mit seinem Selbstmord das beste Beispiel. Auch die anderen Häuser rekrutierten ihre Mitglieder aus dem gleichen Pool verlorener Seelen. Nur ließen sie ihnen nicht die Wahl, Mensch zu bleiben oder Vampir zu werden. Die Verwandlung war somit zumeist alles andere als freiwillig. Selbst Baron van Sanden, dem aktuellen Stammvater aller van Sandens, wurde vor Jahrhunderten gewaltsam von Lady Lucretia van Sanden in einen Vampir verwandelt, wofür er sich etliche Jahre später mit einem Holzpflock bedankte.
Die privaten Stockwerke und die darüber liegenden offiziellen Bereiche ließen sich, sollte es notwendig sein, hermetisch voneinander trennen. Die Residenz einer Vampirfamilie war auch immer eine Festung. Alles andere käme leichtfertigem Selbstmord gleich. Ob nun professionelle Vampirjäger, die meinten, nur ein toter Vampir sei ein guter Vampir, oder religiöse Fanatiker, die in uns die Reinkarnation des Teufels sahen oder schlicht konkurrierende Vampirclans, man musste sich schützen.
Der offizielle Bereich – im Allgemeinen sind sie Ausgeburten schamloser Geltungssucht. Im Haus eines Vampirs kann man davon ausgehen, dass alles, was golden glänzt, auch Gold ist, während alles, was silbern glänzt, zumeist aus Platin gefertigt ist. Granit, Marmor, Teakholz, die edelsten Materialien galten als gerade gut genug, um in den Augen der Vampirfürsten akzeptabel zu erscheinen. Nicht so in meinem Haus. Ich verabscheute diese Geltungssucht und kultivierte sie trotzdem, wenn auch mit einem deutlich anderen Stil. Statt barockem Plüsch dominierten im Haus Varadin Art Deco und die Moderne, angereicht mit ein paar Antiquitäten als Kontrast.
Was fand man im offiziellen Bereich meiner Residenz vor? Besucher gelangten als erstes in eine großzügige, helle Empfangshalle, die auch bei offiziellen Empfängen für das Defilée genutzt wurde. Je nach Art und Anlass des Besuchs gelangte man in einen Besprechungsraum, einen Bankettsaal, einen Salon oder irgendeinen anderen Raum, der geeignet war. Wir verfügten sogar über ein Kino. Wie schon erwähnt – die Residenz eines Hauses der Vampire entspricht einer kleinen Regierungszentrale.
Bastian und Phillip, zwei Sportskanonen, Blutspender und sehr gute Freunde, waren bereits eingetroffen und warteten im kleinen Salon auf aus. Ich mochte diesen Raum und wusste, dass sich unsere Gäste in ihm ebenfalls wohlfühlten. Er besaß etwas sehr intimes. Seine Einrichtung verströmte Wärme und Geborgenheit. Es war leicht, sich hier zu entspannen.
»Constantin, du alter Blutsauger!«, grüßte mich Bastian und kam auf mich für unsere rituelle Umarmung zugestürmt, »Wen hast du uns denn da mitgebracht? Was ist mit Christiano passiert?«
»Hallo Basti!«, begrüßte ich mein Mittagessensspender gut gelaunt, wechselte aber auf einen wehmütigen Ton, »Christiano gehört unserem Haus leider nicht mehr an. Es ist, wie in anderen Familien auch. Manchmal streitet man sich so sehr, dass es besser ist, wenn man sich trennt.«
»Das tut mir Leid.«, erwiderte Bastian. Er meinte, was er sagte. Basti, wie ihn jeder nur nannte, war ein sehr gerader, kumpelhafter Typ. Seine Leidenschaft galt dem modernen Zehnkampf, dem er seit ein paar Jahren mit Erfolg frönte. Dass er überhaupt dazu in der Lage war und nicht die Radieschen von unten betrachtete, verdankte er einem kleinen Arrangement mit unserem Haus.
Blutkonserven
Die Geschichte begann vor fünf Jahren mit einem Unfall beim Stabhochsprungtraining. Während eines Sprungs brach Bastians Sprungstab. Er stürzte und fiel dabei so unglücklich, dass sich die untere Hälfte des Stabs in seinen Oberschenkel bohrte und dabei eine Arterie verletzte. Das Blut sprudelte nur so aus ihm heraus, doch Bastian hatte Glück im Unglück. Sein Vereinstrainer war ein ausgebildeter Ersthelfer und in der Lage, die Blutung einzudämmen, indem er das Bein abband. Trotzdem war der Blutverlust so hoch, dass eine Transfusion erforderlich wurde. Dabei ereignete sich das zweite Unglück. Niemand ahnte, dass eine der Blutkonserven mit einem sehr seltenen Krankheitserreger kontaminiert war. Es war ein sehr exotischer und seltener Virus, der bisher nur in einigen wenigen isolierten Gebieten Zentralafrikas aufgetaucht war. Er galt als besonders tückisch, da er nach Monaten, manchmal sogar Jahren scheinbarer Gesundheit plötzlich und ohne Vorzeichen seinen Träger innerhalb weniger Tage dahinstreckte. Es begann mit Kopfschmerzen, gefolgt von Schweißausbrüchen, hämorrhagischem Fieber und am Ende Multiorganversagen. Ohne es zu wissen, trug nun Bastian eine tödliche Gefahr mit sich herum. Wie dieser Virus in eine Blutkonserve gelangen konnte, ließ sich später nicht mehr feststellen, wie er überhaupt nach Westeuropa gelangt war, noch weniger. Jedenfalls nahm das Unheil seinen Lauf.
Phillip und Bastian lernten sich auf der jährlichen Weihnachtsfeier ihres Vereins kennen. Beide fanden Erwähnung in der unvermeidlichen Rede des Vereinspräsidenten – Phillip für dessen recht erfolgreiche Wettkampfsaison, Bastian wegen seines Unfalls, wobei der hautsächliche Dank natürlich der lebensrettenden Tat seines Trainers galt. Zusammen mit anderen Vereinsmitgliedern, die ebenfalls in der Rede des Präsidenten genannt wurden, landeten die beiden jungen Männer, Bastian war gerade einmal 18, Phillip 19, auf der Bühne, um für das unvermeidliche Gruppenbild zu posieren. Während das einschläfernde Gerede ihres Vorsitzenden weiter vor sich hinplätscherte, begannen die Blicke der beiden Jungs auf Wanderschaft zu gehen und unerwartet aneinander hängenzubleiben. Sie blieben dies länger als für heterosexuell orientierte Männer typisch wäre. Mit anderen Worten, es funkte zwischen den beiden. Noch in der gleichen Nacht landete man miteinander im Bett und tat etwas, was man nicht tun sollte. Man hatte ungeschützten Geschlechtsverkehr. Weder Phillip noch Bastian gingen davon aus, dass dies ein Problem darstellen könnte. Schließlich war es ihrer beiden erstes Mal. Wie hätten sie auch ahnen sollen, dass in Bastians Blut ein fieser kleiner Virus sein Unwesen trieb.
Dies fiel erst ein paar Wochen später auf. Ihr Verein schrieb gemeinnütziges Handeln groß und veranstaltete regelmäßig Blutspendeaktionen. Gerade nach Bastians Unfall war die Bereitschaft besonders groß, sich an einer Spende zu beteiligen, sodass eine richtig große Blutspendeparty drohte, was uns auf den Plan brachte.
Neben der kommerziellen Blutverwertung organisierte die Varadin Stiftung in Zusammenarbeit mit der Varadin International Holding Group auch ehrenamtliche Spendenparties, bei denen wir die Kosten für Untersuchung, Aufbereitung, Lagerung und Weiterleitung an die offiziellen Blutbanken übernahmen. Boten diese Parties doch immer wieder Gelegenheiten, um mit potenziellen Nahrungsquellen in Kontakt zu kommen. Egal ob kommerziell oder gemeinnützig, im Endeffekt liefen alle Fäden bei Frantz, unserem obersten Blutorganisator, zusammen. Jedenfalls unterbreitete die Stiftung dem Verein ein Angebot, das dieser sehr gerne annahm, insbesondere, weil wir auch das gesamte Catering spendierten.
Wenn es um Blut geht, sind wir Vampire wie Trüffelschweine. Wir müssen nur kurz an einer Blutprobe schnuppern und wissen sofort, welche Schuhgröße oder Augenfarbe der Spender besitzt. Selbstverständlich unterzogen wir alle Spenden einer automatische Prüfung und legten Kulturen an, die wirklich interessante Details lieferten aber unsere Nasen. So auch die Infektion Bastians und seines Freundes Phillip. Während die technische Blutuntersuchung nichts ergab, juckte es sofort in unseren empfindlichen Nasen. Das Problem mit dieser speziellen Infektion war, dass die Schulmedizin keine Heilmittel kannte, was für die zwei Jungs einem Todesurteil gleichkam.
Zwei junge Männer mit der gleichen Infektion, die nur durch Blutkontakt übertragen werden konnte im gleichen Sportverein? Als mir Frantz den Fall vortrug, musste ich sofort grinsen. Ich konnte eins und eins zusammenzählen und wollte die beiden sofort sehen. Vielleicht bot sich hier eine Möglichkeit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, das heißt Menschen retten und Nahrungsquellen sichern.
Das erste Zusammentreffen geriet erwartungsgemäß zur emotionalen Achterbahnfahrt. Da saßen sie, Bastian und Phillip, auf einem breiten Sofa, einer links und einer rechts, und schauten die vier Unbekannten vor ihnen fragend und verunsichert an. Wie erklärt man jemandem, dass er potenziell todkrank war, es da aber eine mögliche Therapie gab, die allerdings ein klein wenig unkonventionell wäre.
»Ähm,«, ergriff als erstes Phillip das Wort und schaute unsicher von einem zum anderen, »Ihr Anruf klang sehr dringend. Deswegen sind wir auch sofort hergekommen. Können Sie uns sagen, worum es eigentlich geht? Hat es irgendetwas mit dem Verein zu tun?«
»Erst einmal: Können wir das Sie lassen?«, versuchte ich das Eis zu brechen, schließlich sahen drei von uns nicht wesentlich älter aus, als unsere beiden Gäste. Nur einer, Frantz, schien Mitte dreißig zu sein. Bastian und Phillip hockten wie auf Kohlen.
»Ich bin Constantin und dies sind Christiano, Frantz und Ricardo.«, stellte ich unser Team vor, »Frantz ist medizinischer Leiter unserer Blutspendeabteilung. Ihr habt vor vier Tagen an der Spendeaktion eures Vereins teilgenommen, die von uns organisiert wurde. Ich will es kurz machen. Wir haben in eurem Blut eine Infektion festgestellt. In euch beiden die gleiche. Ihr seid krank.«
»Wie krank?«, schrie Bastian auf, »Ich fühle mich aber nicht krank.«
»Seid froh, dass ihr es nicht tut.«, erklärte Ricardo, ebenfalls ein Mediziner, »Ihr habt euch mit einem sehr exotischen afrikanischen Virus infiziert. Einer von euch hat den anderen dann angesteckt. Beim Sex.«
Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, schließlich ging es um das Leben der beiden, war es fast komisch, wie die zwei reagierten. Sie sprangen wie von der Tarantel gestochen auf. Christiano lachte.
»Hey, entspannt euch.«
»Entspannen?«, blaffte Bastian ihn an, »Wie kommt ihr darauf, dass wir Sex hatten?«
»Das ist einfach. Dieser Virus ist wirklich extrem selten. Ihr dürftet in Umkreis von ein paar Tausend Kilometern die einzigen Infizierten sein. Es gibt nur eine Möglichkeit, sich mit ihm anzustecken, durch direkten Blutkontakt. Ihr habt miteinander geschlafen.«
»Ähm…«, stammelte Bastian.
»Lass gut sein.«, meinte Phillip, »Ja haben wir. Wir sind zusammen. Ist das ein Problem für euch? Habt ihr was gegen Schwule? Stört es das Image eurer Firma, wenn Schwule Blut spenden?«
»Hey, hey, hey!«, versuchte ich, die aufwallenden Emotionen zu beruhigen, »Niemand hier im Raum hat Probleme damit, dass ihr schwul seid. Es geht darum, euch zu informieren.«
»Ok!«, Phillip beruhigte sich, »Was müssen wir tun? Gibt es irgendwelche Pillen, die wir schlucken können?«
»Nein!«, Ricardo war erbarmungslos, »Es gibt kein Heilmittel. Bricht die Krankheit aus, seid ihr in wenigen Stunden tot.«
Bastian wurde kreidebleich, Phillip lief dunkelrot an: »Was? Seid ihr noch ganz dicht? Ich…«
»Warte!«, unterbrach ich Phillip, »Die Schulmedizin kennt kein Heilmittel. Allerdings könnten wir euch helfen.«
»Oh, das ist ein Trick, oder?«, Phillip war inzwischen aufgesprungen und lief wie angestochen im Zimmer umher, »Wir sind eure Versuchskaninchen, oder? Habt ihr uns infiziert? Wer sagt überhaupt, dass wir es sind? Ich fühle mich gesund. Wo sollten wir uns überhaupt angesteckt haben?«
Wie hatten mit einer derartigen Reaktion gerechnet, weswegen Frantz anwesend war. Er war nicht nur Facharzt für Hämatologie und Infektionskrankheiten, sondern auch Psychologe. Als Vampir hat man genügend Zeit, viel Zeit, um nicht nur eine Ausbildung abzuschließen.
»Ich will versuchen, eure Fragen zu beantworten.«, begann er behutsam, »Selbstverständlich seid ihr keine Versuchskaninchen. Das wäre unmoralisch. Ihr müsst unserer Diagnose auch nicht trauen, und könnt selbstverständlich eine zweite Meinung einholen. Die Frage, wo ihr euch infiziert habt, ist etwas schwieriger zu beantworten. War einer von euch beiden in letzter Zeit in Zentralafrika? Oder hattet ihr eine Bluttransfusion? In eurem Spenderfragebogen steht dazu leider nichts. Bitte seid ehrlich. Es geht nicht darum, euch Stress zu machen, weil ihr falsche Angaben gemacht habt. Wir wollen euch helfen.«
Bei Frantzs letzter Bemerkung brach Bastian zusammen: »Es tut mir Leid. Ich bin schuld. Ich hatte vor zwei Monaten eine Transfusion nach einem Sportunfall, bei dem ich viel Blut verloren hatte. Ich wollte unbedingt etwas spenden, um mich auf diese Weise für das mir gespendete Blut zu bedanken. Deswegen habe ich den Fragebogen nicht korrekt ausgefüllt.«
»Hey, es ist ok. Immerhin haben wir das Problem entdeckt und damit auch die Quelle gefunden.«, meinte Frantz, »Wir müssen das Krankenhaus informieren, damit sie den Spender ausfindig machen. Noch eine Frage. Ward ihr außer untereinander, noch mit jemand anderem intim?«
»Was meinst du mit intim?«
»Ficken.«
Beide Jungs schüttelten energisch mit dem Kopf. Plötzlich begann Bastian in Tränen auszubrechen. Die volle Bedeutung unserer Diagnose war ihm klar geworden: »Scheiße, ich will nicht sterben!«
»Wer will das schon?«, rutschte es Christiano lakonisch heraus. Während Phillip seine Wanderschaft unterbrach und auf seinen Freund zustürzte.
»Das werden wir nicht.«, rief er, »Die Typen hier sprachen von einer Therapie, oder? Ich habe euch doch richtig verstanden, oder?«
»Ja, es gibt eine Möglichkeit.«, begann ich vorsichtig, während ich Frantz und Ricardo signalisierte, den Raum zu verlassen. Wir wollten die beiden jungen Männer nicht überfordern. Gleich mit vier Vampiren konfrontiert zu sein, erschien uns deswegen als kontraproduktiv.
»Was? Wo ist das Problem? Ist es gefährlich? Geht es um Geheimhaltung? Entwickelt ihr Medikamente und habt Angst, dass man eure Entwicklung klaut?«
»Es geht um ein wenig mehr, als nur um Geheimhaltung.«, Rekrutierungsgespräche für das Haus Varadin waren doch immer wieder interessant, »Es geht um beiderseitiges Vertrauen. Unsere Hilfe hat einen Preis, über den ihr euch klar sein müsst, solltet ihr einwilligen. Keine Angst, wir wollen kein Geld.«
»Was wollt ihr dann, unsere Seelen?«, entgegnete Phillip sarkastisch.
»Wo du es gerade erwähnst…«, kam es von Christiano hinterhältig.
»Christiano, verschreck die zwei nicht.«, meinte ich kopfschüttelnd, »Nein, es geht nicht um eure Seelen. Es geht um eine symbiotische Partnerschaft, die wir euch anbieten. Ihr wisst, was Symbiose ist?«
»Hey, ich bin zwar Sportler, aber nicht blöd. Symbiose ist das Gegenteil von einem Parasit. Organismen, die zum gegenseitigen Vorteil zusammenleben, oder?«
»So ungefähr, ja.«, bestätigte ich, »Die Sache ist so. Ihr besitzt etwas, dass für uns von erheblichem Interesse ist. Als Gegenleistung würden wir euch vollständig heilen.«
»Klingt das nur für mich nach Nötigung? Geben wir euch nicht, was ihr wollt, lasst ihr uns krepieren.«, bemerkte Phillip scharf, wobei er eindeutig der aggressivere der zwei war.
»Er ist wirklich ein schlaues Kerlchen.«, meinte Christiano grinsend, wandte sich dann aber direkt an Phillip, »Du hast recht. Es wäre Nötigung. Allerdings ist die Sache ein klein wenig komplizierter. Wir können euch rein technisch nicht helfen, wenn ihr eure Gegenleistung nicht erbringt. Es ist wie gesagt eine symbiotische Beziehung, die wir zusammen eingehen müssen.«
»Zum Teufel nochmal, dann sagt doch endlich, was ihr wollt!«, platzte es dieses Mal aus Bastian heraus.
Wie erklärt man jemandem, dass man ein Vampir ist? Die Nerven unserer beiden Gäste waren eh schon dünn wie nasses Klopapier. Wir mussten sehr behutsam vorgehen, damit sie nicht komplett durchdrehten. Vielleicht war es geschickter, das Thema von einer anderen Seite anzugehen.
»Seid ihr zwei eigentlich schon lange zusammen.«, fragte ich freundschaftlich.
Phillip und Bastian schüttelten gleichzeitig die Köpfe. Vorsichtig wanderte eine Hand von Bastian zu Phillip. Auf halbem Weg packte eine andere Hand zu. Phillip klammerte sich fast an Bastian. Sie hatten Angst, Todesangst.
»Es war auf der Weihnachtsfeier vom Verein.«, Bastian flüsterte fast, »Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Wir schauten uns an und plötzlich wusste ich >Der isses!<. Peinlich was?«
»Nein, überhaupt nicht.«, es war vielleicht nicht ganz fair, den Vampirlockruf einzusetzen. Es ging aber auch nicht darum, die beiden zu verführen. Ich wollte nur, dass sie sich beruhigten und ein wenig von ihrer Angst verloren, »Liebe auf den ersten Blick? Wie könnte das peinlich sein. Es ist sehr romantisch.«
»Könnt ihr uns wirklich helfen?«, Phillip rang mit den Tränen, »Ich will Basti nicht verlieren. Sagt, was ihr wollt, ich tue es!«
»Hey!«, ich sprach leise und ganz sanft, »Wir werden euch helfen. Ohne Gegenleistung. Allerdings kommen wir um die Sache mit der Symbiose nicht herum. Wir brauchen etwas von eurem Blut, um euch heilen zu können.«
»Was? Das ist alles?«, Phillip schüttelte ungläubig den Kopf, »Kein Problem. Ruft einen Arzt, dann kann er mit Blut abnehmen.«
Ich musste einfach lächeln. Wie sollte er ahnen, worum es wirklich ging?
»Nein, keinen Arzt. Wie gesagt, es ist ein klein wenig komplizierter. Bitte erschreckt nicht.«
Der Moment der Wahrheit war gekommen. Ich öffnete meinen Mund und ließ meine Saugzähne wachsen, gleichzeitig verfärbten sich meine Augen gelb.
»Oh Scheiße!«, kam es von Bastian. Der sonst nicht auf den Mund gefallene Phillip sagte nichts mehr. Die beiden hatten also verstanden, was wir waren. Ich fuhr meine Zähne wieder ein. Meine Augen nahmen ihre normale Farbe an.
»Du bist…?«, Bastian traute sich nicht, das Wort auszusprechen.
»Ein Vampir, ja!«, die Katze war aus dem Sack, »Wir alle, Christiano, Frantz, Ricardo und ich, sind Vampire.«
»Wollt ihr uns aussaugen? Wollt ihr uns in Vampire verwandeln und zu euren willenlosen Sklaven machen?«
Da war es wieder, unser abgrundtief schlechtes Image. Vielleicht hätten wir Bram Stoker doch zu einem von uns machen sollen. Dann hätte er vermutlich nicht geschmollt und aus Rache diesen verfluchten Horrorroman über uns verzapft.
»Wir beabsichtigen nicht, euch in Vampire zu verwandeln. Ob wir euch aussaugen wollen? Ja, ein wenig, denn darin besteht eure Heilung. Bei unserem Biss gelangen sehr potente Stoffe in die Blutbahn unserer Opfer. Sie wirken antibakteriell, stärkend, blutbildend, leistungssteigernd und, wichtig für euch, antiviral.«
»Und das ist kein Trick, um einfach nur an unser Blut zu kommen?«, Phillip hatte seine alte Vorsicht und Skepsis wiedergefunden.
»Kein Trick. Wir machen nichts ohne euer Einverständnis. Wenn ihr nicht wollt, könnt ihr gehen. Niemand wird euch aufhalten.«
»Einfach so?«, hakte Phillip nach, »Hättet ihr keine Angst, wir könnten euch verraten?«
»Nein, hätten wir nicht. Wir würden euch gehen lassen, allerdings müssten wir alle Erinnerungen an dieses Treffen aus eurem Gedächtnis löschen.«
»Dann könntet ihr uns aber auch beißen und dann diese Erinnerung löschen.«
»Junge, was bist du misstrauisch!«, lachte ich, »Wenn unsere Absicht darin bestände, euch einfach nur auszusaugen, hätten wir uns wohl kaum die Mühe gemacht, uns mit euch so lange zu unterhalten, oder? Phillip, wenn ich nur an deinem Blut interessiert wäre, hätte ich es mir genommen. Was ich möchte, ist euch beiden helfen. Warum? Weil wir es können und weil es richtig ist! Habe ich Hintergedanken? Ja, natürlich. Wir sind Vampire, wir brauchen Blut, weil wir davon leben. Von frischem Blut. Dies ist mein Vorschlag. Wir retten euch das Leben, wofür ihr euch aber von uns beißen lassen müsst. An diese Rettung sind keinerlei Bedingungen oder Verpflichtungen gebunden. Wir würden uns allerdings sehr freuen, wenn ihr uns ab und an für eine kleine Blutspende besuchen tätet.«
»Das geschieht jetzt nicht wirklich, oder?«, murmelte Bastian.
»Wir lügen euch nicht an.«, griff Christiano ins Gespräch ein, »Aber ich kann verstehen, dass ihr Zweifel habt. Ich hätte sie auch. Vampire? Zentralafrikanische Viren? Blutspenden? Ich könnte verstehen, wenn ihr Stopp ruft und gehen wollt. Wie Constantin sagte, wir halten euch nicht auf.« Christiano griff nach einer Akte, die bisher unbemerkt auf einem Beistelltischchen lag, und reichte sie Bastian, »Solltet ihr uns wegen der Infektion nicht glauben und eine andere Meinung einholen wollen, haben wir alle Informationen in dieser Akte zusammengefasst. Ich empfehle, dass ihr euch an eine Universitätsklinik mit Spezialisierung auf Tropenkrankheiten wendet.«
Bastian zögerte. Er streckte seine Hand aus, wollte die Mappe greifen, hielt inne und zog sie dann wieder zurück. Nachdenklich blickte zu Phillip.
»Ich glaube ihnen.«, meinte er zu seinem Freund, »Es klingt alles völlig absurd, aber ich glaube den beiden wirklich.«
Phillip nickte: »Das ist ja das Problem, ich auch!«
»Und was machen wir jetzt?«
»Wir lassen uns erklären, wie das genau ablaufen wird.«
Phillip war eindeutig der rationale Typ in dieser Beziehung, trotz seines oft aufbrausenden Temperaments. Während er sich extrovertiert und auch etwas kopflastig präsentierte, war Bastian introvertiert und weitaus emotionaler strukturiert. Sagt man nicht, dass sich Gegensätze anziehen? Bei unseren Gästen traf dies allem Anschein nach zu. Ich konnte mich natürlich auch täuschen. Auf jeden Fall waren die zwei Jungs wirklich süß. Ihre noch sehr frische Liebe, zumal es ihre erste war, hatte etwas unschuldiges, um das ich sie beneidete. Als Zehnkämpfer fiel Bastian in die stämmige Kategorie. Wenn man ihn anschaute, drängte sich unweigerlich der Begriff »knuffig« auf. Seine etwas wilden, halblangen Haare verliehen ihm gleichzeitig sowohl etwas rebellisches, als auch melancholisches, ohne in die Emoschiene abzugleiten. Ich konnte mir vorstellen, dass die Mädels ihm reihenweise zu Füßen lagen. Sein sensibler, verletzlicher Blick, den seine großen, graugrünen Augen unterstrichen, weckte Beschützerinstinkte.
Das Kontrastprogramm zu Bastian lautete Phillip. Der war fast einen Kopf größer, trug 6mm lange, dunkelblonde Haare, blaue Augen und nannte den Prototyp eines Schwimmerkörperbaus sein eigen, soll heißen, er besaß ein breites Kreuz, kräftige Arm- und Brustmuskeln, einen definierten Bauch und schmale Hüften. Wie wir später erfuhren, spielte er in der Wasserballmannschaft seines Sportvereins. So unterschiedlich die zwei auch sein mochten, sie passten zusammen wie die Faust aufs Auge, Deckel auf Topf oder Arsch in Hose.
»Darf ich euch eine Frage stellen?«, stellte Bastian eine Frage.
»Nur raus damit.«
»Ihr seid schwul, oder?«
Bastian mochte ein stilles, introvertiertes, emotionales Kerlchen sein, dumm war er deswegen nicht. Hinter seinen großen Augen tickte ein scharfer Verstand. Er fragte nicht, ob wir schwul wären. So wie er seine Frage stellte, postulierte er, dass wir es waren.
»Ist der Papst katholisch? Warum fragst du?«
Auf Bastians Lippen zeigte sich der Anflug eines Grinsens: »Ich glaube nicht, dass mich eine Hete so angesehen hätte, wie ihr zwei das tatet. Wir gefallen euch, oder?«
»Ich würde keinen von euch zwei Schnuckeln von der Bettkante stoßen.«, erwiderte Christiano mit herzerfrischender Offenheit.
»Naja, ihr zwei seht auch ziemlich knackig aus. Wie alt seid ihr? 24, 25 Jahre?«
»Nicht ganz. Pack noch ein paar Jahrhunderte drauf, dann passt es.«, meinte Christiano.
Phillip wurde blass: »Ein paar Jahrhunderte? Alter, verarsch mich nicht!«
»Nichts läge uns ferner.«, ergriff ich wieder das Wort, »Wir altern anders. Christiano wurde mit 22 Jahren von mir zum Vampir gemacht. In den letzten Jahrhunderten ist er körperlich vielleicht um drei oder vier Jahre gealtert.«
»Krass!«, verkündete Phillip, während Bastian etwas anderes durch den Kopf zu gehen schien. Er musterte erst mich, dann Christiano, bevor er sich seinem Freund zuwandte: »Was meinst du. Wollen wir uns von den zweien anknabbern lassen? Das klingt jetzt voll strange, aber ich mag die Typen und hätte wirklich Lust…«
»Kuscheln?«, unterbrach Phillip, »Ich weiß! Geht mir genau so. Typen, ist das ein Trick?«
»Yapp!«, bestätigte Christiano, »Unser unterschwelliger telepathischer Lockruf. Macht geil und rattig. Allerdings könntet ihr uns locker widerstehen… Wenn ihr es wolltet. Aber ihr wollt nicht, oder?«
»Junge ist das schräg.«, stöhnte Bastian.
Bevor sich die letzten Reste Verstand unserer Gäste vollständig in Geilheit verwandelten, musste ich etwas klarstellen: »Dann haben wir eine Übereinkunft? Ihr wollt, dass wir euch helfen?«
Bastian und Phillip wechselten ein paar Blicke miteinander. Ja, man war sich einig, wie Bastian verkündete: »Wir sind einverstanden. Bitte helft uns.«
»Ok, dann kommt mal mit.«
Heilende Bisse
Wäre es nur um eine Blutmahlzeit gegangen, hätten Christiano und ich die beiden Jungs an Ort und Stelle angezapft. Man hätte natürlich aufpassen müssen, kein Blut auf die Möbel oder den Teppich zu kleckern, aber ansonsten war der kleine Salon ein gemütlicher Raum und bestens für derartige Intimitäten geeignet.
Allerdings ging es um keine Blutmahlzeit, sondern darum, Bastian und Phillip von ihrer Infektion zu heilen. Während der normale Vampirbiss völlig unproblematisch war, sah es bei Heilbissen etwas anders aus. Die beiden Männer waren zwar jung, kräftig und abgesehen vom Virus in Top-Kondition, der Virus aber auch. Nach dem Biss war auf jeden Fall mit einer heftigen Antwort ihres Immunsystems zu rechnen. Frantz und Ricardo waren einhellig der Meinung, dass Schwäche, Krämpfe, Schmerzen, Müdigkeit und Fieber zu erwarten wären. Es schien uns daher angeraten, an einen Ort umzuziehen, an dem wir uns um unsere Schützlinge gut kümmern konnten. Wir hatten daher ein Appartment vorbereitet. Es gab zwei Betten. Getränke standen bereit, damit die Jungs Flüssigkeitsverluste ausgleichen konnten, genauso gab es aber auch Handtücher, für den Fall, dass wir Fieberschweiß abtupfen mussten.
Fast wie ein Op-Arzt, der seinen Patienten über den Ablauf und die Risiken eines bevorstehenden Eingriffs aufklärte, beschrieben wir Phillip und Bastian, wie wir ihren Eingriff geplant hatten und mit welchen körperlichen Reaktionen zu rechnen war.
»Frantz vermutet, dass ihr anschließend ein paar Stunden schlafen werdet.«
»Mit anderen Worten, unsere Körper werden zur Kampfzone. Auf der einen Seite der Virus, auf der anderen Seite euer Bisssekret?«
Ich sagte ja, Bastian war ein schlauer Kerl. Ich hätte es nicht besser beschreiben können.
»Seid ihr immer noch dabei?«
»Auf jeden Fall! Ich will leben!«
»Fein!«, ich grinste die zwei Männer an, »Jetzt zur wichtigsten Entscheidung überhaupt. Wer will von wem gebissen werden?«
Ich hätte nicht fragen sollen. Plötzlich kam ich mir wie eine Scheibe Kotelett an der Fleischtheke vor. Bastian und Phillip musterten Christiano und mich, wie dies nur zwei lüsterne, schwule Jungs taten. Andererseits, zum Sexobjekt zu werden, war auch nicht schlecht.
Ich hatte so eine Ahnung, wer wen wählen würde und wurde nicht enttäuscht. Der eher dominante, aggressive Phillip zögerte keine Sekunde und fragte Christiano, ob er ihm die Ehre erwiese. Erwartungsgemäß kam Bastian auf mich zu, wenn auch zögerlich und unsicher. Ich ahnte, was ihm durch den Kopf ging.
»Hast du Angst?«
Die Frage war rein rhetorischer Natur. Natürlich hatte er Angst, wer hätte sie nicht? Erwartungsgemäß wurde die Frage mit einem Nicken bestätigt.
»Brauchst du aber nicht zu haben. Normalerweise müsste ich jetzt sagen >Ich beiße nicht.<.«, ich grinste anlässlich meines etwas lauen Kalauers. Bastian grinste auch und begann sich ein wenig zu entspannen. Immer noch vorsichtig kam er mir immer näher, bis er direkt vor mir stand. Ich streckte langsam meine Hand aus, streichelte ganz vorsichtig Bastians Wange mit meinem Handrücken. Er zuckte nicht zurück. Ich wagte ein klein wenig mehr. Mein anderer Arm angelte nach Bastians Hüfte, bekam sie zu fassen und zog den lieben Jungen zu mir heran. Er wehrte sich immer noch nicht. Ich nahm ihn in den Arm. Bastian ließ es mit sich geschehen. Er begann sich sogar an mich zu schmiegen. Ich konnte fühlen, wie aufgewühlt er war. Einserseits war er stark erregt, wie ich deutlich durch den Stoff zweier Hosen spüren konnte. Anderseits hatte er immer noch Angst. Sein Körper vibrierte und zitterte leicht. Ausgelöst durch meine Berührung begann eine Gefühlswelle seinen Körper zu durchwandern. Kleine Tränen quollen ihm aus den Augen und liefen seine Wangen herab.
»Ich hätte Phillip mit diesem Virus fast umgebracht.«
»Gib dir dafür nicht die Schuld.«, flüsterte ich dem Jungen ins Ohr und wischte ihm die Tränen von der Wange, »Er gibt dir auch keine. Er liebt dich.«
»Danke, Constantin!«, der kleine Schnuffel, anders konnte man ihn nicht bezeichnen, schaute mich aus treudoofen Augen an, »Wieso traue ich dir? Ich kenne dich nicht. Trotzdem fühle ich mich bei dir geborgen und beschützt? Wie kann das sein?«
»Ich will dich nicht erschrecken. Es ist das, was Christiano unseren Lockruf nannte. Wir Vampire senden unterschwellige telepathische Befehle aus, die Vertrauen und Zuneigung erwecken.«
»Warum sagst du mir das?«
»Weil ich will, dass du mir wirklich vertraust und nicht, weil ich dich dazu bringe. Lausche in dich hinein und du wirst den Unterschied erkennen.«
Ich wollte, dass mir Bastian vertraute. Obwohl ich ihn erst seit etwas mehr als einer Stunde kannte, gefiel er mir. Bastian hatte, und das galt auch für Phillip, eine sehr erfrischende Natürlichkeit. Die zwei waren ungekünstelt, gradlinig und offen in ihrer Art, dass es mir eine tiefe innere Befriedigung bereitete, ihnen das Leben retten zu können. Es war wirklich schade, dass sie Menschen waren. In ihrer Art, ihrem ganzen Wesen, hätten sie gut zu uns gepasst, was natürlich eine rein hypothetische Überlegung war. Sie konnten keine Vampire werden.
Ich war wohl einen Moment zu lang in meinen Gedanken versunken. Bastian begann sich in meiner Umarmung zu regen und mich fragend anzuschauen.
»Entschuldigung, ich habe… geträumt.«, ich nickte ihm freundlich zu, »Und, wo möchtest du denn, dass ich zubeiße?«
»Das kann ich mir aussuchen?«, fragte Bastian amüsiert.
»Aber sicher! Ich kann dir ganz professionell in die Pulsader deines Handgelenks beißen, oder«, dabei streichelte ich ihm sinnlich mit einem Finger den Hals entlang, »ganz klassisch deinen schönen Hals anknabbern.«
Meine Berührung ließ Bastian erschaudern. Er seufzte verzückt auf, schloss seine Augen und saugte scharf Luft in seinen Lungen.
»Beiß mich! Jetzt! In den Hals!«, rief er leise und voller Erregung.
Einer solch wohlwollenden Aufforderung sollte man selbstverständlich Folge leisten. Ich packte Bastian, zog in dichter zu mir heran, küsste seinen Hals, leckte über die geplante Einstichstelle und biss zu. Bastian seufzte auf und stieß die eingeatmete Luft laut und deutlich hörbar aus.
Ich nahm einen kräftigen Schluck von seinem Blut. Kaum hatte der köstliche Saft meine Zunge berührt, begann mein Körper sich auf den fiesen kleinen Virus einzuschießen. Er kribbelte. Ich konnte ihn schmecken. Seine Aggressivität riechen. Ah, komm nur her. Du meinst wohl, du hättest einen neuen Wirt, ein neues Opfer gefunden? Natürlich besaß der Virus kein Bewusstsein. Sie sind keine lebenden Organismen, nur Parasiten, die sich auf Kosten ihres Wirts vermehren. Trotzdem, sie vermehren sich.
Meine vampirische Biologie übernahm die Kontrolle. Ich löste mich von Bastians Hals, wich einen Schritt von ihm zurück. In meinem Körper tobte ein Kampf. Der Virus wollte in meine Zellen eindringen, sie umprogrammieren und für sich nutzen. Nein, mein mikroskopisch kleiner Freund, so nicht! Mein Körper krampfte. Was, du gibst nicht auf? Bastian war leicht benommen, hatte seine Augen geschlossen und war weggetreten, sodass er mich zum Glück nicht sehen konnte, wie ich mit gelbrot glühenden Augen und weit ausgefahrenen Fangzähnen mit dem Virus kämpfte. Der Anblick eines Vampirs im Blutrausch wäre vermutlich etwas zu viel für ihn gewesen.
Blut ist unsere Nahrung, unsere einzige Nahrung. Da darf man nicht wählerisch sein. Unsere Körper sind daher in der Lage, so ziemlich alles zu verarbeiten, was durch die Adern eines Menschen fließt. Bastians Blut machte da keine Ausnahme. Der Virus war zwar zäh, aber nichts was uns, Christiano und mich vor ein ernstes Problem gestellt hätte. Nach knapp einer Minute hatte mein Körper das Blut verarbeitet und nebenbei einen Antikörper gegen den Virus erschaffen. Alles, was ich tun musste, war meinen neuen Freund ein zweites Mal zu beißen, was ich auch unmittelbar in die Tat umsetzte.
Ich zog Bastian erneut zu mir heran, setzte meine Zähne an und biss sanft zu. Beim zweiten Mal saugte ich nur sehr wenig, ganz im Gegenteil ließ ich sogar etwas Blut, jetzt vermischt mit meinen Verdauungssekreten zurück in seine Blutbahn fließen.
»Ohmpf!«, stöhnte Bastian auf und drohte zu straucheln. Ich fing ihn auf, hielt ihn und trug ihn zu einem der beiden Betten, auf dem ich ihn niederlegte.
»Hier, trink, es ist frisch gepresster Orangensaft. Der sollte dich wieder zu Kräften bringen.«
Ich reichte dem Jungen ein Glas des Südfruchtsafts, den dieser auch gierig leerte. Da lag er, matt und etwas benommen auf dem weißen Bettlaken.
»Das war heftig!«, waren die ersten Worte, die Bastian von sich gab. Etwas verlegen und mit leicht rotem Kopf gab er mit das geleerte Saftglas zurück, »Ich glaube, mir ist bei deinem Biss einer abgegangen.«
»Wenn ich den feuchten Fleck auf deiner Hose sehe, dann sogar ganz bestimmt.«, konnte ich mich nicht beherrschen, unseren Blutspender aufzuziehen, »Hey, das braucht dir nicht peinlich zu sein. Das geht jedem so. Frag Phillip, dem wird es nicht anders ergangen sein.«
»Das war total geil!«, Bastian zeigte ein sehr befriedigtes Lächeln, das aber plötzlich von einem Schatten getrübt wurde, »Hat es funktioniert? Bin ich… geheilt?«
Ich wiegte meinen Kopf hin und her: »Noch nicht ganz. Das Gegenmittel durchströmt jetzt deine Blutbahn. Der Virus wird sich allerdings nicht kampflos ergeben. Es könnten noch ein paar ruppige Stunden für dich werden. Ich kann fühlen, wie das Fieber in dir steigt. Das ist ein gutes Zeichen.«
Wie aufs Kommando bildeten sich Schweißperlen auf Bastians Stirn. Es ging also los. Sein Körper, von meinem Biss gestärkt und bis an die Zähne bewaffnet, nahm den Kampf auf.
»Bleibst du bei mir?«, fragte Bastian mit rauer und schwacher Stimme.
»Ich werde keine Sekunde von deiner Seite weichen.«
Christiano und ich verbrachten 12 Stunden an der Seite unserer Patienten. Wie prognostiziert wurde es für die zwei etwas ruppig. Zeitweise wurden ihre Körper von Krämpfen durchgeschüttelt, auf die eine mehrstündige Phase des Erschöpfungsschlafs folgte. Wir konnten nichts weiter tun, als der Natur ihren Lauf zu lassen und beschränkten uns deswegen auch darauf, gelegentlich das Fieber zu kontrollieren und, soweit die beiden Jungs wach waren, ihnen Flüssigkeit anzubieten.
Taten wir das Richtige? Für mich gab es keine Zweifel. Bastian und Phillip zu heilen, zu retten, war die einzig richtige, die einzig akzeptable Entscheidung. Ich wusste aber auch, dass ich mit dieser Entscheidung bei den meisten Vampiren der anderen Häuser auf Unverständnis und entschiedene Ablehnung gestoßen wäre. Nun, das war ihr Problem und nicht meins. Ich empfand es einfach als wesentlich eleganter, mich von Freunden zu ernähren, als ahnungslosen Menschen in irgendwelchen dunklen Gassen aufzulauern. Wobei noch nicht einmal feststand, ob die beiden überhaupt als Blutspender zur Verfügung standen. Dies sollte einzig und allein ihre Entscheidung sein.
Der erste, der erwachte, war Phillip, womit ich gerechnet hatte. Er war der konstitutionell stärkere Typ, außerdem hatte Bastian den Virus länger in sich getragen, was nicht ohne Spuren geblieben war.
»Und, wie fühlen wir uns?«, fragte Christiano neugierig.
»Wie du dich fühlst, weiß ich nicht.«, erwiderte Phillip altklug, »Mir geht es fantastisch! Ich habe einen mörderischen Kater, könnte aber Bäume ausreißen. Hat es geklappt? Wie geht es Basti?«
Christiano wechselte einen vielsagenden Blick mit mir, um dann im verschwörerischen Tonfall zu Phillip zu sagen: »Ja, es hat geklappt. Bei euch beiden. Basti geht es gut. Er schläft. Was hältst du davon, zu ihm unter die Decke zu schlüpfen. Ich könnte mir vorstellen, dass er sich freuen würde, in den Armen seines Geliebten aufzuwachen.«
Phillip machte große Augen, schaute von Christiano zu mir und von mir hinüber zum anderen Bett, in dem Bastian friedlich vor sich hinschlummerte. Ein verliebter Ausdruck schlich sich auf Phillips Gesicht. Er hauchte uns ein Danke zu und befolgte Christianos Vorschlag, während wir uns diskret zurückzogen.
Erst einige Stunden später klopften Christiano und ich an der Tür zu Phillip und Bastians Suite und traten erst ein, als von drinnen ein lautes »Herein!« ertönte. Das Bild, das sich uns bot, war einfach nur süß. Die beiden Jungs lagen brav nebeneinanderliegend im Bett. Sie hatten die Decke zwar bis fast zum Hals hochgezogen, trotzdem war klar, dass die beiden darunter nackt waren. Sie hatten ihre Kleidung neben dem Bett verstreut.
»Wir dachten, ihr hättet vielleicht Hunger.«, Christiano schob einen kleinen Rollwagen mit allerlei Frühstückssachen vor sich her, »Und haben euch deswegen ein kleines Frühstück zusammengestellt. Schauen wir mal, was wir da haben. Kaffee, Tee, O-Saft, Brötchen, gekochte Eier, Butter, verschiedene Marmeladen, Wurst und Käse, Müsli, Cornflakes und Milch. Habt ihr Hunger?«
»Und ob!«, rief Phillip gierig, vergaß seine Schüchternheit und sprang, nackt wie er war, aus dem Bett. Bastian lief rot an. Christiano und ich mussten lachen.
»Lecker!«, meinte dann auch Christiano, was Phillip prompt die Schamesröte ins Gesicht trieb.
»Jungs, wir tafeln das Frühstück auf, während ihr ins Badezimmer geht und duscht. Hier riecht es nämlich nach gutem alten geilen Sex. Frische Klamotten findet ihr ebenfalls dort. Ich hoffe, Christiano hat eure Größen richtig geschätzt.«
Zwei junge Männer mit jeweils hochrotem Kopf huschten ins Badezimmer. Sekunden später konnte man das Rauschen der Dusche hören. In der Zwischenzeit machten wir uns an die Arbeit, den Tisch zu decken. Wir deckten für vier. Christiano und ich mussten zwar nichts essen, den Geschmack wussten wir aber dennoch zu schätzen. Außerdem wollten wir die Gelegenheit nutzen, ein wenig mit den beiden zu plaudern.
Ebenso hochrot, wie uns Bastian und Phillip verlassen hatten, kamen sie auch zurück. Christiano hatte es sich nicht verkneifen können, den beiden Kleidung bereitzulegen, die recht körperbetonend ausfiel, um es noch milde auszudrücken. Die beiden sahen wirklich sehr attraktiv aus und wussten es wohl auch. Kleider machen eben doch Leute.
»Kommt her, wir haben schon mal aufgedeckt.«
Unsere beiden Patienten ließen sich nicht zweimal bitten und sprangen regelrecht auf den Esstisch zu. Das war kein Wunder. Nach der Therapie, der wir sie unterzogen hatten, war von einem rechtschaffenden Appetit auszugehen. Wir vermuteten richtig. Kaum am Tisch wurde ordentlich zugelangt. Es war der richtige Moment, unser Anliegen vorzutragen.
»Es freut mich, dass es euch schmeckt.«, meinte ich.
»Du hast keine Ahnung.«, nuschelte Phillip mit vollem Mund, »Ich könnte einen Ochsen verdrücken. Kommt das von… Du weißt schon.«, Phillip streckte den Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand aus und drückte sie symbolisch gegen seine Halsschlagader.
»Seht euch den an!«, lachte ich auf, »Kaum geheilt, gleich wieder frech werden.«
Bastian ließ scheppernd seinen Löffel fallen: »Geheilt? Heißt das, wir sind…?«
»Voll und ganz.«, bestätigte Christiano, »Ihr seid vollkommen gesund.«
Bastian nahm seinen Löffel wieder auf und begann, nachdenklich in seinem Teller mit Frühstücksflocken umherzustochern.
»Einfach nur >Danke< zu sagen, kommt mir schäbig vor. Wir verdanken euch unser Leben.«
»Ihr braucht euch nicht zu bedanken. Was wir für euch getan haben, hätten wir für jeden anderen ebenfalls getan.«
»Und was passiert jetzt?«, fragte Phillip.
»Nichts. Wir frühstücken zu Ende und wenn ihr soweit seid, werdet ihr einfach gehen. Sobald ihr unser Haus verlassen habt, werdet ihr euch an nichts mehr erinnern können. Wir werden euch mit einer Ersatzerinnerung ausstatten.«
»Es gibt keine Vampire, nicht wahr?«, Bastian klang traurig, »Ich weiß, warum ihr es tun müsst, aber ich möchte euch nicht vergessen. Ich würde euch gerne wiedersehen. Was ist mit dieser Blutspendesache? Ihr habt doch gesagt, dass ihr gelegentlich frisches Blut braucht.«
»Bastian, nur, weil wir euch geheilt haben, müsst ihr euch zu nichts verpflichtet fühlen.«
»Aber was, wenn ich es möchte? Nicht aus Dankbarkeit, sondern aus Freundschaft.«
»Du willst das wirklich?«, ich brauchte eine ganz klare und deutliche Ansage, »Du bist bereit, uns ab und an zu besuchen, damit wir dich beißen und von dir trinken können?«
»Ja!«, bestätigte Bastian ohne Zögern oder Zweifel in der Stimme und wandte sich dann an Phillip, »Alter, was ist mit dir. Lust darauf, ein Vampirsnack zu werden?«
»Hallo, heiß ich Phillip oder was? Natürlich will ich!«
Ich wechselte kurz einen Blick mit Christiano. Der nickte und meinte: »Also Phillip schmeckt lecker. Ich bin dafür.«
»Also gut, wenn dem so ist.«, ich wurde ernst und auch etwas feierlich, »Ihr wisst, dass ich ein Vampir bin. Ihr wisst allerdings nicht, wer ich bin. Ich bin Constantin, Fürst von Varadin und Stammvater dieses Hauses. Du Phillip und du Bastian erklärt euch frei von Druck oder Verpflichtungen bereit, uns euer Blut zu schenken. Wir, der Fürst des Hauses Varadin, nehmen dieses Geschenk dankbar und im Geiste der Freundschaft an. Von nun an nennen wir euch Freunde unseres Hauses. Ihr seid jederzeit willkommen, aus welchen Gründen euch euer Weg auch zu uns führen mag. Unser Haus wird euch Hilfe, Schutz und Unterkunft sein, solltet ihr dieser bedürfen. Dies verspreche ich, Constantin, Fürst von Varadin.«
Wie nicht anders zu erwarten, zeigten sich die beiden sprachlos. Ihnen klappte sogar der Unterkiefer herunter, was Christiano die Gelegenheit zur Frotzelei gab.
»Macht den Mund zu, die Milchzähne werden sonst noch sauer.«, scherzte er, »Constantin liebt die große Show. Manchmal muss er einfach den Opernvampir geben. Im Prinzip ist die Sache ganz einfach. Wenn ihr es wollt, wirklich wollt, bieten wir euch die Freundschaft unseres Hauses an. Mit anderen Worten, unsere Tür steht euch immer offen, egal warum. Es ist ein Bund, den wir miteinander schließen. Und wenn ihr wollt, dürfen wir ab und an mal an euren Halsschlagadern saugen. Das ist allerdings keine Bedingung, an die wir unsere Freundschaft knüpfen. Die Bedingung ist absolute Verschwiegenheit. Wir müssen unser wahres Wesen schützen. Wenn ihr unser Angebot annehmt, werdet ihr nichts von dem, was hier passiert ist vergessen. Allerdings wird es euch nicht möglich sein, außerhalb dieser Räume oder wenn ihr allein seid, darüber zu sprechen. Seid ihr bereit, diese Bedingung zu akzeptieren?«
»Ähm, klar, kein Problem.«, meinte Bastian. »Dito.«, meinte Phillip.
»Dann frage ich euch jetzt, wollt ihr den Freundschaftsbund mit dem Hause Varadin eingehen?«
»Ja, ich will!«, kam es zweimal von unseren neuen Freunden.
»Dann können Sie die Braut jetzt küssen.«, machte sich Christiano lustig.
Blutvergiftung
Mein Instinkt hatte mich nicht getrügt. Bastian und Phillip als Freunde meines Hauses anzunehmen, bewies sich als absolut richtige Entscheidung. Ihre Besuche waren immer ein Quell der Freude. Oder nein, das klingt viel zu gestelzt. Wenn die zwei vorbeischauten, krachte es im Karton. Gerade der stille Bastian hatte es faustdick hinter den Ohren. Wer hätte gedacht, dass er nicht nur ein guter Zehnkämpfer war, sondern auch ein talentierter Schachspieler, der sogar unseren inoffiziellen Großmeister gelegentlich in Bedrängnis brachte. Mit 2600 ELO-Punkten spielte Laurentius ganz oben an der Spitze des internationalen Schachs mit, wenn auch aus verständlichen Gründen nicht öffentlich. Bastian wiederum spielte Schach eigentlich nur zum Ausgleich. Er meinte, dass er eine Freizeitbeschäftigung bräuchte, die nicht mit Leichtathletik zu tun hätte, und nahm deswegen an einem Schnupperkurs seines Sportvereins teil. Zwei Jahre später gingen ihm die Gegner aus. Bastian war ein Naturtalent. Als Laurentius ihn in die Finger bekam, spielte er bereits auf dem Niveau von 1900 ELO-Punkten, der Stärke eines A-Klasse Amateurs. Nach drei Jahren regelmäßigen Spiels mit Laurentius hatte er es bis zum Meisteranwärter oder 2100 ELO gebracht. Faktisch spielte er Schach in einer höheren Leistungsklasse als beim Zehnkampf. Was Bastian aber wirklich liebenswert machte, war sein stets fröhliches Wesen. Wo er aufkreuzte, herrschte gute Laune. In der Kombination mit Phillip ergab sich daraus eine explosive Mischung.
Phillip stand synonym für Chaos und Anarchie. Der Typ brachte bei seinen Besuchen richtig Leben in die Bude. Gerade unsere älteren Vampire, die über die Jahrhunderte schon etwas träge geworden waren, konnten ein Lied davon singen. Phillip war frech, respektlos und hinterfotzig, blieb aber stets charmant. Ich mochte ihn, obwohl ich oft selbst Ziel seiner Scherze war.
Was die meisten überraschen dürfte, selbst nach fünf Jahren waren Phillip und Bastian immer noch zusammen, was nicht hieß, dass sie permanent aufeinander hockend alles immer nur zusammen unternahmen. Ihr Geheimnis hieß Vertrauen. Sie vertrauten einander, nicht zuletzt durch die sehr spezielle Verbindung zu unserem Haus. Mit einem Haufen Vampiren befreundet zu sein, konnte man wohl kaum als gewöhnlich bezeichnen. Sie war vor allen auch erklärungsbedürftig. Zu Beginn unserer Beziehung mit den beiden waren sie erst 18 und 19 Jahre alt und lebten noch bei ihren Eltern. Obwohl volljährig, wollten die natürlich wissen, mit welchen merkwürdigen Leuten ihre Sprösslinge so viel Zeit verbrachten. Wir luden sie zu einem Abendessen in die Stiftung ein und lieferten einen wirklich überzeugenden Grund – Bastians Schachtalent. Wenn Laurentius wollte, konnte er tatsächlich charmant sein, wenn auch auf eine etwas spröde Art. Das machte aber überhaupt nichts. Gerade sein in jeder Beziehung ungewöhnliches Wesen, egal ob charakterlich oder visuell, schien Bastians Eltern davon zu überzeugen, dass dieser Mann ein exzentrisches Schachgenie sein musste. Dass er das Training ihres Sohnes übernahm, überraschte sie dann doch.
»Bist du so gut?«, fragte Johanna, seine Mutter.
Bastian lief rot an, schwieg und mampfte lieber sein Dessert.
»Er ist besser.«, erklärte Laurentius, »Bastian hat das Potenzial zum Großmeister.«
»Eine der Aufgaben der Varadinstiftung besteht in der Förderung junger Talente, was auf Bastian zutrifft.«
Man kann sagen, dass Bastians Eltern redlich beeindruckt waren, während Phillips ein wenig angestrengt dreinschauten. Offenbar hatten sie das Gefühl, ihr Filius kam ein wenig zu kurz. Irgendein verborgenes Talent musste er doch ebenfalls besitzen. Phillip und Bastian hatten sich schon mit sechzehn Jahren gegenüber ihren Eltern geoutet, was bei keiner Familie ganz einfach war. Entsprechend zurückhaltend reagierten sie dann auch auf die Beziehung ihrer Söhne. Man meinte und hoffte wohl auch, dass es sich nur um eine vorübergehende Verirrung handelte. Mit den Jahren musste man sich dann aber doch der Realität stellen, dass es sich wirklich um etwas ernsthaftes handelte.
»Wir sollten allerdings nicht nur über Bastian reden.«, ergriff Christiano das Wort und schlug genau den Gedankenpfad ein, dem ich gerade folgte, »Hat Ihnen Phillip eigentlich von seiner ehrenamtlichen Arbeit in unserer Stiftung erzählt?«
Phillips Arbeit war Christianos Auge für besondere Talente zu verdanken. Phillip verfügte über eine beeindruckende Begabung für Grafik und Design. Leider hatte sie früher niemand bemerkt, bis Christiano eine Kritzelei auf einem Notizblock entdeckte. Wer Christiano kennt, weiß, dass er soetwas nicht auf sich beruhen lassen konnte. Er schnappte sich Phillip und ließ diesen erst wieder vom Haken, nachdem dieser etwas mehr von seinem Können gezeigt hatte. Von da an gab es für Christiano kein Halten mehr. Er gab Phillip ein paar Designaufgaben, unter anderem für ein paar Broschüren der Jugendarbeit der Varadinstiftung. Seine Eltern ahnten nichts von diesem versteckten Talent. Umso überraschter zeigten sie sich von Christianos Bericht, den Phillip natürlich mit hochrotem Kopf zur Kenntnis nahm, insbesondere, weil er das dicke Ende kannte. Fairer- oder dreisterweise, das lag im Auge des Betrachters, überließ es Christiano ihm, die Bombe platzen zu lassen.
»Ich werde mein Maschinenbaustudium abbrechen.«, begann Phillip dann auch leise, »Die UdK hat meine Mappe akzeptiert und mich für den Studiengang Grafikdesign akzeptiert.«
»Aber…«, stammelte sein Vater, bis er entschied, ärgerlich zu werden, »Du kannst nicht einfach dein Studium abbrechen. Glaubst du, wir können Geld schei… Ich meine…«
»Bitte! Bitte!«, versuchte ich die Wogen zu glätten, die Phillip mal wieder geschlagen hatte. Er liebte die Provokation, »Die Finanzierung des Studiums ist gesichert. Es gibt ein Stipendium, das Phillip beantragt hat. Außerdem erhielt er selbstverständlich eine Vergütung für seine Designarbeit für die Stiftung.«
Klingt die Geschichte von Phillip und Bastian zu schön, um wahr zu sein. Wie ein Märchen? Es mochte so wirken und in Teilen war es auch eins. Sowohl Phillips Designtalent als Bastians Schachbegabung waren real. Nur war es ausgesprochen fraglich, dass sie unter normalen Bedingungen entdeckt worden wären. Wer konnte auf einen Schachlehrer wie Laurentius zurückgreifen oder wäre Opfer von Christianos Penetranz geworden, an seine eigenen Fähigkeiten zu glauben?
Bastians und Phillips Glück bestand darin, Teil unserer Familie zu sein. Sie waren Freunde des Hauses Varadin und Freunden des Hauses ebnen wir den Weg. War es ein Handel? Blut gegen Protektion und Förderung? Nein, auf keinen Fall. Die beiden gaben ihr Blut vollkommen freiwillig. Niemand forderte sie auf und setzte sie unter Druck, sich beißen zu lassen. Ganz im Gegenteil sagten wir ihnen regelmäßig, sich zu nichts verpflichtet zu fühlen. Die Reaktion war jedes Mal die Gleiche.
»Aber es ist geil, von euch gebissen zu werden!«, formulierte es Bastian mir gegenüber, »Allein beim Gedanken an deine Zähne bekomme ich eine Erektion. Hey, ich werde mir auf keinen Fall den Spaß nehmen lassen, von dir angeknabbert zu werden.«
Was soll ich sagen? Ich knabberte gern. Das war jedenfalls der Status, als Simon und ich unsere Freunde im kleinen Salon empfingen.
»Alter Blutsauger?«, griff ich Bastians Namen für mich auf, »Du hast keine Ahnung, wie recht du hast. Wie ich höre, seid ihr hier, um unseren Hunger zu stillen?«
»Es ist vier Wochen her, dass ihr von uns getrunken habt. Wir dachten, ihr hättet vielleicht Appetit.«, meinte Phillip frech und ging auf Simon zu: »Ich habe dich hier noch nie gesehen. Ich bin Phillip.«
»Simon.«, erwiderte Simon und reichte Phillip seine Hand, »Schön, dich kennenzulernen.«
»Du siehst sehr jung aus.«, Phillip ergriff die ihm angebotene Hand, »Aber das täuscht vermutlich.«
»Nein, überhaupt nicht. Mit etwas über achtzig Jahren bin ich wirklich noch ein Küken.«, Simon ließ seine Zähnchen aufblitzen, allerdings nur, um zu grinsen.
»Hey, du gefällst mir! Hast du Hunger?«, typisch Phillip, gradlinig und direkt. In Simon fand er aber seinen Meister.
»Meinst du, dass du schmeckst? Vielleicht mag ich dein Blut gar nicht.«
»Meine Oma sagte immer, probieren geht über studieren.«, so leicht gab sich Phillip nicht geschlagen. Es war wirklich lustig, den beiden zuzusehen. Bastian schien sich ebenfalls zu amüsieren. Jedenfalls interpretierte ich sein amüsiertes Grinsen so.
»Ich bin gespannt, wer gewinnt. Ich tippe auf Phillip.«, raunte ich Bastian zu,
»Abwarten. Dieser Simon scheint sich nicht so leicht unterbuttern zu lassen.«, raunte dieser zurück, während wir den beiden weiter zusahen, »Und, hast du Hunger?«
»Ja, aber warte. Ich will sehen, wie das ausgeht.«
»Spanner!«
Ich hatte wirklich Hunger und Bastians Blut war immer richtig gut. Man konnte schmecken, dass er auf seinen Körper achtgab. In der Zwischenzeit hatte das Spiel zwischen Simon und Phillip eine neue Stufe erreicht. Simon war gerade dabei, Phillip über den Hals zu streicheln: »Netter Hals.«
»Zum Anbeißen?«
»Vielleicht.«, Simon strahlte Phillip an, schaute dann zu uns, insbesondere aber Bastian herüber, um seinen Blutspender leise zu fragen, »Ist er dein Freund?«
»Oh, ja, das ist er.«, strahlte nun Phillip mit einem tiefen Glühen vor Liebe in den Augen, »Ich liebe diesen Mann.«
»Du bist zu beneiden.«, Simon wurde für einen kurzen Moment melancholisch.
»Sag das nicht.«, erwiderte Phillip, »Du hast dies hier. Du gehörst Constantins Haus an. Du bist sogar ein Vampir.«
»Wärst du gerne ein Vampir?«, fragte Simon in einem Tonfall, der Phillip stutzen ließ und auch Bastian horchte auf. Ich ahnte, worauf diese Unterhaltung hinauslief. Ich hatte sie eigentlich schon wesentlich früher, ein paar Jahre früher erwartet. Phillip schaute zu Bastian hinüber, der immer noch neben mir stand, als wenn er ihn um Erlaubnis für etwas bitten wollte. Ich wusste, was es war und stellte deswegen Bastian selbst diese Frage.
»Ihr möchtet Vampire werden?«
Bastian seufzte, schaute schüchtern und meinte: »Ja, vielleicht… Oder, ja, wir haben darüber gesprochen. Wir wären zusammen. Niemand macht uns an, weil wir schwul sind. Und dann… Ihr seid so stark, intensiv, unabhängig, überlegen.«
»Du täuschst dich, ich bin nicht überlegen. Ja, ich bin stark. Aber überlegen? Nein. Ich mache Fehler, wie jeder andere auch. Ich irre mich und bin alles andere als unfehlbar. Unabhängig? Alles andere als das. Wir sind von menschlichem Blut abhängig. Nennst du das unabhängig?«
»Hältst du uns für ungeeignet oder unwürdig, Vampire zu werden?«, klang Bastian verletzt?
»Hey, nein!«, ich legte Bastian meine Hände auf seine Schultern und drehte ihn so, dass er mir in die Augen schaute, »Phillip und du, ihr beide wärt eine große Bereicherung meines Hauses, meiner Familie, aber ist euch klar, was ihr aufgeben müsstet? Euer ganzes bisheriges Leben, eure Freunde, eure Familien, einfach alles. Wir sind Geschöpfe der Dunkelheit, Untote. Wärt ihr bereit, auf die Sonne zu verzichten? Stell dir vor, du könntest nie wieder zusammen mit Phillip einen Sonnenuntergang bewundern oder im Sommer bei strahlend blauem Himmel schwimmen gehen. Aber das entscheidende ist, dass ihr sterben müsst, um als Vampir wiedergeboren zu werden. Bist du wirklich bereit für diesen Schritt? Kannst du das? Könnt ihr das?«
Bastian schaute zu Boden: »Nein, könnten wir nicht. Unsere Familien aufgeben? Daran haben wir nie gedacht. Ich… Es tut mir Leid, dass ich gefragt habe.«
»Nein, sag das nicht! Bastian, es muss dir nicht leidtun, gefragt zu haben. Du darfst mich alles fragen, was dir auf der Seele brennt. Und glaube ja nicht, dass ich eure Idee nicht zu schätzen wüsste. Ganz im Gegenteil. Dass ihr ernsthaft darüber nachdenkt, Teil meiner Familie zu werden, macht mich stolz und glücklich.«
Dies war einer dieser emotionalen Momente, bei denen jedes weite Wort ein Wort zu viel war. Bastian schaute zu mir auf und begriff. Ein verhaltenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
In der Zwischenzeit waren sich Phillip und Simon einen Schritt näher gekommen. Simon hatte seine Beißerchen ausgefahren, die Phillip nun genauestens inspizierte. Er tippte sogar mit dem Zeigefinger gegen deren Spitze.
»Autsch! Verdammt sind die scharf.«,
Ein kleiner Blutstropfen zierte Phillips Fingerkuppe.
»Überrascht?«, fragte Simon verwundert, »Ich glaube nicht, dass Christianos weniger spitz waren.«
»Wohl nicht. Aber der ließ mich nicht…«, Phillip blinzelte Simon an, »Ach egal. Wie isses? Willst du?«
»Liebend gern.«
»Dann mal los!«
Es war immer wieder interessant, die unterschiedlichen Arten zu beobachten, mit denen meine Vampire sich ihren Blutspendern näherten. Bei Christiano war es immer ein gleichzeitig sinnlicher und wilder Akt. Bei Laurentius… Nun ja, sagen wir mal, seine Nahrungsaufnahme deckte sich mit seinem Temperament. Simon ging die Sache sehr verspielt an. Er neckte Phillip ein wenig, um ihm dann seine Zähne in die Halsschlagader zu bohren. Er nahm ein paar gute Schlücke, ich schätze so rund 150ml und löste sich wieder von Phillip. Der stöhnte und schien wie üblich einen netten Orgasmus erlebt zu haben.
»Jetzt bin ich aber dran!«, maulte Bastian ungeduldig.
»Du scheinst es ja gar nicht erwarten zu können.«
Bastian antwortete nicht, sondern präsentierte stattdessen seinen Hals. Ich wollte gerade zubeißen, meine Zähne waren schon ausgefahren, als ich einen Schmerzensschrei hörte. Ich wirbelte sofort herum. Simon schrie, er hatte Schaum vorm Mund und griff sich zum Herz. Entsetzt sprang ich auf ihn zu, während Phillip panisch zurückwich.
»Was hat er?«
»Ich weiß es nicht. Schnell, ruft Ricardo, schnell!«
Bastian rannte sofort zum Telefon des kleinen Salons, um Hilfe anzufordern. Phillip war in Schockstarre verfallen und starrte Simon nur an. Ich wiederum hatte ihn fast erreicht, als er unmittelbar vor mir zusammenbrach. Er begann zu krampfen und um sich schlagen. Ich wollte gerade nach seinen Armen greifen, um zu verhindern, dass er sich selbst verletzte, als plötzlich seine Haut Risse bekam aus denen Licht, Sonnenlicht zu schimmern schien. Simon verbrannte. Er verbrannte von innen heraus. Der Prozess beschleunigte sich immer mehr. Ich konnte nichts für ihn tun. Noch bevor ich überhaupt begriff, was sich vor meinen Augen ereignete, bevor mir die Bedeutung wirklich bewusst wurde, war Simon, der liebe harmlose Simon, zu Asche zerfallen.
Clubnacht
Florian
Ich wachte auf. An sich nichts ungewöhnliches. Der Prozess ist nicht sonderlich spektakulär. Man liegt im Bett und ist plötzlich wach – mehr oder weniger. Wobei das weniger ganz spannend sein kann. Manchmal wird man nämlich nicht spontan wach, sondern gleitet langsam aus einem Traum heraus in die Wirklichkeit. So war es auch bei diesem Erwachen. Ich träumte gerade, an ein knuffiges Kerlchen gekuschelt in einem Bett zu liegen. Wir waren nackt. Seine Brust berührte meinen Rücken. Ich konnte fühlen, wie sich sein Brustkorb beim Atmen hob und wieder senkte. Und dann war er auch noch so wunderbar warm und lebendig.
»Guten Morgen, Flo!«
Ein Traum? Mein Körper überquerte die Traumwachgrenze. Das angenehme Gefühl, neben einem angenehm warmen Körper zu liegen blieb. Interessehalber öffnete ich meine Augen.
»Hallo Tommi!«
Ja, ich kannte den Jungen, der links neben mir lag. Ich kannte sogar den geilen Kerl, der rechts neben mir lag. Allerdings war ich noch nicht wach genug, um mich erinnern zu können, wieso ich nackt zwischen zwei attraktiven, ebenfalls nackten Typen lag.
»Christiano…«, ich nickte meinem Kollegen zu.
Mangels einer besseren Idee richtete ich mich erst einmal auf und massierte meinen ganz leicht brummenden Schädel.
»Wow, was für eine Nacht.«
Dieser Satz markierte die Wiederkehr meiner Erinnerung. Sie war zwar nicht vollständig zurückgekehrt, die groben Details aber schon. Bevor ich allerdings dazu kam, die Erlebnisse der letzten Nacht durchzugehen, angelte ein gelenkiger Arm nach mir und zog mich zu sich heran. Tommi drückte mich zurück aufs Bett. Meine Gegenwehr hielt sich in Grenzen und wurde hinweggefegt, als Tommi mir auf Brust und Bauch kletterte, sich dort niederließ, vorbeugte und mich ziemlich verspielt küsste.
»Was für eine Art aufzuwachen!«
Neben uns lag Christiano, den Kopf auf seinen Arm gestützt und uns schmunzelnd musternd. Aus dem Schmunzeln wurde ein Grinsen, als Tommy mit einer Hand nach meinem inzwischen steifen Schwanz griff und mit der anderen nach einer Gleitgelflasche, die griffbereit neben dem Bett stand. In Windeseile wurde die Flüssigkeit auf meinem besten Stück verteilt. Sekunden später begann das Kerlchen sich genüsslich auf meinem steinharten Glied niederzulassen. Der Typ war ein richtiger kleiner Teufel und viel zu zielstrebig, dass es mir gelang, signifikanten Widerstand aufzubauen. Ganz im Gegenteil gab ich mich der Sache hin. Ich hatte soetwas noch nie erlebt. Tommy begann mich zu reiten. Es war absolut geil. Dass Christiano zusah und amüsiert vor sich hinschmunzelte, machte die Angelegenheit nur noch geiler.
Was trieb ich hier eigentlich? Marginale Reste meines ansonsten so wachen Verstands versuchten meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich schob ihr buhlen beiseite. Ich hatte Sex! Das erste mal hatte ich Sex mit einem anderen Kerl, auch wenn ich diesen erst ein paar Stunden kannte. Obwohl… was heißt kennen?
Der letzte Abend lag mehr oder weniger im Dunklen. Christiano hatte mir diesen geilen Club gezeigt. Zuerst sind wir auf seinem Motorrad durch die halbe Stadt gefahren. Eine Industrieruine, ein altes Umspannwerk war unser Ziel. Mitten zwischen den Hinterlassenschaften ehemaliger produktiver industrieller Geschäftstätigkeit, zwischen Fabriken aus rotem Backstein, alten Schloten, die schon seit Ewigkeiten keinen Rauch abgeblasen hatten und gespenstischen Stahlgerippen unbekannter Funktion lag unser Ziel, der Club. Ich hatte soetwas noch nie gesehen, geschweige denn gewagt, davon zu träumen.
Die Leute verhielten sich ebenso bizarr und gewagt, wie sie auftraten und sich präsentierten. Jungs, Männer, Kerle tanzten spärlich gekleidet mit anderen Jungs, Männern und Kerlen, aber auch mit Frauen, Vollweibern oder regelrechten Vamps. Schwarz dominierte. Ansonsten konnte man keine dominierende Textilie ausmachen. Es gab Samt, Seide und Leder, aber auch Lack- und Latex. Den Laden wild zu nennen, traf es nicht annähernd.
Und ich mitten drin. Ich, Florian, der Schüchterne, Florian, die Klemmschwester mit dem nicht vorhandenen Selbstbewusstsein. Meinem bisherigen Charakter entsprechend hätte ich in Panik geraten müssen. Ich tat es nicht. Ganz im Gegenteil konnte ich mich kaum sattsehen. In jeder Ecke gab es etwas zu entdecken. Neue Eindrücke prasselten dermaßen auf mich ein, dass ich fast trunken wurde. Zwei eng umschlungene Kerle, nur mit Stiefeln und Lederhosen bekleidet beim Küssen zu beobachten, war einfach nur geil, wenn es auch etwas Wehmut auslöste. Ich wollte selbst geküsst werden.
Christiano besorgte uns Drinks, einen Cocktail namens »blutige Nacht«. Das Gesöff schmeckte himmlisch oder teuflisch gut, ich wollte mich da nicht festlegen. Auf jeden Fall stieg er mir direkt zu Kopf, sodass die nächsten Minuten nur neblige Schatten in meiner Erinnerung zeigten. Ich konnte mich noch daran erinnern, einen Freund Christianos, Michael Breskoff, in einer Art Séparée, einer sehr loungigen Landschaft aus gepolsterten Ebenen und massenweise Kissen, besucht zu haben. Dort war auch Tommi, der kleine Teufel, der sich gerade mit meinem Schwanz selbst fickte, zu uns gestoßen. Ein Weile hatte der dann mit Christiano rumgemacht, obwohl richtiger Sex dabei… Nein, die entsprechenden Erinnerungsfragmente fehlten. Das Erste, woran ich mich wieder etwas klare erinnern konnte, war, als Christiano zu Tommi meinte, ob er nicht Lust hätte, mit mir tanzen zu gehen. Und was machte der kleine Teufel? Krabbelte von Christiano über die Sitz- und Liegelandschaft zu mir, umarmte mich von hinten, schmiegte sich an mich und flüsterte mir ins Ohr, mit ihm mitzukommen. Ob er befürchtete, dass ich seiner Bitte nicht entsprach, weiß ich nicht. Auf jeden Fall wartete er meine Antwort nicht ab, sondern packte mich am Handgelenk.
Tommi zog mich mit sich. Dabei wehrte ich mich gar nicht. Mit mir im Schlepptau verließen wir das Séparée und liefen zur Tanzfläche, die sich in einer Art riesigem Becken in der Mitte der alten Transformatorenhalle befand. Eine breite Stahltreppe führte hinab in die wogende Menge. Eine dichte, schwüle, dampfende und sexgeladene Atmosphäre schlug uns entgegen. Schwitzende Körper bewegten sich im stampfenden Takt der Musik, berührten sich, kamen sich näher. Tommi riss sich sein T-Shirt vom Leib und stopfte es sich in die Hose. Keine Ahnung, welcher Teufel mich ritt. Ich folgte seinem Vorbild. Ohne zu zögern zog ich ebenfalls mein Hemd aus und fühlte mich dabei… befreit, lebendig und erregt. Ich fühlte, wie mich die Blicke der anderen Tänzer trafen, konnte ihre Lust und Gier spüren. Demonstrativ schüttelte ich meinen Kopf und ließ meine blonde Engelshaarmähne umherwirbeln, genau wissend, dass sich das Licht der Tanzflächenscheinwerfer darin verfing und zum Glühen brachte. Ich fragte mich nicht, wieso ich dies tat, obwohl diese Frage mehr als angebracht war. Entsprach mein Verhalten so überhaupt nicht meinem normalen Wesen. Ein Scheiß auf mein normales Wesen!
Wir tanzten. Ich wollte tanzen. Nicht, dass ich die geringste Ahnung vom tanzen gehabt hätte. Ich versuchte es einfach und es funktionierte. Tommi strahlte mich an, kam auf mich zu, umarmte mich. Seine nackte Brust berührte meine nackte Brust. Lust explodierte in meinem Inneren. Ich kam Tommis nächstem Schritt zuvor. Ich küsste ihn – tief!
»Hallo Kleiner!«
Eine Hand berührte meine Schulter und übte sanften, aber unnachgiebigen Druck aus. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich ihrem Eigentümer zuzuwenden. Es war eine Eigentümerin. Vor mir stand eine große, ultraschlanke und hyperattraktive Frau. Ihr Teint war bleich, fast weiß und stand im krassen Kontrast zu ihren rückenlangen, tiefschwarzen Haaren und dunklen Augen. Bei jeder anderen Frau hätte ich den schwarzen Lippenstift und das ultraenge Lackkleid für billig oder zumindest klischeehaft bewertet. Nicht bei ihr. Diese Frau hatte Klasse. Ihre Gesichtsknochen verliehen ihr einen aristokratischen Habitus und unterstrichen damit ihr dominantes, selbstbewusstes Auftreten. Diese Frau wusste, was sie wollte und schien wenig Skrupel zu besitzen, es sich auch zu nehmen.
»So ganz allein?«
Diese Stimme – süß wie Honig und gleichzeitig scharf wie Chili. Lange, elegante Finger, mit selbstverständlich schwarz lackierten Nägeln strichen mir über Kinn, Hals und Brust. Mir wurde unwohl in meiner Haut. Das Bild von Hummern im Aquarium eines Fischhändlers kam mir in den Sinn. Ich war einer dieser Hummer.
»Ähm, Lady Lydia?«, machte sich plötzlich Tommi bemerkbar, der diese Frau wohl kannte.
Die Angesprochene reagierte wie jemand, der gerade eine Kakerlake über sein Frühstücksbrötchen huschen sah – mit Abscheu. Die galt aber exklusiv nur Tommi. Ich wusste nicht, wie sie es schaffte, mich gleichzeitig weiter zu bezirzen und Tommi mit einem Blick zu bedenken, der das Potenzial besaß, die Hölle einfrieren zu lassen.
»Was willst du Lutschbonbon?«, ließ sich die Dame namens Lydia herab.
»Florian ist Christianos Gast.«, meinte Tommi knapp und völlig emotionslos.
Lydias Reaktion war interessant. Ganz offensichtlich erachtete sie ein Gespräch mit Tommy als Zumutung, als allerdings Christianos Name fiel, zuckte die Lacklady zusammen. Für einen kurzen Moment schimmerte Unsicherheit auf, dann hatte sie ihre Fassung wiedergefunden.
»Und wenn schon.«, erwiderte Lydia herablassend, »Christianos Stern ist am sinken. Ich wäre an seiner Stelle vorsichtig, allzu große Ansprüche zu erheben.«
Tommi ging auf diese Antwort nicht ein, jedenfalls nicht direkt, sondern fügte seinem letzten Satz einfach noch einen zweiten hinzu: »Florian ist auch Master Michaels Gast.«
»Oh, warum hast du das nicht gleich gesagt?«, säuselte Lydia zuckersüß, während ihre Augen die Botschaft thermonuklearer Vernichtung verbreiteten, »Florian, viel Spaß noch. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.«
Irgendetwas ging hier ab, was ich nicht schnallte. Was wollte diese Lydia-Lady von mir? Und warum trollte sie sich, kaum dass Christianos oder Michaels Name fiel? Man muss nicht sonderlich gescheit sein, um zu begreifen, dass vor meinen Augen mehr ablief, als ich durchblickte. Und wenn schon! Ich wollte tanzen und ich tanzte.
Ich tanzte mit Tommi, für mich allein und mit allen anderen Leuten im dampfenden Tanzbecken. Ich gab mich dem Rhythmus, dem sexgeladenen Aroma der Luft, der Hitze der Körper hin und tanzte. Ich fühlte mich wohl, lebendig und erregt. Und ich spürte wieder die Blicke, mit denen man mich bedachte. Lüsterne Blicke, Blicke der Begierde, des Hungers und der Furcht. Furcht? Wieso fürchtete man mich.
»Komm, lass uns zurückgehen.«, meinte Tommi und zog mich zurück ins Séparée, in dem Christiano und Michael auf uns warteten.
»Na, ihr zwei, habt ihr Spaß gehabt?«, fragte Michael fröhlich.
Statt zu antworten, schenkte ich ihm und Christiano nur ein zufriedenes Lächeln und ließ mich auf einen der Kissenberge niedersinken. Exzessives tanzen macht müde.
»Offensichtlich.«, kommentierte Christiano meine nonverbale Antwort.
»Lydia hat sich an ihn rangemacht.«, berichtete Tommi ruhig, »Ich habe gesagt, dass er euer beider Gäste ist. Christiano, dein Name allein reichte nicht.«
Christiano seufzte: »Das war zu erwarten. Hat sie dir geglaubt?«
»Das kommt drauf an. Habe ich die Wahrheit gesagt?«, fragte Tommi kryptisch.
»Selbstverständlich!«, meinte Michael schmunzelnd, »Es wäre mir eine Ehre, euch, Florian, als meinen Gast zu betrachten.«
Mir schien, als wenn man vergessen hätte, mir eine Bedienungsanleitung für diesen mehr und mehr schräger werdenden Clubbesuch ausgehändigt zu haben. Ich verstand nicht das geringste von dem, was die drei Männer miteinander besprachen. Entsprechend hilflos reagierte ich auf Michaels Angebot.
»Ich weiß zwar nicht, worum es geht, aber ich fühle mich geehrt, euer Gast zu sein.«
Damit war das Thema abgehakt. Während Christiano und Michael miteinander plauderten, organisierte Tommi uns ein paar Drinks, den beiden diskutierenden je einen Cocktail, sich und mir je einen Cocktail und einen alkoholfreien Softdrink, um unseren Durst zu löschen.
»Du gefällst mir.«, meinte Tommi. Er hatte sich neben mich in die Kissenlandschaft gelegt und begann mir über den Körper zu streicheln. Ein verlegener Ausdruck schlich sich in sein Gesicht: »Du hast nicht die geringste Ahnung, was hier eigentlich abgeht, oder?«
Ich schüttelte zwar verneinend meinen Kopf, meinte aber eigentlich ja. Ich hatte in der Tat keine Ahnung, was eigentlich abging.
»Erklärst du es mir?«
»Ah, Scheiße, Tommi, ich komme!«
Mein kleiner geistiger Ausflug in die Ereignisse des letzten Abends wurde vom aufkeimenden Orgasmus jäh unterbrochen. Dieser knuffige, süße und sehr gelenkige Kerl hatte es tatsächlich geschafft, mich dadurch zum Höhepunkt zu bringen, indem er sich selbst mit meinem Schwanz fickte. Es gefiel ihm. Sein ebenso triumphierendes wie lustvolles Haifischgrinsen sprach Bände. Auf mir hockend drückte er sich fest gegen meinen Schoß, um noch das allerletzte Stück meines Gliedes in sich aufzunehmen.
Ich entlud mich in ihm und das zu meiner Schande ohne Kondom. Tommi grunzte und schloss seine Augen. Offensichtlich kostete er meinen Orgasmus genauso aus, wie ich. Sein Schwanz stand steif und senkrecht empor und berührte fast seinen Bauch. Erstaunlich – meinte ich mich doch daran zu erinnern, irgendwo gelesen zu haben, dass beim Analverkehr der Penetrierte eher abschlaffte. Analverkehr? Penetrierte? Was für kalte Begriffe für eine so wunderschöne, erfüllende Beschäftigung.
Das war es also, mein erstes Mal! Komisch, an was man alles denkt, wenn man von seinem Höhepunkt wieder runterkommt. Ich war selbst etwas überrascht, hatte ich es mir doch irgendwie anders vorgestellt, aber die Tatsache an sich ließ sich nicht bestreiten. Ich hatte das erste mal in meinem Leben mit einem anderen Mann geschlafen. Ihn sogar gefickt… Oder er sich mit meinem Schwanz. Die Details waren egal. Der Punkt war, ich war keine Jungfrau mehr! War das wichtig? Nein, auch nicht. Jedenfalls nicht der technische Akt an sich. Was wichtig war, für mich, für meine Psyche, mein Ego, mein Selbstbewusstsein, dass es Männer gab, die mich begehrten. Tommi mochte mich, ich konnte es fühlen und ich hatte es erlebt.
Der Abend im Club war nach unserer Tanzsession noch lange nicht zu Ende gewesen. Wir lagen zusammen mit Michael und Christiano im Séparée. Tommi wich meiner Frage nach Erklärungen mit einem sanften »später« aus. Stattdessen intensivierte er die Streicheleinheiten, denen ich mich ohne sonderliche Gegenwehr ergab. Ganz im Gegenteil war es überwältigend schön, von einem anderen Menschen derart begehrt zu werden. Es dauerte nicht lange, da begann ich Tommis Zärtlichkeiten zu erwidern. Wenig später lagen wir eng umschlungen in den Kissen und legten ein Zungenduell der Extraklasse hin. Gelegentlich bedachten uns Michael und Christiano mit wohlwollenden Blicken, ließen sich aber ansonsten nicht von unserer Schmuserei stören. Ganz im Gegenteil schienen sie in ein wichtiges und ernsthaftes Gespräch vertieft zu sein, wenn ich die gelegentlich aufflammenden Sorgenfalten in ihren Gesichtern richtig interpretierte.
»Komm, lass uns noch etwas tanzen gehen!«, Tommi war eindeutig ein Energiebündel.
Wir erhoben uns und verließen erneut das Séparée.
Körperliche Nähe
Die Tanzfläche erreichten wir hingegen nicht. Im Gegensatz zum vorigen Mal, als wir Christiano und Michael allein zurückließen, hatte es Tommi nicht eilig. Statt zu rennen schlenderte wir durch die Massen, sodass ich mir den Club und seine Gäste ansehen konnte. Seit unserem Eintreffen – wie viele Stunden mochte es her sein? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren – war es im Club deutlich voller, brechend voll geworden. Wir mussten uns den Weg durch die Massen regelrecht freikämpfen. Zur fortgeschrittenen Stunde schien sich das Publikum geändert zu haben. Dominierte anfangs eher ein Gothicstyle hatte sich der Stilmix jetzt eher in Richtung Fetischkultur verschoben. Im Prinzip tummelte ich mich in einer mir völlig fremden Welt. Hatte ich Angst? Nein, ich fühlte mich wohl. Das Partyvolk verhielt sich sehr friedlich, was man bei dem einen oder anderen schon sehr krassen Outfit eigentlich nicht erwartet hätte.
Nach mehreren Minuten Schwimmens mit und gegen die Masse hatten wir den Rand des Tanzbeckens erreicht und stellten fest, dass an Tanzen nicht mehr zu denken war. Das Rechteck war voll. Halb nackte Leiber beiderlei Geschlechter betrieben etwas, das irgendwo zwischen Tanz und archaischen Fruchtbarkeitsriten angesiedelt war. Ich hatte nicht das Bedürfnis, daran teilzunehmen. Platz hätte es sowieso nicht gegeben. Die Musik war allerdings richtig gut, sehr basslastig und mit einem treibenden, fast schon hypnotischen Beat und komplexen Soundstrukturen, die mich unwillkürlich an aufwendige Einlegearbeiten eines Schreiners denken ließen. Ich konnte eben nicht aus meiner Haut.
»Und, gefällt es dir hier?«, brüllte mir Tommi direkt ins Ohr.
»Ungewohnt, aber total geil hier!«, brüllte ich zurück, »Was ist da hinten los?«
Während ich die Musik in mich aufnahm, war mein Blick gewandert und an einem Abgang hängen geblieben. Neben einem der Séparées, die ursprünglich mal Buchten für die Transformatoren des Umspannwerks waren, konnte ich einen Einschnitt im Boden ausmachen, aus dem ein Geländer herausragte. Gelegentlich tauchten Leute in diesem Einschnitt ab oder kamen aus ihm heraus, sodass die Vermutung nahe lag, dass es sich dabei um eine Treppe handelte, die hinab in ein Untergeschoss führte.
»Der Darkroom!«, brüllte Tommi, »Willst du?«
Ich wusste rein theoretisch, was ein Darkroom war, wusste aber auch ganz praktisch, dass ich nicht wollte. Als jemand, der bisher ausschließlich Sex mit sich selbst hatte, empfand ich den Sprung direkt von der Masturbation zum anonymen Gruppensex doch etwas groß.
»Nein, ich…«, weiß der Teufel, was mich ritt, diesem unbekannten Kerlchen zu vertrauen, »Ich bin noch Jungfrau!«
Als wenn das der einzige Grund wäre, keinen Sex im Darkroom haben zu wollen. Immerhin war er sehr überzeugend und ersparte mir vermutlich halb ausgegorene Argumentationsversuche. Tommi machte jedenfalls große Augen.
»Echt?«, brüllte er mir ins Ohr. Ich nickte nachdrücklich.
»Aber… So ein Typ wie du?«, schrie mein Begleiter entgeistert, »Junge, du könntest jeden haben! Ist dir eigentlich klar, was für eine Ausstrahlung du hast?«
Waren das Komplimente? War es etwas gutes, jeden haben zu können? Ich bezweifelte es doch arg. Entsprechend irritiert hatte ich Tommi dann wohl auch angestarrt.
»Nein! Nein!«, wiegelt er heftig ab, »So hab ich das nicht gemeint. Ich finde es cool, dass du nicht so bist wie…«
Mein Begleiter deutete mit seinem Kopf einmal in die Runde und verwirrte mich noch mehr. Erneut keimte in mir die Frage auf, was hier eigentlich abging. Im Prinzip schien es sich um einen ganz normalen Club zu handeln, wie man ihn aus Fernsehreportagen kannte. Gut, die Ausrichtung des Publikums tendierte in Richtung Goth und Fetischszene, aber welcher Club, der etwas auf sich hielt, tat dies heutzutage nicht? Alles schien auf den ersten Blick ganz normal zu sein. Aber auf den zweiten… Es war nur ein Gefühl, eine Ahnung. Es war, wie sich die Leute gaben, wie sie sich bewegten und miteinander umgingen. Irgendetwas war anders. Ich konnte zwar keinerlei Cluberfahrung vorweisen, trotzdem war ich mir absolut sicher, dass sich auf einer anderen, unterschwelligen Ebene etwas abspielte, das dem uneingeweihten Auge verborgen blieb. Was alles noch verwirrender machte, war der Umstand, dass sich ein Teil dieser verborgenen Ebene um mich drehte. Ich fühlte, wie man mich beobachtete und mit Blicken bedachte. Warum? Wozu? Bevor ich meine Verwirrung in die Form einer Frage bringen konnte, tauchte plötzlich Christiano neben mir auf und meinte, dass es Zeit wäre, aufzubrechen.
»In rund einer Stunde bricht die Dämmerung an.«, teilte mir mein Arbeitskollege mit und schien für sich damit alles erklärt zu haben. »Tommi, willst du mitkommen?«
»Darf ich?«, der Junge begann zu strahlen und vollführte mentale Luftsprünge.
»Die Stadtwohnung. Du kennst den Weg. Bist du mobil?«
»Ja, kein Problem.«
Wenig später verließen wir zu dritt den Club respektive das ehemalige Umspannwerk. Die Harley stand immer noch am gleichen Ort, wo wir sie zurückgelassen hatten. Während ich mich hinter Christiano auf die Sitzbank schwang, schlenderte Tommi zu einem kleinen, schwarzen Mini, öffnete ihn, nickte uns zu und stieg ein. Wir brausten los. Noch lagen die Straßen im Dunklen und wurden nur von den Straßenlaternen beleuchtet. Der Himmel war sternenklar, die Luft kühl, aber nicht kalt und frisch. Ich schnupperte. Auf einem Motorrad sind die Sinneseindrücke viel direkter, als in einem Auto. Ich konnte sie riechen, die Dämmerung. Noch konnte man nichts erkennen, kein blasser Schimmer am östlichen Horizont. Aber sie war da, die Sonne. Ich konnte sie erahnen. Sie würde mir Schmerzen zufügen. Was war das nur für eine verdammte Allergie, die ich mir da zugezogen hatte?
Wenige Minuten nach uns traf auch Tommi vor dem Hochhaus ein, das Christianos Appartment beherbergte. Unser Gastgeber betätigte eine Fernbedienung und das Rolltor der Tiefgarage öffnete sich. Christiano fuhr voraus, dicht gefolgt von Tommis schwarzem Mini. Wir parkten die Fahrzeuge in der abgeteilten Garage.
»Oh Mann, bin ich müde!«, entfuhr es mir, »Wie lange waren wir auf den Beinen? Wie spät ist es?«
»Es ist kurz vor sechs.«
Ich zählte die Stunden. Wir hatten gegen halb elf Christianos Wohnung verlassen, das machte sechseinhalb Stunden. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals so lange unterwegs gewesen zu sein, geschweige denn dabei einen Club aufgesucht zu haben. Mein Leben hatte sich in der Tat verändert, und das sogar ziemlich radikal. Das beste daran war, dass es mir gefiel, sogar verdammt gut gefiel.
Der Fahrstuhl kam und beförderte uns direkt in das oberste Stockwerk. Wir betraten Christianos Appartment. Die große Schutzwand vor dem Panoramafenster war noch nicht geschlossen und ich wagte einen Blick auf die immer noch friedlich schlafende Stadt. Nicht mehr lange und die Sonne würde aufgehen. Wie aufs Kommando flammte am fernen Horizont eine dünne Linie auf, die die beginnende Dämmerung markierte. Ich wandte meinen Blick ab und schaute zu Christiano. Ich wusste genau, wohin ich schauen musste. Zum Bedienfeld der Schutzwand. Er sagte nichts, sondern drückte nur auf einen Kopf. Leise, fast lautlos erhob sich eine Wand aus dem Boden und schloss das Panoramafenster, gleichzeitig begannen die Milchglaswandpaneele einer der anderen Wände sanft zu leuchten.
»Es ist spät, was haltet ihr davon, schlafen zu gehen?«, fragte Christiano. Wie aufs Kommando begann ich zu gähnen. Ich fühlte mich plötzlich sehr müde, »Eine hervorragende Idee.«
Christiano schlenderte zum großen Bett, entfernte eine Tagesdecke und schlug die Bettdecke zur Seite. Wie aufs Kommando begab sich Tommi ebenfalls zum Bett und begann sich zu entkleiden, vollständig, einschließlich seines Slips. Nackt, wie er geboren wurde, schlüpfte er unter die Decke. Meine Müdigkeit lichtete sich ein wenig und drohte ganz zu verschwinden, als auch Christiano sich seiner Kleidung entledigte. Was blieb mir anderes übrig, als ihrem Vorbild zu folgen? Peerpressure wirkt stark motivierend. Mit einem Seufzer auf den Lippen begann ich mich ebenfalls zu entkleiden, bis ich schüchtern, nackt und leicht ängstlich dastand.
»Nu komm schon ins Bett!«, forderte mich Tommi auf und hielt mir die Bettdecke auf.
Ich sammelte allen Mut zusammen, den ich aufbringen konnte und krabbelte zu den anderen zwei Männern ins Bett. Darauf hatten sie nur gewartet. Ich wurde von zwei Seiten in den Arm genommen und an Nacken, Brust und Wange geküsst. Man schmiegte sich an mich, liebvoll, sinnlich aber weder fordernd noch drängend.
»Entspann dich, du bist unter Freunden. Lasst uns jetzt schlafen. Morgen können wir reden.«
Das war’s! Christiano löschte das Licht. Wie auf Kommando überkam mich eine starke Müdigkeit. Die zwei warmen Körper neben mir vermittelten Geborgenheit. Alles war gut. Ich fühlte mich sicher und gab der Müdigkeit nach.
»Wahnsinn!«, stöhnte ich erschöpft.
Tommi hatte mich mit seinem Ritt ganz schön ausgelaugt. Frech grinsend hockte er immer noch auf meinem Schoß. Sein Schwanz stand nach wie vor wie eine Eins. Wartete er darauf, dass ich mich bei ihm revanchiere? So gern ich es getan hätte, so wenig wäre ich dazu imstande gewesen. Ich war viel zu matt, um das Kerlchen zu befriedigen. Verdient hätte er es.
»Hey, was schaust du so bedröppelt drein? War ich nicht gut? Hat es dir nicht gefallen?«
Tommi wirkte besorgt und auch ein wenig enttäuscht. Meine unbewusste Körpersprache war wohl recht eindeutig und hatte meine Gefühle preisgegeben, die Tommi sofort bemerkt, aber völlig falsch interpretiert hatte. Ich bäumte mich auf wie bockender Hengst, warf den völlig überrumpelten Tommi ab, packte ihn, umschlang ihn mit meinen Armen und zog ihn zu mir herauf.
»Du warst wunderbar, Tommi.«, flüsterte ich dem lieben Kerl ins Ohr, »Erinnerst du dich daran, was ich dir gestern im Club erzählte? Dass ich eine Jungfrau bin? Es ist wahr. Ich habe nicht geflunkert, dich nicht angelogen. Du bist der erste Mann, mit dem ich jemals geschlafen habe.«
Während die Bedeutung meiner Worte langsam in Tommis Schädel einsickerte, streichelte ich ihn, zwirbelte an seinen Nippeln, knabberte an seinen Ohrläppchen, küsste ihm den Hals und die Brust. Ich tat all das, was mir in den Sinn kam und von dem ich meinte, dass es meine Zuneigung am besten ausdrückte.
»Du hast echt noch nie…?«, fragte Tommi entsetzt.
Ich antwortete nicht mit Worten sondern schüttelte nur den Kopf, wobei ich meinem knuddeligen Freund tief in die Augen schaute. Der wurde blass und begann zu stammeln.
»Flo, entschuldige… Oh, Mann, ich wollte doch nicht… Mensch, Chrisi, warum hast du mir nichts gesagt, dass er wirklich noch nie…? Ich hätte doch…«
Richtig, Christiano lag ja auch noch mit uns im Bett. Den hatte ich fast vergessen. Er uns aber nicht. Statt sofort zu antworten, rollte er zu uns heran und schmiegte sich an Tommis andere Seite. Mit einem freien Arm angelte er nach dem Oberbett, bekam es zu fassen und deckte uns drei zu.
»Ich glaube,«, begann Christiano, »dass du den Falschen fragst. Frag Florian.«
Er brauchte nicht fragen, ich antwortete auch so.
»Tommi, es ist ok. Es war nicht nur absolut geil, es war auch absolut wunderbar. Dich ficken zu dürfen war… direkt und intim. Noch nie bin ich einem anderen Menschen derart Nahe gekommen. Verdammt, ich war in dir! Wie geil ist das denn?«
»Du bist mir nicht böse?«
»Warum sollte ich das sein? Wenn es mir nicht gefallen hätte, hätte ich Stopp gerufen. Hab‘ ich aber nicht, oder?«
Tommi grinste keck: »Nee, hast du nicht.«
Dieses Grinsen machte mich an. Mein Arm ging auf Wanderschaft und tastete sich zu Tommis primärem Geschlechtsorgan vor. Meine Hand öffnete sich und umfasste das ebenso steife wie samtweiche Teil. Noch eine neue Erfahrung! Einen fremden Schwanz in seinen Händen zu halten ist völlig anders, als den eigenen. Dieser fühlte sich viel lebendiger und wärmer an. Er pulsierte vor Leben und Geilheit. Ich wusste, was ich wollte. Ich wollte Tommi in mir spüren, so wie er mich in sich gespürt hatte.
»Tommi, würdest du mich… Du weißt schon.«
»Echt?«, schoss es aus einem großäugigen Tommi heraus, »Aber du hast doch noch nie.«
»Bitte wartet!«, hörte ich Christiano leise aber nicht weniger nachdrücklich sagen, »Bevor ihr weitermacht, müssen wir reden. Es gibt da etwas, das Florian über sich wissen muss, soll das hier nicht in einer Katastrophe enden.«
»Das fällt dir aber früh ein!«, meinte ich frostig, »Ok, reden wir!«
Spurensicherung
Constantin
»Simon!«, brüllte ich entsetzt und starrte auf den Haufen Asche, der eben noch ein süßer, junger Vampir war.
Bastian ließ den Telefonhörer fallen, mit dem er Ricardo gerufen hatte, während Phillip nichts sagte, sondern in einer Art Schockstarre verharrte. Das war verständlich. Mit eigenen Augen ansehen zu müssen, wie ein Vampir in Flammen aufging und zu Asche zerfiel, war nichts für schwache Gemüter, weder für Vampire, noch für Menschen. Nur Vampirjäger liebten diesen Anblick. Ich war daher auch ein wenig um meine beiden menschlichen Freunde besorgt und legte deswegen dem neben mir stehenden Bastian meine Hand auf die Schulter.
»Fass mich nicht an! Komm mir nicht zu nahe!«, schrie Bastian auf und rastete komplett aus.
Was hatte ich ihm getan? Hatte ihn plötzlich der Vampirhass gepackt? Sah er mich als einen dieser widerlichen Blutsauger billigster Horrorschinken? Ich musste ein fürchterlich enttäuschtes Gesicht gemacht haben, Bastian begann heftig den Kopf zu schütteln und abwiegelnd mit den Händen zu wedeln.
»Verstehst du denn nicht?«, fragte er in einem verzweifelten Tonfall und zeigte auf Simons Aschehaufen, »Das waren wir! Irgendetwas muss mit unserem Blut nicht in Ordnung sein.«
Shit! Der Typ hatte recht. Offensichtlich hatte mich Simons Selbstentzündung für die naheliegendsten Dinge blind gemacht. Kein Vampir entzündet sich einfach selbst. Es musste einen Grund geben, warum Simon in Flammen aufgegangen war, und der war schnell gefunden. Er hatte von Phillip getrunken. Dessen Blut musste vergiftet sein. Und dies hieß, dass die Selbstentzündung ein Anschlag war. Genaugenommen ein Anschlag auf mich. Wenn Bastians Vermutung zutraf, dass sein Blut ebenfalls vergiftet war, woran ich nicht zweifelte, dann hätte ein Schluck von ihm mich ebenfalls getötet. Dass ich noch lebte, war purer Zufall. Hätten Simon und ich gleichzeitig von unseren Freunden getrunken, wie ich es mit Christiano immer tat, hätten nun zwei Aschehaufen auf dem Boden des kleinen Salons gelegen.
»Scheiße! Was ist passiert?«, kreischte nun auch Phillip, als er wieder zur Besinnung kam.
»Simon ist passiert.«, erwiderte ich matt, »Basti meint, jemand könnte euer Blut manipuliert haben, sodass es für uns Gift ist.«
»Wie kannst du so ruhig sein?«, hakte Bastian fassungslos nach, »Einer deiner Brüder wurde ermordet.«
»Ja, aber das ist kein Problem, den kriegen wir schon wieder hin.«, ich holte tief Luft. Ja, Simon würden wir wiedererwecken können. Das war die gute Nachricht, die weniger gute hieß, dass ich unvorstellbares Glück hatte, noch am Leben zu sein. Wäre Simon auch nur eine Sekunde später in Flammen aufgegangen, wäre ich ebenfalls tot, nicht, dass ich es als Vampir nicht schon war. Schließlich waren wir Untote. Nur wäre ich dann endgültig tot und nichts und niemand könnte mich wiedererwecken, denn ich war ein reinrassiger Vampir und kein initiierter Mensch. Ich war als Vampir geboren worden. Welch teuflische Falle. Teuflisch, hinterhältig und wohl auch alles andere als trivial.
»Seid ihr zwei bitte so lieb und setzt euch irgendwo hin. Ich möchte nicht, dass etwas von Simons Asche verloren geht.«
»Was hast du vor?«, Phillip, obwohl ihm der Schock ins Gesicht geschrieben stand, konnte einfach nicht aus seiner Haut und musste seiner höllischen Neugier nachgeben.
»Zusammenkehren, aufsaugen und dann wiedererwecken.«, erklärte ich knapp und wandte mich an Bastian, »So, jetzt erklär mir mal, wie du darauf kommst, dass mit eurem Blut etwas nicht in Ordnung sein könnte? Weißt du irgendetwas?«
»Warum fragst du mich nicht, ob wir dich verraten haben?«, gegenfragte Bastian ängstlich.
»Wenn ich auch nur eine Sekunde davon ausging, dass ihr mich verraten haben könntet, würdet ihr nicht mehr friedlich auf dem Sofa sitzen. Bastian, ihr seid jetzt schon mehrere Jahre Freunde des Hauses Varadin. Ihr wisst inzwischen sehr genau, was es heißt, ein Vampir zu sein. Und ihr wisst, wozu wir in der Lage sind. Hättet ihr mich verraten, hätte ich Hackfleisch aus euch gemacht.«
Bastian und Phillip schluckten. Sie wussten, was ich meinte. Wir hatten nie große Geheimnisse vor den zwei Jungs. Ich glaube, Laurentius hatte Bastian sogar mehr vom Wesen eines Vampirs gezeigt, als dieser wissen wollte. Ich meine mich sogar erinnern zu können, dass er ihm sein animalisches Wesen gezeigt hatte, den urförmigen Vampir mit messerscharfen Klauen statt Fingern, langen, spitzen Fangzähnen und einem Körper, der kaum etwas menschliches hatte. Laurentius hielt diese Schocktherapie für sinnvoll, da Phillip und Bastian immer wieder mit dem Gedanken spielten, nicht vielleicht doch Vampire zu werden. Laurentius meinte, dass sie dann auch wissen sollten, worüber sie nachdachten. Sie sollten die ganze Geschichte kennen und nicht nur den romantisch verklärten Teil. Zur allgemeinen Verwunderung schreckte es weder Phillip noch Bastian ab, dem wahren Vampir ins Auge zu sehen.
»Nein, ich bin davon überzeugt, dass ihr nur Werkzeuge seid. Ihr seid sozusagen die Bombe, aber nicht der Bombenleger. Nur so konnte der Anschlag überhaupt funktionieren. Hättet ihr etwas damit zu tun, hätte ich es gespürt. Nein, man hat euch ohne euer Wissen präpariert.«
In diesem Moment kam Ricardo in den kleinen Salon gestürmt, mit Frantz, dem Leiter unserer Blutbankabteilung im Schlepptau.
»Was ist passiert? Geht es Simon gut… Oh!«
Ricardo blieb wie angewurzelt vor Simons Aschehaufen stehen, ebenso Frantz, der erst die Überreste des Jungvampires und dann mich ungläubig und völlig entgeistert anstarrte.
»Offenbar nicht.«
»Er hatte gerade von Phillip getrunken. Plötzlich bekam er Krämpfe und brach zusammen. Bevor ich irgendetwas machen konnte, bekam seine Haut Risse, Licht, Sonnenlicht, trat aus und verbrannte ihn von innen.«
»Interessant.«, murmelte Ricardo und kniete sich hin, um die Asche genau zu untersuchen. Er wollte sie gerade berühren, als seine Finger zu rauchen begannen, »Ah, widerlich! Der glüht ja immer noch! Frantz sieh dir das an!«
Frantz kniete sich ebenfalls hin, um Simons Asche genauer zu untersuchen.
»Interessant oder?«, fragte Ricardo, »Du weißt, was ich meine. Erinnerst du dich an die inzwischen zerschlagene Bruderschaft der weißen Blutritter?«
Frantz schüttelte verneinend den Kopf: »Hilf mir mal auf die Sprünge.«
Ricardo erhob sich, ging auf die kleine Bar des Salons zu, schenkte sich einen Whiskey ein und begann zu erzählen.
»Die Bruderschaft der weißen Blutritter war eine straff organisierte und sehr schlagkräftige Vampirjägergruppe. Totale Fanatiker, aber leider auch sehr kompetente Fanatiker. Sie wussten sehr genau, wie man uns fangen und abschlachten kann. Sie waren die ersten, die konsequent auf Wissenschaft setzten. Ihr LGCB – LASER guided crossbow hat vielen Brüdern das Leben gekostet. Es kommt selten vor, dass mehrere Häuser zusammenarbeiten. Gegen die Blutritter schlossen sich gleich vier Häuser zusammen, einschließlich Breskoff und Varadin.«
»Oh, jetzt erinnere ich mich.«, schrie Frantz auf, »Das Labor!«
»Genau, das Labor. Ich war Teil eines von zwei Einsatzteams in den Niederlanden. In Antwerpen hoben wir eine Zentrale der Blutritter aus. Unsere Teams trafen nicht nur auf acht Fanatiker, die erbittertsten Widerstand leisteten, sondern entdeckten dort auch eines ihrer Forschungslabore. Leider gelang es ihnen, einen Selbstzerstörungsmechnismus auszulösen, der große Teile zerstörte, wenn auch nicht alle. Ein paar Festplatten konnten sichergestellt und ihr Inhalt rekonstruiert werden. Der Inhalt war mehr als brisant. Die weißen Blutritter hatten offenbar an einem Gift gearbeitet, das in der Lage war, uns zu Asche zerfallen zu lassen.«
Alle Anwesenden, einschließlich Bastian und Phillip, blickten nachdenklich zu Simons Überresten. Ricardo nickte bestätigend.
»Die in den Laborberichten beschriebene Wirkung deckt sich mit Simons Symptomen. Wie ihr alle richtig vermutet, wird das Gift einem Menschen injiziert, für den es vollkommen harmlos ist. Trinkt nun ein Vampir von diesem Menschen, nimmt er das Gift in sich auf. Die Blutritter waren auf ihre Weise genial. Die Wirkung setzt nicht sofort ein, sondern erst nach ein bis zwei Minuten, damit das Gift ausreichend Zeit bekommt, sich im Körper seines Opfers gleichmäßig zu verteilen. Eigentlich stellt die Substanz, mit denen die menschlichen Köder versehen werden, nur eine Komponente des Vergiftungsprozesses dar. Sie verhält sich völlig inaktiv und wird erst durch Kontakt mit Vampirblut aktiviert. Dann setzt eine Art Biolumineszenz im UV-Bereich ein. Im Prinzip wirkt die Vergiftung wie Sonnenstrahlung, nur eben direkt auf zellularer Basis.«
»Teuflisch.«, konnte ich mich eines Kommentars nicht enthalten, »Wie lange hält die UV-Strahlung an?«
»Nicht lange. In einer halben Stunde sollte Simons Asche nicht mehr strahlen.«, erklärte Ricardo, »Unser Blut dient als Energielieferant. Da unser junger Wächter über keines mehr verfügt, wurde dem Gift quasi der Stecker rausgezogen. Das ist aber nicht das Problem. Wir können Simon nicht so einfach wiederwecken. Selbst wenn sie nicht mehr strahlt, enthält sie nach wie vor noch unverbrauchte Teile des Gifts, die sofort aktiviert werden, kommen sie mit Vampirblut in Kontakt. Wir müssen Simons Überreste erst einmal chemisch durchsieben, bevor wir den Kleinen wieder aufpäppeln können.«
»Und was ist mit uns?«, fragte ein den Tränen naher Bastian, »Heißt das, ihr könnt nie wieder von uns trinken?«
»Hört euch diesen Menschen an! Du scheinst dich ja richtig danach zu sehnen, von uns ausgesaugt zu werden.«, lachte Ricardo, trotz oder vielleicht gerade wegen der dramatischen Situation, in der wir uns befanden, vergnügt, »Ich kann dich beruhigen. Aus Simon müssen wir das Gift mühsam herausfiltern, bei euch zwei Süßen übernehmen das eure Nieren. Wenn sich an der damaligen Zusammensetzung der Substanz nichts geändert hat, wird sie vom menschlichen Körper mit dem Urin ausgeschieden. Trinkt viel und in 72 Stunden solltet ihr wieder clean sein.«
Das war eine interessante Information, die mich zu einer noch interessanteren Frage verleitete: »Ricardo, was meinst du? Kann man abschätzen, wann unsere zwei Freunde präpariert wurden?«
Statt sofort zu antworten, wandte sich Ricardo an Phillip und Bastian: »Wann habt ihr zwei das letzte mal geschifft?«
Die Angesprochenen schauten sich an. Bastian überlegte, wobei sich seine Augenbrauen zusammenzogen und kräuselten.
»Zu Hause, kurz bevor wir herkamen. Ich schätze, so vor knapp zwei Stunden.«
»Das passt.«, meinte Ricardo zufrieden und nickte mit dem Kopf, »Der Abbau beginnt eigentlich sofort. Mit jedem Wasserlassen wird, wenn ich mich an die Aufzeichnungen richtig erinnere, etwa ein Drittel der noch im Körper enthaltenen Giftmenge ausgeschieden. Das heißt, nach dem erstmal urinieren sind nur noch zwei Drittel der ursprünglichen Wirkstoffmenge enthalten. Beim zweiten Mal etwa 44 Prozent, also weniger als die Hälfte. Nach dem Sechsten weniger als 10 Prozent. So, wie du Simons Reaktion beschrieben hast, muss er fast die volle Dröhnung abbekommen haben. Wenn ich wetten sollte, würde ich sagen, dass Bastian und Phillip das Gift in der letzten Stunde verabreicht wurde.«
»Danke Ricardo.«, ich blickte auf Simons traurigen Aschehaufen, »Wärst du so nett und kümmerst dich um Simon? Und Frantz, könntest du dich unserer beiden Freunde annehmen und dafür sorgen, dass sie dieses verfluchte Gift loswerden?«
»Klar Chef!«, entgegnete Frantz und wandte sich an Bastian und dessen Freund, »Kommt mit, ihr habt eine Verabredung mit der Kantine!«
Bevor Phillip den kleinen Salon mit Frantz und Bastian verließ, drehte er sich noch einmal um, betrachtete Simon und meinte, »Constantin, würdest du mir einen Gefallen tun? Fang das Arsch von einem Verräter, der Simon dies angetan hat und Bastian und mich dafür als Mordwerkzeug missbrauchte.«
»Worauf du einen lassen kannst!«
Frantz, Bastian und Phillip gingen und ließen Ricardo, mich und Simons Überreste zurück. Ricardo hatte sich erneut über den Aschehaufen gebeugt und tippte sie vorsichtig mit seinem Finger an.
»Wie ich vermutet habe. Die UV-Strahlung ist inzwischen verschwunden. Wir können den armen Jungen zusammenkehren. Der wird ganz schön kotzen, wenn wir ihn wiedererwecken.«
»Das werde ich tun.«, teilte ich Ricardo fest mit, »Indirekt verdanke ich ihm mein Leben. Hätte er nicht zuerst getrunken, gäbe es jetzt keinen Constantin Varadin mehr.«
»Und wir würden dich auch nicht wiedererwecken können. Du bist ein natürlicher Vampir. Verdammt, wir brauchen einen Indikator, ähnlich einem Blutzuckermessgerät, mit dem wir unsere Spender testen können. Bis dahin brauchst du einen Vorkoster.«
»Mal ehrlich, was denkst du, wer dafür verantwortlich ist. Wer wäre dazu in der Lage?«
»Rein technisch, nur eines der Häuser. Die Blutritter hatten ein Problem. Um das Gift herstellen zu können, benötigst du ebenfalls Vampirblut, wenn auch nur sehr wenig. Das Gift ist nicht wirklich effizient. Schließlich lassen sich normale Vampire wiedererwecken. Wirklich gefährlich kann es nur natürlichen Vampiren werden. Davon gibt es aber nicht mehr viele. Nach Breskoffs Tod bist der Letzte in den großen Häusern. Außer dir gibt es gerüchteweise noch eine Handvoll Nosferatu, die ebenfalls als Vampir geboren wurden. Wenn ich eine Vermutung äußern sollte, wer für den Anschlag auf dich verantwortlich sein könnte, würde ich auf die vier Häuser tippen, die an der Aushebung des Blutritterstützpunkts beteiligt waren.«
»Du schließt Breskoffs und unser Haus nicht aus?«
»Nein, ganz im Gegenteil würde ich damit beginnen, in unseren Reihen zu suchen. Ich glaube, wir haben einen Verräter an Bord. Dies war bereits der zweite Attentatsversuch, den man auf dich verübt hat. Der Attentäter muss sich in unserem Haus und seinen Abläufen auskennen. Es kann sich nur um einen Insider handeln. Wer außer uns weiß von Bastians und Phillips Funktion als Nahrungsquelle?«
Zwischen tot und untot
Florian
Christianos Timing war, mit Verlaub, beschissen. Oder wie sollte man es anders bezeichnen, wenn man einen lieben, süßen Kerl neben sich liegen hat und sich die Gelegenheit bietet, von diesem in die Geheimnisse der analen Freuden eingeweiht zu werden, und genau in dem Moment ausgebremst wird?
»Wir müssen reden!«
Einen abtörnenderen Spruch als diesen gab es nicht. Ich hätte mein Fortpflanzungsorgan auch gleich in eine Schale mit Eiswasser tunken können, der Effekt wäre derselbe gewesen. Nein, ich war alles andere als begeistert und bedachte Christiano, den Verursacher der Unterbrechung, mit einem derart frostigen Blick, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn sein Atem zu dampfen begonnen hätte.
»Flo, bitte, es ist wichtig.«, Christiano klang flehend, »Ich gönne Tommi und dir alle Zärtlichkeit der Welt, nur bitte hör mich an, ich könnte es nicht ertragen, wenn du es später bereust. Du bist mein Freund, mein Bruder.«
Welch interessante Wortwahl. Warum sollte ich es bereuen, mit Tommi intime Zärtlichkeiten auszutauschen. Was könnte daran falsch sein, sich derart nahe zu kommen, wie ich Tommi bereits nahegekommen war?
Mein Objekt der Begierde schien eher zu wissen, oder zu ahnen, worauf Christiano hinaus wollte. Er löste sich ein klein wenig von mir und begann mich eingehend zu studieren.
»Er ist dein Bruder?«, fragte Tommi überrascht, »Das hätte ich gar nicht gedacht. Wenn er Hunger hat, könnte ich noch ein wenig entbehren. Flo, hast du Hunger?«
Himmel, wovon redete dieser Kerl? Was könnte er entbehren? Ich verstand nur Bahnhof, Christiano hingegen wusste genau, was Tommi meinte.
»Nein, er ist kein Bruder – noch nicht. Ein Mensch ist er allerdings auch nicht mehr. Man könnte sagen, er hat einen allerersten Schritt getan.«
»Wieso bin ich kein Mensch mehr?«, was faselte mein Arbeitskollege da.
»Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du dich beginnst zu erinnern.«
Christiano schaute mich an. Ich schaute zurück und blieb an seinem Blick hängen – gefangen. Ich öffnete meinen Mund, wollte etwas sagen, doch nichts kam heraus. Ich – ich verlor mich, verlor mich in seinem Blick, der in mich eindrang und… nichts? Christiano nickte zufrieden, während ich mich verwirrt am Kopf kratzte.
»Tommi, wärst du bitte so nett, unserem Freund zu sagen, was ich bin.«
Tommi bedachte Christiano mit einem spöttischen Blick, runzelte die Stirn und meinte dann absolut ernst und ohne mit der Wimper zu zucken: »Du? Du bist ein lüsterner, alter und im Moment ziemlich nackter Vampir.«
»Vampir? Ja klar!«, entfuhr es mir ärgerlich, »Und ich bin die böse Hexe aus dem Westen, oder wie?«
»Nein, schließlich ist dies nicht Kansas, Dorothy.«, korrigierte Christiano trocken, »Du, mein lieber Florian, bist keine Hexe. Du bist mein Freund. Du hast mich von dir trinken lassen. Erinnerst du dich?«
Scheiße ja, ich erinnerte mich. Als wenn jemand einen Schalter umgelegt hätte, war die Erinnerung wieder da. Christiano war mit mir geflogen. Er hatte mich umarmt und war einfach abgehoben. Zusammen waren wir über eine nächtliche Landschaft geflogen. Es war kühl und ich begann zu frieren. Christiano brachte mich in ein Zimmer, wärmte mich mit Decken. Wir unterhielten uns, freundeten uns an, entdecken, dass wir auf einer Wellenlänge lagen. Und dann… Ja, es war wahr. Christiano war ein Vampir. Ich wollte, dass er mich biss, dass er von mir trank – als Zeichen unserer Freundschaft und Dankbarkeit.
»Shit, was ist mit meinen Erinnerungen?«, fluchte ich. Da war noch mehr, an das ich mich nicht erinnern konnte. Immerhin fühlte ich es hinter meiner Stirn, bereit abgerufen zu werden.
»Wir haben sie blockiert. Übrigens mit deinem Einverständnis.«
»Wer sind »wir«?«, wollte ich wissen.
»Ich, Laurentius und…«, Christiano zögerte einen Moment, »Constantin.«
»Constantin!«
Mir wurde heiß. Ein Schwall glühender, leidenschaftlicher Hitze ergriff meinen Köper. Der letzte Name trat eine ganze Gefühlslawine los. Sehnsucht und Verlangen erfassten mich, aber auch Sorge und Unruhe. Constantin, das war der Mann, nein, der Vampir, den ich liebte und der mich liebte. Constantin Varadin! Ich erinnerte mich. Ich… ich hatte ihm das Leben gerettet! Es gab einen Anschlag, bei dem er tödlich verletzt wurde. Nur junges, frisches Blut konnte ihn retten – mein Blut. Constantin stand an der Schwelle des Todes. Er brauchte viel Blut, sehr viel Blut, mehr, als mein Körper entbehren konnte. Ich spürte seine Zähne, wie sie mir verzweifelt das Blut aussaugten. Dunkelheit umfing mich. Ich stürzte ins Nichts, ins Vergessen, in den Tod.
Doch dann – eine Explosion der Dunkelheit. Eine fremde Energie überflutete meinen Körper und versetzte mich an einen Ort, halb in der Welt der Lebenden und halb im Reich der Toten. Ich war in die Welt der Vampire eingetreten, an jenen Ort gelangt, der den Untoten vorbehalten war, allerdings nicht ganz. Etwas, jemand hielt mich an der Schwelle, genau zwischen lebend und untot. Es war Constantin, der mich hielt. Seine Kraft, seine magische Energie, die Essenz dieses Fürsten der Dunkelheit, hielt mich am Leben, am Unleben, bis plötzlich wieder frisches Blut meine Adern durchströmte und mich in die Welt der Lebenden zurück katapultierte.
Aber nicht ganz. Ich fühlte es. Es war in mir. Ich war kein Mensch mehr, jedenfalls nicht zu 100 Prozent. Constantin konnte mich nur retten, indem er etwas von sich in mir zurückließ. Zu einem ganz kleinen Teil war ich ein Vampir, womit diese blöde Lichtallergie erklärt war. Es erklärte einen ganzen Sack Fragen. Etwa, woher mein neu erworbenes Selbstbewusstsein rührte.
»Constantin – wie geht es ihm?«, rief ich fast panisch. Das Verlangen meinen geliebten Vampir wieder zu sehen, ließ sich kaum unterdrücken. Am liebsten wäre ich sofort aufgesprungen und zu ihm geeilt.
»Es geht ihm gut. Beruhige dich bitte, aber du kannst nicht zu ihm. Nicht jetzt. Es wäre zu gefährlich, für ihn, aber genauso auch für dich. Während du dich von deinem Blutverlust erholt hast, ist sehr viel geschehen. Der König ist tot und Constantin wird in wenigen Tagen zum neuen König ernannt werden. Es gibt eine Verschwörung, die dies verhindern will und die bis in unser Haus reicht. Constantin hat mich deswegen öffentlich entehrt und aus dem Haus Varadin verbannt. Ich bin jetzt ein Vampir ohne Haus und damit quasi vogelfrei. Und das alles aus einem einzigen Grund, damit ich dich beschützen, dir beistehen und helfen kann.«
»Wobei?«
»Dabei, ein Vampir und Constantins Lebensgefährte zu werden. Ihr zwei seid füreinander bestimmt. Du fühlst es und er fühlt es ebenfalls. Du hast dich entschieden, einer von uns zu werden. Ein Fürst der Finsternis, ein Prinzgemahl der Vampire.«
»Prinzgemahl? Wie jetzt?«
»Nun ja, ich will dich ja nicht ängstigen, aber wenn du und Constantin offiziell ein Paar werdet, trittst du automatisch in die Erbfolge für den Thron ein.«
Das war mir ein wenig zu viel, weswegen ich das Thema wechselte und eine andere Frage stellte: »Du bist entehrt? Verbannt?«
»Offiziell ja. Nur Laurentius und Constantin kennen die Wahrheit, nämlich, dass ich undercover für deinen Schutz verantwortlich bin. Die offizielle Version lautet, dass ich mit Constantin über einen Liebhaber in Streit geraten bin, wobei ich meinen Fürsten vor allen anderen Häusern beleidigt und seine Ehre verletzt habe, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als ein Exempel zu statuieren und mich zur Strafe zu verbannen. Zwei Tage später habe ich bei Niederreuter angefangen und darauf gewartet, dass man dich aus dem Krankenhaus entlässt und du an deinen Arbeitsplatz zurückkehrst.«
»Ähm!«, räusperte sich Tommi, den ich in der ganzen Unterhaltung mit Christiano völlig vergessen hatte, »Wenn du wirklich mit Constantin zusammen bist, wär’s wahrscheinlich keine gute Idee, mit dir zu schlafen, oder? Ich möchte ungern den Zorn eures Chefs auf mich ziehen.«
»Ganz im Gegenteil.«, meinte ich, schnappte mir Tommi und nahm ihn fest in den Arm, »Ich liebe Constantin, ich kann es mit jeder meiner Zellen fühlen. Wir sind miteinander, aneinander gebunden. Da ist etwas, das weit über alles andere hinaus geht. Mit dir ins Bett zu steigen, dich in meinen Armen zu halten, mich an dich zu schmiegen, mindert in keiner Weise meine Liebe zu Constantin. Tommi, du bist nicht nur ein süßer, begehrenswerter Kerl, du bist auch ein guter Mensch. Vielleicht ist es der kleine Teil Vampir in mir, der mir dies sagt. Der mir erlaubt, dir zu trauen und sich wünscht und danach sehnt, dein Freund sein zu dürfen.«
Tommi grinste, küsste mich und meinte glücklich: »Sehr, sehr gerne. Hey, da fällt mir ein, wenn du dann auch ein richtiger Vampir geworden bist, kannst du auch von mir trinken!«
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen aus den Haaren. Tommi war Christianos Blutquelle. Gestern, im Club, die Erinnerung war noch ein wenig vernebelt, wurde aber klarer. Christiano hatte Tommi gebissen und von ihm getrunken.
»Jetzt begreif ich. Wenn Christiano dich zum vernaschen gern hat, sollte man das wohl absolut wörtlich nehmen, oder?«, da war noch etwas, eine Frage, die noch nicht beantwortet war, »Wenn meine Liebe zu Constantin mich nicht hindert, mich unserem knuffigen Kerlchen hier hinzugeben, was dann?«
Christianos Miene verfinsterte sich. Ein dunkler Schatten huschte über sein Gesicht, seine bisherige Fröhlichkeit wich einem traurigen und besorgten Ausdruck.
»Ich werde dir deine Erinnerungen zurückgeben. Allerdings… Erinnerungen können auch schmerzhaft sein. Manchmal ist es ein Segen, vergessen zu dürfen. Bist du dir sicher, dass es das ist, was du willst? Willst du es wirklich wissen?«
»Mir bleibt wohl keine andere Wahl, oder? Ich muss es wissen.«
»Dann erinnere dich!«
Ich erinnerte mich – An alles. Christiano hatte recht, es machte mich nicht glücklich. Alles war wieder da. Das Mobbing, die Vergewaltigung, mein Selbstmord, meine Rettung und meine Entscheidung, mich Constantin anzuschließen.
Himmel, sie sind wie Tiere über mich hergefallen. Hasserfüllt aber gleichzeitig geil sind sie in mich eingedrungen. Wozu? Um mir zu beweisen, dass ich jämmerlicher Dreck war? Oder mussten sie sich selbst etwas beweisen? Christiano hatte recht. Erinnerungen können schmerzhaft sein und diese war sehr schmerzhaft. Ich konnte mich an jedes Detail der Vergewaltigung erinnern. Daran, zu einem Objekt degradiert worden zu sein. Nein, nicht zum Objekt. Die Schwänze, die mich aufspießten, wurden wie Dolche gehandhabt. Mir ihre Kolben in die Eingeweide zu rammen, sollte mich nicht nur demütigen, sondern zerstören. Da war nichts menschliches im Handeln meiner Vergewaltiger. In keinem, bis auf…
Warum erinnerte ich mich erst jetzt daran? Fünf Kollegen hatten mich vergewaltigt. Bei vieren waren die Motive so klar wie Kloßbrühe. Jeder Stoß ihrer Lenden nagelte mir Hass in den Körper. Doch einer war anders. Es blieb zwar ebenfalls eine Vergewaltigung, doch war sie vollkommen anders. Dieser Mann war auf eine krude Weise zärtlich und sanft. Es begann schon mit der Art, wie er mich packte. Während die anderen ausschließlich sicherstellten, dass ich mich nicht wehren konnte, wollte dieser andere mich und meinen Körper fühlen. Gleiches galt für die Art, wie er mich fickte. Es war zwar ungelenk und stümperhaft, aber nicht brutal und erniedrigend, wie bei den anderen. Lag es an meinem neuen vampirischen Wesen, dass ich Feinheiten erkannte, die mir vorher verborgen blieben? Ich sah plötzlich alles klar und deutlich vor mir. Dieser eine Kollege begehrte mich, wollte mich und nutzte die Gelegenheit, um die größte Scheiße zu bauen, die man sich vorstellen kann. Eine Vergewaltigung stellt wirklich keine gute Ausgangsbasis für eine Freundschaft dar.
Was auch immer die fünf mit mir veranstaltet hatten, ich stand darüber. Die Vergewaltigung hatte mich in den Selbstmord getrieben. Jetzt war ich auf dem Weg, ein Vampir zu werden. Interessierte mich die Vergangenheit noch? Bedingt – ich verspürte zwar kein Verlangen, mich für die Tat zu rächen, hielt es aber für angemessen, den fünf einen Denkzettel zu erteilen. Vielleicht auch nur vier von ihnen. Wie mit dem fünften zu verfahren war, konnte ich noch nicht sagen. Aber das konnte warten. Im Moment wollte ich den Grund verstehen. Ich erinnerte mich an etwas, dass Marco und Jan zu mir gesagt hatten. Ich würde die Kollegen alt aussehen lassen. War es das? Musste man mich deswegen demütigen, erniedrigen und quälen? Nur, um sich selbst ein klein wenig besser fühlen zu können, um sich selbst sagen zu können, »Toll, dass ich nicht der letzte in der Hackordnung bin!«? War es wirklich so platt?
Ich war ganz entspannt, ruhig, zufrieden und fast glücklich. Ich wusste, dass mir meine Kollegen körperlich nichts mehr anhaben konnten. Mich hatte ein Vampir berührt. Die Veränderung, die damit einherging, war fundamental. In meinem Körper pulsierte die Ahnung einer Kraft, die keinem Lebenden gegeben war. Hatte ich über meine Peiniger gesiegt? Nein, denn diese Denkkategorie spielte keine Rolle mehr. Diese Erkenntnis veränderte mich. Es veränderte die Art und Weise, wie ich die Welt um mich betrachtete, und ließ mich in Christiano den Bruder erkennen.
»Willkommen in unserer Welt!«
Christiano strahlte mich freudig an, als er in meinem Blick die Erkenntnis bemerkte, und offenbarte mir sein vampirisches Wesen. Nicht seine Fangzähne, seine rasiermesserscharfen Klauen oder seine gelben Pupillen. Es war etwas völlig anderes. Es war seine Seele, die er mir mental entblößte. Jahrhundertealte Gefühle drangen in mich ein und schufen eine Verbindung, die weit über Freundschaft hinausging. Jetzt verstand ich, was für einen Vampir das Wort Familie bedeutete.
Mehr denn je war ich bereit, den letzten Schritt zu wagen und Teil dieser Familie zu werden. Mehr denn je war mir aber auch bewusst, was ich dafür aufgeben musste. Mein Leben als Mensch würde in dem Moment enden, in dem Constantin mit seinen Zähnen in mich eindrang und mein Blut verwandelte – Sein Blut zu meinem machte.
Doch noch hatte ich Zeit. Zeit, die genutzt werden wollte, um ein paar unerledigte Angelegenheiten zu klären. Wollte ich Rache für die mir zugefügte Pein? Wie gesagt, Rache spielte keine Rolle mehr, bestenfalls Genugtuung und Gerechtigkeit. Doch zuerst galt es, etwas zurückzuerobern. Man hatte mir meine Würde genommen, mich wie einen Klumpen Fleisch benutzt. Ich war schwul. Ich liebte Männer. Hieß das, dass jeder dahergelaufene Penner das Recht hatte, einfach über mich drüberzurutschen? Wohl kaum. Einem anderen Mann körperlich Nahe zu sein, sich mit ihm zu vereinigen, war ein Akt der Liebe und Zuneigung, zuweilen auch purer Geilheit und Lust. Und genau dies, Liebe, Zuneigung und Lust hatte man mir verwehrt und ins Gegenteil verwandelt.
»Tommi?«
Ich zog das liebe Kerlchen dichter an mich heran. Streichelte ihn über Wangen und Haar, bedachte seinen Mund, seinen Hals und seine Brust mit Küssen.
»Ich will dich. Ich will dich mehr als je zuvor.«, ich schaute ihm offen und ohne Maske auf der Seele in die Augen, »Bitte nimm mich. Werde ein Teil von mir!«
Tommi verstand zwar meine Motive nicht, erkannte aber mein Verlangen. Er lächelte mich freudig an, erwiderte meine Küsse und ging zur Tat über. In der nachfolgenden Stunde ergab ich mich erneut dem Schmerz, von einem Mann genommen zu werden und verwandelte ihn in Lust. Mit Tommis Hilfe entledigte ich mich aller psychischen Fesseln, die die Gewalt meiner Arbeitskollegen um meine Psyche gebunden hatte. Aus Angst erwuchs Stärke, aus Schmerz Frieden. Ich war frei.
Die Damen Breskoff
Constantin
Bastian und Phillip waren versorgt. Frantz und seine Medizinerkollegen kümmerten sich um die Entgiftung unserer beiden Blutspender. Ich musste zugeben, dass mich die Jungs – jungen Männer, mit Mitte zwanzig ist man kein Junge mehr – beeindruckten. Obwohl sie Simon überhaupt nicht kannten – Phillip hatte nur ein paar Minuten mit ihm gesprochen – sorgten sie sich um ihn, als wenn er ihr bester und ältester Freund wäre. Mehr noch, sie sorgten sich um ihn, wie man sich um einen Familienangehörigen sorgte. Dabei waren die beiden Menschen, einfache, ganz normale Menschen.
Dass sie etwas mit dem Attentat auf Simon zu tun haben könnten, hatte ich zu keiner Sekunde auch nur ansatzweise in Erwägung gezogen. Sie waren ebenso Opfer wie Simon. Was mich beunruhigte, war weniger die Tatsache an sich, Ziel eines Anschlags zu sein. Mit Breskoffs Tod lief ich quasi mit einer Zielscheibe auf der Stirn herum. Das war mir von der ersten Sekunde an klar, als ich erfuhr, recht kurzfristig König aller Vampire zu werden. Was mich wirklich beunruhigte, war die Art und Weise, mit der der Anschlag verübt wurde. Ricardo hatte es treffend in Worte gefasst: Der Anschlag kam aus unseren eigenen Reihen.
Im Haus Varadin trieb ein Verräter sein Unwesen. Das war eine ernste Angelegenheit, weil es eigentlich keine Verräter unter den Vampiren des eigenen Hauses geben konnte. Ein Mitglied eines Hauses kann nicht gegen seinen Treueeid handeln. Mit seiner Initiierung als Vampir wird ein Band aus Blut geknüpft, das sich nicht zerreißen lässt, außer durch den Tod.
»Woran denkst du?«
Laurentius war aus Breskoffs Haus zurückgekehrt und hatte sich sofort in die Ermittlungen gestürzt, kaum dass er vom Vorfall mit Phillip und Bastian hörte. Es kommt selten vor, höchstens alle 100 Jahre, dass mich dieser selbstbeherrschte Glatzkopf überraschte. Seine erste Frage galt nicht etwa Simon, der schließlich ein Familienmitglied und ein Kämpfer seiner Wache war, sondern seinem Schachprotegé Bastian. Hatte da jemand an dem jungen Mann einen Narren gefressen?
Wir saßen in meinem Büro und erörterten die Lage. Eigentlich hatte Laurentius beabsichtigt, mir die Strukturen und Machtverhältnisse in Breskoffs Haus näherzubringen, doch ich war nicht wirklich bei der Sache und hörte deswegen nur halb zu. Mir ging diese eine Frage nicht aus dem Kopf, die ich dann auch laut formulierte.
»Laurentius, du bist der älteste und erfahrenste Vampir unseres Hauses. Du hast mehr erlebt, als sich die meisten überhaupt vorstellen können. Du bist ein begnadeter Stratege und Taktiker. Sag mir, wie erreicht man, dass sich ein Vampir gegen sein eigenes Haus stellt und es verrät?«
»Die Antwort ist einfach. Gar nicht!«
»Dann haben wir ein Problem. Irgendein Blutsauger in unseren Reihen hat sich gegen sein Haus gestellt.«
Laurentius hatte recht und ich hatte recht, was aber nicht sein konnte, denn nur einer von uns konnte recht haben. Die eine Möglichkeit schloss die andere aus. Oder etwa nicht?
»Christiano.«, meinte Laurentius knapp.
»Was ist mit ihm?«, mein Marschall hatte offenbar eine Idee.
»Nun, du hast ihn verbannt. Ich weiß, du hast es nicht wirklich getan. Aber spielen wir das Szenario einmal so durch, als wenn seine Verbannung echt wäre.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte Laurentius, »Was macht eine Verbannung für den Verbannten so unerträglich, dass sie zu den schwersten Strafen zählt, die über einen Vampir verhängt werden kann? Es ist die Trennung von seinem Haus, seiner Familie. Ein Verbannter bleibt an sein Haus gebunden, ihm verpflichtet. Wohlgemerkt dem Haus und. Wen wir suchen, ist ein Verräter, der sich nicht als ein solcher betrachtet.«
Mir ging ein Licht auf. Laurentius Worte machten Sinn.
»Natürlich, du hast recht! Unser Verräter ist überzeugt, im Sinne des Hauses zu handeln. Ich sollte mir die Hybris abgewöhnen, mich mit dem Haus gleichsetzen zu wollen.«
»Nein!«, korrigierte mich Laurentius scharf, »Du bist das Haus! Du bist Constantin Varadin-Breskoff! Der Verräter irrt, wenn er diese Tatsache nicht anerkennt.«
»Also nochmal, wir suchen einen Vampir, der der Überzeugung ist, dass es zum Wohle des Hauses Varadin-Breskoff wäre, wenn ich nicht mehr unter den Untoten weilte?«
»Besser könnte ich es nicht formulieren.«, pflichtete mir Laurentius zufrieden bei.
»Toll! Und wer ist es?«, fragte ich zerknirscht.
Die Frage musste vorerst unbeantwortet bleiben. Ohne konkrete Anhaltspunkte blieb alles pure Spekulation und der wollte ich mich nicht hingeben. Den Vorwurf des Verrats durfte ein Stammvater keinesfalls leichtfertig erheben. Eine kleine Spur gab es dann doch noch. Laurentius vermutete, dass es sich bei unserem abtrünnigen Bruder um jemanden handeln musste, der noch von meinem Vater initiiert wurde. Bei Vampiren, die direkt oder indirekt durch mein Wirken erweckt wurden, sei die Bindung zum Haus eine andere, nämlich stärker auf mich fixiert. Ich würde es, so Laurentius, sofort bemerken, sollte jemand Vorbehalte gegen mich hegen oder mich sogar ablehnen oder tot wünschen. Leider engte diese Einschränkung den Kreis der Verdächtigen nicht wirklich ein. Gut die Hälfte meines Hauses bestand aus Frauen und Männern, die schon meinem Vater gedient hatten.
Doch musste diese Frage erst einmal vor eine ganz andere Angelegenheit zurücktreten. Laurentius hatte während seines Aufenthalts als mein Emissär im Haus Breskoff alles für meinen Antrittsbesuch vorbereitet. Das Erbe Breskoffs anzutreten, war alles andere als leicht. Seine Mitglieder waren mir nicht verpflichtet. Es bestanden keine Blutsbande, und obwohl es Vladimirs ausdrücklicher Wunsch und Letzter Wille war, dass ich an seine Stelle trat, konnte und wollte ich die Gefolgschaft seiner Kinder nicht erzwingen. Die meisten waren mehrere hundert Jahre alt, alles gestandene Männer und Frauen. Oh ja, Breskoffs Haus zählte eine nicht unerhebliche Anzahl weiblicher Vampire, was nicht zuletzt seiner Passion für das weibliche Geschlecht geschuldet war. Der selige Vladimir nannte drei Ehefrauen sein eigen. Der Alte war ein echter Patriarch und, mit Verlaub, ein rechtschaffender Lustmolch. Auf der anderen Seite… Bei Breskoffs hohem Alter und der damit einhergehenden Steigerung seiner Libido hätte eine Frau allein Schwerstarbeit leisten müssen, es sei denn, ihr Alter hätte eine ähnliche Größenordnung erreicht, wie die Breskoffsche. Doch schätzte ich das Alter der Frauen, hatten diese ein paar Jahrhunderte weniger auf dem Buckel. Ob die Damen wohl in einer Art Schichtbetrieb arbeiteten?
Timon, Lydia und Cassandra, so hießen die offiziellen Witwen Breskoffs, auf die ich mein Augenmerk beschränkte. Seine Mätressen in meine Betrachtungen mit einzubinden, wäre ein ebenso müßiges wie wenig fruchtbares Unterfangen. Sie waren einfach viel zu zahlreich. Laurentius Dossiers konzentrierte sich daher auf die drei Damen und ließ wirklich keine Fragen offen. Wer die Troika etwa als reine Lustobjekte eines geilen alten Bocks betrachtet hätte, beging im Zweifelsfall einen Fehler, den zu bereuen er niemals die Gelegenheit erhalten würde.
Timon etwa bekleidete in Breskoffs Streitkräften den Rang eines Generals. Männlein oder Weiblein, wenn es um die Besetzung strategischer Positionen mit kompetentem und vor allem vertrauenswürdigem Personal ging, war Vladimir leidenschaftslos. Timon war, man möge mir den Begriff verzeihen, ein altes Schlachtross in einer betörend schönen Verpackung. Niemand, der die Silhouette dieser großen, langbeinigen und elegant schlanken Frau zum ersten Mal erblickte, hätte je vermutet, vor sich jemandem zu sehen, der gegen Napoleon in dessen Russlandfeldzug gekämpft hatte.
Cassandra wiederum elegant, groß oder gar schlank zu nennen, wäre bestenfalls als wohlwollende Schmeichelei durchgegangen. Jedenfalls dann nicht, wenn man heutige Schönheitsideale zugrunde legte. Cassandra besaß den Körper einer klassischen Rubensfigur. Brüste, Hüften, Waden, alles an ihr war üppig, wenn auch nicht schwabbelig. Ganz im Gegenteil. Cassandras Haut war für eine Neunhundertjährige beneidenswert straff. Sie war Breskoffs langjährigste Gefährtin und wohl auch seine intimste Vertraute, was ein wenig auch in ihrer einzigartigen Fähigkeit begründet lag, in die Zukunft schauen zu können. Cassandra war eine Seherin.
Blieb noch Lydia. Wenn Laurentius Dossier auch wenig schmeichelhaftes über sie verlor, konnte man den Respekt, den er ihr zollte, deutlich aus dem Dokument herauslesen. Lydias Funktion im Hause Breskoff entsprach einer Kombination aus Laurentius und Christianos Aufgaben in meinem Haus. Sie war gleichzeitig Chefin des Geheimdienstes, als auch erster und effektivster Agent des Hauses. Christiano und Lydia waren, obwohl Mitglieder befreundeter Häuser, während ihrer Tätigkeit verschiedentlich aneinandergeraten. Die beiden pflegten eine von gegenseitigem Respekt geprägte Abneigung.
Befreundetes Haus – im Prinzip war ich bei Breskoff immer ein gern gesehener Gast gewesen. Als Knabe hatte ich in seinen Hallen gespielt und bin durch die Flure getobt. Nur durfte ich mir auf die Vergangenheit nichts einbilden. Ich kam nicht als Freund des Hauses zu Besuch, sondern um die Herrschaft zu beanspruchen, was hieß, dass mit Überraschungen zu rechnen war.
Vladimirs Residenz lag nur wenige Autostunden vom Hauptquartier der Varadin International Holding Group entfernt. Obwohl unsere Häuser, dies galt für alle, über den gesamten Erdball verteilte Stützpunkte und Anwesen unterhielten, zog es uns immer wieder zurück in die Heimat, an den Ort, an dem wir unsere Existenz als Untote erhielten. Breskoffs Wurzeln reichten weit in den Osten Europas, in seinen Adern floss ebenso russisches wie ukrainisches Blut. Die Seite seiner Mutter steuerte noch ein paar georgische Gene bei. Breskoff selbst kam in Prag zur Welt, in dessen Nähe sich auch sein Hauptanwesen befand.
Welche Bedeutung besaßen Entfernungen für einen Vampir? Faktisch keine. Zu Fuß konnten wir locker einen Gepard abhängen. In der Luft nahmen wir es mit Verkehrsflugmaschinen auf. In besonders dringenden Fällen bestand die Möglichkeit, ein Portal zu erschaffen, was wir allerdings tunlichst vermieden. Portale zu durchqueren war ekelhaft und anstrengend. In den meisten Fällen griffen wir trotz unserer Möglichkeiten auf konventionelle Beförderungsvarianten zurück. Eine abgedunkelte, schwarze Limousine war weitaus unauffälliger, als ein mit mehreren hundert Stundenkilometern dahinfliegender Körper.
Außerdem war es wesentlich komfortabler. Der ausgebaute Fond meines Wagens war nicht nur hermetisch gegen Sonnenlicht abgeschirmt, er verfügte auch über allerlei Annehmlichkeiten, angefangen bei einem Computer, über ein Audio/Video-System bis hin zu einer Bar mit allerlei Alkoholika und ein paar frischen Blutkonserven. Während ich noch Laurentius Dossiers und Berichte studierte, ließ ich mir einen gut gekühlten Blutbeutel zu 500ml schmecken.
Die Autobahn nach Prag war relativ leer. Die Fahrzeuge meines Konvois – wir reisten mit vier Wagen – waren zwar lichtdicht, trotzdem nutzten wir die Nacht. Man kann es nicht oft genug wiederholen. Wir sind Geschöpfe der Nacht. Während des Tages sind unsere Reflexe schwächer und weniger stark ausgeprägt. Wir reagieren langsamer.
»In einer Stunde sind wir da.«, meldete sich Laurentius aus dem Wagen vor mir, »Sonnenaufgang ist erst in zwei Stunden.«
»Danke, mein Freund.«, ich klappte die Akte in meinen Händen zusammen, »Gibt es noch etwas, was nicht in diesen Unterlagen steht?«
»Ich bin mir nicht sicher. Constantin, du weißt, dass ich ungerne spekuliere. Da du mich aber direkt fragst, will ich dir antworten. Es könnte sein, dass es zu einem Kräftemessen kommt. Dein Anspruch auf die Führung stände außer Frage, wäre da nicht Breskoffs ungewöhnliches Ableben. Von Vladimirs Damen solltest du nicht zu viel Wohlwollen erwarten. Bei den Männern in Breskoffs Gefolge sieht es hingegen weitaus positiver aus. Man hält zwar nichts von deiner sexuellen Orientierung, stört sich aber auch nicht sonderlich daran. Was die Jungs viel mehr antreibt, ist die Hoffnung, dass du den Mädels ein wenig Einhalt gebietest. Timon, Cassandra und Lydia sind nur die Spitze des Eisbergs. In Breskoffs Haus haben eher die Frauen das Sagen.«
Tommi
Florian
»Sehen wir uns wieder?«, fragte ich Tommi.
»Das will ich doch hoffen!«, erwiderte der knuffige Kerl, nahm mich in den Arm und küsste mich nochmals sehr intensiv. Nachdem wir uns wieder voneinander getrennt hatten, schaute er mich sehr ernst an, »Pass auf dich auf, ja? Denk immer daran, dass du noch kein wirklicher Vampir bist, wenn du dir deine lieben Kollegen vorknöpfst. Du magst schon stärker und agiler sein, als jeder andere in deiner Firma, unverwundbar bist du aber nicht.«
»Ich werde aufpassen. Außerdem wacht unser Lieblingsportugiese über mich.«
»Gut!«, Tommi nickte, ging zur Tür, öffnete sie, wollte hindurchgehen, drehte sich dann aber nochmals um, »Christiano, pass mir auf diesen Kerl auf, ja?«
»Worauf du dich verlassen kannst!«
»Gut!«, Tommi nickte, »Dann wünsche ich euch eine schöne Arbeitswoche. Christiano, wärst du so nett?«
Christiano war so nett und verpasste Tommi die, wie er es formulierte, übliche Hirnklammer. Was er damit meinte, war ein leichter hypnotischer Block, der verhinderte, dass Tommi versehentlich etwas über die Existenz von Vampiren ausplauderte. Diese Blockierung erfolgte auf Tommis ausdrücklichen Wunsch.
Es war Sonntagabend, so kurz vor halb elf, als Tommi sich auf den Heimweg machte. Er, Christiano und ich hatten eine Menge Spaß miteinander gehabt. Mein Gott, was hatte dieser Vampir für ein Stehvermögen. Nein stopp, nicht, dass ein völlig falsches Bild entsteht. Wir hatten zwar ausgiebig Sex miteinander, uns aber nicht gegenseitig völlig den Verstand aus dem Schädel gevögelt. Sex war für uns kein Selbstzweck. Ganz im Gegenteil verbrachten wir den Großteil des Tages mit Reden. Christiano erzählte ein paar spannende Geschichten aus seiner wirklich langen Existenz als Untoter. Was dieser Mann alles erlebt hatte, an welchen historischen Ereignissen er teilgenommen hatte, war unglaublich. In einem Geschichtsbuch kann man lesen, wie Historiker sich die Vergangenheit vorstellten. Mit Christiano schilderte uns jemand die Geschichte, der sie am eigenen Leib erlebt hatte. Ich hätte ihm stundenlang zuhören können.
Tommi war ein völlig anderes Thema. Der Junge war Student, Jura, um es genau zu nehmen, absolvierte gerade sein Referendariat, stand kurz vor dem zweiten Staatsexamen und bezahlte dies alles aus eigener Tasche. Der Junge hatte das Pech, mit evangelikal geprägten Eltern gestraft zu sein. Seine Geschichte verlief ziemlich wild und holperig und in Teilen auch wenig erfreulich. Dass er dabei zufällig auf Christiano stieß, entpuppte sich als Glücksfall – für beide Seiten. Bei aller Scheiße, durch die Tommi sich kämpfen musste, war es mehr als erstaunlich, was für ein fröhlicher und optimistischer Mann aus ihm geworden war. Das Kerlchen hatte es faustdick hinter den Ohren. Auf jeden Fall wollte ich ihn wiedersehen, egal ob als Mensch oder als Vampir.
Bevor wir uns zur Nacht begaben, hockten Christiano und ich noch eine Weile beieinander und unterhielten uns. Ich war voll damit beschäftigt, die Ereignisse und Erfahrungen des Wochenendes zu verdauen. Ein paar lose Enden, wichtige und unwichtige, wollte ich noch geklärt wissen.
»Was war eigentlich in dem Cocktail, den du uns gestern im Club organisiert hattest? Wie hieß er noch >blutige Nacht<?«
Christiano grinste verlegen und fuhr unwillkürlich seine Saugzähne aus. »Ich glaube, du weißt inzwischen, welche Zutat er enthielt. Du benötigst Blut, wenn auch sehr wenig. Die vampirische Physiologie in dir verlangt danach.«
»Ich habe Blut getrunken?«, ein wenig entsetzte mich der Gedanke, doch gleichzeitig erregte er mich. In mir erbebte ein Verlangen nach dem roten Saft, den ich so nicht kannte. Mir fiel Jans Verletzung wieder ein und wie ich mich kaum vom Anblick seiner blutenden Wunde lösen konnte.
»Ja, hast du. Bist du mir deswegen böse?«
»Nein, der Gedanke ist nur… ungewohnt.«, ich zögerte einen Moment, dann wechselte ich das Thema, »Wer ist Michael?«
»Michael ist ein Vampir eines befreundeten Hauses. Er ist ein Geschöpf Vladimir Breskoffs. Moment… Jetzt wo du mich darauf ansprichst, fällt mir ein, dass das so nicht mehr stimmt. Mit Breskoffs Tod hat Constantin das Haus geerbt. Eigentlich ist Michael jetzt ebenfalls ein Varadin. Interessant, das könnte mir meine Aufgabe erleichtern.«
»Inwiefern?«
»Ich bin für alle ein Geächteter. Jedes Mitglied meines Hauses wird mich schneiden, wenn nicht sogar angreifen. Allerdings glaube ich nicht, dass dies bei Breskoffs Leuten ebenfalls der Fall sein wird, jedenfalls nicht sofort. Sie werden sich, so wie ich eben, erst noch daran gewöhnen müssen, jetzt Mitglieder des Hauses Varadin zu sein. Außerdem sind sie nicht an Constantins Blut gebunden. Ich bin sogar fast überzeugt, dass es Michael egal ist, dass ich ein Geächteter bin. Dafür geht unsere Freundschaft zu tief und ist viel zu alt.«
»Wann werde ich Constantin wiedersehen?«, über diese Frage wäre ich vor Sehnsucht fast in Tränen ausgebrochen.
Christiano nahm mich in den Arm: »Ich hoffe bald. Ich hoffe es wirklich, kann dir aber nicht sagen, wann es soweit sein wird. Zurzeit ist das Risiko für euch beide einfach viel zu hoch. Lass uns jetzt lieber schlafen. Morgen werden wir wieder als zwei ganz normale Tischler unserem Broterwerb nachgehen müssen – fast wie normale Menschen.«
Fast wie normale Menschen – lange kreiste dieser Satz noch in meinem Schädel umher. An Schlafen war nicht zu denken. Ich lag neben Christiano in dessen Bett und starrte die Decke an. Ging ich wirklich noch als normaler Mensch durch? Wollte ich überhaupt noch einer sein? Hatte ich überhaupt noch eine Wahl? Eine Erinnerung flammte vor meinem geistigen Auge auf. Ich kletterte über das Geländer der großen Talbrücke. Hatte ich Angst, zu sterben? Nein, ich hatte Angst zu leben! Ich sprang mit der vollen Überzeugung, das Richtige getan zu haben. Doch Selbstmord ist nie richtig. Es ist nicht nur feige, es ist der deutlichste Ausdruck von Schwäche, zu dem man fähig ist. Fakt war, dass ich vor meinen Peinigern kapituliert hatte und sie siegen ließ. Eine noch größere Demütigung konnte ich mir nicht vorstellen.
Und dann? Constantin fing mich auf und rettete mich. Nur zu welchem Preis? Mein Leben gehörte von nun an ihm, schließlich hatte ich es leichtfertig weggeworfen. Konnte ich damit leben, sein zu sein? Definitiv ja. Ich liebte diesen Mann und er liebte mich. War ich bereit, ein Vampir zu werden? Ebenfalls ein definitives Ja. Doch dann änderte sich mit dem Anschlag auf Constantin einfach alles. Plötzlich fand ich mich in meinem alten Leben wieder, wenn auch mit radikal verändertem Selbstbewusstsein. Von heute auf morgen begann mir mein Leben zu gefallen. Was hieß, dass ich eine Entscheidung treffen musste: Entweder mit Constantin ein fast unsterbliches oder mein altes Leben weiter führen.
»Du hast die Wahl.«, flüsterte Christiano in die Dunkelheit. Ich vergaß immer wieder, dass Vampire Gedanken lesen können. So wie ich mit ihm in einem Bett lag, frei von äußeren Einflüssen, müssten ihm meine Gedanken laut im Kopf geklungen haben. »Du hast Constantins Leben gerettet und damit jede Schuld ihm gegenüber beglichen. Du bist frei zu tun, was immer du willst. Niemand wird dich aufhalten.«
»Das ist es nicht.«, ich seufzte, robbte an den neben mir liegenden Vampir heran und schmiegte mich an ihn. Der verstand, was ich wollte und nahm mich schützend in den Arm. Geborgen und sicher konnte ich meinen Gedanken weiter folgen, »Eine Wahl zu haben, heißt auch, sie nicht ergreifen zu müssen. Ich weiß, was ich will. Ich will mit euch zusammenleben. Du, Constantin, sogar dieser Zombie Laurentius habt mir während des einen Tages, den ich in Constantins Haus verbracht habe, mehr vom Wesen einer Familie vermittelt, als ich in meinem ganzen bisherigen Leben erfahren habe. Mir ist nur klar geworden, dass ich eben dieses Leben trotz allem vermissen werde.«
»Du wärst nicht der Mensch, den ich meinen Freund nenne, wenn es anders wäre. Obwohl ich schon ein paar hundert Jahre auf dem Buckel habe, schließe ich selten Freundschaften. Mit den Jahren wurden es sogar eher weniger, als mehr. Bei dir bin ich mir absolut sicher, richtig entschieden zu haben, denn eigentlich, mein lieber Florian, bist du zu gut für diese Welt.«
»Christiano, darf ich dich um etwas bitten? Wirst du mich die nächsten Tage unterstützen?«
»Was hast du vor?«
»Ein wenig am Image des blonden Engels zu kratzen. Fünf Kollegen haben mich vergewaltigt, die anderen haben entweder zugeguckt oder es ignoriert. Ich will mich nicht an ihnen rächen, denn Rache ist destruktiv. Trotzdem will ich, dass sie begreifen, was sie getan haben und dazu benötige ich deine Hilfe. Betrachten wir es als mein kleines Vermächtnis.«
»Ich werde dich unterstützen.«, versicherte Christiano.
»Danke!«, mehr gab es nicht zu sagen.
Zufrieden und von quälenden Gedanken befreit schlief ich ein. Morgen begann ein neuer Tag. Der Tag der Geburt eines neuen Florians – dem dunklen Engel