Weirdos – Teil 1

Es war einmal an einem Morgen im November oder Dezember. Die erste Klasse stand mit ihrer Lehrerin im strömenden Regen vor der Schule und wartete auf den Bus. Es sollte der erste Schulausflug für die kleinen ABC-Schützen werden. Überall waren Regenschirme aufgespannt, und die wenigen, die unter diesen keinen Platz fanden, hatten eben ihre Mützen aufgesetzt. Nur ein kleiner Junge stand ungeschützt im Regen. Langsam wurden seine Haare nass. Seine Mutter hatte ihm zwar eine Wollmütze mitgegeben, aber die war irgendwo tief unten in dem Rucksack verstaut, den er auf dem Rücken trug. Naja, der Bus würde ja hoffentlich gleich kommen.

»Hast du keine Mütze? Du wirst doch ganz nass«, hörte er auf einmal eine Stimme hinter sich. Es war die Stimme seiner Lehrerin.

»Doch, da hinten«, antwortete der kleine Junge und deutete dabei mit dem Zeigefinger nach hinten über seine Schulter in Richtung des Rucksacks.

Eigentlich hatte er erwartet, dass seine Lehrerin nun die Schnallen des Rucksacks öffnen würde, doch irgendetwas schien sie missverstanden zu haben, denn plötzlich spürte er ihre Hand dicht hinter seinem Nacken.

»Halt! Nein! Stopp!«, wollte er noch schreien, aber da war es bereits zu spät. Die Lehrerin hatte bereits die dünne Kapuze in der Hand, die innen in seiner Winterjacke angenäht war, und zog diese heraus. Hey, die wollte er aber nicht aufsetzen! Seine Freunde hatten auch keine so komischen Kapuzen auf! Leider spürte er bereits, wie ihm die Lehrerin den dünnen Fetzen Stoff über den Kopf zog. Irgendwie war ihm die ganze Situation furchtbar unangenehm. Am liebsten wäre er im Boden versunken. Wo blieb denn nur dieser blöde Bus?

Für den kleinen Jungen schien es eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis das große Fahrzeug endlich um die Ecke bog und vor der Gruppe anhielt. Nachdem der Fahrer die Türe geöffnet hatte, war der Junge einer der Ersten, die sich in den Bus drängelten. Erleichtert schob er sich die Kapuze vom Kopf, als er die erste Stufe erklomm. Jetzt fühlte er sich besser. Naja, zumindest solange, bis dann später während der Fahrt zwei Sitzreihen hinter ihm einer seiner Mitschüler den Bus vollkotzte. Mann, war das eklig! Aber das hat nun wirklich überhaupt nichts mehr mit der folgenden Geschichte zu tun.

Kapitel 1 – Die Ankunft

Wir waren bereits eine gute Stunde unterwegs und hatten ungefähr 100 Kilometer zurückgelegt, als mein Vater durch die Windschutzscheibe auf ein Schild am linken Straßenrand deutete und mir mitteilte, dass wir nun am Ziel wären. Ich war die ganze Zeit über zusammengekauert auf dem Beifahrersitz gesessen und sank nun noch tiefer in das weiche edle Leder ein. Mein Vater setzte den Blinker und brachte seinen dicken BMW zum Stehen, um den Gegenverkehr passieren zu lassen. Ich blicke an seinem Kopf vorbei durch das linke Seitenfenster. Einige Baumreihen säumten den Straßenrand. Das in einiger Entfernung dahinter aufragende weiße Gebäude war durch die dichte Bepflanzung von der Straße aus nur schemenhaft zu erkennen, obwohl die Laubbäume um diese Jahreszeit kahl waren. Als die Autos auf der Gegenfahrbahn endlich an uns vorbei waren, bog mein Vater in die gepflasterte Einfahrt ein und wir erreichten nach einigen Metern einen großzügig angelegten Parkplatz. Zwischen den einzelnen Parkreihen wucherte eine üppige Bepflanzung aus Bäumen und Büschen, die jetzt im Winter allesamt hässlich braun waren. Erst als wir einen Teil der Bäume passiert hatten und näher an das Gebäude herangekommen waren, konnte ich einen genaueren Blick auf das weit ausladende vierstöckige Bauwerk werfen. Ein dreistöckiger Seitenflügel knickte in einem leichten Winkel vom Hauptgebäude ab. Die Balkone vor den Fenstern wiesen darauf hin, dass sich hier wohl vor allem Patientenzimmer befanden.

‚Psychosomatische Klinik Bad Neuheim‘ hatte auf dem Schild am Straßenrand gestanden. Hier war ich also nun. Immer wieder hatte ich mich während der Fahrt gefragt, was nur mit mir geschehen war, dass ich jetzt diesen Klinikaufenthalt nötig hatte. Es war der deprimierendste Dienstag meines Lebens. Mir war zum Heulen zumute, und wenn meine Mutter mitgekommen wäre, hätte ich mich ihr jetzt vielleicht sogar um den Hals geworfen und trotz meines Alters von 19 Jahren hemmungslos losgeschluchzt. So war ich froh, dass ich sie davon überzeugt hatte, daheimzubleiben. Mein Vater würde ohnehin gleich wieder zurückfahren müssen, da mal wieder in letzter Minute ein wichtiger Geschäftstermin dazwischen gekommen war. Eigentlich hätte ich erst um 14 Uhr in der Klinik sein müssen, aber ein Essen mit einem wichtigen Kunden zwang meinen Vater dazu, mich bereits vormittags um zehn hier abzuliefern. Sein Job als Inhaber einer renommierten Werbeagentur machte es ihm oft schwer, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Ich hatte ihm das bisher nur selten übel genommen, da er ansonsten ein sehr lieber und verständnisvoller Mensch war und mir erst recht seit dem Beginn meiner Probleme unglaublich geholfen hatte. So fand ich mich auch heute klaglos damit ab, vier Stunden früher als geplant meine gewohnte Umgebung verlassen zu müssen. Ich würde hier ohnehin einige Wochen verbringen, auf ein paar Stunden mehr oder weniger kam es also nicht an.

Mein Vater lenkte sein Auto in eine freie Parkbucht nahe am Haupteingang der Klinik und stellte den Motor ab. Er blickte aufmunternd zu mir herüber und klopfte mir auf die Schulter.

»Du wirst schon sehen, wird sicher ganz nett hier«, meinte er.

»Du hast leicht reden, du musst schließlich nicht hier bleiben.«

Wir öffneten die Sicherheitsgurte und stiegen gemächlich aus. Die kalte Januarluft durchdrang sofort mein dünnes Shirt und ließ mich frösteln. An einigen Stellen lagen Schneereste. Schnell öffnete ich die hintere Fahrzeugtüre und holte meine dicke schwarze Daunenjacke vom Rücksitz, während mein Vater von der anderen Seite aus nach seinem Mantel griff. Während ich in meine Jacke schlüpfte, entdeckte ich unter dem Dach vor der großen gläsernen Doppelschwingtüre des Haupteingangs zwei kleine Wägelchen, die wohl zum Transport des Gepäcks auf die Zimmer bestimmt waren.

»Da sind Karren für das Gepäck«, sagte ich. »Ich geh mal eine holen.«

Ich lief die zehn Meter bis zum Eingang hinüber und griff nach einem der Wagen. Bei dieser Gelegenheit warf ich gleich einen ersten Blick durch die großzügige Verglasung der Eingangshalle. Auf der rechten Seite hinter der großen Glastür befand sich eine Art Rezeption, ähnlich wie in einem Hotel. Gegenüber entdeckte ich mehrere Sitzgruppen und Tische mit sauber gestapelten Zeitschriften. Einige vorwiegend ältere Herrschaften saßen sich an einem der Tische gegenüber und schienen sich angeregt zu unterhalten. Mit meinen 19 Jahren kam ich mir hier sofort etwas deplatziert vor und hoffte sehnlichst, dass es hier auch noch andere in meinem Alter gab.

Als ich mit dem Wagen zurück am Auto war, hatte mein Vater bereits den Kofferraum geöffnet und die zwei großen Koffer herausgehoben. Ich hoffte, darin genügend Klamotten für die nächsten Wochen eingepackt zu haben. Ich hievte die Koffer auf die Gepäckkarre. Mein Vater stellte noch einige Taschen und Tüten dazu.

»Soll ich noch mit hineinkommen?«, fragte er, nachdem er den Kofferraum wieder zugeschlagen hatte.

»Ach nein, lass nur«, antwortete ich. »Schau lieber, dass du zu deinem Termin nicht zu spät kommst.«

Er lächelte mir wieder aufmunternd zu und reichte mir die Hand. Als wir uns die Hände schüttelten, hatte ich Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Er schien dies zu bemerken und nahm mich in die Arme. Eine halbe Minute standen wir da und umarmten uns. Ein paar Tränen liefen mir aus den Augenwinkeln, aber immerhin konnte ich es vermeiden loszuschluchzen. Als er mich wieder losgelassen hatte und die Tränen entdeckte, die mir die Wangen herunterliefen, lächelte er mich an und klopfte mir kumpelhaft auf die Schulter.

»Du schaffst das hier schon, David. Alles halb so wild.«

Ich wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und lächelte gequält zurück.

»Weiß ich doch«, antwortete ich. »Ist nur ’ne beschissene Situation am Anfang.«

Er drückte mir nochmals die Hand und stieg dann mit einem »Mach’s gut, David«, zurück in sein Auto. Als er den Wagen aus der Parkbucht steuerte, winkte er mir nochmals lächelnd zu. Ich winkte zurück und sah ihm nach, wie er mit seinem Auto langsam hinter den Bäumen und Büschen verschwand und das Motorengeräusch immer schwächer wurde.

Als das Fahrzeug schließlich ganz aus meinem Blickfeld verschwunden war, atmete ich tief durch, griff nach dem Gepäckwagen und schob ihn langsam vor mir her auf den Eingang zu. Die Tür schwang automatisch nach außen, als ich mich ihr bis auf ein paar Meter genähert hatte. Eine zweite Schwingtüre wenige Meter hinter der ersten verhinderte, dass die kalte Winterluft in die große Eingangshalle dringen konnte. Auch diese Türe öffnete sich automatisch und ließ mich mit meinem Gepäck problemlos passieren. Vor der Theke der Rezeption blieb ich stehen. Eine junge Dame mit schwarzen Haaren und Brille, die an einem Tisch einige Meter hinter der Theke vor einem Bildschirm gesessen hatte, blickte auf und kam freundlich lächelnd auf mich zu.

»Guten Morgen, Sie sind aber früh hier«, begrüßte sie mich.

Ich grüßte zurück und reagierte auf Ihre Bemerkung mit einem hilflosen Schulterzucken.

»Wie heißen Sie?«, fragte Sie höflich.

»David Kranitz«, erwiderte ich.

Sie überflog eine Liste und entdeckte nach kurzer Zeit meinen Namen darauf.

»Ah ja, Herr Kranitz. Schön, dass Sie hier sind. Dann darf ich Sie erst einmal recht herzlich hier in der Klinik in Bad Neuheim begrüßen und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

»Hmm, ja, danke«, murmelte ich zurück.

Sie reichte mir einen Schlüssel.

»Das ist Ihr Zimmerschlüssel. Sie haben Zimmer 213, das ist oben im zweiten Stock. Wenn Sie aus dem Aufzug kommen nach rechts, ziemlich weit hinten im Seitenflügel.«

»Okay, werd ich schon finden«, antwortete ich.

»Der Patient, der mit Ihnen das Zimmer teilt, ist noch nicht eingetroffen. Sie können also erst einmal in Ruhe alleine auspacken.«

Anschließend erklärte sie mir noch den weiteren Tagesablauf und gab mir einen Merkzettel mit den entsprechenden Uhrzeiten. Um 15 Uhr war das erste Treffen meiner Therapiegruppe, zwei Stunden später die Begrüßung durch den Chefarzt. Ab 18 Uhr war der Speisesaal für das Abendessen geöffnet. Ein Mittagessen hätte ich auch bekommen können, verzichtete aber gerne darauf. Mir war erst einmal gründlich der Appetit vergangen.

Ich griff nach dem Wagen mit meinem Gepäck und schob ihn zum Aufzug. Seit einiger Zeit machten auch Aufzüge mich nervös. Meine Angst- und Panikattacken hatten zwar nichts mit Aufzügen oder anderen engen Räumen zu tun, aber ich wusste inzwischen, dass dies bei vielen anderen Angstpatienten der Fall war. In den letzten Monaten hatte ich mich intensiv mit Angsterkrankungen beschäftigt und einige Bücher zu diesem Thema gelesen. Viele Situationen, die bei anderen Menschen Panikattacken auslösten, waren mir deshalb bestens bekannt und erinnerten mich jetzt jedes Mal an meine eigenen Probleme.

Ich drückte auf den Fahrstuhlknopf und hörte den Aufzug herunterfahren. Nach wenigen Momenten öffnete sich die Tür und ich schob meinen Wagen hinein. Eine zierliche ältere Dame war in der Zwischenzeit neben mich getreten und betrat hinter mir den Aufzug.

»Aha, Sie sind also einer von den Neuankömmlingen«, sagte sie, als ich den Knopf für den zweiten Stock drückte. Ich schätzte Sie auf Ende 60 oder Anfang 70.

»Ja«, erwiderte ich knapp.

»Wird Ihnen sicher gefallen hier, wenn Sie sich erst einmal eingelebt haben«, fuhr sie fort.

»Naja, da bin ich mir noch nicht so sicher«, gab ich schüchtern zurück.

Sie lachte und sagte: »Ach, als ich hier angekommen bin, ging’s mir genauso.«

Wir waren inzwischen im zweiten Stock angekommen und die Fahrstuhltüre öffnete sich.

»Ich muss noch einen Stock höher«, sagte die Frau und trat zur Seite, so dass ich meinen Wagen an ihr vorbei aus dem Aufzug ziehen konnte. Wir nickten uns noch kurz zu, als sich die Türe bereits wieder schloss.

Ich atmete noch einmal tief durch und setzte mein Gepäck wieder in Bewegung. Die Rollen des kleinen Koffertransporters gaben sofort ein widerliches Quietschen von sich.

Vor dem Aufzug befand sich ein größerer Vorraum. Hinter einer der wenigen Türen an der gegenüberliegenden Wand waren Stimmen zu hören. Anscheinend fand hier gerade eine Gruppensitzung statt. Der Vorraum mündete in einen schmalen Gang, der endlos lang zu sein schien. Beim Übergang in den Seitenflügel machte er einen leichten Knick. Hier befand sich auch eine Nische mit einer Sitzecke, die im Moment allerdings verwaist war. Mehrere Fenster ermöglichten den Blick auf den Bereich hinter der Klinik. Ich hielt kurz inne und blickte hinaus. Auf der linken Seite erstreckte sich ein Waldgebiet, auf der rechten Seite lag ein kleiner, zugefrorener See. Einige hundert Meter hinter diesem waren die ersten Häuser von Bad Neuheim zu sehen. Die Klinik lag etwas außerhalb des kleinen Kurortes. Auf dem weitläufigen Areal vor der Klinik spazierten einige Menschen herum, wahrscheinlich Patienten. Die meisten waren dick eingepackt in Wintermäntel, Schals und Mützen. Als ich eine Weile hinausgesehen hatte, hörte ich eine Stimme hinter mir: »Hi, bist du auch einer von den Neuen?«

Erschrocken drehte ich mich um. Vor mir stand eine junge Frau, naja, eher noch ein Mädchen. Man konnte ihr unschwer ansehen, warum sie hier war. Sie bestand fast nur aus Haut und Knochen. Bisher hatte ich noch nie eine Anorexiekranke in natura gesehen. Im ersten Moment verschlug es mir deshalb bei ihrem Anblick die Sprache.

»Hallo! Ja, ich bin gerade angekommen«, erwiderte ich nach einer auffällig langen Pause.

Sie gab mir Ihre Hand.

»Ich bin Nadine«, sagte sie.

»Ich bin David.«

»Schau mal auf deinem Zettel nach, ob wir in derselben Gruppe sind«, forderte sie mich auf. »Ich bin in Gruppe 2C.«

Ich kramte in der Innentasche meiner Daunenjacke nach dem Zettel, den ich an der Rezeption erhalten hatte.

»Ja, ich bin auch in 2C«, erwiderte ich, nachdem ich einen Blick auf das Blatt geworfen hatte.

»Hey, das ist ja toll. Endlich mal ein männliches Wesen mit mir in einer Gruppe.«

»Hast du so was schon öfter mitgemacht?«, fragte ich erstaunt.

»Ja, ist glaube ich das vierte Mal, dass ich in so einer Klinik bin. Bin schon seit einer Stunde hier. So lerne ich die Leute gleich alle kennen, wenn sie ankommen. Ist doch toll, oder?«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und lächelte verlegen zurück. Für Nadine schien der Aufenthalt in dieser Klinik beinahe Alltag zu sein, für mich dagegen war es völlig neu und irgendwie beängstigend. Ich fühlte mich jetzt noch mehr verunsichert, als vor der Begegnung mit ihr.

»Du bist das erste Mal in so einer Psycho-Klinik, oder?«, fragte sie.

Ich nickte nur. Sie grinste mir ins Gesicht.

»Keine Sorge, ist ganz lustig hier«, sagte sie fröhlich.

Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte.

»Naja, ich geh jetzt erst mal auspacken«, brachte ich schließlich heraus und griff nach dem Gepäckwagen.

»Na dann, bis später«, rief sie mir nach und setzte ihren Weg in Richtung Aufzug fort, während ich mein Gepäck weiter in die entgegengesetzte Richtung durch den Gang schob.

Mein Zimmer befand sich auf der linken Seite und war das vorletzte im Gang. Ich schloss die Tür auf und schaute hinein. Das Zimmer sah recht gemütlich aus und glich eher einem Hotelzimmer als einem Krankenhauszimmer. Naja, das hier war schließlich auch eine Kurklinik. Den Boden bedeckte ein schlichter grauer Teppich, die Wände waren weiß gestrichen. Rechts hinter einer Tür befand sich der weiß geflieste Duschraum mit Waschbecken und Toilette. Im Zimmer stand ein Bett vor der Wand zur Dusche, das andere um 90 Grad versetzt an der rechten Seitenwand. Auf der linken Seite befanden sich zwei große Kleiderschränke. Ein Tisch und zwei Stühle komplettierten die Ausstattung. Die gesamte Vorderseite des Zimmers nahm ein großes Fenster und die Tür zum Balkon ein. Ich vermisste einen Fernseher oder zumindest ein Radio, aber beides war auf den Zimmern unerwünscht. Zumindest waren die Räume mit Telefonen ausgestattet.

Ich nahm meine Koffer und Taschen vom Wagen und stellte sie in der Mitte des Zimmers ab. Als mein Blick zurück auf den nun leeren Gepäckwagen fiel, stöhnte ich leise auf. Der musste natürlich wieder zurück an den Klinikeingang. Im Moment hatte ich eigentlich genug von Begegnungen mit Mitpatienten und deren klugen Bemerkungen und wollte mich nur noch in meinem Zimmer verkriechen, zumindest für eine Weile. Der Gedanke, noch einmal bis hinunter zum Eingang und wieder zurück laufen zu müssen, behagte mir gar nicht. Trotzdem blieb mir nichts anderes übrig. Schließlich wollte ich nicht dafür verantwortlich sein, dass andere Neuankömmlinge ihre ganzen Habseligkeiten ohne dieses ohrenzermarternd quietschende Hilfsmittel durch die Gegend schleifen mussten. Ich ließ mein Gepäck also einfach stehen und warf meine Daunenjacke auf eines der Betten. Dann schloss ich das Zimmer wieder ab und schob den Wagen zurück zum Fahrstuhl. Ich war dankbar, dass mir niemand begegnete, zumindest bis ich wieder unten im Eingangsbereich angekommen war. Auf der Sitzecke vor dem Fenster entdeckte ich Nadine, die aufmerksam den Parkplatz beobachtete und nach weiteren Neuankömmlingen Ausschau hielt.

»Na, inzwischen noch jemand angekommen?«, fragte ich, als ich den Wagen an ihr vorbei zum Eingang schob.

»Nö, bisher nicht. Die kommen alle erst kurz vor zwei, wetten?«, antwortete sie.

Ich brachte den Wagen nach draußen. Als ich zurückkam, war sie aufgestanden und wartete direkt vor der inneren Schwingtür auf mich.

»Bleib doch hier unten bei mir. Wir können ein bisschen quatschen und die anderen Neuen beglotzen«, schlug sie vor.

»Ich muss erst mal meine Sachen auspacken.«

»Ach komm, das kannst du später auch noch machen.«

»Ich mach das lieber, solang ich noch allein im Zimmer bin.«

»Na gut«, gab sie schließlich nach.

Als ich mich schon umdrehen und gehen wollte, fragte sie: »Wie alt bist du eigentlich?«

»19«, antwortete ich.

»Ich bin 17, werd‘ aber nächsten Monat 18. Da können wir dann hier feiern.«

Ihre Fröhlichkeit stand irgendwie im krassen Gegensatz zu Ihrer abgemagerten Erscheinung und verwirrte mich. Ich fühlte mich völlig unsicher ihr gegenüber. Ihr Körper machte einen so schwächlichen und zerbrechlichen Eindruck, trotzdem sprühte sie nur so vor Energie. Ich dagegen hatte einen einigermaßen gut gebauten Körper, war nicht ganz unsportlich und sah auch nicht gerade schlecht aus. Trotzdem fühlte ich mich im Moment wie ein Häufchen Elend.

»Wir sehen uns ja dann später«, sagte ich und winkte ihr zu. Diesmal nahm ich die Treppe. Mit schnellen Schritten erreichte ich wieder das Zimmer, das ich mir bald mit einem anderen Patienten würde teilen müssen. Eigentlich hätte ich auch ein Einzelzimmer haben können und ärgerte mich jetzt etwas darüber, dass ich auf dem Anmeldeformular ‚Doppelzimmer‘ angekreuzt hatte. Damals war mir der Gedanke sehr verlockend erschienen, vielleicht mit einem hübschen Jungen in einem Zimmer zu schlafen. Meine Homosexualität war immer noch ein wohl gehütetes Geheimnis. Eigentlich war ich mir auch immer noch nicht hundertprozentig sicher, ob ich überhaupt schwul war. Dass mich Mädchen nicht interessierten, das wusste ich zwar ganz genau, aber irgendwie war bei mir alles etwas komplizierter. Schon seit meiner Kindheit fand ich Kleidungsstücke mit Kapuzen irgendwie aufregend, obwohl ich keine Erklärung dafür hatte, warum das so war. Irgendwann hatte ich dann herausgefunden, dass man so etwas wohl Fetischismus nannte und ich nicht der einzige Mensch auf diesem Planeten war, der so merkwürdige Gefühle hatte. Diese Erkenntnis half mir allerdings auch nicht unbedingt weiter. Na gut, ich hatte also einen Fetisch für Kapuzenklamotten. Irgendwie kam ich mir damit zwar etwas abnormal vor, aber letztendlich blieb mir ja nichts anderes übrig, als meine merkwürdige Neigung einfach zu akzeptieren. Neben Kapuzensweatshirts mochte ich vor allem Winter- und Regenjacken aus Nylon, deren dünne Kapuzen im Kragen versteckt waren. Der Anblick von gutaussehenden Jungs, die eine Kapuze aufgesetzt hatten, löste bei mir jedes Mal recht heftige Gefühle aus. Auch meine Daunenjacke war aus schwarzem, leicht glänzendem Nylonstoff und hatte eine dünne Kapuze hinter einem Klettverschluss im Kragen. Sie lag immer noch auf dem Bett, auf das ich sie vorhin achtlos geworfen hatte. Jetzt nahm ich sie auf und hängte sie an die Garderobe neben der Zimmertür.

Anschließend machte ich mich lustlos daran, meine Koffer und Taschen auszupacken. Ich öffnete einen der beiden Kleiderschränke und schichtete nach und nach den Inhalt meiner Koffer in die einzelnen Fächer. Als ich endlich damit fertig war, war es bereits kurz vor zwölf. Ich hoffte, noch etwas Ruhe zu haben, bevor mein Zimmergenosse eintraf. Ich legte mich auf das Bett an der Wand zur Dusche und nahm es damit für mich in Beschlag. Ich versuchte, mich so gut es ging zu entspannen und lauschte den Geräuschen auf dem Gang. Gerade jetzt war dort recht viel los. Anscheinend verließen viele Patienten ihre Zimmer, um sich auf den Weg in den Speisesaal zu machen. Nach einigen Minuten setzte schließlich Stille ein. Jetzt waren wohl alle unten beim Essen.

Kapitel 2 – Kevin

Nach einer guten Viertelstunde hörte ich plötzlich Stimmen näher kommen, begleitet von einem Rumpeln und Quietschen. Jemand schob einen der Gepäckwagen durch den Gang. Ob dies mein Zimmergenosse war? Falls ja, war er ebenfalls recht früh hier. Ich lauschte, wie die Personen näher kamen und schließlich genau vor meiner Türe stehen blieben.

»Nummer 213. Hier ist es«, hörte ich eine dumpfe männliche Stimme auf dem Flur.

»Klopf mal an, vielleicht ist dein Mitbewohner ja im Zimmer.«

Diesmal war es unverkennbar die Stimme einer Frau, die ich da hörte. Ich setzte mich nervös und erwartungsvoll auf. Es klopfte mehrmals an der Tür und nach einigen Sekunden hörte ich, wie die Klinke heruntergedrückt wurde. Ich sprang auf und blickte um die Ecke zur Zimmertüre. Ich spürte, wie mir ein Schauer durch den Körper lief, als ich den Jungen erblickte, der von einer Hand auf seiner Schulter sanft ins Zimmer geschoben wurde. Er war etwa in meinem Alter und ungefähr 1,80 m groß. Damit überragte ich ihn, wenn überhaupt, höchstens um ein oder zwei Zentimeter. Lange, lockige dunkle Haare fielen ihm in sein hübsches Gesicht, als er sich bückte, um eine Reisetasche auf dem Boden abzustellen. Er blickte mich schüchtern an und reichte mir die Hand.

»Hallo, ich bin Kevin Winter«, sagte er zögerlich.

»Hi, ich bin David Kranitz«, erwiderte ich, als ich ihm die Hand schüttelte.

Er deutete auf die beiden Personen, die nach ihm das Zimmer betreten hatten, und sagte leise: »Meine Eltern.«

Kevins Anblick hatte mich so in den Bann gezogen, dass ich erst jetzt richtig Notiz von der Frau und dem Mann nahm, die mir freundlich zulächelten. Ich schüttelte beiden die Hand und stellte mich auch ihnen vor.

»Mensch, da habt ihr aber ein schönes Zimmer«, meinte die Mutter, als sie sich eine Weile umgesehen hatte. Kevin zuckte nur mit den Schultern. Er schien über seine Situation mindestens genauso unglücklich zu sein wie ich. Die Gegenwart seiner Eltern machte die Sache für ihn wohl nur noch unangenehmer.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich das Bett hier nehme?«, fragte ich, um sein Schweigen zu durchbrechen. Ich deutete auf das Bett, auf dem ich gerade gelegen hatte. Der Abdruck meines Körpers auf der Bettdecke war noch immer deutlich zu sehen.

»Nein, ist okay«, murmelte er und setzte sich zögerlich auf das andere Bett. Er trug blaue Jeans und ein hellbeiges Sweatshirt. Eine Jacke hatte er nicht an. Sie war wohl irgendwo zwischen seinem Gepäck. Inzwischen trug sein Vater zwei große Koffer ins Zimmer und stellte sie in der Mitte des Raumes ab. Ich trat einen Schritt zur Seite, um Platz zu machen. Den Gepäckwagen hatte er vor der Türe stehen lassen, er hätte ohnehin nicht an den Taschen vorbeigepasst, die schon neben der Garderobe standen. Die Anspannung im Raum war deutlich zu spüren, auch bei Kevins Eltern. Niemand schien so recht zu wissen, was er sagen sollte. Ich entschloss mich, die drei alleine zu lassen. Sicher hatten sie noch einiges zu bereden.

»Naja, ich geh mal runter in die Halle. Dann kannst du dich in Ruhe von deinen Eltern verabschieden, okay?«

Seine Eltern lächelten dankbar, während Kevin selbst mir nur kurz zunickte und dann wieder auf den Boden starrte. Ich quetschte mich an den Eltern und dem Gepäck vorbei und ging durch die immer noch offen stehende Tür hinaus in den Gang. Den inzwischen leeren Gepäckwagen nahm ich gleich mit nach unten. Am Übergang zwischen den beiden Gebäudeflügeln entdeckte ich einen zweiten Fahrstuhl, der mich zurück ins Erdgeschoss brachte.

Die Eingangshalle war nun voller Leute. Einige kamen aus dem angrenzenden Speisesaal, andere saßen bereits an den Sitzgruppen. Nadine war diesmal nirgends zu entdecken. Jetzt hätte ich nichts gegen ihre Gesellschaft einzuwenden gehabt. Ich setzte mich an den einzigen noch freien Tisch und nahm eine der Zeitschriften vom Stapel. Ohne den Inhalt richtig wahrzunehmen, blätterte ich durch die Seiten. Nach zwanzig Minuten kehrte endlich wieder etwas Ruhe ein. Der Speisesaal hatte sich inzwischen geleert und viele Patienten waren wieder auf ihren Zimmern oder in irgendwelchen Therapiestunden verschwunden. Ich war froh, dass es die ganze Zeit über niemand für nötig befunden hatte, mich anzusprechen.

Ich blätterte immer noch desinteressiert die Zeitschriften durch, als auf dem Parkplatz ein weißer VW-Bus vorfuhr. An der Tür war der Schriftzug der Klinik zu erkennen. Die Schiebetür öffnete sich und vier junge Frauen stiegen aus. Der Fahrer hatte inzwischen die Heckklappe geöffnet und die Vier holten ihre Koffer und Taschen aus dem Wagen. Sie schienen alle etwa Anfang 20 zu sein. Ich fragte mich, ob sie wohl auch zu meiner Gruppe gehörten. Sie mussten wohl mit der Bahn gekommen sein. Die nächste Stadt mit einem Bahnhof war etwa 15 Kilometer entfernt und die Klinik holte Patienten, die mit dem Zug kamen, mit dem Kleinbus von dort ab. Ich beobachtete die Neuankömmlinge, wie sie an der Rezeption die obligatorischen Begrüßungsfloskeln über sich ergehen ließen und dann jeweils zu zweit mit einem völlig überladenen Gepäckwagen im Aufzug verschwanden. Inzwischen war ich beinahe wieder alleine in der Halle. Ich blickte auf meine Uhr, es war inzwischen 13.15 Uhr. Kevins Eltern hielten es aber lange bei ihrem Sohn aus. Naja, vielleicht halfen sie ihm noch beim Auspacken. Ich wollte gerade aufstehen und etwas durch die Klinik bummeln, als sich die Fahrstuhltüre öffnete und die beiden heraustraten. Erst jetzt betrachtete ich sie genauer. Der Mann war wohl etwa 50 und trug einen Anzug mit Krawatte. Er machte auf mich den Eindruck eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Seine Frau schien ein paar Jahre jünger zu sein. Sie trug ein elegantes Kostüm, das sicher nicht ganz billig gewesen war. Die beiden entdeckten mich sofort.

»Heinz, da sitzt der junge Mann, der mit Kevin im selben Zimmer ist«, sagte sie zu ihrem Mann. Sie sprach gerade so laut, dass ich ihre Worte verstehen konnte. »Vielleicht sollten wir mit ihm reden.«

Ihr Gatte nickte und die beiden kamen auf mich zu.

»Dürfen wir uns kurz setzen?«, fragte sie.

»Natürlich, gerne«, antwortete ich.

Die beiden nahmen Platz.

»Wissen Sie, wir haben in letzter Zeit viel durchgemacht und machen uns große Sorgen um Kevin. Wir sind uns nicht einmal sicher, ob diese Klinik hier das Richtige für ihn ist. Eigentlich wollten sie ihn hier gar nicht aufnehmen.«

Kevins Mutter fiel es sichtlich schwer, darüber zu reden. Ihr Mann griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. Dann fuhr er fort: »Vor ein paar Monaten ist Kevins jüngerer Bruder, unser zweiter Sohn, bei einem Fahrradunfall ums Leben gekommen. Die beiden haben damals zusammen eine Radtour unternommen und Kevin musste mit ansehen, wie sein Bruder starb.«

»Oh, das tut mir leid«, stammelte ich. »Auch für Sie meine ich«, fügte ich hilflos hinzu.

Die beiden nickten mir dankbar zu.

»Die beiden sind eine abschüssige Strecke hinuntergefahren und Marco, Kevins Bruder, war wohl zu schnell. Kevin fuhr etwa 50 Meter hinter ihm und rief ihm noch zu, er solle langsamer fahren. Marco muss sich wohl kurz nach hinten umgesehen haben, dabei ist er von der Straße abgekommen und vom Fahrrad gefallen. Er ist sehr unglücklich mit dem Kopf aufgeschlagen und dann auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.«

Kevins Vater machte wieder eine Pause und seufzte tief.

»Kevin hat das überhaupt nicht verkraftet. Die Wochen danach hat er sich völlig zurückgezogen. Er war nicht einmal mit zur Beerdigung. Er ist nur noch in seinem Zimmer gelegen, hat die Decke angestarrt und kaum ein Wort geredet. Wir konnten ihn nicht dazu bewegen, in die Schule zu gehen oder seine Freunde zu treffen.«

Herr Winter schüttelte verzweifelt den Kopf. Die Erinnerungen schienen ihm sehr zuzusetzen. Seine Frau fuhr fort: »Nach einigen Wochen schien es Kevin dann langsam besser zu gehen, er ist wieder zur Schule gegangen und hat sich ab und zu sogar mit Freunden getroffen. Wir dachten schon, dass das Schlimmste nun überstanden sei. Wissen Sie, es war schon so schwer für uns, Marco zu verlieren. Danach auch noch die vielen Sorgen um Kevin, das war kaum auszuhalten. Wir waren so froh, dass er wieder Lebensmut zu finden schien.«

Sie begann zu schluchzen und öffnete ihre Handtasche um ein Papiertaschentuch herauszuholen. Während sie sich die Augen wischte, fuhr wieder ihr Mann fort:

»Als es Kevin am Anfang so schlecht ging, haben wir uns kaum getraut, ihn aus den Augen zu lassen. Immer hatten wir Angst, dass er sich etwas antut. Als es ihm dann wieder eine Zeitlang besser zu gehen schien, haben wir eine Einladung von Freunden angenommen und waren einen Abend über weg. Wir wollten einfach mal wieder auf andere Gedanken kommen. Als er dann alleine zu Hause war, muss er alle möglichen Medikamente aus dem Arzneischrank geschluckt haben. Er war bewusstlos, als wir nach Hause kamen. Wir können froh sein, dass wir schon so früh wieder zurückgekommen sind und noch in sein Zimmer gesehen haben. Sonst wäre er jetzt wohl auch tot.«

Auch Herrn Winter standen jetzt Tränen in den Augen. Nach einer längeren Pause erzählten die beiden weiter. Kevin war im Krankenhaus der Magen ausgepumpt worden. Als es ihm körperlich wieder besser ging, war er in die geschlossene Psychiatrie verlegt worden. Das war noch ein zusätzlicher Schock für ihn gewesen. Er war dort überhaupt nicht zurechtgekommen und hatte sich gegen jede Therapie gesperrt. Seine Eltern hatten sich deswegen nach einer anderen Klinik umgesehen und waren in Bad Neuheim fündig geworden. Hier war man aber eigentlich nicht auf Patienten ausgerichtet, die suizidgefährdet waren, was bei Kevin wohl immer noch der Fall war. Nur mit einigen Tricks und guten Beziehungen war es möglich gewesen, ihn hier unterzubringen. Er hatte seinen Eltern hoch und heilig versprechen müssen, sich nichts anzutun. Erst dann hatten sie es ihm ermöglicht, hierher verlegt zu werden.

»Wir dachten, es wäre ganz gut, wenn Sie von Anfang an Bescheid wissen«, beendete Frau Winter schließlich Ihre Ausführungen. »Bitte passen Sie ein bisschen auf ihn auf.«

»Ja klar, mache ich gerne«, antwortete ich. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen. Eigentlich hatte ich das Gefühl, dass die Situation mich völlig überforderte. Kevins Vater schien dies zu ahnen.

»Uns ist klar, dass Sie wahrscheinlich selbst große Probleme haben und nicht auch noch für Kevin Verantwortung übernehmen können. Das erwarten wir auch nicht. Aber informieren Sie vielleicht einen der Ärzte oder Psychologen, wenn Ihnen etwas an Kevin auffällt, was Sie beunruhigt. Wissen Sie, ein Arzt aus Kevins alter Klinik meinte, dass jemand, der sich wirklich umbringen wolle, dies auch in der geschlossenen Abteilung schaffe. Hier sind wenigstens Leute in seinem Alter, mit denen er hoffentlich eher klarkommt. Wir glauben, dass er sich hier wohler fühlen wird und dadurch schneller vorankommt. Und er hat uns ja ganz fest versprochen, dass er sich nichts antut, solange er hier ist. Wir glauben ihm.«

Seine Eltern standen schließlich auf und verabschiedeten sich von mir. Draußen auf dem Parkplatz stiegen die beiden in einen großen Mercedes und machten sich wieder auf den Heimweg. Ich empfand ungeheures Mitleid mit den beiden und erst recht mit Kevin. Meine Stimmung war angesichts dieser traurigen Geschichte nun völlig am Boden. Ich war gerade dabei aufzustehen und zur Treppe zu gehen, als Nadine mir entgegenkam. An ihrer Seite befand sich ein junges Mädchen. Sie konnte höchstens 14 oder 15 sein.

»Das ist Christina, sie ist mit mir in einem Zimmer«, sagte Nadine fröhlich. Ihre Fröhlichkeit passte so gar nicht zu meiner augenblicklichen Gemütslage.

»Das ist David, er ist auch in unserer Gruppe«, stellte sie mich anschließend ihrer Zimmergenossin vor.

»Hallo Christina«, sagte ich und schüttelte dem Mädchen die Hand. Trotz meiner eingetrübten seelischen Verfassung konnte ich nicht anders, als sie sofort sympathisch zu finden. Sie war mindestens einen Kopf kleiner als ich, hatte lange, braune Haare und ein noch fast kindliches Gesicht. Sie lächelte mich schüchtern an und sagte »Hallo.«

»Kommst du mit uns in die Cafeteria?«, fragte mich Nadine. »Da wollen wir gerade hin. Wir haben noch eine gute Stunde Zeit.«

»Ich muss zurück ins Zimmer, mein Mitbewohner ist schon da.«

»Bring ihn doch mit herunter«, erwiderte sie.

»Ich weiß nicht, ob er Lust hat.«

»Frag ihn doch einfach.«

»Okay, mal sehen.«

Wir trennten uns wieder. Ich sah den Mädchen nach, wie sie die Cafeteria neben dem Speisesaal betraten, und stieg wieder die Stufen zum zweiten Stock hoch.

Kevin war nicht im Zimmer. Vielleicht erkundete er ja die Klinik. Ich wartete eine Weile auf ihn und entschied mich dann doch noch, zu den Mädchen hinunterzugehen. Unterwegs konnte ich ja nach Kevin suchen.

Ich durchstreifte sämtliche Flure der verschiedenen Stockwerke, konnte ihn aber nirgends entdecken. Irgendwie war ich darüber beunruhigt. Die Worte seiner Eltern klangen mir noch immer im Ohr. Nun, er würde sicher wieder auftauchen. Ich musste auch an mich denken und endlich auf andere Gedanken kommen, um nicht noch durchzudrehen. Also setzte ich mich zu den beiden Mädchen in die Cafeteria. Christina hatte eine bereits zur Hälfte geleerte Tasse Kakao vor sich stehen. Nadine nippte an einem Glas Früchtetee.

»Na, ihr zwei«, begrüßte ich die beiden.

»Hey, wir dachten schon, du kommst nicht mehr«, sagte Nadine. »Wo hast du denn deinen Zimmergenossen gelassen?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung, wo der ist. Er war nicht auf dem Zimmer.«

Ich setzte mich zu den beiden.

»Ich glaube, er fühlt sich hier nicht besonders wohl«, fügte ich hinzu. »Ich habe vorhin mit seinen Eltern gesprochen, ihm geht’s wohl ziemlich mies.«

»Ach Mensch, der Ärmste«, bemerkte Nadine mitfühlend. »Was hat er denn?«

»Ich glaube, das sollte er euch besser selbst erzählen. Jedenfalls hat er in letzter Zeit ein paar schreckliche Dinge erlebt.«

Ich holte mir eine Cola und hörte dann Nadine zu, wie sie von ihren früheren Klinikaufenthalten berichtete. Sie litt wohl schon seit einigen Jahren an Essstörungen und hatte schon alle möglichen Therapien durch. Christina sagte die ganze Zeit über kaum ein Wort. Sie schien außergewöhnlich schüchtern zu sein. Vielleicht war das ein Grund, warum sie hier war. Im Moment konnte ich darüber nur Vermutungen anstellen.

»Warum bist du eigentlich hier?«, fragte mich Nadine schließlich.

Mir war es bisher immer unangenehm gewesen, über meine Probleme zu reden. Am liebsten wäre ich der Frage ausgewichen.

»Naja«, meinte ich zögerlich und starrte auf die Tischplatte. »Ich bin wegen Panikattacken hier. Angsterkrankung.«

Nadine reagierte, als ob dies das normalste der Welt wäre.

»Ah so. Naja, so was haben viele. Hab ich auch schon einige kennen gelernt.«

Eigentlich hatte ich keine Lust, genaueres darüber zu erzählen, aber irgendwie fing ich dann doch an, von meiner ersten Angstattacke während einer Matheklausur zu berichten. Ich schilderte, wie sich die Panik so sehr gesteigert hatte, dass ich schließlich einfach aus dem Klassenzimmer gerannt war. Nachher hatte ich dann allen erzählt, mir sei plötzlich schlecht geworden. Ich hatte die Prüfung dann eine Woche später wiederholen dürfen. Um nicht wieder in Panik zu geraten, hatte ich vorher gelernt wie nie zuvor. Ich war mir absolut sicher gewesen, den Stoff hundertprozentig zu beherrschen. Trotzdem war während der Nachholprüfung nach einiger Zeit wieder diese Angst aufgekommen. Wenigstens hatte ich mich diesmal soweit beherrschen können, nicht wieder aus dem Zimmer zu rennen. Trotzdem hatte ich die Klausur in den Sand gesetzt. Das Gefühl, eine schlechte Note bekommen zu haben, war dabei weit weniger schlimm gewesen als die Erinnerung an die Angst- und Panikgefühle während der Prüfung und die Befürchtung, dass diese bei der nächsten Klausur wieder auftreten würden.

»So hat das bei mir angefangen«, beendete ich meinen Bericht. Mehr wollte ich im Moment wirklich nicht erzählen. Ich würde hier noch oft genug in allen Einzelheiten darüber reden müssen. Ich wunderte mich ohnehin, dass ich so wenige Probleme gehabt hatte, den beiden ohne Scham davon zu erzählen. Mit meinen Eltern hatte ich darüber nie richtig reden können, mit Freunden schon gleich gar nicht. Letztere hatten sich nur gewundert, was plötzlich mit mir los war, als ich auf einmal immer öfter bei Prüfungen gefehlt hatte und dann manchmal überhaupt nicht mehr in der Schule erschienen war.

»In einer Viertelstunde fängt die Gruppe an«, sagte Nadine auf einmal.

Ich war überrascht, wie schnell die Zeit vergangen war, und erinnerte mich an Kevin.

»Ich geh noch mal schnell auf mein Zimmer«, sagte ich.

Als ich oben ankam, war Kevin immer noch verschollen. Das Zimmer sah noch genauso aus wie vorhin, anscheinend war er die ganze Zeit über nicht hier gewesen. So langsam begann ich mir wirklich Sorgen zu machen. Ich lief nach vorne zu dem großen Raum, in dem sich unsere Therapiegruppe in wenigen Minuten treffen würde. Es war das Zimmer gegenüber dem Aufzug, aus dem ich schon bei meiner Ankunft die Stimmen einer anderen Gruppe vernommen hatte. Vielleicht war Kevin ja bereits dort.

Die Tür stand weit offen und ich blickte hinein. Acht Stühle waren in einem Halbkreis angeordnet. In der Mitte stand der Stuhl, auf dem wohl die Psychologin sitzen würde, die unsere Gruppe leitete. Bisher hatte ich sie noch nicht kennen gelernt, hatte nur ihren Namen auf dem Merkzettel gelesen. Eine raumhohe Fensterfront ermöglichte den Blick auf den Klinikparkplatz. Vor einem der Fenster stand eine junge Frau und blickte hinaus. Als sie mich hörte, drehte sie sich um. Unsicher fragte sie mich: »Sind Sie auch hier in dieser Gruppe?«

»Ja«, antwortete ich und lief auf sie zu. Sie war keine der Frauen, die mit dem VW-Bus angekommen waren, und ich sah sie jetzt zum ersten Mal. Sie schien Anfang 20 zu sein, vielleicht auch schon 25.

Ich reichte ihr die Hand und stellte mich vor: »Hallo, ich bin David Kranitz.«

»Stefanie Jungbauer. Guten Tag.«

Sie hatte schulterlanges, leicht gewelltes blondes Haar und trug eine Brille.

»Sie sind auch erst heute angekommen?«, fragte sie mich.

»Ja. Haben Sie schon andere aus der Gruppe kennen gelernt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe ein Einzelzimmer und bin erst vor einer knappen Stunde angekommen«, erklärte sie.

»Naja, ich hab schon ein paar von uns getroffen. Soweit ich das mitbekommen habe, duzen sich die Patienten hier untereinander.«

»Ah«, antwortete sie.

Eine Zeitlang setzte betretenes Schweigen ein und ich war froh, als Nadine und Christina durch die Tür kamen und Stefanie begrüßten. In Nadines Gegenwart lockerte sich die Stimmung sofort etwas auf. Nur wenig später kam eine weitere Frau durch die Tür. Sie hatte mittellange, glatte schwarze Haare und war mit Jeans und einem Wollpullover bekleidet. Ich schätzte Sie auf Anfang bis Mitte 30.

»Oh, schön, einige sind ja schon da«, sagte sie munter und musterte uns der Reihe nach. Dann blickte sie auf die Uhr an der Wand.

»Na, die anderen zwei müssten aber auch gleich da sein, dann können wir anfangen.«

Das war sie also, unsere Psychologin.

»Sie dürfen sich gerne schon setzen«, forderte sie uns auf und nahm selbst auf dem Stuhl in der Mitte Platz.

Ich setzte mich auf einen Stuhl in der Mitte des Halbkreises, Stefanie ganz nach außen in die Nähe des Fensters. Nadine und Christina setzten sich nebeneinander auf die beiden Stühle zwischen uns, rückten noch etwas näher aneinander und hielten sich an den Händen. Die beiden schienen sich schon ganz gut angefreundet zu haben. Bei Nadines Aufgeschlossenheit war dies aber auch kein Wunder.

Einige Minuten vergingen, bis eine weitere Person in den Raum trat. Ich erkannte eine der jungen Frauen aus dem VW-Bus wieder. Sie schien ganz aufgeregt zu sein und war etwas außer Atem.

»Meine Zimmerpartnerin kommt nicht, sie will wieder abreisen«, stammelte sie.

»Ja, das hat sie uns schon mitgeteilt«, antwortete die Psychologin ruhig. »Nehmen Sie doch einfach Platz. So wie es aussieht, werden wir nur eine kleine Gruppe.«

Die junge Frau folgte der Anweisung und wählte aus den vier noch verbliebenen freien Stühlen ausgerechnet den Platz direkt neben mir. Sie hatte beträchtliches Übergewicht und war das genaue Gegenteil von Nadine. Ein paar Schweißperlen liefen ihr über das Gesicht.

»Puh«, stöhnte sie erschöpft, als sie sich gesetzt hatte. Dann beugte sie sich etwas nach vorne und lächelte mir und dem Rest der Gruppe zu. Immer noch etwas außer Atem sagte sie: »Hallo, ich bin Gudrun.«

Trotz ihres Übergewichts hatte sie eigentlich ein ganz hübsches Gesicht und wirkte recht sympathisch. Wir nannten ihr der Reihe nach unsere Namen.

»So, einer fehlt noch«, meinte die Psychologin schließlich, nachdem wieder Stille im Raum eingekehrt war.

Die Zeiger der Uhr an der Wand zeigten nun bereits 15.02 Uhr an.

»Kevin war eben nicht im Zimmer. Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte ich zögerlich.

»Na, dann warten wir noch eine Minute«, erwiderte sie.

Wir saßen einige Zeit schweigend auf unseren Sitzen, bis Kevin endlich um die Ecke bog und mit gesenktem Kopf und einem leisen »Hallo!«, den Raum betrat. Er setzte sich ohne ein weiteres Wort auf den äußersten Stuhl in der Nähe der Tür und ließ zwischen sich und Gudrun zwei Plätze frei. Ich war erleichtert, dass er endlich da war.

Die Psychologin stand auf und schloss die Tür.

»Möchten Sie nicht näher an die anderen heranrutschen?«, fragte Sie Kevin. »Es kommt sonst niemand mehr.«

Kevin schüttelte den Kopf. Ich wollte schon aufstehen und mich neben ihn setzen, ließ es dann aber sein. Anscheinend wollte er lieber alleine sitzen.

»So, dann können wir loslegen«, begann die Psychologin munter ihre Ausführungen.

»Mein Name ist Fröschl. Ich bin Diplom-Psychologin und werde Ihre Gruppe leiten. Zunächst möchte ich Sie erst einmal ganz herzlich hier begrüßen und hoffe, dass Sie sich hier wohlfühlen.«

Ich blickte hinüber zu Kevin, der immer noch den Boden anstarrte und sich hier alles andere als wohl zu fühlen schien.

»Sie haben es ja schon mitbekommen, Sie sind im Moment nur zu sechst in der Gruppe«, fuhr Frau Fröschl fort.

»Eine Patientin will uns schon wieder verlassen, ihr scheint es hier nicht zu gefallen.«

Im letzten Halbsatz schwang ein leicht spöttischer, fast etwas verächtlicher Unterton mit. Sofort sanken bei mir die Sympathiewerte für unsere Psychologin. Ich konnte nur zu gut verstehen, warum die Patientin nicht hier bleiben wollte, hatte ich doch ähnliche Gefühle.

Frau Fröschl fuhr fort: »Ein anderer Patient ist bisher noch nicht angekommen und wir haben leider auch sonst nichts von ihm gehört. Im Moment wissen wir daher noch nicht, ob er vielleicht später noch eintrifft.«

Anschließend erklärte sie den Ablauf der Therapie. Gruppen wurden immer aus Patienten desselben Alters gebildet. Dies war angeblich effektiver als die Gruppierung nach der Art der psychischen Störung. Die Gruppe würde sich von nun an vier Mal in der Woche jeweils von 15.00 Uhr bis 16.30 Uhr hier in diesem Raum treffen. Donnerstags war frei. Zusätzlich gab es spezielle Therapieformen, die für jeden individuell festgelegt wurden und auf das Krankheitsbild abgestimmt waren. In Einzelgesprächen würde Frau Fröschl in den nächsten Tagen herausfinden, welche Therapien jeweils für uns geeignet waren. Sie legte auch gleich die Termine für diese Gespräche fest. Ich war schon am nächsten Tag um 10.00 Uhr an der Reihe, Kevin eine Stunde später. Offensichtlich war sie neugieriger auf die Männer in der Gruppe. Oder welchen anderen Grund hatte sie für diese Entscheidung?

Schließlich bat sie uns, sich der Reihe nach vorzustellen und ein wenig über uns zu erzählen.

Stefanie fing an. Sie war 24 und verheiratet. Seit der Geburt ihrer Tochter vor einigen Monaten litt sie an Depressionen.

Nach ihr war Christina an der Reihe. Mit leiser Stimme nannte sie ihren Namen. Sie war 16 Jahre alt, was ich kaum glauben konnte. Ich hatte Sie auf allerhöchstens 15 geschätzt. Zögerlich erzählte Sie, dass sie sich vor allen möglichen Dingen fürchtete. Zum Beispiel machten ihr Hunde und Spinnen Angst. Außerdem konnte sie nachts nur bei geöffneter Türe einschlafen, wenn im Flur das Licht eingeschaltet war. Sie nannte nur ein paar der Dinge, vor denen sie sich fürchtete. Es schienen noch einige mehr zu sein.

Als Nadine an der Reihe war, sorgte sie für den ersten Lacher.

»Na, bei mir sieht man ja, warum ich hier bin, oder?«, meinte sie frech.

Auch die Psychologin musste grinsen und meinte: »Schön, dass Sie das so locker sehen. Ihnen scheint es hier ja schon ganz gut zu gehen.«

Nadine wiederholte noch einmal in Kurzform ihre Krankengeschichte, die sie bereits in der Cafeteria erzählt hatte.

Als ich an der Reihe war, nannte ich genau wie die anderen meinen Namen und mein Alter. Ich erzählte ein wenig über meine Familie, dass ich ein Einzelkind war, und sagte dann knapp, dass ich an Prüfungsangst mit schweren Panikattacken litt, und dass ich vermutete, mein Abitur wohl etwas zu ernst genommen zu haben.

Gudrun war 21 Jahre alt und wegen ihres Übergewichts und den damit verbundenen Problemen hier. Sie hatte bisher noch keinen festen Freund gefunden und war deswegen oft niedergeschlagen. Aus Frust aß sie dann nur noch mehr. Auch im Beruf hatte sie wegen ihres Gewichts große Probleme.

Als Letztes war Kevin an der Reihe. Er knetete nervös die Hände und man sah ihm an, dass er am liebsten aufgestanden und hinausgerannt wäre.

»Ich bin Kevin Winter und ich bin 18 Jahre alt«, sagte er.

Er machte eine Pause und atmete tief durch.

»Muss ich jetzt noch mehr sagen?«, fragte er schließlich leise.

»Es ist Ihre Entscheidung, was Sie hier erzählen möchten«, erwiderte Frau Fröschl. »Ich zwinge Sie zu nichts.«

Kevin senkte seinen Blick wieder. Die Psychologin wartete noch einen Moment und fuhr dann zur gesamten Gruppe gewandt fort: »Sie sollten sich auch außerhalb der Gruppe möglichst häufig treffen und miteinander reden. Sie lernen sich dann besser kennen und es fällt ihnen dann hier leichter, über Ihre Probleme zu sprechen.«

Anschließend beantwortete sie noch offene Fragen und entließ uns dann kurz vor 16.30 Uhr, nicht ohne uns an die Begrüßung durch den Chefarzt zu erinnern, die in einer halben Stunde in einem Saal im Keller stattfinden würde.

Kevin stand als Erster auf und war sofort durch die Tür verschwunden.

»Was ist denn das für einer?«, fragte Gudrun verwundert, als sie ihm nachblickte.

»Er ist mit mir in einem Zimmer. Zu mir hat er auch noch nicht viel gesagt«, antwortete ich schulterzuckend.

»Komisch«, meinte sie. Sie schien relativ extrovertiert zu sein und ich fand sie recht nett. Man schien recht gut mit ihr ins Gespräch kommen zu können. Nachdem auch die Psychologin gegangen war, blieben wir noch eine Weile gemeinsam im Raum. Während Nadine und Christina mit Stefanie plauderten, erzählte ich Gudrun, dass ich mit Kevins Eltern geredet hätte und dass ich ganz gut verstehen könne, warum er sich so verhielt. Ich verriet nichts Genaueres, sondern sagte auch zu Gudrun, dass Kevin selbst damit herauskommen müsse. Ich beschloss, dies auch weiterhin so zu halten. So war es wohl am besten für Kevin. Es genügte, den anderen nur soviel zu verraten, dass sie für Kevins Verhalten wenigstens ansatzweise eine Erklärung hatten und ihn nicht von vorneherein aufgrund seines Benehmens aus der Gruppe ausschlossen.

Als ich zurück ins Zimmer kam, lag Kevin auf dem Bett.

»Wo warst du vorhin die ganze Zeit?«, fragte ich ihn.

Er zuckte nur mit den Schultern. Anscheinend wollte er nicht mit mir reden.

»Kommst du mit nach unten? Es ist gleich fünf«, versuchte ich es noch mal.

»Ich komme gleich nach, geh schon vor.«

Wenigstens sagte er mal ein paar Worte.

Die vier Mädels warteten bereits vor der Türe des Vortragssaales. Außer uns waren noch etwa 20 Personen hier, die heute anscheinend ebenfalls neu eingetroffen waren, aber zu anderen Gruppen gehörten. Sie waren wohl alle so etwa zwischen 25 und 40 Jahre alt. Der Raum schien genug Platz für alle Patienten der Klinik zu bieten. Wir setzten uns zu fünft nebeneinander in die erste Reihe, direkt an den Mittelgang. Mit der Zeit füllten sich auch noch die beiden Reihen dahinter, obwohl überall große Lücken frei blieben. Als sich die Türe nach einer Weile mit einem lauten Geräusch schloss, verstummte das Gebrabbel im Raum. Ich drehte mich um. Der Chefarzt, dessen Gesicht ich bereits aus einem Hochglanzprospekt der Klinik kannte, kam den Gang entlang, gefolgt von einem großen Mann im blauen Kittel und einer zierlichen jungen Frau mit einer weißen Schürze. Ich entdeckte Kevin auf der anderen Seite des Ganges, zwei Sitzreihen hinter allen anderen.

Die Einführungsveranstaltung begann. Der Chefarzt Dr. Höfling stellte sich und die beiden anderen Personen vor. Der Mann im blauen Kittel entpuppte sich als Hausmeister, die zierliche Frau war die Diätassistentin der Klinik. Dr. Höfling berichtete umfassend über die verschiedenen Therapieangebote. Dabei wiederholte er vieles, was wir schon von unserer Psychologin erfahren hatten. Sein Vortrag wurde mir bald langweilig und ich sah mich wiederholt nach Kevin um. Er saß still auf seinem Stuhl, den Blick auf den Boden gerichtet. Irgendwie wurde ich langsam sauer über sein Verhalten.

Nach einer knappen Dreiviertelstunde war der Chefarzt endlich mit seinen Ausführungen am Ende und übergab das Rednerpult an den Hausmeister. Dieser warf mit Hilfe eines Overhead-Projektors nacheinander die Grundrisse der einzelnen Stockwerke an die Wand und erklärte die Lage der wichtigsten Räume, Aufzüge, Treppenhäuser und Eingänge. Er erläuterte, wann die einzelnen Eingänge morgens geöffnet und nachts wieder geschlossen wurden, wo das Rauchen erlaubt war und ab wann Nachtruhe angesagt war. Seinen Vortrag fand ich wesentlich interessanter als das Gerede des Chefarztes über die verschiedenen Therapieformen. Im Gegensatz zum Chefarzt schien der Hausmeister auch Humor zu haben. Er lockerte seine Ausführungen ab und zu wenigstens mit witzigen Bemerkungen auf und erzählte die Geschichte eines Patienten, der einmal nachts um eins vor der einzigen Eingangstür gestanden hatte, die rund um die Uhr geöffnet war. Der Patient war trotzdem nicht in das Gebäude hinein gekommen. Er hatte immer wieder versucht, die Türe nach innen aufzudrücken, war aber anscheinend nicht auf die Idee gekommen, einmal die andere Richtung auszuprobieren. Eine halbe Stunde war er hilflos in der Kälte gestanden, bis eine Gruppe von Patienten, die noch später in die Klinik zurückgekehrt war als er selbst, die Tür einfach nach außen aufgezogen hatte und an dem verdutzten Mann vorbei in die Klinik getreten war. Mit dieser Story sorgte der Hausmeister für schallendes Gelächter im Saal. Nur Kevin blieb weiter mit gesenktem Kopf sitzen.

Zum Schluss informierte uns die Diätassistentin noch ausführlich über die Essenszeiten, das Nahrungsangebot der Klinik, vegetarische Kost und spezielle Diäten. Als die Veranstaltung endlich beendet war, war es bereits 18.20 Uhr. Der Speisesaal war bereits seit 20 Minuten zum Abendessen geöffnet.

Als wir zum Essen gingen, war Kevin bereits wieder verschwunden. Der Speisesaal wimmelte bereits vor Patienten, als wir eintraten. Der Tisch unserer Gruppe lag gleich rechts neben dem Eingang. Er war quadratisch, mit jeweils zwei Stühlen an jeder Seite. Da wir nur zu sechst waren, würden zwei davon frei bleiben. Naja, im Moment wohl eher drei, da Kevin sich wieder einmal verdrückt hatte. An einem großen Büffet konnte man sich nach Herzenslust den Teller füllen. Verschiedene Brot-, Wurst- und Käsesorten und diverse Salate machten einem die Auswahl nicht gerade einfach. Nadine und Gudrun nahm man diese schwierige Entscheidung deswegen auch von vornherein ab. Den beiden hatte man bereits gefüllte Teller auf den Tisch gestellt. Die Kalorien ihrer Speisen waren vom Personal fein säuberlich abgezählt worden.

Als wir zusammen am Tisch saßen, fiel das Gespräch sofort auf Kevin und sein merkwürdiges Verhalten. Die anderen schienen ihn nicht sonderlich sympathisch zu finden. Obwohl mein eigener Ärger über Kevins Verhalten beständig anwuchs, verteidigte ich ihn und bat die anderen um Geduld. Er würde mit der Zeit schon offener werden. Als wir mit dem Essen fertig waren, war er immer noch nicht aufgetaucht. Ich wollte ihm schon ein paar Brote schmieren und mit aufs Zimmer nehmen, als er schließlich doch noch aufkreuzte. Er füllte sich am Büffet einen Teller, setzte sich dann wortlos neben mich und begann zu essen. Die anderen diskutierten unterdessen darüber, wie wir den Abend verbringen konnten. An der Rezeption konnte man sich die verschiedensten Gesellschaftsspiele ausleihen und die Mädchen entschieden sich für einen Spieleabend in der Cafeteria. Ich war natürlich sofort dabei, nur Kevin sagte wieder einmal nichts dazu. Ausgerechnet Christina wagte es, ihn anzusprechen.

»Machst du auch mit Kevin?«, fragte sie ganz schüchtern und sah ihn dabei ängstlich an. Kein normaler Mensch hätte ihrer Bitte widerstehen können.

Kevin kaute gerade auf einem Salatblatt herum und brauchte eine Weile, bis er heruntergeschluckt hatte. Dann sah er kurz zu Christina hinüber.

»Mal sehen«, nuschelte er undeutlich, während er das nächste Salatblatt aufspießte.

»Ach komm, bitte!«

Christina ließ nicht locker. Sie schaffte es tatsächlich, dass Kevin ihr kurz zulächelte.

»Also machst du mit?«, fragte sie ein letztes Mal.

Kevin zuckte mit den Schultern, während er mit Messer und Gabel ein Stück von seinem Brot abschnitt und in den Mund steckte.

Wir warteten, bis Kevin mit dem Essen fertig war. Christina war unterdessen schon aufgestanden und zur Rezeption gelaufen, um ein Spiel auszusuchen. Sie hatte Nadine mitgenommen. Alleine schien sie sich nicht zu trauen. Umso mehr bewunderte ich ihren Mut, Kevin anzusprechen. Ich hatte die Kleine bereits in mein Herz geschlossen.

Als wir schließlich in die Cafeteria hinübergingen, kam Kevin tatsächlich mit. Wir setzten uns gemeinsam an einen freien Tisch und spielten ein Brettspiel, das alle außer mir bereits zu kennen schienen. Meine anfängliche Unkenntnis der Regeln sorgte für einige Lacher. Sogar Kevin ließ sich ab und zu ein Grinsen entlocken. Wir redeten unterdessen nur über belanglose Dinge. Christina und Kevin blieben die meiste Zeit über stumm. Es war bereits nach 22.00 Uhr, als wir schließlich auf unseren Zimmern verschwanden.

Kevin und ich gingen nacheinander ins Bad. Als ich zurück ins Zimmer kam, lag er bereits im Bett. Für den nächsten Morgen war zwischen acht und neun Uhr eine körperliche Untersuchung der neuen Patienten vorgesehen. Grund genug, möglichst früh einzuschlafen. Ich zog mich bis auf T-Shirt und Boxershorts aus und legte mich ebenfalls in mein Bett. Von dort aus konnte ich den Lichtschalter erreichen und knipste die Lampe an der Zimmerdecke aus.

»Gute Nacht, Kevin!«, flüsterte ich zum anderen Bett hinüber.

»Gute Nacht«, kam leise zurück.

Normalerweise ging ich nie vor Mitternacht ins Bett. Die neue Umgebung sorgte zusätzlich dafür, dass ich nicht einschlafen konnte. Kevin schien es ähnlich zu gehen. Er wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Immer wieder sah ich auf die fluoreszierenden Zeiger meines Weckers. Es wurde 23.00 Uhr, 23.30 Uhr, 0.00 Uhr, 0.30 Uhr, 1.00 Uhr. Irgendwann musste ich dann doch eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal auf die Zeiger sah, standen sie auf 3.35 Uhr. Irgendwoher kamen merkwürdige Geräusche. Ich brauchte eine Weile, um mich zu orientieren. Erst langsam wurde mir klar, was los war. Die Geräusche kamen aus Kevins Ecke. Er weinte. Erschrocken richtete ich mich auf.

»Kevin?«, flüsterte ich.

Ich hörte, wie er sich im Bett herumdrehte. Das nächste Schluchzen war nur noch gedämpft zu hören.

»Kevin?«, flüsterte ich noch einmal.

Als wieder keine Antwort kam, knipste ich die Leselampe über meinem Bett an. Der Raum wurde von der Glühbirne hinter dem Rauchglas nur schwach erleuchtet. Die Stühle und der Tisch warfen große Schatten an die Wand. Meine Augen benötigten eine Weile, um sich an das Licht zu gewöhnen. Ich musste ein paar Mal blinzeln. Kevin hatte sein Gesicht im Kopfkissen vergraben. Sein Körper zuckte bei jedem Schluchzen unter dem Federbett. Ich schlug meine Bettdecke zurück und setzte mich auf.

»Hey«, flüsterte ich etwas lauter.

Wieder keine Reaktion.

Ich stand auf, lief langsam zu ihm hinüber und beugte mich über sein Bett. Als ich ihm die Hand auf die Schulter legen wollte, drehte er sich schnell weg.

»Lass mich«, hörte ich gedämpft durch das Kopfkissen.

»Hast du noch gar nicht geschlafen?«, fragte ich zögerlich.

Er schüttelte leicht den Kopf.

»Soll ich jemanden holen?«, fragte ich ihn. »Die können dir sicher ein Schlafmittel oder so was geben.«

Wieder schüttelte er den Kopf.

»Hey, ich kann dich doch hier nicht einfach so liegen lassen.«

Keine Antwort.

»Ich ruf mal unten in der Zentrale an, okay?«

Wieder reagierte er nicht. Wenigstens kam jetzt keine Ablehnung mehr. Ich hatte das Gefühl, dass er dringend Hilfe brauchte. Das Telefon stand auf einem kleinen Schränkchen zwischen den beiden Betten. Ich nahm den Hörer ab und überflog die Liste mit den internen Rufnummern, die neben dem Apparat lag. ‚Medizinische Zentrale: 20‘ war da zu lesen. Ich drückte die beiden Zifferntasten und wartete, bis jemand abnahm.

»Hallo? Hier ist Zimmer 213. David Kranitz«, sprach ich in den Hörer. »Kevin geht’s nicht besonders, ich glaube er hat noch nicht geschlafen.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung versicherte mir, dass gleich jemand hoch kommen würde.

»Es kommt gleich jemand«, flüsterte ich Kevin zu, nachdem ich wieder aufgelegt hatte. Er hatte sein Gesicht noch immer im Kopfkissen verborgen.

Ich ging an die Zimmertüre, öffnete sie und sah hinaus in den Gang. Nur die Notbeleuchtung war eingeschaltet. Ich hörte, wie sich am Übergang zwischen den beiden Gebäudeflügeln die Fahrstuhltüre öffnete. Wenige Augenblicke später kam eine Frau den Gang entlang. Sie war um die 40, recht klein, hatte kurz geschnittene Haare und war normal gekleidet. Das medizinische Personal trug hier im Allgemeinen keine weißen Kittel. Als sie näher kam, lächelte sie mir zu.

»Na, gibt’s Probleme?«, fragte sie leise, als sie unsere Zimmertür erreicht hatte. Ich deutete hinüber auf Kevins Bett. Sie betrat den Raum und ging auf Kevin zu.

»Ich bin Dr. Ballheim«, stellte sie sich vor. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Ich schloss die Türe wieder und setzte mich auf mein Bett.

»Als ich vorhin aufgewacht bin, hat er geweint. Ich glaube, er hat noch gar nicht geschlafen«, sagte ich.

Kevin richtete sich langsam auf. Seine Augen waren gerötet. Auf dem Kopfkissen waren mehrere feuchte Flecken zu sehen.

»Können Sie ihm nicht irgendwas geben, damit er schlafen kann?«, fragte ich. Ich zitterte, teils vor Kälte, teils vor Aufregung, und zog mir die Bettdecke über die Oberschenkel.

Die Ärztin fragte Kevin, ob er mir ihr reden wolle. Kevin schüttelte nur den Kopf.

»Es wäre besser, wenn Sie mir erzählen würden, was in Ihnen vorgeht«, meinte sie einfühlsam. Kevin brachte kein Wort heraus. Er schien völlig fertig zu sein und tat mir unendlich leid. Schließlich zog die Ärztin einen Tablettenstreifen aus der Hosentasche und drückte eine der Pillen heraus.

»Könnten Sie bitte ein Glas Wasser holen?«, bat sie mich.

»Ja, klar.«

Auf unserem Tisch standen noch zwei unbenutzte Gläser. Ich nahm eines davon und füllte es am Waschbecken in der Dusche mit kaltem Wasser. Ich reichte es der Ärztin. Diese gab Kevin die Tablette in die eine und das Glas in die andere Hand.

»Ich gebe Ihnen jetzt etwas, damit Sie einschlafen können. Sie sollten aber so schnell wie möglich anfangen, über Ihre Probleme zu reden, ja?«

Kevin nickte, steckte die Tablette in den Mund und trank etwas Wasser nach.

»Danke«, sagte er leise und kroch wieder unter seine Bettdecke.

Frau Dr. Ballheim drehte sich zu mir um.

»Na, Sie sehen aber auch ganz schön mitgenommen aus«, meinte sie.

»Geht schon«, antwortete ich leise.

»Er wird jetzt gleich schlafen. Die Tabletten wirken schnell. Danke, dass Sie uns Bescheid gegeben haben.«

»Naja, ich konnte ihn ja nicht einfach so liegen lassen.«

»Rufen Sie mich ruhig an, wenn wieder etwas sein sollte. Ich habe noch bis nächste Woche Nachtdienst.«

Ich schloss die Türe hinter ihr ab und legte mich wieder ins Bett.

»Geht’s?«, fragte ich Kevin, bevor ich das Licht wieder ausschaltete.

Er nickte.

Der Vorfall hatte mir eine gehörige Portion Adrenalin in die Adern gepumpt und ich brauchte eine ganze Weile, bis ich wieder eingeschlafen war. Kevin lag da längst im Tiefschlaf. Die Tablette hatte tatsächlich schnell gewirkt.

Kapitel 3 – Geständnisse

Es war kurz nach halb acht, als ich mittwochmorgens aufwachte. Mein Wecker hatte noch nicht geklingelt. Ich fühlte mich wie gerädert. Mein unruhiger Schlaf in der zweiten Nachthälfte war alles andere als erholsam gewesen. Kevin schlief noch tief und fest. Ich gönnte ihm die Ruhe von ganzem Herzen. Leise nahm ich frische Wäsche aus meinem Kleiderschrank und stellte mich unter die Dusche. Ich blieb so lange unter dem prickelnden Wasserstrahl stehen, bis ich mich wieder einigermaßen frisch und munter fühlte. Als ich mit T-Shirt und Boxershorts bekleidet zurück ins Zimmer kam, war Kevin bereits angezogen. Ich wünschte ihm einen guten Morgen.

»Morgen«, erwiderte er leise. Er schien immer noch recht bedrückt und niedergeschlagen zu sein.

»Tut mir leid wegen heute Nacht«, meinte er nach einer Weile.

Ich hatte inzwischen Socken angezogen und schlüpfte gerade in meine Jeans.

»Hey, das muss dir nicht leidtun«, antwortete ich. »Wirklich nicht.«

»Ist sicher kein Spaß mit mir in einem Zimmer.«

Eigentlich konnte ich ihm da nicht widersprechen. Ich fühlte mich mit der Situation völlig überfordert. Andererseits spürte ich den Drang, ihm beizustehen und ihm zu helfen, so gut ich konnte. Außerdem fand ich ihn immer noch unglaublich süß.

Ich klopfte ihm auf die Schulter und sagte aufmunternd: »Ist schon okay.«

Während Kevin ins Bad ging, nahm ich eines meiner Kapuzensweatshirts aus dem Schrank und schlüpfte hinein. Meine seelische Verfassung schien langsam wieder besser zu werden, denn ich genoss es richtig, die dicke Kapuze auf meinem Kopf zu fühlen. Am Tag zuvor hätte ich daran wohl kaum Gefallen gefunden. Ich nahm die Kapuze erst ab, als Kevin wieder die Badtüre öffnete.

Dann gingen wir beide hinunter in die medizinische Zentrale. Es warteten schon einige der anderen Neuankömmlinge vor der Tür, allerdings entdeckte ich niemanden aus unserer Gruppe. Als wir endlich an die Reihe kamen, nahm man uns zuerst die Becher mit unseren Urinproben ab. Anschließend wurden wir gewogen und gemessen. Nach einer Blutdruckmessung und Blutabnahme war die lästige Prozedur schließlich beendet. Kevin war vor mir fertig geworden und wartete vor der Tür auf mich.

»Gehen wir gleich frühstücken?«, fragte er, als ich herauskam.

Ich freute mich, dass er nicht wie bisher gleich wieder verschwunden war, und kam gerne mit. Wir waren die Letzten aus unserer Gruppe, die an diesem Morgen im Speisesaal erschienen. Nur Gudrun saß noch am Tisch, aber auch sie war bereits fertig. Die anderen waren schon wieder auf die Zimmer gegangen. Auch zum Frühstück stand wieder ein Büffet bereit. Mit zwei Semmeln, etwas Butter, Streichkäse und Kalbsleberwurst kam ich zum Tisch zurück. Ich war kein großer Fan von Marmelade und Honig. Auf dem Tisch wartete bereits eine Kanne mit heißem Kaffee. Gudrun hatte sie für uns an einem Behälter in der Mitte des Speisesaales aufgefüllt. Eigentlich trank ich ja lieber Tee zum Frühstück. Da sie sich aber extra die Mühe gemacht hatte, ließ ich mir heute zur Abwechslung eben mal eine Tasse Kaffee schmecken.

Gudrun hatte eine schlechte Nachricht für uns. Stefanie hatte sich entschieden, die Klinik wieder zu verlassen. Sie hatte Schuldgefühle, weil Sie ihr kleines Kind alleine bei ihrem Ehemann und ihren Schwiegereltern gelassen hatte. Das Gefühl, ihren Mutterpflichten nicht nachzukommen, hatte sie die Nacht über kaum schlafen lassen. Beim Frühstück hatte sie den anderen ihre Entscheidung verkündet. Ihr Mann würde sie später abholen.

Ich war nicht unbedingt traurig darüber, schließlich kannte ich Stefanie noch kaum. Sie war einige Jahre älter als wir anderen und ich hatte sowieso den Eindruck gehabt, sie würde nicht richtig in die Gruppe passen.

Wir ließen uns mit dem Essen Zeit und Gudrun leistete uns Gesellschaft, bis wir fertig waren. Kevin war immer noch nicht besonders gesprächig, sagte aber wenigstens das eine oder andere Wort. Gudrun dagegen wurde mir immer sympathischer. Es konnte doch gar nicht so schwer sein, irgendwo einen Mann für sie aufzutreiben, der sie genau so mochte, wie sie war.

Bis zu meinem Einzelgespräch mit Frau Fröschl blieb mir nur noch wenig Zeit, die ich dazu nutzte, mir Getränke und ein paar Süßigkeiten im Kiosk der Klinik zu besorgen. Kevin war mitgekommen und nahm meine Einkäufe zusammen mit seinen eigenen mit auf unser Zimmer, während ich gleich zur Psychologin marschierte.

Eine geschlagene Stunde dauerte unser Gespräch. Sie wollte meinen kompletten Lebenslauf in allen Einzelheiten wissen. Als das Thema Sexualität zur Sprache kam, erzählte ich ihr, dass ich glaubte, schwul zu sein. Sie war der erste Mensch, dem ich dies jemals offenbart hatte. Meinen Fetisch erwähnte ich allerdings nicht. Natürlich wollte Sie auch alles über meine Angstattacken wissen. Sie teilte mich schließlich in eine Gruppe zur Angstbewältigung ein und verordnete mir autogenes Training.

Als ich ihr Zimmer kurz nach elf verließ, wartete Kevin bereits vor der Tür.

»Ist halb so wild«, munterte ich ihn auf. Er schien etwas Aufheiterung nötig zu haben.

»Ich warte auf dich in unserem Zimmer, okay?«

Er nickte mir zu und betrat zögerlich den Raum der Psychologin.

Bereits eine halbe Stunde später war er zurück. Er wirkte ziemlich verstört und sah niedergeschlagen aus. Das Gespräch war anscheinend nicht besonders erfreulich verlaufen. Ich verkniff mir Bemerkungen wie »Das ging aber schnell!« oder »Schon wieder da?«

Er setzte sich auf sein Bett und ich ging zu ihm hinüber.

»Hast du was dagegen, wenn ich mich neben dich setze?«, fragte ich ihn.

Er blickte kurz auf und schüttelte dann den Kopf. Dann ließ er wieder traurig den Kopf hängen.

Ich setzte mich zu ihm auf das Bett und legte ihm einen Arm um die Schultern. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte, um ihn wieder etwas aufzurichten. Ich strich ihm schweigend einmal durch seine langen lockigen Haare und massierte dann eine Weile seine Schulter. Er schien dagegen nichts einzuwenden zu haben. Eine Zeitlang saßen wir so schweigend nebeneinander.

»Du hast ihr nicht viel erzählt, oder?«, fragte ich irgendwann vorsichtig.

Er schüttelte leicht den Kopf. Ich fühlte mich hilflos. Mir fielen einfach nicht die richtigen Worte ein. Schließlich wollte ich ihm helfen und die Situation nicht noch schwerer für ihn machen.

»Ich kann einfach nicht darüber reden«, sagte er schließlich selbst. Seine Stimme klang verzweifelt. Am liebsten hätte ich ihn in meine Arme genommen, traute mich aber nicht. Ich hatte ja keine Ahnung, wie er darauf reagieren würde.

»Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann sag es einfach, okay?«, brachte ich schließlich heraus. Wieder war ich mir unsicher, wie er meine Worte aufnehmen würde. Ich versuchte verzweifelt, ihm klarzumachen, dass ich immer für ihn da war, falls er reden wollte oder Hilfe brauchte, hatte aber keine Ahnung, wie ich ein echtes Vertrauensverhältnis mit ihm aufbauen konnte. Es schien unendlich schwer, an ihn heranzukommen.

Als er schließlich nickte und leise »Okay«, stammelte, war ich erleichtert.

»Kommst du mit nach unten? Es gibt gleich Mittagessen«, fragte ich ihn.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich bring jetzt nichts runter.«

Eigentlich war ich auch noch nicht hungrig. Normalerweise aß ich keine zwei Semmeln zum Frühstück. Meistens begnügte ich mich mit einer Tasse Tee und einem Stück trockenen Kuchen, wenn ich überhaupt etwas aß.

»Wir können auch in den Ort gehen«, schlug ich vor. »Wird Zeit, dass ich hier mal rauskomme. Vielleicht kommst du dann ja auch auf andere Gedanken.«

Er schien nicht besonders begeistert zu sein und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Ich stand auf und versuchte es noch einmal.

»Hey, komm schon. Ich schätze mal, das wird uns beiden ganz gut tun.«

Er seufzte tief, erhob sich dann aber. Während er aus seinem Kleiderschrank eine dunkelgrün-hellbeige Snowboardjacke mit angeschnittener Kapuze herausholte, schlüpfte ich bereits in meine Schuhe und meine Daunenjacke. Die Kapuze meines dicken grauen Sweatshirts breitete ich über dem Jackenkragen aus. Nachdem er sich ebenfalls angezogen hatte, fuhren wir mit dem Fahrstuhl in den Keller hinunter. Hier befand sich der Eingang zur Rückseite des Gebäudes, der rund um die Uhr geöffnet war. Von hier aus verlief ein Fußweg an dem kleinen See vorbei direkt in den Ort Bad Neuheim.

»Wow, ganz schön kalt«, meinte ich, als wir ins Freie traten. Die Luft an diesem Januartag war eisig und es wehte ein leichter, aber unangenehmer Wind. Wir schlossen die Reißverschlüsse unserer Jacken bis hoch zum Kinn und liefen los.

»Kannst du Schlittschuhlaufen?«, fragte ich ihn, als wir uns dem See näherten. Am Vormittag hatte ich am gegenüberliegenden Ufer zwei Schlittschuhläufer beobachtet. Das Eis schien also zu tragen.

»Ja, ist aber schon ein paar Jahre her. Und du?«

»Nein, ich hab aber Inline-Skates. Vielleicht kann man sich hier irgendwo Schlittschuhe leihen. Dann könnte ich es mal ausprobieren.«

Als wir den See erreicht hatten, stieg ich die Böschung zum Eis hinunter. Überall waren Fußspuren und die Rillen zahlloser Schlittschuhkufen zu erkennen. Kevin folgte mir und wir schlitterten eine Weile auf dem Eis herum. Mit der Zeit näherten wir uns dabei den Häusern des Ortes. Um ganz sicher zu gehen, blieben wir immer nahe am Ufer. Das Wasser konnte hier kaum tiefer als einen Meter sein. Kevins Stimmung schien sich langsam aufzuhellen. Als wir über das Eis die gegenüberliegende Seite des Sees erreicht hatten, war das erste Haus nur noch wenige hundert Meter entfernt. Uns war durch die Herumtollerei ganz schön warm geworden.

Der Ort hatte etwa 5000 Einwohner. Bis zur Ortsmitte mit den Geschäften war es noch ein ganzes Stück. Als wir nebeneinander herliefen, kam ich zum ersten Mal mit Kevin richtig ins Gespräch. Ich erzählte ihm von meiner Familie. Von meinem Vater, dessen Werbeagentur ihn immer auf Trab hielt, und von meiner Mutter, die in der Spedition arbeitete, die meine Großeltern nach dem Krieg aufgebaut hatten. In ein oder zwei Jahren würde sich mein Großvater endgültig aus dem Geschäft zurückziehen. Dann würde er meiner Mutter und meinem Onkel jeweils 50 Prozent an dem Unternehmen überschreiben und die beiden würden gemeinsam die Geschäfte weiterführen. Seit meine Angststörung ernster geworden war und auch meine Großeltern immer mehr mitbekommen hatten, dass etwas mit mir nicht stimmte, hatte mein Großvater sogar eine Weile daran gedacht, einen Anteil an der Firma direkt an mich zu übertragen, damit meine Zukunft gesichert war. Nur mit Mühe hatte ich ihn davon überzeugen können, dass dies nicht nötig war.

Kevins Vater war Rechtsanwalt und Notar, nicht der Geschäftsführer irgendeiner Firma, wie ich zuerst vermutet hatte. Seine Mutter betrieb gemeinsam mit einer Freundin eine Boutique. Nachdem er kurz von seinen Eltern erzählt hatte, wurde er still.

»Hast du Geschwister?«, fragte er nach einer Weile leise.

Ich erschrak. Wollte er nun von seinem Bruder erzählen?

»Nein«, sagte ich knapp und schüttelte den Kopf..

Ich wagte nicht, ihm nun dieselbe Frage zu stellen. Erwartete er das jetzt von mir? Schließlich konnte er nicht wissen, dass ich über den Tod seines Bruders Bescheid wusste. Oder ahnte er, dass seine Eltern mit mir geredet hatten?

Wir schwiegen beide eine Weile. Schließlich wagte ich es doch, ihn zumindest indirekt auf das Thema anzusprechen.

»Kevin?«, begann ich zögerlich.

»Ja?«

»Ich glaube, ich sollte dir etwas sagen.«

»Was ist?«

»Ich habe deine Eltern gestern unten in der Eingangshalle getroffen, bevor sie gegangen sind.«

Kevin blieb plötzlich stehen. Er schien zu ahnen, was ich ihm mitteilen wollte.

»Haben sie dir was gesagt?«, fragte er. Er wirkte etwas erschrocken.

Ich drehte mich zu ihm um und nickte.

»Dann weißt du also Bescheid?«

»Naja, die wichtigsten Dinge haben sie mir verraten«, meinte ich schulterzuckend.

Ich hatte schon Angst, er würde nun davonlaufen. Immer noch konnte ich seine Reaktionen nicht richtig einschätzen. Einen Moment lang stand er nur stumm da und sah mich an.

»Gut«, sagte er schließlich und atmete dabei tief durch.

»Alles klar mit dir?«, fragte ich ihn.

Er nickte.

»Hast du den anderen schon was erzählt?«, wollte er wissen.

Ich schüttelte den Kopf.

»Danke«, sagte er schließlich.

»Wofür?«, fragte ich verwundert.

»Dass du nicht gleich alles ausgeplaudert hast.«

»Warum hätte ich das tun sollen?«

Er zuckte mit den Schultern. Noch einen Moment standen wir uns schweigend gegenüber.

»Los, gehen wir weiter«, meinte er schließlich.

Wir schlenderten durch den Ort, bis wir an einem kleinen Café vorbeikamen.

»So langsam bekomme ich Hunger«, bemerkte ich. »Gehen wir da mal rein?«

Kevin war einverstanden. Mir war inzwischen wieder richtig kalt geworden und ich freute mich auf den warmen Raum.

Mittags hatte das Café auch ein paar einfache warme Gerichte im Angebot. Ich bestellte mir eine Portion Bratkartoffeln mit Rührei und ein Glas heißen Tee. Kevin entschied sich für einen Toast mit Schinken und Käse und eine Cola. Inzwischen schien auch er wieder etwas Appetit zu haben.

Ich rieb meine halb erfrorenen Ohren.

»Ist dir überhaupt nicht kalt?«, fragte ich Kevin.

Er zuckte nur mit den Schultern.

Wir sprachen nicht viel, als wir am Tisch saßen und auf unser Essen warteten. Kevin schien nun doch nicht mehr über seinen Bruder reden zu wollen. Möglicherweise hatte ich eben mit meinem Geständnis seine Bereitschaft dazu bereits wieder zerstört. Als die Bedienung schließlich unsere Teller brachte, war uns der Gesprächsstoff völlig ausgegangen. Wir aßen schweigend und zahlten, sowie wir fertig waren.

»Gehen wir noch ein Stück weiter oder willst du wieder zurück?«, fragte ich Kevin, als wir das Café wieder verlassen hatten und unschlüssig auf dem Gehweg herumstanden.

»Wir haben noch Zeit, oder?«, fragte er zurück.

Ich sah auf meine Uhr. Es war gerade einmal 13.30 Uhr. Noch anderthalb Stunden, bis die Gruppensitzung losging.

»Ja, genug«, antwortete ich.

»Also wegen mir müssen wir nicht eher zurück, als unbedingt nötig.«

»Du bist also doch ganz froh, dass du mit raus gekommen bist, oder?«, stellte ich lächelnd fest.

Er grinste, wurde aber schnell wieder ernst.

»Ich bin nicht freiwillig hier in der Klinik. War nur die bessere Alternative«, sagte er schließlich.

»Ich weiß«, antwortete ich leise.

»Das haben sie dir also auch erzählt.«

Ich nickte.

»Komm, wir gehen noch bis zum anderen Ortsrand«, forderte ich ihn schließlich auf.

»Wenn dir nicht zu kalt ist?«, fragte er besorgt zurück.

Ich nutzte die Gelegenheit und zog mir endlich die Kapuze meines Sweatshirts über den Kopf.

»Geht schon«, antwortete ich und vergrub meine Hände in den Taschen meiner Daunenjacke.

Als wir uns endlich in Bewegung setzten, grinste er mich an.

»Die hättest du vorhin auch schon aufsetzen können«, bemerkte er.

Ich zuckte mit den Schultern.

Er griff nun selbst nach der Kapuze seiner Snowboardjacke und setzte sie auf. Ich konnte nicht anders, als ihn dabei aus den Augenwinkeln zu beobachten. Mit der Kapuze auf dem Kopf fand ich ihn noch süßer als sonst. Ein paar seiner langen Locken lugten unter der Kapuze hervor. Ich fand seinen Anblick ungeheuer erregend und musste mich beherrschen, ihn nicht anzustarren.

»War es deine Entscheidung, hier in die Klinik zu kommen?«, fragte er, als wir ein paar Meter gelaufen waren.

»Mehr oder weniger«, antwortete ich. »Ich bin ja am Ende kaum noch in die Schule gegangen. Die letzten drei Klausuren hab ich komplett versäumt. Mein Abi hätte ich endgültig abschreiben können, wenn das so weiter gegangen wäre.«

»Kann dir doch eigentlich egal sein, wenn deine Eltern so viel Kohle haben.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Das sagt mein Großvater auch: ‚Junge, vergiss dein Abi. Komm hier in die Firma, da brauchst du kein Abi für. In der Schule lernst du eh nichts, was du hier brauchen kannst.’«

Wir mussten beide lachen. Es war das erste Mal, dass ich Kevin laut lachen hörte.

Ich erzählte ihm mehr von meinen Großeltern. Mein Großvater war der Einzige gewesen, der in den letzten Monaten einen kühlen Kopf bewahrt hatte. Meine Eltern hatten mit der neuen Situation genau so wenig umgehen können wie ich selbst und waren ab und zu auch genau so verzweifelt gewesen. Gerade die letzten Wochen waren teilweise recht tränenreich verlaufen. Ohne meinen Großvater wäre alles noch schwerer gewesen. Er war der Einzige, der mich die ganze Zeit über wie einen normalen Menschen behandelt hatte, ohne aber meine Probleme deswegen weniger ernst zu nehmen. Immer wieder hatte er mir Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt, die Arbeit in seiner Firma war nur eine von vielen gewesen. Über einen alten Freund, einen pensionierten Psychiater, war ich schließlich hier in der Klinik gelandet.

Wir waren wieder richtig gut ins Gespräch gekommen, auch wenn ich meistens über mich und mein Leben erzählte. Kevin hörte aber interessiert zu und stellte häufig Fragen. Wir hatten gerade das letzte Haus passiert und das Ortsschild erreicht, als er eine Frage stellte, die ich bereits seit einiger Zeit ängstlich erwartet hatte.

»Hast du eigentlich ’ne Freundin?«, wollte er wissen.

War jetzt die Stunde der Wahrheit gekommen? Sollte ich ihm erzählen, dass ich schwul war? Wie würde er auf mein Geständnis reagieren? Die Klinik lag in weiter Entfernung. Falls er sauer oder verständnislos reagieren würde oder sogar entsetzt darüber wäre, mit einem Homosexuellen gemeinsam in einem Zimmer geschlafen zu haben, würde der Weg zurück die reinste Hölle werden. Irgendwie hatte ich aber nicht den Eindruck, dass er so negativ reagieren würde. Ich glaubte, ihn inzwischen gut genug zu kennen. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und formulierte ganz vorsichtig eine Frage: »Hättest du ein Problem damit, wenn ich dir sagen würde, dass ich schwul bin?«

Ich wagte nicht, ihn dabei anzusehen, und starrte stattdessen auf einen der Pfosten am Straßenrand.

Seine Reaktion kam prompt.

»Echt?«, fragte er. Er hörte sich weder wütend noch entsetzt an, sondern irgendwie neugierig oder belustigt. Als ich ihn verstohlen ansah, schüttelte er grinsend den Kopf.

»Was ist?«, fragte ich verwundert. Ich konnte mir auf seine Reaktion keinen Reim machen. »Warum reagierst du so?«

»Sorry«, sagte er nur kurz und grinste die ganze Zeit über.

»Was ist daran so komisch? Bist du auch schwul, oder was soll das?«, fragte ich verständnislos.

»Nee«, sagte er gedehnt. »Ich bin nicht schwul.«

Ich war etwas enttäuscht. Insgeheim hatte ich mir doch Hoffnungen gemacht, obwohl die Wahrscheinlichkeit natürlich gering gewesen war.

»Höchstens ein kleines bisschen bi«, fügte er hinzu. »Aber ich glaub ja, das sind alle Menschen.«

Er ließ mich immer noch im Unklaren darüber, was es mit seinem merkwürdigen Verhalten auf sich hatte.

»Was soll dann deine Reaktion?«, fragte ich nochmals. »Ist das so witzig, dass ich schwul bin?«

»Nein, keine Sorge. Es macht mir nichts aus, dass du schwul bist, ehrlich«, sagte er endlich. »Zwei meiner besten Kumpels sind schwul. Ich hab mit denen schon oft gemeinsam in einem Zimmer übernachtet und war mit denen letztes Jahr sogar Zelten. Ich hab also wirklich kein Problem damit. Ich find es nur so witzig, weil ich irgendwie ständig Leute kennen lerne, die schwul sind. Und jetzt auch noch du. Eigentlich hätte ich es ahnen müssen.«

»Ach so, ich hab schon gedacht, du machst dich über mich lustig«, sagte ich erleichtert.

»Hey, keine Sorge, ist schon okay«, erwiderte er und klopfte mir auf die Schulter.

Ich war froh, dass er jetzt Bescheid wusste. Wir machten uns auf den Rückweg. Das Thema schien für ihn erledigt zu sein, denn von nun an plauderten wir über die verschiedensten anderen mehr oder weniger belanglosen Themen. Je näher wir der Klinik kamen, desto ruhiger wurde Kevin wieder. Schweigend erreichten wir schließlich den Eingang unten im Keller. Wir nahmen unsere Kapuzen ab und traten in den Aufzug. Uns blieben nur noch knapp zehn Minuten bis zur Gruppensitzung.

Nachdem wir unsere Jacken im Zimmer abgeliefert hatten, gingen wir gemeinsam nach vorne in den Gruppenraum. Kevin setzte sich diesmal neben mich. Gudrun war so nett und rutschte einen Stuhl weiter zur Tür. Stefanies Platz blieb frei. Sie war inzwischen abgereist.

Nadine und Gudrun bestritten den größten Teil der Gruppensitzung im Alleingang. Sie schienen die offensten und gesprächigsten in der Gruppe zu sein. Gudrun erzählte vor allem, wie sie wegen ihres Übergewichts von ihren Arbeitskollegen gemobbt worden war. Ich wurde richtig wütend, als ich hörte, was sie so alles hatte über sich ergehen lassen müssen, und konnte mir das ein oder andere Schimpfwort in Bezug auf ihre Kollegen nicht verkneifen. Nadine berichtete weiter über ihre vergangenen Therapien. Ich wunderte mich, dass sie nie direkt über ihre Magersucht und die Gründe dafür sprach. Sie schien irgendein Geheimnis zu verbergen.

Nachdem Frau Fröschl nach dem Ende der Sitzung wieder gegangen war, blieben wir noch eine Weile im Vorraum vor dem Fahrstuhl stehen. Gudrun berichtete noch von einigen weiteren Erlebnissen an ihrem Arbeitsplatz. Sie ließ ihrer aufgestauten Wut über ihre Kollegen freien Lauf und hörte erst auf zu erzählen, als sie genügend Dampf abgelassen hatte und sich wieder besser fühlte.

Die restliche Zeit bis zum Abendessen verbrachte ich mit Kevin auf unserem Zimmer. Wir lagen angezogen auf unseren Betten und wechselten ab und zu ein paar Worte.

»Gudrun war eben ganz schön in Fahrt, was?«, stellte Kevin fest.

»Ja, ich kann sie aber gut verstehen. An ihrer Stelle wäre ich genauso wütend.«

»Irgendwie finde ich sie ganz nett.«

»Hey, sie ist total nett.«

»Wenn sie nur nicht so dick wäre …«

»Mensch, sie kann nichts dafür«, verteidigte ich sie.

»Ja, ich weiß, so hab ich das auch nicht gemeint. Sie wäre eigentlich ganz hübsch, wenn … du weißt schon. Wenn sie etwas abnehmen würde.«

Ich grinste zu Kevin hinüber.

»Dann würde sie dir vielleicht sogar gefallen, oder?«, fragte ich.

»Ach, ich weiß nicht. Irgendwie mag ich eben ihre Art. In letzter Zeit hab ich einfach verdammt wenig hübsche Mädels zu Gesicht bekommen.«

»Damit hätte ich keine Probleme«, bemerkte ich grinsend.

Kevin grinste zurück.

»Besonders viele süße Jungs gibt’s hier aber auch nicht«, erwiderte er neckisch.

»Naja, du bist ja hier«, antwortete ich scherzhaft.

»Bist du vielleicht scharf auf mich, oder was?«, fragte er ebenso scherzhaft zurück.

Ich wurde etwas verlegen und blickte an die Decke.

»Und wenn es wirklich so wäre?«, fragte ich nach einem kurzen Moment leise ohne ihn anzusehen.

Ängstlich wartete ich auf seine Reaktion.

»Naja, solange du mich nachts nicht vergewaltigst …«, kam es nach einer längeren Pause aus Kevins Ecke.

Als ich zu ihm hinüberblickte, hatte er sich aufgesetzt und grinste mich breit an.

»Oh Mann, du hast vielleicht einen Humor«, sagte ich befreit.

Ich konnte mir zum ersten Mal richtig vorstellen, wie Kevin vor dem Tod seines Bruders gewesen sein musste. Der Unfall musste sein Leben von einem Tag auf den anderen völlig verändert haben.

Für einen Moment setzte Schweigen ein.

»Mal im Ernst, du findest mich schon ganz scharf, oder?«, fragte er nach einer Weile.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Du bist ja auch süß. Was soll ich denn machen?«

Meine Stimme klang fast etwas verzweifelt.

»Ist schon in Ordnung. Ich nehm dir das nicht übel.«

Er lächelte zu mir herüber. Ich war erstaunt, dass er das alles so locker nahm. Gleichzeitig war ich natürlich unendlich erleichtert. Wenn ich ein echtes Vertrauensverhältnis zu ihm aufbauen wollte, musste er einfach die volle Wahrheit kennen. Irgendwann würde ich ihm wohl auch von meinem Fetisch erzählen. Im Moment war ich dazu aber noch nicht bereit.

Kapitel 4 – Albträume

Den Abend verbrachten wir mit den Mädchen in der Cafeteria. Christina suchte wieder die Spiele für uns aus. Als wir nach 23.00 Uhr zurück ins Zimmer kamen, war ich müde und erschöpft. Der wenige Schlaf in der vergangenen Nacht und der lange Spaziergang mit Kevin machten sich langsam bemerkbar. Ich zog mich aus und ging noch kurz ins Bad. Kurz nachdem ich ins Bett gefallen war, war ich auch schon eingeschlafen. Kevin war den ganzen Abend über relativ fröhlich und gut gelaunt gewesen und ich hatte mir deswegen keine Sorgen mehr um ihn gemacht. Ich ahnte beim Einschlafen nicht, dass ihm wieder eine qualvolle Nacht bevorstand.

Kurz nach zwei Uhr wurde ich wach. Normalerweise hätte ich mich wohl nur kurz umgedreht und wäre sofort wieder eingeschlafen, wäre der Raum nicht vom Mondlicht erhellt gewesen. Irgendwie musste ich das im Halbschlaf registriert haben. Es dauerte wohl eine Minute, bis ich halbwegs wach und orientiert war. Als ich schließlich richtig die Augen öffnete und erkundete, woher das Licht kam, erblickte ich Kevins Silhouette vor der Balkontür. Er hatte den Vorhang vor der Türe aufgezogen und blickte durch die Scheibe nach draußen. Anscheinend hatte er noch nicht bemerkt, dass ich aufgewacht war.

Leise richtete ich mich im Bett auf.

»Kevin?«, flüsterte ich zu ihm hinüber.

Er wischte sich schnell mit dem Handrücken über die Augen, drehte dann seinen Kopf zur Seite und sah kurz zu mir herüber. Nach einem Moment blickte er wieder durch das Fenster.

»Kannst du wieder nicht einschlafen?«, fragte ich ihn leise. Ich wollte auf jeden Fall vermeiden, dass sich meine Stimme irgendwie verärgert oder sogar vorwurfsvoll anhörte.

Er schüttelte langsam den Kopf.

Ich schlug die Bettdecke zurück, stand auf und ging langsam zu ihm hinüber. Es war kalt im Zimmer und ich fröstelte ohne meine warme Decke. Erst als ich direkt hinter ihm stand, bemerkte ich, dass er am ganzen Körper zitterte.

»Mensch, du frierst ja«, sagte ich ganz erschrocken.

Schnell lief ich hinüber zu Kevins Bett und holte seine Bettdecke. Sein Bett fühlte sich ganz kalt an. Offenbar stand er schon eine ganze Weile so da. Ich legte ihm die Decke vorsichtig um die Schultern. Bereitwillig griff er danach und wickelte sie sich so gut es ging um seinen Körper. Ich umarmte ihn von hinten und drückte ihn sanft an mich. Seine Locken kitzelten an meinem rechten Ohr. Eine Weile standen wir so schweigend da. Immer wieder wischte er sich mit einem Zipfel der Bettdecke ein paar Tränen aus den Augen. Ab und zu schniefte er. Mit der Zeit hörte er wenigstens auf zu zittern.

»Die Nächte sind die Hölle«, sagte er schließlich leise. Seine Stimme bebte. »Der absolute Horror.«

Er verstummte wieder und starrte schweigend in die Nacht. Ich stand jetzt direkt neben ihm vor dem Fenster, hatte meinen Arm um ihn gelegt und streichelte seine Schulter. Über das Balkongeländer konnte man gerade noch die äußerste Reihe des Klinikparkplatzes sehen. Ein paar Lampen warfen dort gespenstische Schatten auf das Pflaster. Die Silhouetten der Bäume im Hintergrund zeichneten sich im Mondlicht klar und deutlich ab. Ab und zu zogen auch um diese Zeit noch die Scheinwerfer von Autos hinter den dicken Stämmen vorbei. Der Mond stand direkt über unserem Fenster am sternenklaren Himmel. Es war Vollmond.

»Hey, ich bin bei dir«, flüsterte ich ihm zu. Ich wusste nicht, ob meine Worte ihm irgendwie helfen konnten. Ich fühlte mich hilflos und war mit der Situation völlig überfordert.

»Sobald ich im Bett liege, sehe ich immer wieder die Bilder vom Unfall vor meinen Augen«, sprach er nach einer Weile weiter. »Jede Nacht.«

Ich strich ihm sanft durch sein Haar. Wieder schwieg er eine Zeitlang.

»Und wenn ich dann doch endlich einschlafe, dann kommen diese scheiß Albträume.«

In seiner Stimme schwang so viel Verzweiflung mit, dass ich nun selbst Tränen in den Augen hatte.

Er drehte sich langsam zu mir um, und sah mich mit traurigen Augen an. Ein paar Tränen flossen ihm über die Wangen. Sie funkelten im Mondlicht.

»Ich weiß nicht, wie ich das alles aushalten soll«, presste er mit tränenerstickter Stimme heraus. Dann schluchzte er, legte seinen Kopf auf meine Schulter und begann hemmungslos zu weinen. Ich umarmte ihn und drückte ihn an mich, so fest ich konnte. Mir liefen nun selbst die Tränen herunter. Langsam bugsierte ich ihn hinüber zu seinem Bett und wir setzten uns nebeneinander auf die Bettkante. Ich hielt ihn noch immer eng umschlungen und ließ ihn sich an meiner Schulter ausweinen. Ich weiß nicht, wie lange wir so dasaßen. Nur langsam beruhigte er sich wieder. Irgendwann entwand er sich vorsichtig aus meiner Umarmung und wischte sich die Tränen weg.

»Oh Mann«, seufzte er tief durch und schüttelte dabei den Kopf.

Erst jetzt merkte ich, dass ich eiskalte Beine hatte und fürchterlich fror. Kevin hatte zwar immer noch die Decke um den Oberkörper gewickelt, seine Füße und Schenkel waren aber ebenfalls die ganze Zeit der Kälte im Zimmer ausgesetzt gewesen.

»Ist dir kalt?«, fragte ich ihn.

Er nickte.

»Komm, leg dich wieder ins Bett.«

Er gehorchte und ich half ihm dabei, sich zuzudecken. Ich wickelte ihm die Decke fest um die Beine. Dann holte ich mir schnell meine eigene Decke, wickelte mich darin ein und setzte mich so zu Kevin aufs Bett. Kevin lag mit dem Gesicht zu mir auf dem Kopfkissen und sah mich an.

»Soll ich wieder die Ärztin rufen?«, fragte ich ihn.

»Nein«, antwortete er entschieden und fügte ein fast flehentliches »Bitte nicht!« hinzu.

»Warum denn nicht?«, fragte ich zurück.

»Bitte«, sagte er nochmals. »Ich hab Angst, dass die mich zurück in die Psychiatrie schicken, wenn ich jede Nacht Hilfe brauche.«

Er war nahe daran, wieder in Tränen auszubrechen.

»Wie kommst du darauf?«

»Ich weiß nicht, die Fröschl hat heute Vormittag so eine komische Bemerkung gemacht. Wegen gestern Nacht und so.«

Ich war völlig ratlos. Was sollte ich nur tun?

»Glaubst du, dass du jetzt schlafen kannst?«, fragte ich ihn nach einer Weile.

Ich sah, wie er mit den Schultern zuckte. Das Mondlicht schien immer noch durch die offene Gardine. Vielleicht hätte ich vorhin doch besser Licht machen sollen.

Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Einerseits wollte ich nicht gegen seinen Willen handeln, andererseits war mir klar, dass Kevin eigentlich wieder die Hilfe der Ärztin benötigte. Ich befand mich in einer Zwickmühle. Ich spürte, dass er nahe daran war, sich zu öffnen. Wenn er nun zurück in die Psychiatrie kam, würde dieser Fortschritt wahrscheinlich wieder zunichtegemacht werden. Außerdem hatte ich ihn lieb gewonnen und wollte die Zeit hier nicht mehr ohne ihn verbringen. Meine Gefühle zählten aber jetzt nicht, es ging nur darum, was für Kevin das Beste war. Und da war ich mir leider alles andere als sicher.

»Also gut«, sagte ich schließlich. »Ich werd erst mal niemanden holen. Vielleicht kannst du ja jetzt doch einschlafen.«

»Danke«, sagte er leise.

Ich stand auf. Mit der Bettdecke um meine Schultern lief ich hinüber zur Balkontür. Als ich gerade den Vorhang wieder zuziehen wollte, hörte ich Kevin sagen: »Kannst du den bitte offen lassen?«

»Ja, klar«, antwortete ich und machte mich auf den Weg zurück zu meinem Bett.

»David?«, meldete sich Kevin leise, als ich mich gerade hinlegen wollte.

»Ja?«

»Kannst du bei mir bleiben?«

»Ich bin doch hier.«

»Nein, hier an meinem Bett«, flüsterte er schüchtern. »Kannst du dich zu mir ins Bett legen? Bis ich eingeschlafen bin?«

»Wenn du willst?«

»Ja.«

Ich nahm mein Kopfkissen und meine Decke und lief zu ihm hinüber. Er drehte sich auf die andere Seite und rückte mit seinem Kissen nahe an die Wand. Ich legte mein Kopfkissen neben seines und wickelte mich in meine Bettdecke. Dann legte ich mich neben ihn auf die Matratze.

»Versuch jetzt zu schlafen«, flüsterte ich ihm zu. Ich legte einen Arm um seinen Körper und blieb so ruhig wie möglich liegen, um ihn beim Einschlafen nicht zu stören. Nach einer Dreiviertelstunde hörte ich an seinem gleichmäßigen Atem, dass er schließlich doch noch eingeschlafen war.

Ich rollte mich ganz vorsichtig aus dem Bett und schlich hinüber zu meinem eigenen. Ich glaubte nicht, wieder einschlafen zu können. Zu aufwühlend waren die Ereignisse der Nacht gewesen. Irgendwann weit nach vier Uhr musste ich aber dann doch wieder eingeschlummert sein.

Kurz nach sieben wurde ich dann von einem Aufschrei geweckt. Ich war sofort hellwach. Draußen war es noch dunkel, der Mond war verschwunden. Bald würde es zu dämmern beginnen. Als ich hinüber zu Kevins Bett blickte, sah ich den Umriss seines Oberkörpers im Dunkeln. Er saß aufrecht im Bett und atmete heftig. Ich machte Licht. Er hatte sich mit den Händen hinter dem Rücken aufgestützt und ließ den Kopf hängen. Ich stand auf und kniete mich neben sein Bett. Er war nass geschwitzt. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Sein T-Shirt klebte an seinem Rücken.

»Hattest du einen Albtraum?«, fragte ich ihn leise.

Sein Nicken war fast nicht zu bemerken. Er wirkte völlig verstört und schien mich kaum wahrzunehmen. Er sprach kein Wort, sah mich nicht einmal an.

»Ich hole jetzt Hilfe, okay?«, sagte ich. Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. Er gab mir ohnehin keine Antwort. Im Moment schien er völlig willenlos zu sein.

Ich griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der medizinischen Zentrale.

»Zentrale, Dr. Friedrichs«, meldete sich eine männliche Stimme.

»Hier ist Zimmer 213. Kann ich bitte Frau Dr. Ballheim sprechen?«

»Die ist gerade gegangen. Sie hat nur bis sieben Uhr Dienst.«

»Ach so«, sagte ich. »Ich brauche einen Arzt.«

»Ja, was ist los?«, antwortete die Stimme.

»Mein Zimmergenosse hatte einen schlimmen Albtraum. Er ist völlig am Ende.«

»Sagen Sie ihm, er soll runter in die Zentrale kommen.«

»Können Sie nicht hochkommen?«

»Ist er körperlich nicht in der Lage, selbst zu kommen?«, fragte die Stimme.

»Doch, ich denke schon«, antwortete ich zögerlich. »Er ist halt nicht angezogen.«

»Dann soll er sich anziehen und herunterkommen, okay?«

»Ja, na gut«, sagte ich enttäuscht und legte wieder auf. Diese Reaktion hatte ich nicht erwartet. Der Mann am anderen Hörer hatte sich fast desinteressiert angehört. Ich war ein wenig wütend über seine gleichgültige Haltung.

»Du sollst runter in die Zentrale kommen«, sagte ich leise zu Kevin.

Er wirkte immer noch völlig apathisch.

»So?«, fragte er schließlich leise und zupfte dabei an seinem verschwitzten T-Shirt.

Ich zögerte einen Moment. Ich fühlte mich hilflos und alleingelassen. Warum konnte dieser blöde Arzt denn nicht hochkommen?

»Schaffst du es unter die Dusche?«

Er nickte. Langsam stand er auf und tappte geistesabwesend ins Bad. Ich war über seinen Zustand entsetzt und erkannte in ihm den gut gelaunten Jungen von gestern Nachmittag kaum wieder. Er schaltete das Licht in der Dusche ein, zog sein T-Shirt und seine Boxershorts aus und ließ beides achtlos am Boden liegen. Ich traute mich nicht, ihn jetzt alleine zu lassen. Er stellte sich neben die Dusche und wartete, bis ich das Wasser aufgedreht und die richtige Temperatur eingestellt hatte. Dann zog ich den Duschvorhang hinter ihm zu. Einen Spalt ließ ich offen. Nicht weil mich sein nackter Körper interessierte. Dafür fehlte mir im Moment jeder Sinn. Ich hatte einfach nur Angst um ihn und wollte ihn keinen Moment aus den Augen lassen. Er streckte seinen Arm durch den Spalt und ließ sich von mir einen großen Klecks Duschgel auf die flache Hand spritzen. Dann seifte er seine Haare und seinen Körper damit ein und blieb so lange unter dem warmen Wasserstrahl stehen, bis dieser die ganze Seife von alleine wieder abgewaschen hatte. Irgendwann stellte er schließlich das Wasser ab. Als ich gerade den Vorhang aufzog, um ihm sein Badetuch zu reichen, brach er plötzlich weinend zusammen. Er rutschte mit dem Rücken an der Wand hinunter und blieb mit angewinkelten Knien in der Duschwanne sitzen. Laut schluchzend saß er da, schlang seine Arme um die angezogenen Beine und legte den Kopf zwischen die Knie. Ich wickelte ihn vorsichtig in sein Badetuch und griff dann nach seiner Hand. Schwerfällig stand er auf. Ich nahm ihn einen Moment in die Arme und strich ihm durch das nasse Haar. Er schien sich mittlerweile wieder einigermaßen unter Kontrolle zu haben. Als er mich ansah, waren seine Augen nicht mehr so leer wie noch vor einigen Minuten. Er strich sich jetzt auch seine nassen Locken zur Seite, die ihm die ganze Zeit über ins Gesicht gehangen hatten. Bisher schien ihn dies nicht gestört zu haben. Er war nun auch nicht mehr so teilnahmslos und begann, sich abzutrocknen. Er wickelte sich das Badetuch um den Körper und nahm sich eines der anderen Handtücher, um sich damit die Haare trocken zu rubbeln. Ich hatte den Eindruck, dass ich ihn jetzt wieder alleine lassen konnte.

»Geht’s wieder einigermaßen?«, fragte ich ihn.

Er sah mich an und sagte: »Ja, ist okay.«

»Soll ich dir frische Wäsche bringen?«

»Lass nur, hol ich mir dann selber.«

Als ich das Bad verließ und gerade die Tür schließen wollte, rief er mir hinterher.

»Hey, David.«

Ich drehte mich um und steckte meinen Kopf noch einmal durch den Türspalt.

Kevin sah mich an und versuchte zu lächeln.

»Danke«, sagte er leise.

»Ist schon okay«, antwortete ich.

Während er sich fertig abtrocknete, kam ich endlich dazu, mich vollständig anzuziehen. Als ich fertig war, kam er mit dem Handtuch um die Hüften aus der Dusche und nahm sich frische Unterwäsche aus seinem Kleiderschrank. Er setzte sich auf sein Bett und zog sich langsam an.

»Geht’s dir immer so schlecht, wenn du einen Albtraum hattest?«, fragte ich ihn, als er in seine Socken schlüpfte.

Er nickte.

»Ich sag doch, es ist die Hölle«, antwortete er.

Als er fertig angezogen war und sich die Haare geföhnt hatte, ging ich mit ihm in die medizinische Zentrale hinunter. Er hatte mich gebeten mitzukommen. Noch immer sah er recht mitgenommen und niedergedrückt aus. Ich klopfte an und wir traten ein. Eine Theke teilte den Raum in zwei Teile. Der Platz hinter der Theke war dem Personal vorbehalten. Hier waren zwei Männer und eine Frau damit beschäftigt, Patientenakten durchzusehen. Außer uns beiden waren keine anderen Patienten im Raum.

»Guten Morgen«, sagte ich, als keiner der drei von sich aus auf uns aufmerksam wurde.

Einer der Männer blickte auf und kam zu uns herüber.

»Ja, bitte?«, fragte er.

»Ich habe vorhin hier angerufen und mit einem Dr. Friedrichs gesprochen. Wegen Kevin.«

Ich blickte auf Kevin, der verschüchtert und mit gesenktem Kopf einen Meter rechts hinter mir stand, um den Mann auf ihn aufmerksam zu machen.

»Ah ja«, antwortete der Mann hinter der Theke. »Ich bin Dr. Friedrichs.«

Er sah zu Kevin hinüber.

»Sie haben aber lange gebraucht. Ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr.«

»Ich hab noch geduscht«, antwortete Kevin leise.

Dr. Friedrichs kam noch vorne und forderte Kevin auf, sich auf eine Liege zu legen.

»Sie hatten einen Albtraum?«, fragte er. Er schien nicht mehr ganz so gleichgültig zu sein, wie vorhin am Telefon.

Kevin nickte.

»Ja, war ziemlich heftig«, antwortete er.

Der Arzt überprüfte Kevins Puls und Blutdruck.

»Na, inzwischen haben Sie sich ja wieder einigermaßen beruhigt«, meinte er, nachdem er mit seiner kurzen Untersuchung fertig war.

»Er war vorhin ganz schön fertig, kaum ansprechbar«, schaltete ich mich ein. »Können Sie ihm irgendwas geben, damit es ihm besser geht?«

»Wir vermeiden hier so weit es geht Medikamente. Er scheint sich ja inzwischen ganz gut erholt zu haben.«

Der Arzt schien das Ganze nicht sonderlich ernst zu nehmen.

»Geben Sie ihm wenigstens was für die nächste Nacht«, forderte ich ihn auf.

Dr. Friedrichs wandte sich wieder Kevin zu.

»Na gut, ich werde einen Vermerk in Ihrer Akte machen. Wenn Sie möchten, können Sie sich heute Abend hier etwas holen, damit Sie besser schlafen können. Kommen Sie vorbei, bevor Sie ins Bett gehen. Aber reden Sie auf jeden Fall in der Gruppensitzung über Ihre Albträume.«

»Heute am Donnerstag haben wir keine Gruppe«, antwortete ich an Kevins Stelle.

»Ja, dann eben morgen. Das ist wirklich wichtig. Wir können Ihnen hier nicht ständig Medikamente geben. Wenn Sie eine medikamentöse Therapie möchten, sind Sie hier bei uns falsch.«

Ich wünschte sofort, der Arzt hätte die letzten Sätze nicht gesagt. Sie hatten Kevin nur unnötig unter Druck gesetzt. Als wir zurück in unserem Zimmer waren, bemerkte ich sofort die Wirkung, welche die Worte des Arztes auf Kevin gehabt hatten. Er legte sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Wieder lernte ich eine neue Seite an ihm kennen. Er schien eher wütend zu sein als deprimiert. Als ich ihn nach einer Weile fragte, ob er mit zum Frühstück kommen wolle, blaffte er mich aggressiv an.

»Hey, geh allein und lass mich in Ruhe, okay?«

Ich ging also ohne ihn hinunter. Die Mädchen beratschlagten bereits, wie sie den freien Tag verbringen konnten. An diesem Tag war nicht nur keine Gruppentherapie, wir fünf hatten auch keinerlei andere Verpflichtungen. Viele individuelle Therapien würden ohnehin erst in der nächsten Woche beginnen. Für den Vormittag standen wieder einmal Gesellschaftsspiele auf dem Plan. Wenn wir so weitermachten, hatten wir am Ende unseres Aufenthalts das gesamte Spielesortiment der Klinik durch. Nach dem Mittagessen wollten die Mädchen dann in den Ort.

Bevor ich mit den Dreien hinüber in die Cafeteria ging, sah ich noch einmal nach Kevin.

»Wir spielen unten in der Cafeteria Risiko. Kommst du mit runter?«, fragte ich ihn.

»Nein, keine Lust«, antwortete er kurz und knapp. An seiner Stimmung schien sich noch nichts geändert zu haben.

»Du kannst ja später nachkommen«, versuchte ich es noch einmal.

»Ja, in Ordnung«, erwiderte er genervt.

Ich gab es auf und ging wieder nach unten zu den Mädchen.

Nach knapp zwei Stunden tauchte er dann doch bei uns am Tisch auf. Es war bereits kurz vor elf. Schüchtern kam er auf uns zu.

»Kann ich noch mitmachen?«, fragte er zögerlich.

»Klar«, antworteten Christina und Gudrun beinahe gleichzeitig und lächelten ihm zu.

Gequält lächelte er zurück. Er schien immer noch dringend etwas Aufmunterung gebrauchen zu können.

»Komm schon, setz dich«, forderte ich ihn freundlich auf.

Er nahm auf dem Stuhl neben mir Platz.

»Sorry wegen vorhin«, sagte er leise.

»Schon okay«, antwortete ich.

Er schien zumindest seine schlechte Laune überwunden zu haben. Ich hoffte, seine seelische Verfassung würde im Laufe des Tages ebenfalls besser werden.

Leider wurde meine Hoffnung enttäuscht. Er verbrachte zwar den ganzen Tag mit unserer Gruppe, blieb aber meist still und unbeteiligt. Als wir nach dem Mittagessen in den Ort liefen, trottete er nur stumm hinter uns her. Jeder Versuch, mit ihm ins Gespräch zu kommen, scheiterte kläglich. Er schenkte zwar jedem ein gequältes Lächeln, der versuchte, ihn einzubeziehen, das war aber auch schon alles.

Nach dem Abendessen verzog er sich dann aufs Zimmer, während sich der Rest unserer Gruppe wieder in die Cafeteria setzte und ein weiteres Spiel aus den Regalen hinter der Rezeption ausprobierte. Schon bald verlor ich daran die Lust. Kevin ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte Angst vor der nächsten Nacht. Er würde zwar ein Schlafmittel bekommen, aber würde dies die Alpträume verhindern? Und was war mit der Nacht darauf? Wie sollte das weitergehen?

Ich verabschiedete mich von den Mädchen und ging hoch ins Zimmer. Kevin lag angezogen auf seinem Bett und starrte die Decke an. Ein Taschenbuch lag aufgeschlagen mit den Seiten nach unten neben ihm.

»Alles klar?«, fragte ich. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen.

Er nickte nur.

»Was liest du da?«, wollte ich wissen. Ich fragte eigentlich nur, um vielleicht doch endlich wieder mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Er zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Kann mich nicht darauf konzentrieren.«

»Ach so.«

Es schien aussichtslos zu sein. Also legte ich mich ebenfalls auf mein Bett und nahm mir einen der Romane, die ich mitgebracht hatte. Als ich auf der dritten Seite angelangt war, stellte ich fest, dass ich mich an nichts von dem mehr erinnern konnte, was ich da eigentlich gerade gelesen hatte. Ich begann also noch einmal von vorne, doch wieder blieb das Gelesene in irgendwelchen Hirnwindungen hängen, in denen es eigentlich nichts zu suchen hatte. Entnervt legte ich das Buch zur Seite. Ich blieb auf dem Rücken liegen und betrachtete eine Weile die Struktur der weiß getünchten Raufasertapete an der Zimmerdecke.

»Scheiße, Kevin, sag endlich was«, platzte es schließlich aus mir heraus. »Ich mach mir echt Sorgen um dich.«

»Ich bin schon okay«, antwortete er leise. Seine Stimme hörte sich alles andere als überzeugend an.

»Willst du nicht endlich reden?«

»Mit dir?«

»Ja. Oder mit wem du hier halt am ehesten reden kannst.«

»Und was soll ich dir erzählen?«, fragte er hilflos.

Ich überlegte einen Moment. Eigentlich wusste ich überhaupt nicht, was ich da gerade machte.

»Naja, was halt gerade in dir vorgeht. Warum du den ganzen Tag schon so niedergeschlagen bist.«

»Das ist doch wohl klar, oder?«

»Wegen letzter Nacht. Der Albtraum und so«, stellte ich fest.

»Nicht nur.«

»Dann red doch endlich«, forderte ich ihn verzweifelt auf.

»Verdammt, ich weiß halt einfach nicht, wie es weitergehen soll. Ich bin einfach nur am Ende«, sagte er schließlich. Seine Stimme bebte.

»Ich hab eine scheiß Angst vor der nächsten Nacht. Und vor der übernächsten. Und der danach.«

»Hey, du bekommst heute doch was, damit du schlafen kannst.«

»Und morgen? Und übermorgen?«, fragte er verzweifelt. »In der Psychiatrie haben die mich wenigstens mit Medikamenten vollgepumpt. Aber hier ist es wieder genau so wie daheim. Was glaubst du, warum ich mich umbringen wollte? Ich hab die scheiß Nächte mit den ganzen Erinnerungen und diesen beschissenen Albträumen nicht mehr ausgehalten.«

»Willst du doch wieder zurück in die Psychiatrie?«, fragte ich ängstlich. Ich richtete mich auf und blickte zu ihm hinüber.

Er schüttelte den Kopf.

»Die können mich da auch nicht ewig mit Medikamenten vollstopfen. Aber am Ende wird’s trotzdem darauf hinauslaufen, dass die mich wieder dorthin zurückschicken.«

Er wirkte resigniert.

»Hier können die mir ja doch nicht helfen«, meinte er.

»Hey, jetzt wart’s doch erst mal ab.«

Er schüttelte wieder den Kopf.

»Als ich hier angekommen bin, hab ich echt gedacht, dass ich wieder einigermaßen mit meinem Leben klarkomme, wenn ich hier wieder raus bin. Aber jetzt? Du hast ja gehört, was der Arzt heute früh gesagt hat. Ich bin hier falsch.«

»So hat er das doch nicht gemeint«, widersprach ich.

Er zuckte mit den Schultern.

»Weißt du, wie viel Überwindung es mich gekostet hat, am ersten Tag zu euch in das Gruppenzimmer zu kommen?«, fragte er nach einiger Zeit.

»Nein, warum?«, erwiderte ich verwundert.

»Ihr seid da so locker dagesessen. Und ich? Ich komme direkt aus der Psychiatrie. Aus der geschlossenen Abteilung. Und hab ’nen Selbstmordversuch hinter mir. Ich bin mir vorgekommen wie so ein Aussätziger, wie ein totaler Freak.«

Ich sah hinüber zu Kevins Bett. Er lag immer noch auf dem Rücken und sah an die Decke. Jetzt konnte ich mir lebhaft vorstellen, wie er sich am ersten Tag hier gefühlt haben musste. Sein merkwürdiges Verhalten wurde mir jetzt klarer.

»Hey, das bist du aber nicht«, sagte ich.

»Ich komm mir aber so vor, Mann.«

Er machte eine kurze Pause und schüttelte verzweifelt den Kopf.

»Mensch, ich hab dich gebeten, bei mir im Bett zu schlafen, weil ich sonst nicht einschlafen kann! Und heut Morgen musstest du mir sogar beim Duschen helfen! Wie soll ich mir da normal vorkommen?«

Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, und zuckte nur hilflos mit den Schultern. Er starrte immer noch an die Decke und konnte mich bestenfalls aus den Augenwinkeln sehen.

»Ich hab’s aber gerne gemacht«, sagte ich nach einer Weile. Was für eine total bescheuerte Antwort.

»Ja, ich kann echt froh sein, mit einem Schwulen zusammen in einem Zimmer zu wohnen, der scharf auf mich ist. Jemand anders hätte sich wahrscheinlich schon längst in ein anderes Zimmer verlegen lassen.«

Wenn ich nicht gewusst hätte, wie verzweifelt Kevin im Moment war, hätte mich dieser Satz sicher verletzt.

»Hey, ich hab das gemacht, weil ich dich mag, und nicht, weil ich mit dir ins Bett will oder scharf auf deinen nackten Körper unter der Dusche bin«, erwiderte ich.

Er sah schuldbewusst zu mir herüber, schlug dann seufzend die Hände vor sein Gesicht und schüttelte den Kopf.

»Mann, tut mir leid, ich bin echt ein Vollidiot«, sagte er nach einer Weile. »Du schlägst dir hier wegen mir die Nächte um die Ohren und kommst kaum zum Schlafen und dann rede ich auch noch so einen Bockmist.«

»Ist schon okay.«

»Nein, ist es nicht. Du bist der Einzige, der hier für mich da ist. Ich bin echt froh, dass du hier bist.«

»Hey, die Mädchen mögen dich doch auch. Die wären sicher genauso für dich da. Du musst ihnen nur endlich sagen, was mit dir los ist.«

»Ach komm, die müssen mich doch inzwischen für einen totalen Spinner halten, so wie ich mich in den letzten Tagen verhalten habe.«

»Erzähl ihnen doch einfach vom Unfall deines Bruders und wie es dir seitdem geht. Dann werden sie dich sicher verstehen.«

»Meinst du?«

»Ja, klar.«

»Ich weiß nur nicht, ob ich darüber reden kann«, sagte er nach einer Weile.

»Versuch’s doch einfach morgen in der Gruppensitzung«, schlug ich vor.

Kevin zuckte mit den Schultern.

»Du schaffst das schon«, machte ich ihm Mut. »Ich bin doch auch dabei. Und vielleicht geht’s dir hinterher besser.«

»Okay«, sagte er schließlich.

Kapitel 5 – Veränderungen

Die Nacht verlief diesmal ohne Probleme. Die Schlaftablette, die Kevin sich vor dem zu Bett gehen in der Zentrale abgeholt hatte, dürfte daran nicht ganz unschuldig gewesen sein. Ich konnte endlich das Schlafdefizit der letzten beiden Nächte ausgleichen. Falls Kevin während der Nacht Albträume gehabt haben sollte, hatte ich davon zumindest nichts mitbekommen. Ich hatte die ganze Zeit über tief und fest geschlafen und Kevin konnte sich am Morgen an keine schlechten Träume erinnern.

Bis zur Therapiegruppe am Nachmittag schien sich der Tag dann endlos lang hinzuziehen. Ich nutzte jede Gelegenheit, um Kevin Mut zu machen, sich heute in der Gruppe zu öffnen. Als es dann endlich soweit war, kam aber alles ganz anders. Um es kurz zu machen, die Gruppenstunde verlief unglaublich zäh. Dies lag nicht zuletzt an unserer Psychologin, die ihre schlechte Laune nur mühsam vor der Gruppe verbergen konnte. Nachdem sie einige Kommentare zur vorherigen Stunde abgegeben hatte, mit denen keiner von uns so recht etwas anfangen konnte, schien die Stimmung im Raum irgendwie angespannt zu sein. Keiner von uns wusste so recht, was nun geschehen sollte, und wir sahen uns mehr als einmal achselzuckend an. Die immer wiederkehrende Frage von Frau Fröschl, wer denn nun etwas sagen möchte, führte jedes Mal nur kurz zu irgendwelchen mehr oder weniger belanglosen Äußerungen von Seiten der Gruppe. Dass Kevin sich in dieser Atmosphäre nicht öffnen konnte, war nur zu verständlich.

Irgendwann waren die anderthalb Stunden schließlich vorbei.

»Das lief aber recht zäh heute«, meinte Frau Fröschl am Ende. »Hoffentlich wird das nächste Woche besser, wenn Sie zu sechst sind. Ihr verschollenes Gruppenmitglied wird am Wochenende doch noch eintreffen. Vielleicht können Sie ihn ja am Sonntag vom Bahnhof abholen, damit Sie ihn gleich etwas besser kennen lernen. Sonst läuft das hier am Montag wieder so schleppend wie heute.«

Sie teilte uns mit, dass wir an der Rezeption Bescheid sagen sollten, falls wir im VW-Bus mit zum Bahnhof fahren wollten. Als sie gegangen war, blieben wir wieder noch eine Weile im Raum. Kevin ließ den Kopf hängen und ärgerte sich über sich selbst.

»Hey, dann eben am Montag«, munterte ich ihn auf.

»Na toll, wenn dann ein Neuer dabei ist, den ich noch nicht so gut kenne wie euch, wird das garantiert wieder nichts«, antwortete er niedergeschlagen.

»Was ist los?«, fragte Gudrun, die uns gehört hatte.

»Ach, Kevin wollte heute eigentlich reden«, antwortete ich.

Gudrun sah Kevin mitfühlend an.

»Und ausgerechnet dann muss die Fröschl hier so ’ne miese Stimmung verbreiten«, meinte sie verständnisvoll.

Nadine und Christina hatten sich inzwischen auch zu uns gesellt.

»Irgendwie ist mir die Fröschl unsympathisch«, meinte Nadine.

»Nicht nur dir«, erwiderte ich. »Ich hab das Gefühl, das geht uns allen so.«

Ich erntete zustimmendes Nicken.

»Meinst du, du kannst reden, wenn nur wir fünf zusammen sind?«, fragte Gudrun Kevin nach einer Weile.

Er zuckte mit den Schultern.

Ohne lange zu fackeln, ergriff Gudrun die Initiative.

»Kommt ihr alle mit?«, fragte sie uns.

Ohne zu wissen, was sie genau vorhatte, folgten wir ihr hinaus in den Aufzug. Wir fuhren ganz nach oben. Hier befand sich nur ein großer Raum mit mehreren Sitzgruppen und einer großen Glasfront, die den Blick auf das Flachdach des Klinikgebäudes freigab. Eine Tür führte hinaus auf eine Dachterrasse. Im Winter verirrte sich kaum jemand hierher. Nur ab und zu kamen ein paar Raucher herauf, um auf der Terrasse ihre Sucht zu befriedigen. Da es draußen wieder einmal kalt und ungemütlich war, bevorzugten aber auch diese heute die beiden Aufenthaltsräume, in denen Rauchen erlaubt war. Außer uns waren der Raum und die Terrasse deshalb völlig menschenleer.

Wir setzten uns an einen der Tische. Kevin nahm zwischen Gudrun und mir auf einem einigermaßen bequemen Sofa Platz, während sich Nadine und Christina auf zwei Sesseln niederließen.

»Macht’s euch erst mal bequem«, sagte Gudrun. »Lass dir nur Zeit Kevin, du musst nicht gleich anfangen zu reden. Und wenn’s nicht geht, ist’s auch in Ordnung, okay?«

Kevin nickte dankbar.

»Und sag, wenn wir dir mit irgendwas helfen können, ja?«, fuhr Gudrun fort.

»Es geht schon. Ich weiß nur nicht, mit was ich anfangen soll«, antwortete Kevin.

»Soll ich deine Hand nehmen?«, fragte Gudrun ihn.

Er nickte und streckte seine rechte Hand zu ihr hinüber. Sie umschloss sie mit ihren beiden Händen und Kevin lächelte ihr dankbar zu. Als ich ihm dann noch meine Hand auf die Schulter legte, schien er tatsächlich bereit zu sein.

»Mein Bruder ist vor kurzem gestorben. Er hieß Marco und war 16, knapp zwei Jahre jünger als ich«, begann er zögerlich mit seinem Bericht. Er erzählte ausführlich von der Fahrradtour. Die beiden Brüder hatten sich sehr nahe gestanden und hatten öfters etwas zu zweit unternommen. Nachdem der Unfall passiert war, hatte Kevin sofort Erste Hilfe geleistet. Nur wenige Wochen zuvor hatte er für den Führerschein einen entsprechenden Kurs absolviert. Marco war nur noch kurz bei Bewusstsein gewesen. Kevin berichtete, wie er dann auf der wenig befahrenen Straße verzweifelt auf ein Auto gewartet hatte und wie er sich schließlich mitten auf die Straße gestellt hatte, um einen Autofahrer zum Anhalten zu zwingen. Dieser hatte dann zwar sofort mit seinem Handy den Notarzt alarmiert, war danach aber eher unbeteiligt herumgestanden, während Kevin sich weiter um seinen Bruder gekümmert hatte. Die Zeit bis zum Eintreffen des Rettungswagens musste Kevin wie eine Ewigkeit erschienen sein. Als die Sanitäter endlich eingetroffen waren, hatte Kevin sich zunächst unendlich erleichtert gefühlt. Er war dann im Krankenwagen mitgefahren und irgendwann unterwegs zur Klinik hatte ihm der Notarzt dann mitgeteilt, dass sein Bruder seinen schweren Verletzungen erlegen sei. In diesem Moment musste Kevins Welt völlig zusammengebrochen sein, denn ab diesem Zeitpunkt konnte er sich an kaum noch etwas klar erinnern. Die Ankunft seiner Eltern in der Klinik hatte er nur noch verschwommen im Gedächtnis.

Als Kevin diesen Teil seines Berichtes beendet hatte, liefen ihm die Tränen herunter. Ich streichelte ihm über die Schulter und Gudrun strich ihm sanft über den Handrücken. Die beiden anderen sahen ihn mitfühlend an. Christina hatte ebenfalls Tränen in den Augen.

Kevin brauchte eine Weile, bevor er sich wieder einigermaßen gefasst hatte und weitererzählen konnte.

Von der Zeit unmittelbar nach Marcos Tod berichtete er kaum. Ich hatte das Gefühl, er konnte den Zustand, in dem er sich nach dem Tod seines Bruders befunden hatte, ohnehin kaum mit Worten beschreiben. Dafür erzählte er ein wenig von seinem Suizidversuch und der Zeit in der Psychiatrie. Als er fertig war, blieb er mit hängendem Kopf sitzen.

»Hey, du hast’s geschafft«, flüsterte ich ihm zu und strich ihm sanft die Haare aus dem Gesicht.

Er sah mich an und schaffte ein gequältes Lächeln.

»Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte ich vorsichtig.

Er zuckte mit den Schultern.

»Irgendwie schon. Naja, ich weiß noch nicht.«

Ich klopfte ihm auf die Schulter.

»Komm, steh auf«, sagte ich leise. »Da sind ein paar Leute, die dich jetzt erst mal in den Arm nehmen wollen.«

Wir standen alle auf und umarmten Kevin der Reihe nach. Das schien ihm richtig gut zu tun. Er war wirklich gerührt und wusste nicht, was er sagen sollte. Danach saßen wir noch eine ganze Weile beieinander und fühlten uns zum ersten Mal richtig als Gruppe, in der jeder für den anderen da war.

Auch den gesamten Abend verbrachten wir miteinander. Obwohl wir auch diesen Abend wieder mit Gesellschaftsspielen verbrachten, war das Gefühl, das ich dabei hatte, diesmal ein völlig anderes. Ich hatte zum ersten Mal den Eindruck, mit wirklichen Freunden am Tisch zu sitzen.

Als ich mit Kevin zurück auf unser Zimmer ging, war es bereits nach Mitternacht. Ich machte mir ein wenig Sorgen, wie Kevin die Nacht ohne Schlaftablette überstehen würde. Der Tag war ziemlich aufwühlend für ihn gewesen, obwohl er ein gutes Ende genommen hatte.

»Hast du Angst vor der Nacht?«, fragte ich ihn, als wir auf unseren Betten saßen.

Er zuckte nur mit den Schultern.

»Hey, ich bin da, falls du Hilfe brauchst, okay?«, sagte ich. »Du kannst mich ruhig aufwecken.«

»Okay«, antwortete er. Trotzdem wirkte er wieder ein wenig bedrückt.

Während er im Bad war, fasste ich deshalb einen Entschluss. Zuerst hatte ich geplant, unsere Betten aneinander zu schieben, musste aber feststellen, dass diese mit der Wand verschraubt waren. Also räumte ich den Tisch und die Stühle an die Seite. Die freie Bodenfläche war groß genug für unsere beiden Matratzen. Als Kevin wieder aus dem Bad kam, lagen die beiden Matratzen nebeneinander auf dem Boden. Erstaunt blieb er stehen.

»Was hältst du davon?«, fragte ich ihn.

Er musste grinsen.

»Sag schon«, forderte ich ihn auf. Ich war mir nicht sicher, ob ich das Richtige gemacht hatte.

»Wenn du heute Nacht wieder die Ärztin für mich holen musst, dann haben wir ein Problem«, antwortete er nach einer Weile.

Sein Humor war wieder zurückgekehrt, wenn auch nur für einen kurzen Moment.

»Wenn’s dir nicht gefällt oder dir irgendwie unangenehm ist, dann lassen wir’s«, sagte ich.

»Nein, ist gut so«, antwortete er.

Nachdem ich ebenfalls im Bad gewesen war, legten wir uns auf die beiden Matratzen, dicht nebeneinander, aber natürlich jeder unter seiner eigenen Decke. Es dauerte nicht lange und wir waren beide eingeschlafen.

Irgendwann in der Nacht wurde ich wach. Mein Wecker stand immer noch neben meinem Bett. Hier von der auf dem Boden liegenden Matratze aus konnte ich darauf keinen Blick werfen. Kevin schlief unruhig. Ich hörte, wie er im Schlaf leise nach seinem Bruder rief. Er schien wieder einen Albtraum zu haben. Sollte ich ihn aufwecken? Oder einfach schlafen lassen und hoffen, dass er sich nach dem Aufwachen an nichts mehr erinnerte? Ich entschied mich für die zweite Alternative. Ängstlich blieb ich liegen und beobachtete Kevins Bewegungen unter der Bettdecke. Mit der Zeit schien er etwas ruhiger zu werden. Als ich bereits dachte, er würde in Kürze wieder ruhig weiterschlafen, schlug er mit einem lauten Seufzer die Augen auf.

»Alles klar?«, flüsterte ich zu ihm hinüber.

Er drehte sich zu mir um und sah mich in der Dunkelheit an.

»Geht schon«, sagte er leise.

»Wirklich?«

»Ja, war nicht so schlimm diesmal.«

»Du hast im Schlaf nach deinem Bruder gerufen.«

»Wirklich?«

»Ja, ein paar Mal. Ich dachte schon, du wachst gleich auf. Du hast dich dann aber wieder etwas beruhigt.«

»Ich kann mich kaum an den Traum erinnern.«

»Sei froh!«

»Bin ich auch.«

»Meinst du, du kannst wieder einschlafen?«

Kevin zuckte mit den Schultern.

»Wie spät ist es?«, wollte er wissen.

»Keine Ahnung, kann den Wecker nicht sehen.«

»Is auch egal.«

»Versuch wieder einzuschlafen, okay?«

Ich sah ihn im Dunkeln nicken. Er drehte sich auf die Seite und wandte mir den Rücken zu. Ich wollte schon wieder die Augen schließen, um ebenfalls zu versuchen, wieder Schlaf zu finden, als er mit dem Rücken näher an mich heranrutschte. Er kam bis zum Rand seiner Matratze. Wortlos rückte ich zu ihm hinüber und legte einen Arm um seinen Körper. Ich fühlte, wie er sich eng an mich herankuschelte. Irgendwann waren wir beide dann tatsächlich wieder eingeschlafen.

Als wir am Morgen aufwachten, war es bereits kurz nach neun Uhr. Kevin schien keine weiteren Albträume mehr gehabt zu haben.

»Wird Zeit, dass wir die Matratzen wieder in die Betten legen«, war einer der ersten Sätze, die er sagte. War ihm die ganze Sache inzwischen doch etwas peinlich?

Normalerweise kam irgendwann nach neun das Reinigungspersonal in die Zimmer. Man konnte zwar das ‚Bitte nicht stören‘-Schild außen an die Türklinke hängen, dies hatten wir jedoch versäumt. Noch bevor wir uns anzogen, räumten wir deshalb das Zimmer auf und stellten auch Tisch und Stühle an die angestammten Plätze zurück.

Kapitel 6 – Thomas

Das Wochenende verlief bis Sonntagmittag recht ereignislos. Kevin schien es derweil immer besser zu gehen. Ich hatte den Eindruck, dass er sich in der Gruppe nun richtig wohl fühlte. Zumindest machte er keinerlei Anstalten mehr, sich zurückzuziehen. Die Mädchen hatten ihn seit unserer privaten Therapiesitzung am Freitag ohnehin in ihr Herz geschlossen. Er konnte sich vor tröstenden Umarmungen und diversen anderen Zärtlichkeiten kaum retten, falls er auch nur für einen Augenblick einen niedergeschlagenen Eindruck machte.

Sonntags nach dem Mittagessen meldeten wir uns dann geschlossen an der Rezeption. Dort sagte man Herrn Schwarz, dem Hausmeister, Bescheid, dass wir mit zum Bahnhof fahren wollten, um unser neues Gruppenmitglied abzuholen. Der Zug würde kurz nach ein Uhr ankommen. Wir warteten auf einer der Sitzgruppen, bis der Hausmeister schließlich auftauchte.

»Wollt ihr alle mitkommen?«, fragte er erstaunt, als er uns sah.

»Also mehr als zwei oder drei von euch kann ich unmöglich mitnehmen. Ich hab die hintere Sitzbank gerade nicht eingebaut.«

Die Entscheidung, wer von uns nun mitkommen sollte, fiel nicht schwer. Da das neue Gruppenmitglied männlich war, würden Kevin und ich das erste Begrüßungskomitee bilden.

»Na, dann kommt mal mit, ihr zwei«, meinte der Hausmeister. Er war der erste Klinikmitarbeiter, der uns einfach duzte. Ich wünschte, der Rest des Personals wäre ebenso locker und nicht so professionell distanziert. Wir quetschten uns neben Herrn Schwarz auf den breiten Beifahrersitz des VW-Busses und fuhren los.

»Normalerweise kommen die Patienten bei uns nicht mit fast einer Woche Verspätung an«, meinte er, nachdem er vom Parkplatz auf die Hauptstraße abgebogen war.

»Wir wissen auch nicht, warum der erst heute kommt. Wissen Sie, was da los war?«, wollte ich wissen.

»Keine Ahnung, mir sagt man so was nicht. Ich weiß nur, dass ich jemanden um 13.07 Uhr vom Bahnhof abholen soll.«

Den Rest der Fahrt unterhielt uns der Hausmeister mit nicht ganz stubenreinen Witzen. Er schien wirklich ein ganz netter Kerl zu sein. Naja, vielleicht würde ich meine Meinung noch ändern müssen, falls er irgendwann anfangen sollte, Witze über Schwule zu machen. Damit verschonte er uns aber glücklicherweise. Ich schätzte ihn auf Anfang 50. Als ich ihn noch einmal mit ‚Sie‘ ansprach, meinte er »Ihr könnt ruhig ‚Du‘ zu mir sagen. Ich nehm das nicht so genau. Ich heiße Ludwig.«

Nach etwa 20 Minuten hatten wir die Stadt und den Bahnhof erreicht.

»Weißt du, auf welchem Bahnsteig der Zug ankommt?«, fragte ich den Hausmeister, bevor wir ausstiegen.

»Nein, da müsst ihr selber nachsehen. Sind aber sowieso nur drei Bahnsteige. Und heute am Sonntag ist kaum was los. Ihr könnt ihn eigentlich gar nicht verfehlen. Geht einfach rein. Ich warte hier.«

Kevin und ich stiegen aus und betraten das Bahnhofsgebäude. Es war in der Tat nur ein typischer Kleinstadtbahnhof. Die Verkäuferin in dem kleinen Zeitungskiosk saß gelangweilt an der Kasse. Nur in die kleine Bahnhofskneipe hatten sich ein paar Gäste verirrt. Dies schienen aber eher Stammgäste als Reisende zu sein. Der Bahnhof machte insgesamt einen etwas heruntergekommenen Eindruck. Offensichtlich war das Bahnhofsmodernisierungsprogramm der Deutschen Bahn AG noch nicht bis hierhin vorgedrungen. Durch eine knarrende Schwingtüre traten wir hinaus auf den Bahnsteig. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Fast hatte man den Eindruck, hier würde nur alle paar Wochen mal ein Zug ankommen. An einer Tafel hing ein Fahrplan. Der Zug würde gleich hier auf Gleis 1 in knapp zehn Minuten eintreffen. Zumindest falls er pünktlich war.

»Bin ja gespannt, was das für einer ist, der Neue«, meinte Kevin.

»Werden wir ja bald sehen.«

»Möchte wirklich wissen, warum der erst heute kommt.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht verrät er’s uns ja.«

Wir trotteten eine Weile den Bahnsteig auf und ab. Auf dem freien Gelände war es ziemlich windig. Wenigstens war es nicht mehr so kalt wie noch vor ein paar Tagen. Eine Kapuze wäre jetzt ganz angenehm gewesen, nicht nur wegen der Kälte. Seit Mittwoch hatte ich keines meiner Kapuzensweatshirts mehr angehabt. Irgendwie war ich nie in der richtigen Stimmung dazu gewesen und heute hatte ich einfach nicht daran gedacht. Irgendwann hörten wir dann tatsächlich einen Zug näher kommen. Eine halbe Minute später zog eine uralte Diesellokomotive einen aus vier Wagen bestehenden Nahverkehrszug in den Bahnhof. Die Bremsen quietschten und der erste Wagen blieb direkt vor unserer Nase stehen. Ein paar Türen öffneten sich. Man mochte es kaum glauben, aber es stiegen tatsächlich mehrere Personen in dieser Einöde aus. Direkt vor uns verließ ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern den Zug, ein Stück weiter hinten quälte sich ein älterer Herr mit Stock aus einer der anderen Türen.

»Siehst du irgendwo einen Jungen in unserem Alter?«, fragte ich Kevin.

»Nein, vielleicht ist das ja der falsche Zug.«

»In der nächsten Stunde kommt kein anderer.«

Kevin reckte seinen Hals und sah an den aussteigenden Personen vorbei bis zum Ende des Zuges.

»Hey, sieh mal da hinten. Der da könnte es sein«, rief er plötzlich.

Ich drehte mich um und erblickte einen Jungen, der gerade eine Reisetasche und zwei Tüten aus der hintersten Türe des letzten Wagens hob und auf dem Bahnsteig abstellte.

»Ja, das muss er sein«, sagte ich.

Wir setzten uns in Bewegung und liefen auf den Jungen zu. Dieser hatte sein Gepäck inzwischen neben sich abgestellt und war dabei, sich eine Zigarette anzuzünden.

»Ein Raucher, auch das noch«, murmelte ich etwas ernüchtert. Bisher hatte unsere Gruppe glücklicherweise nur aus Nichtrauchern bestanden.

»Wetten, dass der schwul ist?«, sagte Kevin plötzlich.

»Hey, woher willst du das wissen?«, fragte ich etwas ärgerlich zurück.

»Nur so ein Gefühl.«

Der Neuankömmling blickte uns an, als wir bis auf wenige Schritte an ihn herangekommen waren. Er war etwa 1,75 m groß und hatte kurze, hellblonde Haare. An einer Augenbraue hatte er ein Piercing, außerdem trug er Ohrringe. Er schien in unserem Alter zu sein, vielleicht etwas jünger. Sein Gesicht wirkte recht feminin. Irgendwie sah er schon ein wenig so aus, wie sich manche Menschen wohl einen Schwulen vorstellten. Mein Typ war er aber nicht unbedingt.

»Hey, seid ihr wegen mir hier?«, wollte er wissen.

»Falls du in die Klinik nach Bad Neuheim willst, dann schon«, antwortete Kevin.

»Ja, da soll ich hin.«

Er nahm seine Zigarette in die linke Hand und streckte uns dann nacheinander seine Rechte entgegen.

»Hi, ich bin Thomas«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln. »Thomas Hübner.«

Wir schüttelten seine Hand und nannten ihm dabei ebenfalls unsere Namen.

»Na, dann komm mal mit«, forderte ich ihn schließlich auf.

»Hey, nur die Ruhe«, erwiderte er. »Lass mich erst mal fertig rauchen.«

Ich warf einen Blick auf sein Gepäck. Die Reisetasche war nicht besonders groß und die zwei Plastiktüten waren auch nicht gerade dick gefüllt.

»Ist das dein ganzes Gepäck?«, wollte ich von ihm wissen.

Er zuckte mit den Schultern.

»Ja, wieso?«

Wir grinsten ihn unwillkürlich an. Das schien ihn etwas verlegen zu machen.

»Naja, viel mehr Klamotten hab ich halt nicht«, meinte er etwas schüchtern.

»Hey, macht ja nichts. Es gibt Waschmaschinen in der Klinik«, antwortete ich.

Anscheinend stammte er nicht aus so wohlhabenden Verhältnissen wie Kevin und ich. War ja auch nicht weiter schlimm. Wir beide konnten schließlich ebenfalls nichts dafür, so reiche Eltern zu haben. Ich hoffte, dass er mich aufgrund meiner unbedachten Frage nicht für arrogant hielt.

Auch wenn er nicht viel Kleidung im Gepäck hatte, schien er zumindest einen guten Modegeschmack zu haben, der allerdings nicht völlig mit meinem eigenen übereinstimmte. Er trug hellgraue Cargopants, einen dunklen V-Pullover und eine modische Winterjacke, letztere zu meiner Enttäuschung ohne Kapuze. Naja, er war ja ohnehin nicht mein Typ.

Als er seine Zigarette ausgedrückt hatte, griff er nach seinen Taschen und wir liefen den Bahnsteig entlang auf das Bahnhofsgebäude zu. Ich bot ihm an, ihm einen Teil des Gepäcks abzunehmen, und er reichte mir die beiden Tüten.

»Warum kommst du eigentlich erst heute?«, fragte Kevin neugierig.

»Ach, ist ’ne längere Geschichte, erzähl ich euch später, okay?«

»Ja, klar. Lern erst mal den Rest unserer Gruppe kennen«, antwortete ich.

»Was für ’ne Gruppe?«, fragte er verwundert und blieb stehen.

»Wir sind mit dir zusammen in einer Gruppe, sind auch noch drei Mädchen dabei. Wir haben viermal in der Woche eine gemeinsame Therapiesitzung und hängen auch sonst oft gemeinsam rum«, erklärte ihm Kevin.

»Ah so, ich hab nämlich überhaupt keine Ahnung, wie das hier so abläuft.«

»Naja, wirst du schon noch sehen. Alles halb so wild«, sagte ich. »Jetzt komm erst mal. Ludwig wartet.«

»Wer ist Ludwig?«

»Der Hausmeister«, antwortete Kevin.

Wir hatten inzwischen den Ausgang des Bahnhofsgebäudes erreicht und ich deutete durch die verglaste Schwingtüre nach draußen.

»Der da in dem VW-Bus«, sagte ich.

Ludwig hatte uns bereits entdeckt und stieg gerade aus. Er öffnete die seitliche Schiebetüre. Ohne sich vorher lange mit Begrüßungsfloskeln aufzuhalten, forderte er Thomas auf, seine Tasche hinter die Sitzbank zu stellen. Ich stellte die Plastiktüten daneben und stieg dann hinter Thomas in den Bus ein. Ich setzte mich neben ihn auf die Rückbank, während Kevin wieder auf der Beifahrerseite einstieg.

»Ist es weit bis zur Klinik?«, wollte Thomas wissen.

»Ungefähr 15 Kilometer, in 20 Minuten sind wir da«, antwortete Ludwig von vorne.

Während der Fahrt bereiteten wir Thomas schon mal ein wenig auf das vor, was ihn ab jetzt erwartete. Er schien sich vorher nicht groß über die Klinik und darüber, was dort so alles ablief, informiert zu haben. Als er schließlich neben uns mit seiner Tasche in der Hand vor der Eingangstür stand, wirkte er dann auch etwas hilflos.

»Wie geht’s jetzt weiter?«, fragte er unsicher.

»Erst mal zur Rezeption«, antwortete ich.

Während der Hausmeister den VW-Bus hinter uns wieder in Bewegung setzte und auf seinen angestammten Parkplatz lenkte, betrat Thomas gemeinsam mit Kevin und mir zögerlich die Eingangshalle. Wir sparten es uns, für seine spärlichen Habseligkeiten extra einen der Gepäckwagen zu bemühen. An der Rezeption wurde Thomas sofort freundlich von einer Klinikmitarbeiterin begrüßt. Ich sah mich nach den Mädchen um und entdeckte sie um die Ecke in der Cafeteria. Nachdem ich ihnen zugewinkt hatte, kamen sie neugierig herüber. Thomas hatte mittlerweile seinen Zimmerschlüssel erhalten. Da er nicht am normalen Anreisetag angekommen war, blieb ihm das restliche Begrüßungsprogramm erspart.

Die Mädchen musterten ihn neugierig und reichten ihm nacheinander die Hand. Auf dem Bahnhof und unterwegs hatte Thomas noch einen recht selbstsicheren Eindruck gemacht, inzwischen schien ihn die ungewohnte Situation doch ziemlich einzuschüchtern. Unsicher stellte er sich den Mädchen vor. Über Nadines Aussehen schien er richtig erschrocken zu sein. Man konnte nur zu deutlich sehen, dass dies hier nicht seine Welt war. Nun, mir war es ja am Anfang auch nicht anders ergangen.

»Bringen wir erst mal deine Taschen nach oben«, sagte ich zu Thomas, nachdem er den Mädchen die Hand geschüttelt hatte.

»Okay«, antwortete er dankbar.

»Wir sind in der Cafeteria, falls Thomas Lust auf etwas Gesellschaft hat«, teilte Gudrun uns mit und ging dann mit Christina und Nadine wieder zurück an den Tisch, auf dem noch diverse Tassen und Gläser auf die drei warteten.

Thomas betrat mit Kevin und mir den Aufzug und wir fuhren nach oben in den zweiten Stock.

»Mann, was ist denn mit der einen los? Wie hieß sie noch gleich? Nadine?«, wollte Thomas wissen, nachdem sich die Fahrstuhltüre geschlossen hatte und wir unter uns waren. Nadines Anblick schien ihn regelrecht schockiert zu haben.

»Noch nie ’ne Magersüchtige gesehen?«, fragte Kevin zurück.

Thomas schüttelte den Kopf.

Die Fahrstuhltüre öffnete sich wieder und wir traten hinaus in den Gang. Ich deutete auf die Tür an der gegenüberliegenden Wand.

»Hier findet immer unsere Gruppentherapie statt. Morgen um 15 Uhr geht’s da auch für dich los.«

Thomas nickte gedankenverloren. Er schien nun völlig den Überblick verloren zu haben.

»Mann, zeigt mir erst mal mein Zimmer. Mir wird das alles zu viel hier.«

Wir liefen den Gang entlang. Thomas‘ Zimmer lag schräg gegenüber von unserem eigenen. Es war das letzte im Gang. Er sperrte auf und trat ein. Die Einzelzimmer, die alle auf der rechten Seite des Ganges lagen, waren nicht ganz so geräumig wie die Doppelzimmer. Außerdem fehlte ihnen der Balkon.

»Ich brauch jetzt erst mal ’ne Kippe«, stöhnte Thomas, nachdem er seine Tasche abgestellt hatte.

»Im Zimmer ist Rauchen verboten. Und Balkon hast du leider keinen«, antwortete ich.

»Und wo kann man hier dann rauchen?«

»Hmm, ich glaub im Erdgeschoss und im Keller sind Aufenthaltsräume für Raucher.«

»Oder oben auf dem Dach, im Freien, auf der Terrasse«, fügte Kevin hinzu.

»Na toll«, stöhnte Thomas genervt.

»Komm, wir gehen nach oben, da ist es wenigstens ruhig«, schlug ich vor.

Thomas ließ sein Gepäck einfach mitten im Raum stehen und sperrte sein Zimmer wieder ab. Dann liefen wir zurück zum Aufzug.

»Normalerweise reicht mir ’ne halbe Schachtel am Tag, aber heut hab ich glaub ich schon ’n ganzes Päckchen weggequalmt«, erzählte uns Thomas unterwegs.

»Soll ich die Mädels holen? Dann können wir es uns nachher oben zusammen gemütlich machen«, fragte ich ihn.

Er wirkte etwas verlegen.

»Also, äh, wenn’s euch nichts ausmacht … äh, also, mir wär’s ganz recht, wenn wir erst mal unter uns bleiben, so zu dritt mein ich«, stammelte er.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Wie du willst«, antwortete ich.

»Irgendwie wird mir das sonst alles zu viel auf einmal«, meinte er entschuldigend.

»Ist schon okay«, beschwichtigte ihn Kevin.

Da der Aufzug gerade nicht da war, gingen wir die zwei Treppen nach oben zu Fuß hinauf. Wir waren wieder einmal die Einzigen, die sich nach hier oben verirrt hatten. Wir stellten uns zu dritt ganz nach vorne an das Geländer der Dachterrasse. Von hier aus bot sich ein fantastischer Ausblick über den Klinikparkplatz und das angrenzende Gelände. Naja, um ehrlich zu sein, wirklich interessante Dinge gab es eigentlich nicht zu sehen. Thomas zündete sich eine Zigarette an.

»Wollt ihr auch eine?«, fragte er uns.

Wir schüttelten beide den Kopf.

»Nichtraucher«, antwortete ich knapp.

»Vielleicht sollte ich mir das auch endlich wieder abgewöhnen«, meinte Thomas nachdenklich. »Gehen ganz schön ins Geld die Dinger.«

»Ja, und wir müssten dann auch nicht hier raus in die Kälte«, erwiderte ich.

»Oh, tut mir echt leid«, sagte Thomas fast ein wenig schuldbewusst. »Ihr könnt ruhig drinnen auf mich warten, wenn euch kalt ist.«

»Hey, das sollte nur ein Scherz sein«, beschwichtigte ich ihn grinsend.

Er grinste erleichtert zurück. Schweigend warteten wir, bis er fertig geraucht hatte. Dann gingen wir wieder nach innen.

»Und, was jetzt?«, fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Wenn du willst, können wir uns hier ’ne Weile hinsetzen«, schlug ich vor und deutete auf die verwaisten Sitzgruppen vor der breiten Glasfront.

Er schien damit einverstanden zu sein. Wir zogen unsere Jacken aus und warfen sie übereinander auf einen Sessel. Dann setzten wir uns an einen der Tische. Ich nahm gegenüber von Thomas auf der Couch Platz und musterte ihn jetzt, wo er keine Jacke mehr anhatte, etwas genauer. Er war zwar ziemlich schmächtig, aber auch nicht ungewöhnlich dünn. Als mein Blick zufällig auf sein linkes Handgelenk fiel, entdeckte ich dort einen Verband, der ein Stück unter dem Ärmel seines Pullovers hervorlugte. Er musste wohl an meinem Gesichtsausdruck bemerkt haben, dass ich darauf aufmerksam geworden war, denn er zog den Arm reflexartig ein Stück zurück. Ich sah ihn erschrocken an. Er zuckte traurig mit den Schultern.

»Pulsader aufgeschnitten«, sagte er leise.

Er hob den linken Arm etwas an, stützte dabei den Ellenbogen auf der Seitenlehne seines Sessels ab, und schob mit der rechten Hand den Ärmel seines Pullovers zurück, bis der Verband um sein Handgelenk ganz zu sehen war. Ein paar Mal drehte er die Hand nach links und rechts. Scheinbar wollte er, dass wir den Verband von allen Seiten betrachten konnten.

»Naja, ich hab’s nur versucht. Ist mir nicht so ganz gelungen«, fügte er seufzend hinzu.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und war dankbar, dass Kevin reagierte.

»Ich hab’s mit Tabletten versucht, hat auch nicht geklappt.«

Thomas sah ihn erstaunt an.

»Echt?«, fragte er.

Kevin nickte.

»Und, wolltest du wirklich sterben?«, hakte Thomas vorsichtig nach.

»Ich denke schon«, antwortete Kevin leise. »Und du?«

Thomas zuckte nur mit den Schultern.

»Eigentlich bin ich ganz froh, dass ich’s doch nicht geschafft habe«, sagte er nach einer Weile.

»Inzwischen bin ich das auch«, meinte Kevin.

Irgendwie hatte Kevins letzter Satz eine merkwürdige Wirkung auf mich. Ich spürte, wie meine Tränendrüsen ein paar Tropfen Flüssigkeit produzieren wollten. Unterbewusst hatte ich mir wohl die ganze Zeit über Sorgen gemacht, ob Kevin nicht doch immer noch Suizidgedanken hegte. Seine Bemerkung eben hatte sich für mich so unglaublich ehrlich, fast feierlich angehört, dass mir nun ein riesiger Stein vom Herzen fiel. So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Die Angst, die ich in den letzten Tagen um Kevin gehabt hatte, war anscheinend viel größer gewesen, als mir bisher bewusst gewesen war. Noch ehe ich mir die Tränen abwischen konnte, bemerkten Kevin und Thomas meinen Gefühlsausbruch.

»Hey, David, alles klar mit dir?«, fragte Kevin etwas erschrocken.

»Ja, sicher, was soll denn sein?«, antwortete ich wenig überzeugend und wischte mit dem Ärmel meines Pullovers die Tränen weg.

»Naja, sieht so aus, als ob du weinst«, erwiderte Kevin mit einem mitfühlenden Lächeln.

Thomas saß nur erschrocken da und hatte nicht den blassesten Schimmer, was auf einmal mit mir los war. Kevin kam zu mir herüber auf das Sofa, setzte sich neben mich und nahm mich vorsichtig in den Arm. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter und schluchzte los. Nun war es zur Abwechslung einmal Kevin, der mich streichelte und zu beruhigen versuchte. Als ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, wollte er wissen, was denn so plötzlich mit mir los gewesen war. Ich wusste nicht so recht, was ich antworten sollte, entschied mich dann aber für die Wahrheit.

»Ich weiß auch nicht. Als du zu Thomas gesagt hast, dass du auch darüber froh bist, dass du noch lebst, sind mir einfach die Tränen gekommen.«

»Mann, du hast dir echt Sorgen um mich gemacht, oder?«, fragte Kevin erstaunt.

»Ich hatte eine scheiß Angst um dich«, sagte ich laut und sah ihm dabei in die Augen.

Er nahm mich noch einmal in den Arm.

»Hey, du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen«, flüsterte er mir ins Ohr.

Ich weiß nicht mehr, wie lange mich Kevin in seinen Armen hielt. Wahrscheinlich waren es nur ein paar Sekunden. Mir kam es wie eine halbe Ewigkeit vor. Ich genoss jeden einzelnen Augenblick. Hatte ich mich doch in ihn verliebt? Obwohl ich wusste, dass er nicht schwul war? Ja, ich liebte ihn. Einhundertprozentig. Aber irgendwie mehr wie einen Bruder. Als Einzelkind hatte ich immer Geschwister vermisst. In Kevin schien ich nun so etwas wie einen Bruder gefunden zu haben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Als ich schließlich zu Thomas hinüberblickte, sah dieser uns ganz verdattert an.

»Seid ihr beide ein Paar?«, fragte er vorsichtig.

»Nö, keine Sorge«, antwortete Kevin blitzschnell. »David ist noch nicht vergeben.«

Sein Humor und seine Schlagfertigkeit überraschten mich mal wieder. Diesmal fand ich Kevins Bemerkung aber nicht besonders lustig. Schließlich hatte er mich damit quasi vor Thomas geoutet. Dieser schien Kevins Bemerkung auch gleich richtig einzuordnen.

»Du bist schwul?«, fragte er mich.

»Ja, und?«, antwortete ich.

»Boah, da bin ich aber echt erleichtert«, erwiderte Thomas. »Ich überleg schon die ganze Zeit, wie ich euch sagen soll, dass ich schwul bin.«

»Na, hab ich’s doch gewusst«, sagte Kevin und grinste mich an.

»Was?«, fragte Thomas verwundert.

»Naja, als du aus dem Zug gestiegen bist, hat Kevin gleich vermutet, dass du schwul bist«, erklärte ich.

Thomas sah uns verstört an. Sein Gesichtsausdruck deutete an, dass wir ihn irgendwie verletzt haben mussten.

»Ja, deswegen hasst mich mein Vater auch so, weil man es mir eben gleich ansieht«, sagte er nach einer Weile leise mit gesenktem Kopf.

»Hey, tut mir leid, wir wollten dich nicht verletzen«, entschuldigte ich mich erschrocken.

»Ihr könnt nichts dafür. Ich mag es ja irgendwie sogar, dass manche Leute sofort denken, dass ich schwul bin. Nur mein Vater …«

Er brach den Satz ab.

»Ist dein Vater daran schuld, dass du versucht hast, dich umzubringen?«, fragte Kevin zögerlich.

»Naja, unschuldig ist er daran ganz sicher nicht«, antwortete Thomas. In seiner Stimme schwang fast etwas Hass mit.

»Willst du darüber reden?«, fragte ich ihn.

Er nickte.

»Dann komm zu uns aufs Sofa, okay?«

Thomas stand auf, kam herüber und setzte sich zwischen uns. Dann begann er, seine Geschichte zu erzählen.

Er war 17 Jahre alt und stammte aus einem kleinen 2000-Seelen-Dorf. In der 20 Kilometer entfernten Stadt ging er auf die Realschule, falls er nicht gerade die Schule schwänzte und nur so in der Stadt herumhing. Mit seinen Mitschülern kam er wohl nicht besonders gut klar, was nicht zuletzt an seiner femininen Erscheinung lag. Er wiederholte gerade die neunte Klasse und schien auch früher schon mal sitzen geblieben zu sein. Oft nahm er abends erst den letzten Bus, um wieder nach Hause zu fahren. Dies lag daran, dass er seinem Vater möglichst aus dem Weg gehen wollte. Gunther Hübner war Metzgermeister. Im Gegensatz zu Thomas war er ein grobschlächtiger, muskulöser Kerl. Bis vor einigen Jahren hatte er in Thomas‘ Heimatort eine eigene kleine Metzgerei betrieben, einen alteingesessenen Familienbetrieb, den schon Thomas‘ Urgroßeltern aufgebaut hatten. Als dann eine Supermarktkette eine Filiale im Ort eröffnet hatte, war das Geschäft immer schlechter gelaufen. Schließlich musste sein Vater den Laden dichtmachen. Seitdem arbeitete er ein paar Orte weiter in einem Fleischzerlegebetrieb. Der berufliche Abstieg setzte ihm wohl zu. Seine Frustration ließ er nämlich immer häufiger an seiner Familie aus, an Thomas nicht nur verbal. Wenn er abends betrunken vom Stammtisch kam, prügelte er ihn manchmal grün und blau. Nur Thomas‘ kleine Schwester war Vaters Liebling. Sie war vier Jahre jünger als Thomas, und obwohl ihr Vater sie bevorzugte, liebte Thomas sie abgöttisch. Thomas‘ Mutter war eine zierliche Frau, die sich gegen ihren Mann nicht zu wehren wusste und Thomas deshalb nicht beschützen konnte. Solange sich Thomas erinnern konnte, hatte sein Vater immer etwas an ihm auszusetzen gehabt. Worte wie ‚Versager‘ und ‚Schwächling‘ waren noch das harmloseste, was Thomas von ihm zu hören bekam.

Dass er schwul war, wusste Thomas bereits seit einigen Jahren. Vor drei Monaten hatte er schließlich in der Stadt einen Jungen kennen gelernt und die beiden hatten sich ineinander verliebt. Stefan, so hieß sein Freund, war ein halbes Jahr älter, machte eine Ausbildung zum Krankenpfleger und wohnte im Personalwohnheim des Krankenhauses. Da er aufgrund des Schichtdienstes tagsüber oft frei hatte, konnten sich die beiden häufig treffen. Irgendwann musste dann ein Stammtischbruder von Thomas‘ Vater die beiden gesehen haben, wie sie Arm in Arm durch die Stadt gebummelt waren. Im Beisein von Gunther Hübner hatte dieser seine Beobachtungen dann am Stammtisch vor allen Leuten ausposaunt und dabei wohl nicht mit abfälligen Bemerkungen gespart. Als Thomas‘ Vater an diesem Abend nach Hause gekommen war, hatte Thomas die bis dahin schlimmsten Prügel seines Lebens bezogen. Er hatte zwar alles abgestritten und immer wieder beteuert, dass sich der Saufkumpan seines Vaters geirrt haben musste, aber natürlich hatte er seinen Vater damit nicht überzeugen können. Am nächsten Tag war Thomas dann von zu Hause abgehauen. Anstatt in die Schule zu gehen, war er zu Stefan geflüchtet und hatte dort übernachtet. Drei Tage lang war dies gut gegangen, dann hatte sein Vater ihn aufgespürt. Wie ihm das gelungen war, wusste Thomas bis heute nicht. Irgendwann war sein Vater jedenfalls unten vor dem Schwesternwohnheim gestanden und hatte das junge Liebespaar dort in Empfang genommen. Die Szene, die darauf folgte, hatte Thomas immer noch mit Schrecken in Erinnerung. Zuerst war sein Vater auf Stefan losgegangen, hatte ihn übelst beschimpft und ihm angedroht, ihn umzubringen, falls er sich auch nur noch ein einziges Mal an seinen Sohn heranwagen sollte. Eingeschüchtert und mit Tränen in den Augen war Stefan dann irgendwann zurück ins Haus geflüchtet und hatte Thomas dabei völlig hilflos und verzweifelt angesehen. Dann hatte der Metzger seinen Sohn mit Tritten und Schlägen vor sich her zu seinem Auto getrieben und ihn brutal auf den Rücksitz gestoßen. Die nächsten Stunden waren für Thomas dann eine einzige Hölle gewesen. Nachdem sein Vater ihn grün und blau geprügelt hatte, hatte er ihn in sein Zimmer eingesperrt. Thomas hatte sich vor Schmerzen kaum noch bewegen können und sich mit letzter Kraft auf sein Bett geschleppt. Stunden später, mitten in der Nacht, hatte er dann in seiner Verzweiflung versucht, sich mit seinem Taschenmesser die Pulsader am linken Handgelenk aufzuschneiden. Es war wohl bei einem halbherzigen Versuch geblieben. Als sein Vater endlich betrunken eingeschlafen war, hatte seine Mutter nach Thomas gesehen, die Blutlache entdeckt und dann trotz ihrer Panik leise und ohne ihren Mann zu wecken den Notarzt gerufen. Schließlich war er im Krankenhaus gelandet. Neben dem Schnitt am Handgelenk hatte er einen Rippenbruch und zahllose Prellungen und blaue Flecken davongetragen.

»Oh Mann, du hast ja ganz schön was durchgemacht«, sagte ich mitfühlend, als Thomas mit seinem Bericht fertig war. Er blickte mich mit traurigen Augen an und zuckte beinahe gleichgültig mit den Schultern, als ob er gerade eben nicht von sich, sondern von jemand anderem erzählt hätte.

»Wisst ihr, was am schlimmsten ist?«, fragte er nach einer Weile.

Kevin und ich sahen ihn achselzuckend an.

»Dass Stefan jetzt nichts mehr von mir wissen will.«

Bisher hatte er ruhig und gefasst seine Geschichte erzählt, doch bei diesem Satz traten ihm Tränen in die Augen.

»Ich war fast eine Woche in dem Krankenhaus, wo er arbeitet. Er ist kein einziges Mal in mein Zimmer gekommen.«

Jetzt flossen ihm dicke Tropfen über die Wangen.

»Wusste er, dass du dort bist?«, wollte ich wissen.

Er zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung«, sagte er leise.

»Naja, so wie ihn dein Vater eingeschüchtert hat, hatte er halt einfach Angst«, meinte Kevin. »Hätte ja sein können, dass er deinem Vater in die Arme läuft.«

»Hast du nicht versucht, selbst mit ihm Kontakt aufzunehmen?«, fragte ich.

Thomas schüttelte nur den Kopf.

»Du hast ihn seit dem Tag, als dein Vater euch aufgelauert hat, nicht mehr gesehen?«

Wieder Kopfschütteln.

»Noch nicht mal mit ihm telefoniert?«

»Nein«, kam leise als Antwort aus Thomas‘ Mund.

»Hey, woher willst du dann wissen, dass er nichts mehr von dir will?«

Diesmal reagierte Thomas mit einem hilflosen Achselzucken.

»Was ist eigentlich danach passiert?«, wollte Kevin wissen. »Nachdem du aus dem Krankenhaus wieder raus warst. Oder kommst du direkt von dort?«

Thomas schüttelte den Kopf.

»Nein, ich war bei meiner Oma«, antwortete er. »Vor seiner Mutter hat mein Erzeuger wenigstens Respekt. Bei der hat er nichts zu melden.«

In seiner Stimme schwang so etwas wie Hohn mit.

»Die hat ihm damals ganz schön den Kopf gewaschen, als er die Metzgerei ruiniert hatte«, fuhr er hämisch grinsend fort. »Da hättet ihr ihn sehen sollen, da wer er so klein mit Hut.«

Er machte mit Daumen und Zeigefinger eine entsprechende Handbewegung.

»Naja, meine Mutter und ich haben das dann wieder ausbaden müssen«, fügte er traurig hinzu. »Aber das war’s wert.«

»Hätte dir deine Oma nicht schon früher helfen können?«, fragte ich Thomas.

»Ach, die …«, antwortete er in einem etwas abfälligen Ton. »Die hat sich nie groß um uns gekümmert, hat nur immer an allem rumgemeckert. Aber die ganzen blauen Flecken an meinem Körper scheinen sie dann doch ganz schön schockiert zu haben. Meine Mutter hat dann zu ihr gesagt: ‚Nimm Thomas zu dir, vor dir hat Gunther Respekt. Wenn Thomas bei dir ist, tut er ihm nichts.‘ Irgendwie scheint das gewirkt zu haben.«

»Und wie bist du hier in die Klinik gekommen?«, wollte ich noch wissen.

»Ach, das haben die im Krankenhaus organisiert, schon als ich noch dort war. Irgendwie gibt’s wohl ’ne Wartezeit, bis man hier endlich reinkommt. Deswegen musste ich noch zwei Wochen zu meiner Oma. Wenn die Wartezeit nicht gewesen wäre, wäre ich gleich aus dem Krankenhaus hierher gekommen.«

»Ja, das mit der Wartezeit war bei mir auch so«, antwortete ich.

»Und warum warst du dann nicht schon am Dienstag da?«, fragte Kevin.

»Daran ist wieder mein Vater schuld«, antwortete Thomas. »Ich bin ja noch bei ihm mit krankenversichert. Er hat wohl bei der Krankenkasse Terror gemacht, damit die das hier nicht bezahlen. Irgendwann haben die dann bei meiner Oma angerufen und gesagt, dass sie die Kosten nicht übernehmen. Dann haben wir wieder dem Arzt aus dem Krankenhaus Bescheid gesagt und der hat das dann doch noch irgendwie geregelt. Fragt mich nicht, was da genau gelaufen ist. Ich weiß nur, dass am Donnerstag jemand angerufen hat und meiner Oma gesagt hat, dass ich jetzt doch noch kommen kann.«

Jetzt kannten wir also den Grund für Thomas‘ Verspätung. Und auch ansonsten hatten wir einiges über ihn erfahren.

Kapitel 7 – Noch mehr Geständnisse

Nachdem uns Thomas seine Geschichte erzählt hatte, waren nun Kevin und ich an der Reihe, ihm auch etwas über uns zu erzählen. Wir erledigten das draußen auf der Terrasse. Thomas brauchte dringend die nächste Zigarette. Wir stellten uns nebeneinander vor das Geländer und Thomas hörte sich aufmerksam Kevins Geschichte an.

»Oh Mann, tut mir echt leid. Da geht’s mir mit meinem prügelnden Vater ja noch richtig gut dagegen«, sagte er mitfühlend, als Kevin seinen Kurzbericht beendet hatte. Dann sah er mich an.

»Und, was ist mit dir?«

Ich zuckte mit den Schultern und senkte den Kopf.

»Naja, ich hab ’ne Angsterkrankung. Prüfungsangst und so«, antwortete ich. Immer noch hatte ich Probleme, diese Worte auch nur auszusprechen.

»Aber irgendwie frag ich mich so langsam, ob das überhaupt so wichtig ist. Wenn ich höre, was ihr so durchgemacht habt …«, fügte ich leise hinzu.

»Hey, und ich hab so langsam das Gefühl, dir fehlt einfach nur ein richtiger Boyfriend«, sagte Kevin plötzlich zu mir.

Ich sah ihn erstaunt und erschrocken an. Meine Kinnlade klappte herunter.

»Wie kommst du denn darauf?«, stammelte ich.

»Nur so ein Gefühl.«

Ah ja, den Satz hatte ich doch heute schon mal von ihm gehört. Naja, immerhin hatte er da recht gehabt.

»Du solltest dir Visitenkarten drucken lassen: ‚Kevin Winter, Hobbypsychologe’«, fauchte ich ärgerlich.

»Ach komm, David. Ich hab dir hier doch schon mein ganzes Seelenleben offenbart, jetzt bist du langsam dran«, bekam ich von Kevin als Antwort.

»Irgendwie ist das bei mir alles nicht so einfach, wie du denkst. Ich glaub nicht, dass das jemand versteht«, erwiderte ich leise. Ich stütze mich mit den Ellenbogen auf das Terrassengeländer und starrte senkrecht hinunter auf den Parkplatz. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauerte, bis die Spucke den Boden erreichte, wenn man hier hinunterspuckte.

Kevin klopfte mir auf den Rücken.

»Los, erzähl einfach«, sagte er.

»Mensch, du und die Psychologin, ihr wart die Ersten, denen ich erzählt hab, dass ich schwul bin. Weißt du, wie schwer mir das gefallen ist? Nicht unbedingt bei der Psychologin, die reagiert auf so was ja professionell, aber bei dir.«

»Ja und? Ich hab doch auch ganz cool drauf reagiert, oder?«, erwiderte Kevin grinsend.

Ich lächelte ihn gequält an.

»Ja, war richtig witzig«, sagte ich ärgerlich.

»Okay, ich versprech dir, ich werd diesmal nicht so ’ne Show abziehen, ganz egal was du zu erzählen hast.«

»Na gut«, sagte ich leise. Dann sah ich zu Thomas hinüber.

»Soll ich euch besser allein lassen?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, bleib hier, vielleicht versteht mich dann wenigstens einer von euch.«

»Jetzt mach’s doch nicht so spannend«, meinte Kevin.

Ich atmete tief durch.

»Okay, es gibt da was, was ich noch nie jemandem erzählt habe«, fing ich an.

Die beiden sahen mich erwartungsvoll an. Ich hatte keine Ahnung, wie ich anfangen sollte. Nach einer Weile holte ich tief Luft.

»Ich steh‘ total auf Kapuzenklamotten«, sagte ich dann einfach. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Worte nur gedacht oder wirklich ausgesprochen hatte. Verstohlen blickte ich zuerst nach rechts zu Kevin, dann nach links zu Thomas und wartete auf irgendeine Reaktion. Ich hatte komplett mein Zeitgefühl verloren. Wie viele Stunden waren inzwischen vergangen, seit ich diesen Satz gesagt hatte?

»Ja und, ist das alles?«, hörte ich irgendwann von rechts.

Ich drehte mich um und blickte Kevin ins Gesicht.

»Hey, kann’s sein, dass du mich nicht richtig verstanden hast?«, fragte ich ihn. »Ich finde Klamotten mit ’ner Kapuze dran geil! Nicht nur geil, sondern richtig geil

Kevin zuckte mit den Schultern.

»Na und, was soll’s? Was ist da so schlimm dran?«

»Hey, das ist doch nicht normal, oder?«, sagte ich. »Ich bin fast gestorben vor lauter Geilheit, als du am Mittwoch die Kapuze da aufhattest.«

Ich deutete auf die Kapuze von Kevins Snowboardjacke. Mein Puls raste.

»Komm, jetzt beruhig dich erst mal«, sagte Kevin gelassen und legte mir seinen Arm um die Schulter.

»Willst du doch mal ’ne Kippe?«, fragte Thomas von der anderen Seite und streckte mir seine Schachtel Marlboro entgegen.

Ich schüttelte den Kopf, ohne zu merken, dass er das natürlich nur scherzhaft gemeint hatte.

»Dann eben nicht«, meinte er und nahm sich stattdessen selbst eine weitere Zigarette aus der Packung.

Schweigend standen wir eine Weile nebeneinander mit dem Rücken zum Geländer. Während Thomas genüsslich nikotinhaltigen Rauch inhalierte, hörte ich dem wilden Pochen meines Herzens zu. Irgendwann war es dann Thomas, der sich zu mir umdrehte.

»Hey, David, es gibt andere, die stehen auf Leder. Oder auf versiffte Turnschuhe. Oder vollgeschwitzte Tennissocken. Oder Windeln«, versuchte er mich zu beruhigen.

»Du kennst dich damit wohl aus.«

»Hey, das weiß doch jeder.«

»Na und? Deswegen komm ich mir trotzdem abnormal vor.«

»Was ist schon normal«, erwiderte Thomas.

Damit schien das Thema für ihn erledigt zu sein. Für eine Weile setzte Schweigen ein.

»David?«, fragte Kevin irgendwann vorsichtig.

»Ja?«

»Hast du ’ne Ahnung, woher das bei dir kommt?«

»Was?«

»Na das mit den Kapuzen.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Irgendwie ist das schon so, solange ich mich erinnern kann. Mir war’s schon als kleines Kind immer total unangenehm, wenn’s geregnet hat und ich ’ne Kapuze aufsetzen musste. Aber irgendwie fand ich’s trotzdem immer ziemlich aufregend. Ach Scheiße, ich weiß nicht, wie ich euch das erklären soll.«

Mann, was faselte ich da nur für wirres Zeug.

»Leute, können wir vielleicht wieder das Thema wechseln?«, bettelte ich.

»Hey, das muss dir doch nicht so peinlich sein«, erwiderte Kevin.

»Ist es aber.«

»Mensch, jetzt werd mal wieder locker«, forderte Kevin mich auf. »Man könnte glatt meinen, du hättest uns was weiß ich was gebeichtet.«

Thomas zündete sich inzwischen bereits die dritte Zigarette an. Er musste ja glauben, er wäre hier direkt in der Irrenanstalt gelandet. Aber eigentlich wirkte er ganz ruhig und gelassen. War ich wirklich der Einzige, der meine komische Neigung so absonderlich fand. Oder nahmen die beiden mich einfach nicht richtig ernst? Hätte ich mein Geheimnis doch nur für mich behalten!

»Wenn du wirklich so auf Kapuzen stehst, warum hat deine Daunenjacke dann nicht mal eine?«, wollte Kevin wissen. Konnte er das Thema nicht endlich auf sich beruhen lassen?

»Hat sie doch«, antwortete ich notgedrungen. Ich drehte ihm meinen Rücken zu und klappte den Kragen etwas nach oben, damit er den Klettverschluss hinter meinem Nacken sehen konnte.

»Ah, da drinnen«, hörte ich Kevins Stimme von hinten. »Auf solche Notkapuzen stehst du also auch.«

Notkapuzen nannte er diese Dinger also. Oh Mann, so langsam geriet die Situation völlig außer Kontrolle.

»Ja, gerade auf solche«, antwortete ich leise.

»Is ja krass!«

»Mensch, das sag ich doch die ganze Zeit.«

In diesem Moment hörte ich das typische Geräusch, das beim Öffnen eines Klettverschlusses entsteht.

»Hey Kevin, lass den Scheiß«, schrie ich erschrocken auf, aber da war es bereits zu spät. Kevin war bereits dabei, die dünne Kapuze aus dem Kragen herauszuholen.

»Ach komm David, is doch nichts dabei.«

Mit einem genervten Gesichtsausdruck blickte ich kurz über meine Schulter zu Kevin. Natürlich hätte ich mich auch einfach umdrehen und Kevin einen harmlosen Stoß in die Rippen versetzen können, und das Spielchen wäre beendet gewesen. So ließ ich ihn eben gewähren. Erinnerungen an eine Szene aus meiner Kindheit schossen mir durch den Kopf. War da nicht mal etwas in der ersten oder zweiten Klasse bei einem Schulausflug gewesen?

Kevin stülpte mir von hinten die dünne Kapuze über den Kopf und zog zu allem Überfluss auch noch die Kordel so fest, dass die Kapuze mir fast die Augen verdeckte. Irgendwie fand ich die Situation ziemlich peinlich. Andererseits musste ich zugegeben, dass mir das Spielchen auch gefiel. Ich schätzte, dass Kevin das auch wusste. Als er fertig war, klopfte er mir auf die Schulter. Mit der Kapuze auf dem Kopf drehte ich mich zu ihm um.

»Was sollte das jetzt?«, fragte ich ihn.

Er zuckte mit den Schultern.

»Ich dachte, es gefällt dir vielleicht«, sagte er mit einem leichten Grinsen.

Naja, er hatte da nicht ganz Unrecht.

Thomas drückte gerade seine Zigarette aus. Ihn schien das Ganze nicht sonderlich zu beeindrucken.

»Also wegen mir können wir jetzt wieder rein«, meinte er.

Ein wenig erleichtert schob ich mir die Kapuze vom Kopf, als wir durch die Tür wieder zurück ins Innere der Klinik traten. Das Thema war vorerst erledigt und wir gingen hinunter zu den Mädchen, die immer noch in der Cafeteria auf uns warteten.

 

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