Diese Geschichte und die darin handelnden Personen sind ein Produkt meiner Phantasie, wobei nicht auszuschließen ist, dass ähnliche als die darin beschriebenen Handlungen bereits passiert sind, oder sich künftig so zutragen werden. Eine Haftung dafür übernehme ich nicht.
24. August 2030, ein Samstag in Villaabajo Verde im Norden Spaniens.
Das allmorgendliche Krähen des Hahnes, welches durch das offene Fenster laut und deutlich wahrnehmbar ist, beendet abrupt meinen Schlaf. Die Sonne steht schon über dem Hügel und die Strahlen zwicken mir ins Gesicht, was bedeutet, dass der Einfaltswinkel mit etwa 6:30 Uhr korrelieren muss. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, heute mal früher aufzustehen. Lust dazu, nein.
Es ist trotz der frühen Stunde immer noch drückend heiß im Zimmer, die erhoffte nächtliche Abkühlung trat nicht ein. Erst mal den Körper strecken, was ein deutliches Knarren der Bettfedern verursacht. Mein Bett, nun, viel mehr als ein Laken ist das momentan nicht und jenes deutlich verrutscht. Mir ist aber nicht vergönnt, jetzt wieder einzuschlafen, denn ein dringendes morgendliches Bedürfnis meldet sich heftig und innerlich ruft es nach dem ersten Morgenkaffee. Und wenn ich denn schon mal im Bad bin, kann ich mich auch gleich duschen, es riecht in meinem Dunstkreis ziemlich streng nach altem Schweiß.
Wie es so Brauch ist, seife ich mich ordentlich ein und lasse anschließend das Wasser eine Weile über meinen Körper laufen. Das ist zwar nicht richtig kalt -woher soll kalt kommen- trotzdem tut mir das richtig gut. Warum der Wasserdruck aber so gering ist -der Strahl ist nicht stärker als wie ich vorher ins Becken gepinkelt habe- ist unklar. Gerade so schaffe ich es, mich vom Seifenschaum zu säubern, dann ist Schluss. Egal, darum kümmere ich mich später, jetzt ist erstmal Frühstück angesagt. Ab in die Küche und mal schauen, was es dort so zu beißen gibt.
Der Kaffee ist bereits fertig der Thermokanne zu entnehmen, die Zubereitung erledigt wie immer meine Mutter, bevor sie die paar Kilometer mit dem Auto zu ihrem Supermarkt neben der Autobahnraststätte fährt. Hunger habe ich noch nicht. Praktisch, wenn sie den Einkauf bei der Arbeit gleich mit erledigen kann und noch nicht mal Geld in die eigene Kasse legen muss.
Renato, mein kleiner fünfzehn jähriger Bruder, ist mit seiner Klasse nach Madrid gefahren. Sind halt Schulferien.
Ich muss heute ganz dringend was fürs Studium tun, was ich mir allerdings schon seit Montag letzter Woche vorgenommen habe. Nur keine Hektik! Erstmal den großen Kaffeepott voll gemacht und ab auf meinen Lieblingsplatz seit Kindertagen, nackt wie ich bin, also ins offene Küchenfenster zu Schau gesetzt und die Füße draußen auf die Sitzfläche der alten Bank gestellt. So kann ich den Hof überblicken und schnell reagieren, falls Besucher kommen. Eine Jeans liegt bereit.
Warum ich das so mache? Ich liebe es irgendwie, nackt zu sein, keine Ahnung, warum, aber der leichte Wind ist vom Gefühl her sehr angenehm auf meiner Haut. Hier lese ich oft stundenlang oder sitze abends mit meinen Eltern zusammen; dann aber nicht nackt. Aber zu meiner Entlastung kann ich bemerken, dass unser Grundstück etwas abseits liegt und die Motorgeräusche herannahender Besucher mir hinreichend Zeit zum Verdecken der interessantesten Regionen meines Körpers lassen.
Mein Bruder ist schon eine ganze Weile nicht mehr abends dabei. Er zieht es vor, seine schwierige Phase im Kreise Gleichaltriger zu pflegen, was auch gut so ist, dazu kleidet er sich merkwürdig und bringt merkwürdige Kumpels mit nachhause. Der geht mir normalerweise so was von auf den Senkel. Aber jetzt, wo er nicht da ist, fehlt er mir trotzdem. Der sagte doch kürzlich zu mir, bevor er endlich nach Madrid los ist.
„Du, Manuel, bist Du schwul?“
Ich war daraufhin so überrascht, dass ich ehrlich antwortete.
„Keine Ahnung, weis nicht.“
Es sah mich dann lange und nachdenklich an. Was sollte das denn?.
Abgesehen von den tierischen Geräuschen draußen, ist es im Haus ruhig. Mein Vater inspiziert wie jeden Morgen nach der großen Fütterung im Schweinestall und dem Ausmisten der Boxen das Land rund um unseren Bauernhof, schaut nach, ob es den wenigen Tieren auf der Weide gut geht und diese sich nicht auf ungenehmigten Ausflügen befinden. Wenn ja, bedeutet das, die Ausreißer finden und den Zaun reparieren. Meist kommt er erst mittags wieder zurück, um nach dem Essen seinen verdienten Mittagsschlaf zu halten.
Normalerweise muss ich ihn begleiten, wenn ich in den Semesterferien zuhause bin und der Hof voll läuft. Nur, zur Zeit ist nicht viel zu tun, weil, etwas zu tun, im bäuerlichen Sinne, sehr schwierig geworden ist. Unser ehemals herrlich grünes Land, seit 20 Jahren immer mehr in Wüste übergehend, ist ein verdurstendes Land. Dabei ist der Bauernhof bereits seit Jahrhunderten im Familienbesitz, so war es immer und so soll es nach dem Willen der Altvorderen auch bleiben. Ergo geht der Hof später mal an mich, Manuel, wenn alles nach Plan läuft. Vorausgesetzt, dass es in Zukunft nicht mehr so trocken sein wird.
Ich jedoch studiere viel lieber an der Uni in Bilbao das Fach Informatik, auch um der von mir so gefühlten Tristesse des dörflichen Lebens hier zu entkommen. Bauer sein ist nun mal nicht meine Welt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich dem auf mich ausgeübten Druck der Tradition letztendlich erfolgreich widerstehen kann und das auch will, denn das Dasein hier hat auch seine schönen Seiten, die für Jungs im Teenageralter aber noch nicht so interessant sind. Kommt Zeit, kommt Rat. Vielleicht.
Das Leben auf einem Bauernhof mit all der harten Arbeit, manchmal auch rund um die Uhr, die Gliederung des eigenen Tages nach den Bedürfnissen der Stalltiere und dann der große stinkende Misthaufen hinten auf dem Hof – Hilfe! Viel lieber schaue ich, wenn es irgend geht, Tag und Nacht fern, die immer neuesten Spiele am PC haben es mir auch sehr angetan, und wenn dann noch Zeit ist, lese ich alles, was ich an Fantasyliteratur bekommen kann. Daneben höre ich überall und ständig Musik, dank Ohrstöpsel kein Problem. Aber bitte vorzugsweise Klassik und keine solch ausgeflippten Sachen, jedoch gern die geniale Chormusik von Libera.
Leider ist es hier schwierig, ein ordentliches Netz zu finden, um Online in Musik stöbern zu können. Schon aus Gewohnheit will ich immer mal wieder nach meinem iPhone greifen, um Leute an der Uni anzuklingeln, aber das funktioniert nicht so wie ich es von Bilbao her gewöhnt bin. Ich müsste auf den Hügel steigen, um überhaupt Signale eines Netzes zu bekommen. Zu anstrengend. Mit Modem ins Festnetz, lass es sein.
Mein Leben hier vor dem Studium hat mit meiner allgemeinen Einstellung zu bestimmten Dingen zu tun und lässt sich recht einfach beschreiben: Natur und solch abscheuliches Tun, wie sich in der schmutzigen Wildnis auf den Feldern zu bewegen und Wiesen ohne Schutzanzug zu betreten, gehören verboten, und Tag und Nacht könnten von mir aus sowieso abgeschafft werden. Hauptsache, ich hatte meine Ruhe vor denen da draußen, auch vor Eltern und nervendem Bruder und konnte meinen Lieblingsfreizeitbeschäftigungen nachgehen. Und wer mir mit Politik kommt, der fliegt auch heute noch aus meinem Zimmer raus.
Viele Freunde hatte ich hier nicht, was mit mangelhaft übereinstimmenden Interessen zu tun hatte. Kein Fußball, keine Rauferei, Autos zu langweilig, Mopeds auch, wenig mit Mädels, und das letzte ging für meine Mitschüler schon mal gar nicht. Zum Glück hatten alle schnell die Nase von mir voll und ich hatte vor denen meine Ruhe.
Irgendwie schon klar, dass so ein Bildschirmarbeitsplatz, wo man sich körperlich nicht zu sehr bewegen braucht und mit Kollegen nur per Mail kommuniziert, mein idealer Aufenthaltsort für die Zukunft werden soll und ich deshalb Informatik als Studienfach gewählt habe. Und da knie ich mich manchmal ganz schön rein…
Vor sehr langer Zeit, also vor meinem Stimmbruch, habe ich sogar einige Jahre im Schulchor mitgesungen und hatte untypisch viel Spaß dabei, fühlte mich damals sogar in einer Gruppe richtig wohl. Aber wer das selbst einmal miterlebt hat, dieses Gefühl, als wir endlich gesanglich soweit waren, und unser erstes Konzert in einer Kirche vor Publikum geben konnten, sogar ein Stück von Händel hatten wir drauf (Semele), der wird das wohl nachfühlen können. Dann dieser die Mühen mehr als belohnende Beifall zum Schluss, das Lachen in den Gesichtern, dieses Überkochen von positiven Gefühlen bei Zuschauern und Sängern…
Schade, schade, es war einmal, heute bekomme ich Tonleiter behaftete Töne in noch genießbarer Intonation nur noch im Gedanken hin. Meine Stimme ist für Methoden der gesanglichen zwischenmenschlichen Kommunikation nicht mehr geeignet, angedeutete Versuche führen unweigerlich zum Familienkrach. Doch was zurück blieb, ist die Liebe zur Musik, speziell der klassischen Chormusik.
Es ist immer noch ruhig. Zu ruhig. Da hilft nur mp3-Zwangsbeschallung. Nebenbei schlage ich schon mal ein Buch über Objektorientierte Programmierung auf, zwecks Beginns der Lernphase.
Von meinen ehemaligen Schulkameraden ist selten jemand im Ort anzutreffen, was sollten die hier auch noch in der verbrannten Heimat, wo es bald gar nichts mehr zu tun geben wird, wenn die Entwicklung so weiter geht. Wer kann, studiert irgendwo in der Ferne oder hat sich in einer wirtlicheren Gegend eine Arbeit gesucht.
Von wegen Ort: Das ist eine lockere Ansammlung von Bauernhöfen um eine Kirche, daneben die Grundschule und eine alte Schmiede, wo früher die Huftiere beschlagen wurden. Und dann, einen langen staubigen Feldweg entlang, geht es Richtung Friedhof. Da kann man fürsorglich eigentlich gleich nach der Geburt wieder eingebuddelt werden, finde ich. Das Leben hier ist einfach nicht wert, gelebt zu werden. Aus. Ende.
Oder doch nicht? Meine Eltern finden es hier nach wie vor sehr schön, meinen sogar, dass wir das Glück haben, den schönsten Teil der Erde zu bewohnen, von dem sie einen Flecken sogar ihr Eigen nennen können. Zwar kenne ich auch einiges von der Landschaft, Heimatkunde und Schulausflügen geschuldet, nicht gedankt, wobei ich nur das Baden in den Yesa-Thermen beeindruckend fand, die aber nur bei ganz niedrigem Wasserstand im Yesa-Stausee wieder zum Vorschein kommen und sonst leider mitsamt den alten Ruinen überflutet sind. Was für eine Verschwendung.
Interessant war es auch, in den Gebäuden des verlassenen Dorfes im so genannten Tal des Todes zu spielen, dem Geisterdorf, in das man nur zu Fuß oder mit Unterstützung von Huftieren gelangen kann, wobei es gilt, über einen schmalen holprigen Pfad im Zick-Zack locker an die 600m zu erklimmen, um danach körperlich unversehrt und gefährlich nah an einer steil abfallenden Steilwand vorbei ins Tal zu gelangen, an dessen Sohle früher mal ein Bach deutlich sein Bett in den harten Fels geschnitten hat.
Hier haben die ehemaligen Bewohner schon vor langer Zeit den Kampf mit den Unbilden der Natur verloren und ihr Dorf verlassen müssen. Wer will heute auch noch ohne feste Straßenanbindung leben, ohne die Möglichkeit, schnell mal zum Einkauf in die Stadt zu fahren, oder zum Arzt.
Der Name Tal des Todes rührt eigentlich daher, dass es in früheren Zeiten zeitweise sehr gefährlich war, den wild tosenden Bach zu überqueren, der heute nur noch als eine meist trockene, längliche Vertiefung im Fels wahrnehmbar ist, wo allerlei gefährliche Kriechtiere dem Menschen auflauern…
Meine Eltern lieben es, sich alte Heimatfilme anzuschauen, die trotz der Schwarz-Weis-Bilder den großen Kontrast zwischen damals und heute wiedergeben: früher lebendiges Grün, daher die Ortsbezeichnung mit Verde, heute dieses Tod verkündende Gelb-Braun der verbrannten Erde.
Hier am Fuß der Pyrenäen hat es zwar im letzten Winter kräftig geschneit und im Frühjahr ausgiebig geregnet, trotzdem, nach dem sehr heißen und trockenen Sommer, der eigentlich vom Wetter her schon im März begann, sind die Felder bereits weitgehend vertrocknet, die Pflanzen verdorrt, der Boden weist zahlreiche Risse auf.
Das Vieh war am Verhungern und Verdursten und musste zu großen Teilen viel zu früh und unter hohen Verlusten an den Schlachthof verkauft werden, so dass nur noch wenige Tiere für den Eigenbedarf ihr karges Leben auf der Weide fristen.
Die Temperaturen sind zwar statistisch nicht mal 2 Grad über dem üblichen Jahresmittel, aber das bedeutet nicht, dass auch die Niederschläge sich entsprechend wenig verändern würden. Der Zusammenhang zwischen Lufttemperatur und Niederschlagsmenge scheint somit nicht direkt linear zu sein.
U. a. der Anbau von Wasserzehrenden Früchten (Tomaten) in Gegenden, die für die Sorte untypisch sind und schädlich für den Wasserhaushalt, und der über die Jahre exorbitant angestiegene Tourismus an der Küste mit seinem hohen Wasserverbrauch haben den Boden ausgelaugt. Hochleistungspumpen haben selbst das tiefe Grundwasser abgesaugt.
Noch vor zwanzig Jahren war mit der Landwirtschaft in der Region ein gutes Auskommen möglich und ein weitgehend sorgenfreies Leben. Wegen mangelnder Niederschläge und meist zu trockenen und warmen Wintern führen die Gebirgsbäche kaum Wasser, und wenn, nur für wenige Wochen. Der Wasserstand im riesigen Yesa-Staubecken ist somit zumeist auf gefährlich niedrigem Pegel. Wenn es so weiter geht, wird es hier bald so aussehen wie in der nahen Wüste Bardenas.
Zwar will der Staat der Entvölkerung gegensteuern und subventioniert zu einem großen Teil unser Leben, jedoch das viele bereitgestellte Geld kann man nicht in trinkbares Wasser umwandeln. Der riesige neue Flachfernseher sorgt hervorragend für Spiele und Zeitvertreib, aber ohne ausreichend Brot, und viel wichtiger noch, Wasser, geht Leben nicht.
Ich dürfte eigentlich jetzt gar nicht zuhause sein, denn mein Studium in Bilbao ist nicht so angelegt, dass man sich noch extra Ferien gönnen darf. Das ist Stress pur, wenn man wie ich die Absicht hat, die Prüfungen erfolgreich zu bestehen. Aber wegen akutem Wassermangel hat man uns mit reichlichen Aufgaben fürs Selbststudium versorgt und auf unbestimmte Zeit nachhause geschickt. Es ging dort einfach nicht mehr. Kantine geschlossen, kein Kaffeeautomat, Mineralwasser Fehlanzeige, an Wasserhähnen auch nichts zu entnehmen, nicht mal das Spülwasser für die WC’s hat funktioniert. Auch wenn einige für ihre Verrichtungen schon ins Uni-Gelände ausgewichen sind, ist das bei der Studentenanzahl nicht lange durchführbar.
So schlafe ich bereits die zweite Woche hier im heimatlichen Bett. Wenn es Fragen und Probleme bezüglich des Lehrstoffs gibt, soll ich mich mit meinem Betreuer per Mail austauschen, was letzte Woche problemlos funktionierte, jedoch hat der diese Woche noch nicht geantwortet und telefonisch im Festnetz bekomme ich auch keinen Kontakt mehr. Die Internetseite der Uni wird anscheinend nicht mehr aktualisiert. Keine Ahnung, was das soll, aber so geht es für mich nicht weiter. Andere Kommilitonen aus der Pampa, die ich angemailt habe, wissen auch nicht mehr. Ich werde am Montag zur Uni fahren, um die Lage zu sondieren.
Man, ich kriege noch die Krise! Kaum habe ich eine Seite durchgelesen, ist deren Inhalt schon wieder auf Reset. So wird das nichts mit der Lernerei. In der Kanne ist noch Kaffee, der hilft meinen Gedanken auf die Sprünge. Bestimmt habe ich vom Fenstersims auch schon eine Kerbe quer übern Hintern. Ab in die Küche.
Mamá stört. Eben sitze ich am Küchentisch, gibt es einen Anruf von ihr, ‚…bist du endlich schon aufgestanden! Du könntest doch auch mal deinem Vater helfen! Hast du auch ordentlich was gefrühstückt. Lernst.‘ Ab ,Lernst’ höre ich nicht mehr zu. Ist ja gut gemeint, das Bla-Bla-Bla. Mit dem extra dick belegtem Wurstbrötchen zwischen den Zähnen kann ich leider nicht erwartungsgemäß antworten. Dafür gibt’s heute noch die 3. Steigerungsform des Bla am Abend. Sohn sein ist schwer.
Zwischendurch mal den Küchen-TV angestellt. Auf allen Kanälen nur Katastrophenmeldungen, Berichte über Trockenheit, Viehsterben, Waldbrände, Nahrungsmangel und Unruhen. Gelangweilt drücke ich auf Aus.
Nach dem Kaffee bin ich soweit aufgerichtet, dass ich in der Lage und willens bin, meinen Kopf für längere Zeit über Laptop und Büchern zu postieren, um konzentriert zu lernen.
Wenn ich es erstmal geschafft habe, meinen inneren Schweinehund von Arbeit zu überzeugen, kann ich allerdings auch richtig was wegschaffen und habe eigentlich mit dem Studium keine schwerwiegenden Probleme. Dieses bedeutet in erster Linie, sich mit endlosen Matheproblemen zu plagen. Bis man viel später in die Anwendungen einsteigen kann, sprich, dem Programmieren, hat mancher unterwegs schon das Handtuch geschmissen.
So sitze und schufte ich vor mich hin, Rammsteins Ohne Dich im Ohr, als aus der Ferne ein störendes Geräusch zu mir vordringt. Mein Vater. Dass er mir die Ohrhörer fast schon schmerzhaft aus den Ohren reißt und mir dann heftig mit seinen harten Händen in die Seiten stößt, entspricht gar nicht seiner Art. „Sag mal, hörst du nicht das Signalhorn! Los, komm, wir müssen nachsehen!“ Seine buschigen schwarzen Augenbrauen, nur wenige Zentimeter neben meinen buschigen schwarzen Augenbrauen, lassen jedem Uneingeweihten unser nahes verwandtschaftliches Verhältnis erahnen, jedoch während ich ihn nur verwundert anstarre, signalisieren seine nervös zuckenden Mundwinkel und der strenge Blick höchsten Alarm. Der ist gerade nicht sehr entspannt und es ist besser, dass ich seinen Anweisungen umgehend nachkomme. Wenn ich vor Jemanden richtig Respekt habe, so ist das mein Vater.
Bei all den Mist, den ich bereits auf dem Hof verbockt habe, hat er mich noch niemals geschlagen. Und meinen Bruder Renato schon gar nicht, den vergöttert er sowieso. Ich denke manchmal, dass es vielleicht viel besser wäre, wenn mein Bruder später den Hof übernimmt, da dieser ein viel besseres Geschick für die praktischen Dinge hat als ich und sogar Papá an seinen Fertigkeiten nichts auszusetzen hat. Aber das mit Bestimmtheit zu sagen, liegt an mir, und dazu kann ich mich noch nicht entschließen.
Das Geräusch, welches aus Richtung Abstellraum dringt und ohne klopfenden Rammstein nun auch für mich wahrnehmbar ist, signalisiert, dass der riesige Sammelbehälter, welchen mein Vater und ich im Hof verbuddelt haben, fast leer ist. Alles Regenwasser, welches wir über ein aufwendiges Rohrsystem aus den Regenrinnen vom Wohnhaus und den Nebengebäuden auffangen, wird in den Sammler geleitet. Das der um diese Jahreszeit schon leer sein soll, kann eigentlich nicht sein.
Ich gehe ins Gewächshaus und greife mir einen Wasserschlauch, der die passende Länge hat, um an den Boden des Behälters zu stoßen, um damit den Wasserstand zu messen. Mein Vater entfernt schon mal die Schutzabdeckung überm Behälter. Ungläubig schauen wir auf das Ende des Schlauches, als wir die Länge wieder rausgezogen haben. Aber auch eine erneute Messung bessert das Messergebnis nicht.
„Ach du Scheiße, jetzt sind wir geliefert! Draußen steht das Vieh und durstet. Der Bach auf der Weide ist kurz vor dem Versiegen. Mir tut das in der Seele weh, wenn ich das Viehzug so schreien höre! Und als ich mir vorhin die Hände waschen wollte, kamen nur noch ein paar Tropfen aus dem Hahn.“
Nach einer Weile, in der er anscheinend angestrengt überlegt und sich etwas beruhigt hat, meint er: „Ich fahre mal rüber zu den Nachbarhöfen, wie es da ist. Vielleicht können die uns Wasser geben, bis unsere Leitung wieder in Ordnung ist. Schaue du mal unten an der Wasseruhr, wo noch ein Anschluss ist, und ob hinten im Garten was läuft.“
Schon schwingt er sich auf sein Moped.
Von meinem Vater gesagt, von mir getan. Jedoch im Garten am Anschluss für den Wassersprenger ist kein Tropfen. Mit den Schuhsohlen kratze ich dann Erde und Laub von der hölzernen Abdeckung über dem Erdloch mit der Wasseruhr. Puh, wie eklig! Etliche Käfer suchen panisch das Weite, als ich den schweren Deckel beiseite ziehe und mir der muffige Erdgeruch entgegen strömt. Erstmal geschaut, wo in dieser Ansammlung von Schmutz der Knebel vom Eckventil ist. Nur mit Mühe kann ich das gammelige Teil bewegen, und ein kräftiger Wasserstrahl strömt hinaus. Doch schnell ist die anfängliche Freude über das Nass der Enttäuschung gewichen, denn was kam, war nur noch der klägliche Rest in der Leitung, der jetzt sinnlos in die Grube abgelaufen ist.
So richtig weis ich jetzt nicht, was zu tun ist. Mich wieder wie vorhin ans Lernen zu begeben, ist eher unpassend und so laufe ich wie ein aufgescheuchtes Huhn über den Hof. Zur Lösung des Problems habe ich absolut keine Idee; wie auch, da ich mich noch nie um die Belange des Hofes kümmern musste, und dazu auch nie Lust verspürte.
Das liegt aber auch daran, dass mein Vater der totale Perfektionist ist, dazu noch ziemlich ungeduldig, und ich ihm schon als kleiner Junge nie was recht machen konnte, egal, wie ich mich auch anstrengte. Ich wollte meinem Vater imponieren, wollte, dass er mich liebt, ich tat dafür alles, aber erreichte nichts. So was motiviert nicht gerade. Irgendwie schlecht oder geringschätzig hat er mich zwar nie behandelt, aber ich bemerke genau, was an unserem Verhältnis fehlt, wenn ich ihn so total locker mit Renato rumalbern sehe.
Aus der Ferne ist manchmal das typische Mopedgeknatter hören, aber mit dem Wiederkommen, das dauert und dauert. Ich fange in der Mittagssonne heftig an zu schwitzen und werde mir erstmal einen kräftigen Schluck Mineralwasser gönnen.
Dann sitze ich unter dem großen Apfelbaum in dessen Schatten und vertreibe mir die Zeit mit Fachliteratur, die ich neben mir stapelweise aufgeschichtet habe…
Zum Glück bemerke ich rechtzeitig die knatternden Motorgeräusche und bin schnell wieder wach. Ich will meinem Vater nicht schon wieder negativ auffallen. Wenn er mich aber nun gleich schön fleißig lernend sieht, könnte ich mir direkt Pluspunkte einhandeln.
Doch meinen harten Aktivitäten widmet er nicht mal einen Blick, als er direkt vor meinen Knien zum Stehen kommt und nervös den Gasgriff betätigt. „Manuel, ich brauche deine Unterstützung. Wir bekommen nachher großen Besuch. Du kümmerst dich jetzt gleich mal um Platz für um die zwanzig Leute. Wir machen Ortsversammlung. Sorge bitte auch für ein wenig Knabbereien und hole ein paar Flaschen Wein aus dem Keller. Wasser gibt’s im ganzen Dorf nicht, aber wenigstens unser Keller ist voll Wein. Nun, wer trinkt auch schon Wasser, wenn er Wein bekommen…“ Gut gelaunt und mit Vollgas ist er blitzartig wieder verschwunden. Mein Vati, eben. Da gab es bei den Nachbarn wohl schon reichlich was zu trinken. Kein Wasser, versteht sich.
Die gestapelten Plastikstühle aus dem Schuppen geholt und um den langen massiven Holztisch verteilt, welcher zum Schutz vor der gleißenden Sonne unter einem bereits ziemlich verschlissenen Partyzelt steht, dann ist die Lokalität fertig. Nun muss ich noch saubere Gläser aus der Küche holen, schnell sind in geflochtenen Schalen serviertes Brot und einige Kekspackungen über die Tischlänge verteilt, dann kann es von mir aus losgehen.
Fertig? Ach ja, Wein fehlt noch. Das bedeutet, in den Weinkeller hinabzusteigen, dessen aus groben Felsen gemauerter Einstieg im Garten steht, verschlossen mit einer massiven hölzernen Tür. Neben dem Bauernhof hat mein Vater auch einen gut bestückten Weinkeller geerbt, der, wie ich finde, das ganze Dorf noch für mindestens hundert Jahre versorgen kann. Eine einsame Glühlampe erleuchtet den schmalen Treppengang, der ziemlich steil und tief nach unten führt, nur spärlich. Immer wieder habe ich Gesichtskontakt mit Spinngeweben. Der Ort meiner schlimmsten Träume in Kindertagen. Die Stufen haben ein eigenartiges Maß und sind abgenutzt; hier sollte man sich lieber keinen Fehltritt leisten!
Kühl ist es unten, verbunden mit einer hohen Luftfeuchtigkeit. Ein längerer Aufenthalt mit freiem Oberkörper ist definitiv nicht gesund.
Nun gilt es, aus den verstaubten Holzregalen einige Flaschen zu entnehmen. Nicht den Besten, nicht den Ältesten, dazu fehlt der passende Anlass, also immer vorne weg genommen. Den Weidenkorb mit den Flaschen will ich erstmal hinter der Eingangstür postieren, damit die angenehme Kühle länger erhalten bleibt.
Jedoch kaum haben sich meine Augen wieder an das helle Sonnenlicht gewöhnt, bekomme ich mehrstimmig die Frage zu hören, „Gibt es denn hier gar nichts zu trinken?“
Etliche Männer sitzen bereits und begrüßen mich mit Handschlag. Auch Papá sitzt mitten unter ihnen.
„Hallo Manuel. Wie geht’s? Was macht die Freundin?“
„Hallo, alle miteinander. Alles in Ordnung. Na, der geht’s in Bilbao gut. Hier ist ja nichts passendes mehr zu bekommen…“, lüge ich, damit ich vor weiteren nervigen Fragen meine Ruhe habe, richtig zuhören tut mir sowieso keiner.
Die Lautstärke der Runde nimmt proportional mit der Menge der ausgeleerten Weinflaschen zu. Auch alle heute nicht anwesenden Dorfbewohner haben so die Möglichkeit, das Gesprochene gut zu verfolgen.
Ich bin gerade dabei, den heran geschafften Nachschub zu verteilen, als mir von hinten eine Hand auf den Po klatscht.
„He, Manuela! Hat dir schon mal jemand gesagt, was du für einen geilen Arsch hast?“, fragt mich der Kerl, der neben meinen Vater sitzt, und macht mit seinen Fingern dabei obszöne Bewegungen.
Jorge. Wie kann man nur so einen ekligen Typen als Kumpel haben. ‚Geht das schon wieder los!‘, denke ich entsetzt. Dieser Art von Unterhaltung ist mir total zuwider und ich kann ihr nichts entgegensetzen. Zum einen liegt es mir nicht, in solchen primitiven Kategorien zu denken und mir fehlt die passende Schlagfertigkeit, um verbal zurückkeilen zu können. Ohne ein Wort und mit versteiftem Körper verteile ich die Flaschen.
Dem ganzen wird noch die Krone aufgesetzt, als ein anderer laut fragt, „Wo ist denn eigentlich dein Sohn?“, und mein Papá ganz ruhig antwortet, „Renato ist nach Madrid gefahren. Ferienveranstaltung.“
Schwer gedemütigt, möchte ich nur noch weg.
Zum Glück kommt meine Mutter auf den Hof gebraust, was umgehend die Meute ablenkt, so dass meine Tränen nicht weiter auffallen. Ich gehe ihr zum Auto entgegen. Von der Karosserie vor Beobachtung geschützt, folgte eine kurze Umarmung und noch ein Küsschen, dann sieht sie mich sorgenvoll über ihren Brillenrand an.
„Na, Manuel, was machst du denn wieder für ein Gesicht, war es so schlimm?“
Statt einer Antwort fließen noch mehr Tränen.
„Hm, du müsstest dich mal mit den Augen anderer Leute sehen können. Bist doch selber Schuld – was läufst du hier auch fast nackt wie ein kleines Kind rum! So ein niedlicher Schnuckel, wie du bist, bringt schon auch mal einige Männerherzen so richtig durcheinander. Und dieser großmäulige Heini, der dich immer ärgern will, soll nur nicht so dick auftragen, sonst erzähle ich zur Abwechslung mal ein paar Geschichten aus unserer Jugend. Der kriegt doch seinen Schwanz nicht hoch! … Nun, vielleicht würde das in deiner Gegenwart besser klappen, vermute ich…“
„Aber Mamá!“
„Gut jetzt. Wisch die Tränen weg und ziehe dir eins von Papá’s T-Shirts von der Leine über, damit du nicht so aufreizt. Und dann gibst du diesen Zettel heimlich deinem Vater. Zuhören musst du auch noch eine Weile, dann kannst du verschwinden.“
Das gibt von mir noch einen Schmatzer.
So schmächtig wie meine Mutter ist, mit ihren 1,73m, aber ihr Geschäft ist nun mal neben dem Ort zum Einkauf auch die Informationszentrale der Gegend, wo sie in der Lage ist, immer das Allerneueste zu erfahren und in ihre Strategien einzubauen. So gibt es wohl nichts, was ihr verborgen bleibt und was sie in irgendeiner Art und Weise aus der Ferne lenkt wie ein Puppenspieler. Und Papá kann sie nach Belieben um den Finger wickeln, vermute ich mal, mich dazu. Nie könnte jemand von ihr sagen, sie ist nur 1,73 ‚klein‘, jedoch ich bin es.
Als ich mir das viel zu große Shirt überziehe, bemerke ich den Blick von meinen Papá. Ich kann gar nicht mit Worten beschreiben, was da alles mitschwingt, wozu er in der Lage ist, nur mittels flüchtigem Blickkontakt mitzuteilen, auf jedem Falle ist darin Zustimmung, reichlich Belustigung, und, ja, Liebe. Liebe für mich!
Unter anderen Umständen und Zeiten wäre er vielleicht ein großartiger Schauspieler geworden, etwa beim Stummfilm, stelle ich mir vor. So ist er nur ein kleiner unbekannter Bauer in einem noch unbekannteren Dorf, welches nicht für würdig befunden wurde, auf Landkarten dargestellt zu werden. Aber egal, wie man glücklich wird, Hauptsache, dass man es ist.
Kaum hat Papá den Zettel, räuspert er sich und kündigt damit an, dass er etwas mitteilen möchte, „Werte Dorfgemeinschaft. Ich als ehrenamtlicher Bürgermeister habe in Vorbereitung unserer Zusammenkunft schon mal einige Punkte ausgearbeitet und schriftlich formuliert.
1. Unsere zentrale Wasserversorgung ist defekt, aber reparabel. Die Pumpe ist hinüber. Leider kann Ersatz erst am Montag beschafft und eingebaut werden. Die Ursache für den Ausfall ist die zu geringe Zuflussmenge, so dass die Pumpe trocken lief und durchbrannte.
2. Klar ist, dass wir in Zukunft eher mit weniger, als mehr Wasser aus dem Wasserhahn rechnen können.
3. Ich werde am Montag zur Kreisverwaltung fahren, um auf unser Wasserproblem aufmerksam zu machen.
4. Wir müssen uns einen großen Kopf machen, wie wir über die nächsten Jahre unseren Wasserverbrauch decken wollen. Wäre nicht schlecht, wenn ihr im Anschluss Lösungsvorschläge machen könntet.
5. Unser Vieh kann mit dem wenigen Wasser von den Tränken auf der Weide erstmal überleben, und wir werden mittels Mineralwasser über die Runden kommen. Und Wein, nicht zu vergessen.
6. Wohl bekomm’s!“
Keiner kann sich jetzt hier raushalten, es geht für uns ums Ganze! Das Gläserklingen und aufkommendes Gemurmel kündigt von den vielen Gedanken, die sich soweit konzentrieren, dass daraus endlich mitteilbare Sätze werden.
„Nun, ihr kennt alle das Geisterdorf: Da war früher ein sehr tiefer Brunnen. Schwierig in der Unterhaltung, weil die Umrandung sehr alt, porös und brüchig war, aber mit sehr gutem Wasser, kann ich mich erinnern. Auch wenn der Ort etwas zu entfernt von uns liegt und nur schwer zu erreichen ist, kann der Brunnen notfalls von Interesse sein. Überprüfen wir also dessen Zustand und ob es sich eventuell lohnt, ihn zu reparieren.“
„Und ich meine, es wäre nicht schlecht, wenn wir einen hauptamtlichen Bürgermeister hätten, der uns mehr Gewicht vor den Behörden verschaffen kann. Dazu müssten wir uns allerdings mit anderen Dörfern zusammen tun.“
„Ich finde, es ist wichtig, festzustellen, wo das Wasser, welches immer weniger aus der Leitung fließt, bleibt. Vielleicht wird zwischendurch einfach mehr entnommen, und für uns am Leitungsende ist nichts mehr übrig.“
„Ich habe gehört, dass die alten Römer hier in früheren Zeiten das Regenwasser in großen Zisternen gespeichert haben, und es damit problemlos möglich war, für das ganze Jahr die Wasserversorgung zu sichern. Von diesen Zisternen soll es sogar noch einige intakte geben, die man noch verwenden könnte. Über das System und dessen Funktionsweise sollten wir uns Gedanken machen und auch über einen Neubau.“
Alles ist gesagt. Nun kommt erstmal Schweigen auf.
Mit seinem üblichen Räuspern meldet sich mein Vater wieder zu Wort, „Manuel, du bist der Einzigste hier, der genügend Zeit aufbringen kann, um zum Geisterdorf zu fahren und nach dem Brunnen zu sehen. Nimm dir eine starke Taschenlampe mit und ein langes Seil, um den Grund überprüfen zu können. Und reichlich Trinkwasser! Geh am besten gleich ganz früh am Morgen los, um der Tageshitze zu entweichen.
So, meinetwegen kannst du jetzt gehen, denn du hast heute schon reichlich mit deinem Studium zu tun gehabt, wie ich sehen konnte.“
Prima, dass er’s bemerkt hat. Endlich kann ich auf mein Zimmer verschwinden und muss nicht mehr den langweiligen und ermüdenden Vorträgen der Dorfbewohner lauschen. Wie einige von denen schon riechen! Könnten die sich nicht wenigstens mal die mistigen Stiefel säubern.
Fenster zu, Ohrenstöpsel rein. Endlich Ruhe. Hoffentlich geht’s mit dem Studium bald weiter, hier nervt es, Tendenz zunehmend. Vielleicht jetzt TV schauen oder ein Buch lesen. Auf jeden Fall was, was ‚mit auf dem Bett liegen‘ zu tun hat, wegen der Gemütlichkeit und Entspannung.
25. August 2030, ein Sonntag in Villaabajo Verde
Leider wird mein schöner Traum unsanft beendet, als meine Mutter mich weckt. „Junge, du solltest dir nachts wenigstens eine Unterhose anziehen! Das ist doch… Entschuldigung. Beeil dich trotzdem. Frühstück ist fertig, Wegzehrung steht bereit. Und zieh das Laken ab. Und lüfte.“ Etwas verlegen wirkend und peinlich berührt, sagt sie noch, „Viel Glück. Ich geh dann wieder zu Bett.“ Ja, nicht nur peinlich…
Die persönliche Reinigung fällt bis auf das Zähneputzen unter Zuhilfenahme von Mineralwasser leider aus. Auf dem WC-Deckel steht ein Pappschild mit: ‚Nicht benutzen! Beachten Sie bitte auch unsere Freiluftangebote.‘
Auf dem Küchentisch finde ich neben zwei Flaschen Mineralwasser a 1,5l auch ein großes Stück leckeren Braten als Verpflegung für unterwegs, in einer luftdichten Dose ordentlich verpackt, und ich muss mich tüchtig bremsen, da nicht gleich reinzubeißen, was mir durch den ablenkenden Duft von frisch gebrühten Kaffee gerade noch gelingt.
Eigentlich habe ich absolut keine Lust, sonntags so früh aufzustehen, um für andere Leute lästige Aufgaben zu erledigen. Aber versagen und mich so vor der Dorfgemeinschaft und den Eltern blamieren – nein.
Mit einer abgeschnittenen Jeanshose und luftigem Hemd bekleidet, meine empfindlichen Füße durch bequeme Sportschuhe geschützt, mache ich mich auf den Weg. Ohne Mobiltelefon, weil da oben ist sowieso kein Netz.
Auf dem Hof ist es ganz still, selbst meine Eltern schlafen anscheinend noch. Einen wachenden Hund haben wir zurzeit nicht, der meine ungewöhnliche Aktivität mit Bellen kommentieren könnte, jedoch diesen Job erledigen bereits die Hunde in der Nachbarschaft, die immer mal wieder kurz anschlagen.
Der Rucksack zieht ganz schön mit seinem Gewicht an den Schultern, und so kämpfe ich mit dem Verlangen, eine von den schweren Flaschen zu entnehmen, lasse es dann aber lieber.
Die Sonne hat es noch nicht bis über den Hügel geschafft, so dass es noch leicht schummrig ist. Und in der leichten Bekleidung ist es mir eher etwas zu kühl. Jedoch nur zu gut kann ich mich an das erinnern, was mich heute noch erwarten wird: Viel Schweiß und Durst.
Irgendwie finde ich meine Unternehmung total unsinnig. Normal und logisch wäre es, mit dem Auto das öde Tal in einem weiten Bogen in Richtung Villaarriba Verde, also das Dorf, welches auf der anderen Seite des Tales liegt, zu umfahren, um dann ab dort einen viel weniger anstrengenden Pfad nutzen zu können. Nur – dort wohnen Basken, und mit denen gibt es seit langer Zeit Probleme. Welche und warum, keine Ahnung. Aber dass es so ist, haben wir schon als kleine Kinder gelernt.
Ich vermute, auf der anderen Seite ist es genauso. Die haben sogar ihre eigene Schule, damit sie ihren Sprachtraditionen nachkommen können. Die dort. Wir hier. Dazwischen das Tal des Todes, welches Gut und Böse voneinander trennt, je nach Sichtrichtung. Folglich haben nicht mal die Kinder miteinander Kontakt, denn das gehört sich angeblich nicht. Außer…
Moment, jetzt muss ich erst mal.
Um Pfunde erleichtert, setze ich meinen Weg fort. Ein Fahrrad wäre auch keine Hilfe, denn gerade leicht fährt sich das hier nicht, und zum Schieben ist das Teil nicht gebaut. Der Gedanke daran bringt eh nichts, steht ja in Bilbao.
Unser Weideland und anschließend Opas ehemaliges Weingut durchquerend, welches wir nicht mehr nutzen, gelange ich in immer höhere Regionen, was bedeutet, dass ich an den stufig angelegten Arealen des Weinberges entlang laufen muss, um über eine Verbindungstreppe an der gegenüberliegenden Seite jeweils eine Etage höher zu gelangen. Hier zu arbeiten, muss mal eine große Plackerei gewesen sein, gerade auch für Kinder. Zum Glück brauchte ich das nie.
Jetzt sind nur noch wenige von den Pflanzen des Weinberges übrig. Ohne menschliche Hilfe stehen diese gegen die sich wild ausbreitende Wildnis in einem aussichtslosen Kampf. Unzählige Insekten wuseln zwischen dem Gestrüpp herum, erzeugen ein gewaltiges Gesumme. Bunte Schmetterlinge fliegen an mir vorbei, berühren mich mit ihren Flügeln im Gesicht, als wollten sie mich begrüßen. Bestimmt wundern sie sich über den ungewohnten morgendlichen Besucher.
Irgendwie sind meine Wegkenntnisse aus Kindertagen ein wenig lädiert, aber mit den damals noch kultivierten Weinpflanzen bot sich mir auch ein ganz anderes Bild.
Dann wird es schlagartig ruhiger, was bedeutet, ich befinde mich oberhalb des Weinberges und zum Gipfel ist es nicht mehr so weit. Die Sonne zeigt bei mir erste Wirkungen, dabei bin ich doch erst 2 Stunden unterwegs.
Unter einer Feldbehausung, erbaut aus rohem Gestein, welches ohne Mörtel formschlüssig übereinander liegt, raste ich. Das Hemd vorn weit aufgeknöpft und die Wasserflasche am Hals, spüre ich das heftige Pochen meines Kreislaufes. Kaum ist mir das Wasser den Hals runter geflossen, tritt es an allen Poren meines Körpers wieder aus, mein Hemd völlig durchnässend. Man, bin ich wirklich erst neunzehn, auch tun mir die Beinmuskeln so was von weh.
Mit einem Blick versuche ich, die noch zurückzulegende Strecke bis zum Gipfel zu klären, aber das ist schwierig. Nach unten bietet sich mir aber ein bereits beeindruckendes Panorama, welches sogar mich berührt, und wenn ich von hier oben auf unser Haus drauf schaue, erscheint es mir sehr winzig, somit schwindelerregend hoch und ich ganz kurz vor oben.
Mit einem Schnaufen geht es weiter. Mein Puls hat sich beruhigt und ich fühle mich wieder fit. Vor mir nur noch blanker Felsen und mit losem Schotter bestreute Wege. Das heißt aufpassen, wo man mit dem Fuß hintritt. Nach der nächsten Kurve sehe ich, es sind nur noch wenige Meter nach oben.
Nach zwei einhalb Stunden endlich geschafft! Als wenn ich einen bedeutenden Gipfel erreicht hätte, stehe ich stolz weit oben und schaue in die Runde. Hier auf dieser Seite, in südliche Richtung geschaut, das aus meiner Perspektive winzige Heimatdorf, unten die schmale Spur des ehemaligen Baches, tief im Fels eingraviert, dahinter steigt das Gelände langsam wieder an, erlangt aber lange nicht die Höhe des Gipfels, auf dem ich stehe, bildet somit eher nur einen Hügel, hinter dem das mir unbekannte Villaarriba Verde liegt.
Um hinunter zu kommen, muss ich nicht mehr unzählige Windungen ablaufen, aber dafür geht es ziemlich steil über einen Treppenpfad hinab, dessen Stufen teils zerbröselt sind. Sollte ich hier straucheln, ist es vorbei, denn den folgenden Sturz an der steilen Felswand hinunter überlebt man nicht. Obwohl ich höllisch aufpassen muss, wie und wohin ich trete, gelange ich wegen der fehlenden Kehren und somit weit kürzeren Wegstrecke recht schnell den Hang hinunter, dessen Vegetation sich auf dieser Seite nicht so sehr von der Sonne verbrannt zeigt.
Dem gut sichtbaren Pfad folgend, durchquere ich kurz darauf das alte Bachbett. In ihm ist nicht mal mehr die Spur von Wasser sichtbar, aber deutlich mehr Vegetation im Randbereich zeigt an, da geht noch was.
Vielleicht war das hier vor hundert Jahren mal ein Ort, wo Menschen in lebendig-grüner Umgebung und in Abgeschiedenheit friedlich leben konnten. Ich habe jedoch Mühe, das Jetzige vor den Augen, mir das auch nur annähernd vorstellen zu können: Felsbrocken, Steinhaufen, kahle Flächen, Buschgruppen, sonst nichts. Moment – Steinhaufen? Die Steinhaufen lassen eine Geometrie erahnen, einer früheren menschlichen Behausung nicht unähnlich.
Zum Brunnen geht es auf dieser Seite das Tal entlang, kann ich mich erinnern. Warum Brunnen, wenn Bach – anscheinend floss er nicht regelmäßig.
Man, habe ich mich gerade erschrocken! Da umquere ich ganz friedlich eine Buschgruppe, und was sehe ich?
Richtig, einen an den Ästen knabbernden Esel! Der hebt nur kurz den Kopf und betrachtet mich ohne Interesse. Da der Esel ein Gestell auf dem Rücken trägt, ist auch sein Besitzer vielleicht nicht weit entfernt. Bestimmt einer von diesen Basken!
Fast den Atem anhaltend, natürliche Deckungen ausnutzend und sämtliche Geräusche weitestgehend vermeidend, schleiche ich mich tief gebückt durchs Gelände.
Laut, „Höh!“, rufend, springt plötzlich jemand aus dem Gebüsch.
Ich mache mir vor Angst und Schrecken fast in die Hose, als lange Zehennägel von menschlichen Füßen in meine Richtung zeigen. Als ich mit meinen Blicken über die Sandalen hinweg den Beinen hinauf folge, die aus abgeschnittenen Jeans heraus ragen, wertet mein Alarmzentrum blitzschnell aus: ‚Größer, kräftiger als ich! Unten hübsch.‘ Darüber ein blaues T-Shirt mit abgebildetem schwarzen Löwenkopf.
Dann sehe ich in das Gesicht, nein, starre unentwegt und versteinere dabei für eine Ewigkeit. Meine Lebensfunktionen geraten nun gänzlich außer Kontrolle.
Wache grau-blaue Augen aus einem hellhäutigen, mit Sommersprossen bedeckten Gesicht sehen mich spöttisch an, aus dem wohlgeformten Mund ertönt dabei ein fröhliches Lachen. Das lange rot-braune Haar, welches fast die ganze Stirn mit den fein geschwungenen Augenbrauen bedeckt, die nach außen hin ansteigen, ist an den Enden leicht eingedreht, gibt aber noch teilweise die rot angelaufenen Ohren frei. Die lange schmale Nase weitet sich unten in breite Nasenflügel auf. Lustige Lach-Grübchen an den Wangen und eine Vertiefung in der Mitte seines Kinns, welches unten mit einer geraden Linie auch auf Entschlossenheit schließen lässt, rauben mir die Sinne. Das kann nur Amor höchst persönlich sein!
„Hallo, du kleiner Süßer! Nachdem ich deine Zahnreihen lange genug überprüfen konnte und du mein Gesicht studiert hast, kannst du deinen Mund ruhig wieder schließen. Sag mal, willst du hier anwachsen, und was machst du überhaupt hier?“
„Ich w..w..will zum Brunnen“, kann ich zu meiner Überraschung entgegnen.
„Nun, dorthin will ich auch gerade. Dann komm doch einfach mit.“
Sprachlos und wie automatisch schlurfe ich hinterher. Der Schönling ist bestimmt um die 10cm größer als ich und macht einen sportlichen Eindruck, ist aber auch sehr schlank. Wie ich den so ansehe, auch seinen Hintern, schreit es laut in mir, ‚Den will ich! Jetzt, hier und gleich!‘, aber auch warnend, ‚Das geht so nicht. Das darfst du nicht.‘
Tief enttäuscht von mir und von ihm überwältigt, mache ich nicht was ich eigentlich möchte. Wenigstens atme ich noch.
Auf einmal ist da der Brunnen! Von wegen alt – ein Haufen mit Baumaterialien, darunter noch einige Betonringe, künden von der kürzlich fertig gestellten Arbeit. Die Zementreste auf dem Boden sind ziemlich frisch.
„Sag mal, du bist doch der Manuel aus Villaabajo Verde? Ich bin übrigens Fabio aus Villaarriba Verde. Nun, dämmert’s langsam bei dir?“
„Ja, bin ich. Danke für die Hilfe. Dich hätte ich beinahe nicht wieder erkannt, so wie du dich in den paar Jahren verändert hast. Man, das ist ja stark!“ Atmung da, Hirn auch; danke, ich lebe wieder.
„Komm, lasse uns erstmal ordentlich umarmen, so wie wir es früher immer im Chor getan haben. Man, wie ich mich freue!“, ruft er aufgeregt.
Und schon packt er zu, zieht mich heran und es gibt eine kräftige Umarmung. Dann schiebt er mich ein kleines Stück von sich weg und es folgt ein leichter Kuss auf meine Wange, unsere nur wenig bekleideten Körper berühren sich dabei. Allein diese sparsame Berührung löst in mir ein schweres Erdbeben aus.
„Und ich wusste nicht mal, was für ein schöner Schnuckel im Nachbardorf wohnt! Dabei bist du mir früher überhaupt nicht aufgefallen, außer damit, dass du sehr schön singen konntest. Aber ich habe schon bemerkt – heute kannst du bestimmt nicht mehr gut singen. Aber umwerfend gut aussehen tust du. Ein absoluter Sahne-Typ. Ab jetzt wirst du mich nicht mehr los, versprochen!“
Nun, dass Fabio schüchtern ist, kann man nicht behaupten. Der weiß genau, was er will und hat anscheinend keine Komplexe.
„Du siehst, wir haben den alten Brunnen überholt, was ganz schön schwierig war. Wir hätten ihn zwar noch etwas tiefer ausheben und auch die übrigen Ringe einbauen können, doch dazu fehlten uns leider ausreichend Leute. Jetzt liefert er gutes Wasser. Das kann aber nur in Intervallen von etwa einer Stunde entnommen werden und immer nur wenige Eimer. Dann ist Warten angesagt, bis wieder genug nachgelaufen ist. Für die paar Familien, die noch in unserem Dorf wohnen, ist das als Trinkwasser genug, wenn die Wasserleitung mal wieder nichts hergibt. Nur muss man schon öfter mal hin- und herlaufen, wobei man ganz schön ins Schwitzen kommt und hinterher nicht mal richtig duschen kann. Schade, dass es zwischen unseren Dörfern diese Spannungen gibt.
Du, ich muss jetzt leider los, bin heute zum Wasserdienst verdonnert. Hab’ Mist gebaut. Wir sehen uns bald wieder, ja?“
Ich helfe ihm noch, die gefüllten Plastikbehälter auf Esels Rücken zu heben, da habe ich ausnahmsweise mal Mut und gebe ihm zum Abschied einen Wangenkuss.
„Du Fabio, ich mag dich. Sehr sogar“, sag ich noch, und schon ist er mit dem Esel im Buschwerk verschwunden.
*-*-*
Durch das gerade Erlebte geistig verwirrt und somit zur Inspektion einer in Jahrtausenden perfektionierten Technik eher unfähig, umschreite ich mit fachmännischem Blick den Brunnen.
Ich überlege und überlege, wie ich meinem Vater die archaische Technik beschreiben kann, aber immer nur vom Gedanken an Fabio abgelenkt, in der Nase sogar noch seinen betörenden Duft spürend, fehlt es mir dabei an der ausführenden Sorgfalt und will einfach nicht gelingen.
‚An einem überdachten, mannshohen, hölzernen Gestell ist über einer kreisrunden, leicht abnehmbaren Deckplatte, welche den Brunnenschacht sichert, eine Holzspindel befestigt, die an der Außenseite eine Kurbel trägt, mit deren Hilfe ein auf Spindelbreite in vielen Windungen gewickeltes langes Dederonseil langsam wieder abwickelt werden kann, um mit dem Seilende, das mit einem Zylinderhaken versehen ist, an dem Amor einen Eimer befestigt hat, einen dunklen, nach oben hin verjüngenden zylindrischen Schacht entlang nach unten folgend, welcher aus zahlreichen Betonringen besteht, die mittels schräger Nut zusammengesteckt sind, am oberen Ende etwa 1m aus dem Boden ragend, endlich nach Zurücklegung vieler Meter tief unten den feuchten Grund der Anlage zu erreichen.‘ Hä? Besser packe ich’s gerade nicht.
Mangels Gefäß kann ich die Technik nicht erproben. Aber was juckt mich ein Brunnen, wenn Fabio mein Denken und Fühlen beherrscht!
Voller Hochgefühle, so aufgeregt wie nie und trunken vor Glück verlasse ich das Tal, bemerke nicht mal die Gebäude des alten Dorfes, wo ich früher mit Fabio beim Spiel zusammen traf. Erst als es für eine Besichtigung zu spät ist, weil ich bereits auf dem Gipfel stehe und das Panorama noch einmal auf mich wirken lasse, sehe ich die Ruinen und bereue diesen Umstand. Zu mindestens habe ich den Rucksack mit dem restlichen Wasser nicht vergessen, ohne würde ich gleich sterben müssen.
Es geht wieder den südlichen Abhang hinab, nun der gleißenden Sonne schutzlos ausgesetzt, die fast den Zenit erreicht hat. Nur noch weg hier. Eine Pause will ich während des Abstiegs nicht mehr machen.
Ausgelaugt und die Beinmuskeln heftig spürend, nähere ich mich langsam meinem Ziel, als mich der Oberkotzbrocken unseres Dorfes an einer Stelle des Weges erwartet, an der ausweichen unmöglich ist.
„Na, Manuela-chen, hast du Wasser im Brunnen gefunden?“, fragt er im unschicklich anzüglichen Ton.
Wie ich den hasse.
„Ja, Jorge, hab’ ich. Aber ob als Manuela-chen oder für dich doch lieber als Manuel – hier wissen alle, dass du deinen Schwanz nie hochkriegst – also töne nicht großspurig rum und verpiss dich lieber!“
Die Augen vor Entsetzen weit geöffnet, der Kiefer kraftlos nach unten gesunken, so starrt er mich sprachlos an.
Habe ich das eben so gesagt. Mit beschleunigtem Schritt schnell das Weite suchend, erreiche ich endlich das rettende Tor. Klar, das gibt ewige Eiszeit zwischen uns. 40 Grad minus. Trotzdem bin ich mit mir sehr zufrieden.
Im Haus ist außer mir keiner. Ich verspüre neben meinen schmerzenden Muskeln einen Mordshunger, könnte jetzt sogar ein ganzes Schwein in einem Stück verzerren, denke ich. ‚Schwein – Braten?‘ Mit Schwung ist die Plastikdose aus dem Rucksack gezerrt und blitzschnell geöffnet. Duftet zwar nicht mehr so lecker wie noch am Morgen, aber es schmeckt! Dann ein kräftiger Schluck zwecks Nachspülung und ich will nur noch abruhen. Kaputt und müde wie ich bin, falle ich im Nu in den Tiefschlaf.
‚Hungrig und durstig streife ich bereits seit Tagen durch die wüste Gegend, die gnadenlose Sonne ist mein Begleiter. Weit und breit kein Lebewesen, nirgends nur eine Spur von Wasser. Jetzt erstmal ein schattiges Plätzchen zum Ausruhen suchen, denke ich gerade missgestimmt, denn ich fühle mich zu keinem Schritt mehr fähig, da höre ich was.
Leise anschleichend, nähere ich mich der Ursache des Geräusches und werde eines jungen Mannes gewahr, der unter dem Blätterdach eines Gebüsches sitzt und verträumt vor sich hin summt. Sein betörender Geruch kitzelt mir die Nase.
Er hat lange rot-braune Haare, die ihm in den Nacken reichen. Sein schlanker Oberkörper ist ungeschützt, die helle Haut von zahlreichen Sommersprossen bedeckt. Die Arme um die angezogenen langen Beine geschlungen, schauen seine grau-blauen Augen mich zwar an, aber sehen mich nicht. Ein Lächeln umspielt den wohl geformten Mund.
Endlich bemerkt er die Gefahr und reißt vor Schreck die Augen auf, aber für seine Flucht ist es bereits zu spät. Ein gewaltiger Sprung, gespeist aus allerletzten Kraftreserven, dann habe ich ihn mit meinen mächtigen Reißzähnen am Hals gepackt. Ein kräftiger Biss, die Ader reißt und ein Schwall seines warmen Blutes stillt meinen Durst, die knackenden Wirbel verkündigen das Ende seines Lebens und meines Hungers. Welch eine Lust, als ich die letzten Zuckungen des sterbenden Körpers verspüre. Mit einem Streich ist die Hose zerfetzt. Endlich wieder Fleisch! Klebrig tropfender Speichel umfließt die heraus gerissenen blutigen Brocken, welche ich im hohen Tempo gierig herunter schlinge.’
„Faaabiiiooo! Hiiilfeee!“
Schwer atmend erwache ich. Der böse Traum hat meinen Kreislauf fast gen Null gebracht. Nur mit Mühe werde ich meiner Eltern gewahr, die auf Renatos Bett sitzen und mich aufmerksam betrachten. Mein Verstand ist noch vom blanken Entsetzen durchdrungen und wie gelähmt, so dass ich ihre an mich gerichteten Worte nicht gleich deuten kann.
„Manuel, Manuel, was haben wir mit dir nur für ein schweres Los gezogen. Erst läufst du immer noch nackt wie ein kleines Kind draußen zwischen den Leuten herum, dann liegst du angezogen und mit dreckigen Schuhen auf dem Laken und schreist im Albtraum nach einem Fabio. Ich glaube nicht, dass wir dich morgen in diesem Zustand nach Bilbao fahren lassen können.
Und, bitte, wer ist Fabio?“
„Bitte Mamá, werde ich hier als Sohn denn überhaupt nicht mehr ernst genommen!“
Mit ihrem Lachen als Antwort bestätigen sie mir meine Vermutung.
„Komm erst mal mit in die Küche, wo ich dir was Schönes zubereitet habe. Hinterher gibst du Papá und mir ausführlich Bericht über deinen Marsch. Dann wäre auch noch zu klären, wer Fabio ist. Hoch, jetzt!“
„Ist das lecker.“
Eines von den Hühnern musste sein Leben lassen und liegt knusprig und gebräunt auf einem großen Teller. Auch sonst hat sich Mamá mit den Speisen viel Mühe gegeben. Über die Schwierigkeiten des Abwaschs denke ich nicht weiter nach. Damit meiner Eltern Los nicht so schwer ist, bin ich gnädig und überlasse ihnen artig, was übrig ist.
„Bitte, Fabio, nun erzähl schon“, drängt Papá, als ich noch am Verspeisen des Puddings bin.
„Ziemlich positiv, kann ich zusammengefasst sagen. Der Brunnen ist von den Leuten aus Villaarriba Verde komplett erneuert worden, aber konnte nicht so tief gebaut werden, wie dafür noch Baumaterial rum liegt, weil dazu nicht genug Leute waren.
Wasser ist nur in Intervallen von etwa einer Stunde und dann immer nur wenige Eimer entnehmbar. Das reicht gerade fürs Nachbardorf als Trinkwasser, falls die zentrale Wasserversorgung nicht funktioniert.
Und Fabio ist der Junge, der heute Wasserdienst hat und mit Behältern und Esel zwischen Brunnen und Dorf hin- und hergehen muss. Mit ihm habe ich mal im Chor gesungen. Das ist alles.“
„Hört sich gut und auch weniger gut an. Und weil dieser Fabio schwer schuften muss, schreist du so laut. Voll logisch. Danke.
Hoffentlich funktioniert die Leitung bald wieder. Wenn nicht, wir werden sehen. Dann genieße man noch schön deine freie Zeit. Morgen fährst du ja leider schon wieder weg“, meint Papá mit sorgenvoller Mine.
„Ja, finde ich auch so. Ich gehe dann wieder auf mein Zimmer.“
*-*-*
‚Leider schon wieder weg‘ – lieber schon wieder weg, so ist das! Nun meiner Kleidung weitgehend entledigt, liege ich auf dem Bett. Mir geht die Bemerkung von Fabio über mich nicht aus dem Kopf, von wegen ‚ein schöner Schnuckel.’ Meint der damit mich? Das kann ich doch überprüfen, wozu habe ich sonst diesen großen Spiegel im Kleiderschrank.
Im Adamskostüm stehe ich davor und versuche mich zu betrachten, als wenn ich mich selbst neu kennen lernen müsste. Nun, ich fange mal oben an.
Da steht ein ziemlich klein gewachsener Junge mit dunklem Teint vor mir.
Der da hat lockige schwarze Haare, die sommerlich kurz geschnitten sind. Ansehen tut er mich mit ganz dunklen Augen. Sind eigentlich normal, finde ich, aber diese dicken buschigen Augenbrauen sind schon so etwas wie seine Familienmarke.
Das Gesicht bildet die Form eines auf der Spitze stehenden gleichschenkligen Dreiecks, unten abgeschlossen mit einem spitzen Kinn. Die Nase ist etwas lang und nach unten leicht überhängend, aber nicht so schlimm, dass man’s hässlich finden kann, glaube ich. Die Ohren scheinen mir ulkig geformt, die Ohrmuscheln so komisch eingedreht.
Im ganzen sehr schlank und wenig muskulös. Ich tippe mal auf Sportabstinenz. Die Beine sind aber wirklich sehr lang. Wenn der sich hinsetzt und diese anzieht, kann er sich mit den Knien bequem die Ohren zuhalten. Braucht man die so? Zum Langlauf, vermutlich. Eher ohne Belang.
Der Körper ist ziemlich glatt, also wenig behaart. Nur unten rum, wo ein nicht beschnittener langer Schwanz nach vorne zeigt, dem dies alles wohl sehr gefällt, da sprießt es kräftig. Bauchnabel gefällig? Der liegt in einer tiefen Kuhle.
Und hinten? Mit einem kleineren Spiegel, welchen ich zur Hilfe nehme, schaue ich da mal. Ein rundlicher, gut gepolsterter Hintern erfüllt nicht so die Erwartungen.
Fazit: Ich glaube, ich kann mich sehen lassen, also direkt hässlich bin ich nicht.
„Sag mal, was machst du denn da – Spieglein, Spieglein im Schrank, wer ist der Schönste im ganzen Land?“, stört Papá.
Ich will nach Bilbao! Hier ist es peinlich! Und man hat keine Ruhe. Leider sind hier Schlüssel und Schlösser überhaupt nicht üblich, weil keiner was klaut.
„Und wo ich dich mal so zusehen bekomme, gebe ich dir einen Tipp: Versuche es mit Sport! Bist trotzdem ein Schmuckstück, bist schließlich mein Sohn. … Sag mal, hast du schon jemanden außer uns vom Wasser erzählt?“, fragt Vater.
„Ja, dem Jorge habe ich’s erzählt. Der stand ja auch direkt auf dem Weg und hat danach gefragt. Warum?“
„Dann schau mal aus dem Fenster über die Wiese, wer da wohin läuft. Und ziehe dich an.“
Jorge! An dem großen Behälter auf seinem Rücken und der Wegrichtung ist sein Ziel klar erkennbar.
„Wenn Jorge auf deinen Fabio trifft, was anzunehmen ist, fängt der doch gleich an, den anzumachen. Das gibt richtig Ärger, diesmal über unser Dorf hinaus, und um Jorge kümmert sich statt mir die Polizei.
Los, komm mit! Ich muss meinen etwas missratenen Kumpel vor einer Riesendummheit schützen, du deinen Freund vor Jorge.
Aber ob Fabio nun dein Kumpel oder sonst wie was ist, oder überhaupt, darüber sprechen wir ein anderes mal. Bitte. Ich werde hier sonst noch verrückt! Deine Mutter bleibt hier, damit wenigstens einer von uns erreichbar ist.“
So hat mir mein Unterbewusstsein mit dem schlimmen Traum eine Warnung geschickt. Hätte ich sie doch verstanden! Aber vor unbequemen Erklärungen habe ich vorerst meine Ruhe.
Wenigstens kann ich meine Mutter über Fabio ausquetschen. Sie ist nun mal die Person, welche mit den Leuten aus dem Nachbardorf im Laden sehr oft Kontakt hat. Jedoch vom Brunnen hat man ihr nichts erzählt.
Ich habe ja nicht mal eine kleine Ahnung, wie ich Fabio erreichen kann, da wir den dafür erforderlichen Informationsaustausch leider vergessen haben.
*-*-*
Trotz meines Muskelkaters versuche ich mit meinem Vater Schritt zuhalten, was mir nach den heutigen Strapazen nur mit hohen Anstrengungen gelingt. Wir sind Jorge dicht auf den Fersen, der aber bereits außer Rufweite ist. Der Verfolgte ist ein kräftiger Mann, an körperliche Anstrengungen gewöhnt. Es gelingt uns nicht, den Abstand entscheidend zu verringern.
Zwischendurch versucht mein Vater immer wieder, mich von den Qualitäten seines Kumpels zu überzeugen. Dass der eben Fehler hat, wie jeder andere Mensch auch. Und was für ein toller Bauer er doch ist und immer hilfsbereit in der Not. Raue Schale, weicher Kern. Ich soll den ganzen Menschen sehen, ihn nicht wegen einiger Fehler verdammen.
Mir fällt dabei ein, was ich dachte, als ich hinter Fabio herging: ‚Den will ich! Jetzt, hier und gleich!‘ – ist das nicht in der gleichen Schiene? Aber wo ich meine unschicklichen Hintergedanken als Scherz empfinde und diesbezüglich meist die Kontrolle über mein Handeln habe, gelingt Jorge das nicht.
Trotz der Mühen, mich von seines Freundes Qualitäten zu überzeugen, sind meine Sympathiewerte für ihn nicht messbar.
In einem Ruck gelangen wir auf dem Gipfel, dabei die Landschaft mit keinem Blick würdigend. Ich hätte nicht geglaubt, dass ich heute noch zu dieser Kletterei in der Lage wäre. Mein Vater treibt mich ordentlich an, aber mehr noch die Sorge um Fabio. Das schmerzende Ziehen in den Beinen muss ich komplett ignorieren. Aber der Verfolgte ist unsichtbar.
Ohne eine kleine Pause kann ich nun nicht mehr weiter, außer mein Vater trägt mich. Heftig durchatmend und vom Wasser schluckweise trinkend, versuche ich mich schnell zu erholen, wobei mir mein Vater in Nichts nachsteht.
Doch schon stürmen wir fast den schmalen Steig hinunter, uns an gefährlichen Stellen gegenseitig Hilfe gebend. Als wir dann unten angelangt sind, registriere ich heftige Schmerzen an Körperstellen, die ich so noch nie in meinem Leben fühlen konnte. Die Kniegelenke wollen nicht mehr mitspielen und meine Beinmuskeln fangen an zu verkrampfen. Jedoch folge ich dem Hinweis meines Vaters, jetzt lieber nicht zu pausieren, sondern etwas ruhiger weiterzugehen, damit die Verkrampfung sich lösen kann.
War da nicht ein Hilfeschrei! Derartig alarmiert, renne ich ungeachtet meiner Blessuren den Weg entlang. „Bitte, lass mich doch endlich in Ruhe!“, höre ich nun deutlich Fabios Stimme.
Als ich um die Gebüsche herum bin, sehe ich in einiger Entfernung beide rennen. Vorne weg Fabio, dahinter Jorge. Jorge ist etwas schneller und wird Fabio gleich eingeholt haben, als der sich schnell bückt und anfängt, mit den zahlreich umher liegenden Steinen zu werfen, was Jorge umgehend zum Halt zwingt. „Nun, lauf doch nicht weg, mein Junge. Ich will mich doch nur ein wenig mit dir unterhalten.“ Als aber der Steinhagel nicht nachlässt, nimmt auch Jorge einen Stein und zielt kurz, bevor er den Stein mit großer Wucht wegschleudert. Wenig später fällt Fabio, wie vom Blitz getroffen.
Papá überschlägt die Stimme, als er schreit, „Höre auf, Jorge! Schluss jetzt! Es reicht! Besinne dich endlich!“
Ich renne, so schnell ich überhaupt noch kann, um Fabio zu helfen, von Jorge keine Notiz nehmend, als auch ich von einem Stein getroffen werde. Von hinten, von Jorge! Mir wird leicht schwindelig und die schnelle Vorwärtsbewegung aus dem Lauf geht in eine ungebremste Abwärtsbewegung über. „Aua!“
Ich falle mit meinem Körper auf den Weg und die herumliegenden Steine bohren sich mir durch das Shirt schmerzhaft in die Rippen. Die Handflächen, welche den Fall hätten abstützen können, klatschen mit Schwung auf den Weg. Mir bleibt die Luft weg und ich glaube zu ersticken, als mich ein wahnsinniger Schmerz durchfährt. Dann wird es dunkel vor den Augen.
*-*-*
„Ich bringe dich um, du geile Sau, aber vorher reiß ich dir die Eier ab, wenn du dich noch einmal in die Nähe von fremden Jungs wagst! Sehe zu, wie du das mit deren Müttern geklärt bekommst, jedenfalls ich beschütze dich nicht mehr“, höre ich meinen Vater zornig rufen.
„Eigentlich sollten sie dich doch ruhig wegsperren und den Schlüssel deiner Zelle wegwerfen, nur wer wird dann deine Familie ernähren. Was wird nur dein eigener Sohn jetzt von dir denken – hast du da schon mal drüber nachgedacht! Nun müssen wir aber erstmal beide zusammen zusehen, wie wir die Jungs heil nachhause bekommen. Ich alleine schaffe das nicht.“
Der Schwindel war kurz, aber heftig. Ich sitze an einer Hauswand gelehnt und blinzele meinem Vater ins Gesicht, der mit besorgtem Gesicht meine Wunden untersucht und mittels Wasser zu säubern versucht. Neben mir werde ich Fabio gewahr.
„Bleib ruhig sitzen, Manuel, es ist alles gut. Du hast zum Glück nicht viel abbekommen. Dein Sturz sah schlimmer aus, als er wirklich war. Aber dein Fabio scheint mir mehr verletzt zu sein, denn der rührt sich immer noch nicht.“
Mit Schrecken werde ich gewahr, dass ein Jorge als Krankenpfleger ganz in der Nähe ist. Sein sonst so gemeines Gesicht zeigt aber an, dass von ihm zurzeit keine Gefahr ausgeht. Vorsichtig versorgt er die Wunde an Fabios Kopf, benetzt dessen Gesicht immer mal wieder mit der Wasserflasche. Fabio atmet zwar, zeigt aber sonst keine Reaktionen.
„Wir müssen die Jungs aus der Sonne schaffen. Zuerst den schwerer Verletzten“, drängt Papá.
„Ich glaube, es ist besser, wir schaffen den hier unverzüglich in sein Dorf. Vielleicht braucht er einen Arzt. Und deinen Sohn nehmen wir am Besten auch gleich mit. Was für eine Blamage, wir bringen denen ihren durch mich verletzten Jungen.
Aber egal, was mit mir wird, den Jungs darf nichts weiter passieren. Ich habe nicht daran gedacht, dass ich hier unten überhaupt jemanden treffen könnte. Und ich wollte wirklich nur wegen des Brunnens mit dem Jungen reden, aber ich konnte mal wieder meine dummen Bemerkungen nicht unterdrücken. Und Manuel habe ich wirklich nur aus Versehen getroffen. Der lief mir auf einmal so schnell in die Wurfrichtung.“
„Und hättest dafür den anderen Jungen getroffen!“
„Ja, werfen kann ich, aber der hat ja auch damit angefangen. … Du, ich kann nicht ins Gefängnis. Meine Frau – vielleicht hast du’s ja schon bemerkt. Ich hole den Esel ran und da setzen wir die Jungs rauf. Oder kann Manuel vielleicht alleine laufen?“
Schon kümmert sich Jorge um den Esel und ich kann wieder sprechen, „Ich versuche jetzt mal, langsam aufzustehen.“ Der Kopf hat wenig abbekommen, so glaube ich, da oben ist nicht mal eine Stelle zu fühlen. Ganz langsam, ja, es geht, aber ich glaube, ich schaffe heute keinen einzigen Schritt mehr.
Mein Papá schaut mich prüfend an und legt fest, „Jorge geht mit dem Jungen voraus, nicht dass der noch vom Esel fällt. Nur durch das Tal musst du alleine laufen, denn das ist nur ein Eselchen, was uns zur Verfügung steht, und viel zu schwach, um zwei Jungs in eurem Alter zu tragen. Keine Sorge, ich helfe dir.“
Jorge stützt Fabio, indem er sich dicht neben dem Esel hält. ‚Nun hat er die Nähe, die er so sehr wollte‘, denke ich dabei schadenfroh, aber nur auf ihn bezogen. Mein Vater läuft dicht neben mir, wenn es der Weg erlaubt.
Mit mühevollen Schritten verlassen wir das Tal wie nach einer verlorenen Schlacht. Ein einfach zu begehender Pfad führt uns langsam aus dem Tal des Todes. Zum Glück diesmal nur ein Tal der Verletzten, aber wieder hatte alles mit Wasser zu tun.
In der hinter dem Hügel folgenden Ebene ist schon deutlich Fabios Dorf erkennbar, dessen Häuser hier viel enger beieinander stehen als zuhause. Mit gesunden Beinen eigentlich ein Katzensprung, finde ich. Eine Schande, dass wir so verfeindet sind. Was das nun wohl wird, hoffentlich nicht eine neue schlimme Auseinandersetzung…
Der Esel geht schnurstracks in Richtung seines Stalls, so dass wir, ohne im Dorf bemerkt worden zu sein, bei Fabio zuhause angekommen sind. Das Grundstück macht einen gepflegten Eindruck. „Scheiße“, ist das erste, was wir nun von ihm zu hören bekommen. Auch wenn dieses hässliche Wort die Situation sehr gut kennzeichnet und ich viel lieber ein netteres Wort von ihm zuhören bekommen hätte, freue ich mich darüber, dass er wieder reagiert und sein Kopf die Lage klar erkennen kann.
„Helft mir noch ins Haus“, bittet er, als eine Frau, offenbar seine Mutter, die Haustür aufreißt. So, wie es aussieht, ist sie nur mit einer roten Küchenschürze bekleidet. Feindselig und unfreundlich mustert sie uns. „Da ist das Miststück von Sohn ja endlich!“ Ihn heftig am Arm packend und hinterher zerrend, dreht sie sich um und verschwindet im Haus. Fabio schafft es noch, mit mir kurz Augenkontakt aufzunehmen. Dann ist er weg.
Wir stehen nur kopfschüttelnd da, sind vorerst sprach- und ratlos. Ich mache mir große Sorgen.
„Die Frau hat doch einen Knall“, meint Jorge, „irgend so einen Psycho-Kram, habe ich gehört.“
„Das musst du auch gerade sagen. Aber irgendwie müssen wir jetzt nachhause kommen. Hat einer ein Telefon dabei? Natürlich nicht. Gut, ich werde dann mal danach fragen gehen. Ihr wartet auf der Straße solange auf mich. Und Jorge…“, wirft er einen warnenden Blick in seine Richtung.
„Eins noch, Manuel, dann bin ich still: Ich stehe eigentlich auf Frauen, das ist sonnenklar, aber wohl auch ein wenig auf euch Jungs. Aber mehr als dummes Gequatsche hast du oder andere von mir nicht zu befürchten gehabt, auch wenn ich vielleicht einen anderen Eindruck erzeugt habe. Ich hätte das schon viel früher mal sagen müssen. Und noch was: Ich habe dich mit Absicht mit dem Stein getroffen, weil ich wegen deiner Bemerkung noch wütend war. Ich habe es aber sofort bereut.
Das ist heute alles ganz furchtbar nach hinten losgegangen und wird mir nun für alle Zeit eine Lehre sein. Entschuldige bitte, ja?“
„Halt die Schnauze, Jorge!“ Ehrlich ist er, dass muss man schon sagen. Ein ehrliches, unausstehliches Arschloch.
*-*-*
Nach viel zu langer Zeit kommt Papá endlich zurück, begleitet von einem Mann seines Alters und einen großen Wasserbehälter tragend. „Dann los, Leute. Ich fahre euch mit meinem Firmenwagen schnell nachhause.“
Der Kleintransporter bietet genug Platz, so dass ich meine Beine schön ausstrecken kann.
„Manuel, du fährst morgen noch nicht nach Bilbao, sondern ruhst dich erstmal tüchtig aus. Das ist eine strikte Anweisung deiner Mutter, die keine Widerrede duldet! Und ich fahre anschließend mit deiner Mutter noch mal hierher zurück, um einige wichtige Dinge zu bereden. Es geht dabei hauptsächlich um deinen Freund, denn der muss erstmal ordentlich medizinisch untersucht werden und braucht anständige Pflege. Seine Mutter ist dazu leider nicht in der Lage, eher deine. Wenn es sein muss, bringen wir diese kranke Frau auch in die Klapse. Nachdem, was ich hier gerade alles von unserem freundlichen Fahrer über sie hören konnte, wäre das eigentlich das Beste, aber dem müsste Fabio zustimmen. Einen zuständigen Vater oder andere Geschwister und Verwandte hat er leider nicht.“
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Das Wasser aus dem Behälter dient meiner anschließenden Reinigung. Ich nehme ein Marinestandbad, wie mein Vater diese Art zu baden gern bezeichnet. Man stellt sich in eine große Wasserschüssel mit warmem Wasser, hat Seife und einen Waschlappen dabei. Das reicht. Geht wirklich prima und tut gut. Dann nur noch schlafen, schlafen, schlafen! Und das klappt im Nu.
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Lautes Gehupe weckt mich mitten in der Nacht. Das helle Scheinwerferlicht mindestens zweier Fahrzeuge lässt meine Augen schmerzen, als ich dem ungewöhnlichen Treiben auf dem Grund gehen will und neugierig aus dem Fenster sehe.
Auf dem Hof steht außer dem Kleintransporter, aus dem meine Eltern aussteigen und nun in Richtung Hauseingang gehen, auch ein Krankenwagen. Zwei Krankenpfleger öffnen die Rückseite des Fahrzeugs, entnehmen ihr vorsichtig eine Trage, auf der eine Person liegt, und folgen meinen Eltern ins Haus. Am Fußende der Trage steht auch eine große Reisetasche.
„Hallo Manuel. Fabio wird die nächsten Tage bei uns bleiben müssen. Hast ja gesehen, was bei ihm zuhause los ist. Da dein Bruder noch ein paar Tage abwesend ist, darf er solange dessen Bett benutzen.
Er hat eine starke Spritze gegen Schmerzen bekommen und wird damit noch bis gegen Mittag entspannt schlafen können. Zum Glück ist er nicht schwer verletzt. Wir gehen einfach davon aus, dass du nichts dagegen hast, ansonsten müssten wir Zwang ausüben.“
Mit geübtem Griff wird Fabio aufs Bett bugsiert. „Mehr bekommst du beizeiten von deiner Mutter zu hören. Und nun schlaft jetzt, Söhne.“