Das Boycamp III – Teil 9

Kein Wasser im Camp – somit lernt Nico den Wasserpeicher auf dem Berg kennen. Dort scheint alles in Ordnung, es muss an der Leitung liegen. Aber im Wald mitten in der Nacht ereignet sich ein Zwischenfall, an den nicht nur Nico lange denken wird.
In ihrer Freizeit fallen den Jungs auch Dinge ein, die Nico nicht für möglich gehalten hätte. Mehr aus Zufall wird er Zeuge einer solchen Einlage…

Das war etwas, womit Nico nichts anfangen konnte. Er erinnerte sich wohl an jenen Wasserspeicher und die Pumpstation, die Michael erwähnt hatte. Die waren doch oben und hatten die Pumpe kontrolliert? Demnach konnte es daran nicht liegen, da das Gefälle für den Druck in den Leitungen sorgen würde. Das einzige, was noch Schuld haben konnte: es gab schlicht gar kein Wasser mehr da oben.
»Okay, ich kümmere mich drum. Ihr müsst halt den Schaum so wegkriegen.« Ein gewisses Grinsen konnte sich Nico jetzt nicht verkneifen. Dennoch, die Ursache musste gefunden werden, und zwar schnell. Schließlich benötigte Felix auch Wasser zum kochen.

Sein erster Weg war zum Bereitschaftszimmer, Rainer sollte eigentlich schon hier sein. Leise klopfte er an die Tür, worauf spontan ein „Herein“ zu hören war.

Bode lag auf dem Bett und las in einem Buch. »Hi Nico. Was gibt’s?«

»Es ist kein Wasser da.«

Bodes Augen wurden groß. »Wie, kein Wasser?«

Nico lachte. »Genau so hab ich auch reagiert. Keine Ahnung was da los ist, die Jungs haben mich drauf aufmerksam gemacht. Woran kann denn das liegen?«

Der Betreuer sprang auf. Auch er war nur mit einer Short bekleidet, nun zog er sich ein T-Shirt über und schlüpfte in seine Sandalen. »Es kann ja nur am Speicher oder an der Leitung liegen. Wobei letzteres eigentlich nicht so in Frage kommt. Aber wie auch immer, lass uns mal nachsehen.«

Nico zog sich ebenfalls ein Shirt über und folgte zusammen mit Rick Rainer Bode hinaus und hinter das Gebäude.
Sie gingen ein Stück auf den Wald zu, dann bog Bode plötzlich nach rechts ab und kniete sich nieder.
»Hier, den Deckel müssen wir aufmachen. Da drunter ist ein Absperrschieber.«

Nico kniete sich neben ihn. »Meinst du, jemand könnte.. da herumgeschraubt haben?«

Bode zog die Schultern hoch und leuchtete auf den Deckel. »Hier, halt mal die Lampe.«

Leichter als zu erwarten war, ließ sich der Deckel aufklappen. Rasch suchten Spinnen und Tausendfüssler im Schein der Lampe das Weite. Bode drehte an dem Absperrrad in der Grube. »Der Schieber ist jedenfalls offen.«

»Und nun?«

»Hilft nichts, wir müssen hoch zur Zisterne.«

Sie gingen zurück, bestiegen Bodes Auto und fuhren auf den Weg, der hinter dem Camp entlang führte.
An der Schranke sprang Nico aus dem Wagen und öffnete das Schloss. Sie ließen sie nach dem passieren offen und Bode steuerte den Wagen über den holprigen Waldweg. Geisterhaft tanzten die Scheinwerfer und leuchteten die Büsche und Baumstämme ab.

»Das hat immer irgendwie was gespenstisches, findest du nicht auch?«

Bode lachte. »Wenn man ein bisschen Fantasie hat, schon.«

Allmählich wurde die Gegend für Nico unbekannt. Der Weg begann nun anzusteigen und wurde besser befahrbar. Nico kurbelte das Fenster auf seiner Seite herunter und ließ sich vom kühlen Fahrtwind umwedeln.

»Das letzte Drittel ist sogar asphaltiert«, bemerkte Bode nach einer Weile Fahrt, »da war es damals so schlecht, dass die Baumaschinen nicht weiterkamen. Aber nächstes Jahr will die Stadt den ganzen Weg ausbauen, denn diesen benutzen auch die Leute vom Mobilfunk, wenn sie die Antenne auf dem Steinbruch warten müssen.«

»War schon mal was kaputt, an der Wasserzufuhr mein ich?«

»Bis jetzt noch nicht. Kann natürlich sein, dass die Pumpe auch kein Wasser mehr fördert, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich.«

Auf dem asphaltierten Abschnitt kamen sie dann zügig voran. Ein ganzes Stück der Straße war nun kerzengerade und weit oben, wo die nächste Kurve kam, flohen zwei Rehe in den Wald.

»Weiß man eigentlich schon Näheres über den Wilderer?«, wollte Nico bei ihrem Anblick wissen.

»Bislang hat sich Angelmann noch nicht gemeldet. Ich denke, es ist auch verdammt schwierig den zu fassen. Der Wald hier ist wirklich riesig, aber das weißt du ja. Meistens gehen die Typen entweder durch Schludrigkeit oder per Zufall ins Netz.«

Am Ende der Rechtskurve wurde ein größerer Platz sichtbar und hier endete dann auch die ausgebaute Straße. Bode fuhr bis dicht an ein flaches Gebäude heran, stellte den Motor ab und nahm seine Stablampe.
Nico folgte ihm zu dem aus rotem Sandstein bestehenden Gebäude.

»Das Bauwerk ist von 1896, damals schon haben die hier eine Zisterne betrieben. Sie wurde stillgelegt, als die Ortschaft unten ans Wassernetz angeschlossen wurde. Das Ding wurde in den Kriegen verschont, wahrscheinlich weil es durch den Wald gut getarnt war und zudem ist es solide gebaut. Viel Aufwand, den Brunnen wieder herzurichten war’s deshalb nicht. Sogar die Leitungen waren oder sind noch einwandfrei. Nur das Pumpwerk ist natürlich neu.«

Bode öffnete das Vorhängeschloss an einer schweren Eisentür. Mit einem weithin hörbaren Knacken und quietschen zog er sie auf, tastete sich an der Wand entlang bis er den Schalter fand und knipste das Licht an. Statt der zu erwarteten grellen Leuchtstoffröhren erhellte aber nur eine gewöhnliche Glühlampe spärlich den Raum. Das Licht genügte jedoch, um sich darin umsehen zu können. Er war nicht größer als 10 Quadratmeter, in der Mitte stand auf einem Sockel die Pumpe.

»Besonders Leistungsstark ist sie nicht«, erklärte Bode, »aber die Fördermenge muss ja nicht immens hoch sein.« Er öffnete seitlich am Sockel die Klappe eines Schaltkastens. »Die Betriebslampe leuchtet grün, eine Störung scheint es nicht zu sein.« Er drückte einen grünen Knopf und mit einem unerwartet leisen Geräusch lief die Pumpe an. Bode leuchtete auf ein uraltes Manometer, auf den er in üblicher Manier mit dem Zeigefinger klopfte. »Hm, Druck ist da, 5 Bar befördert sie. Also an der liegt es nicht.« Danach schaltete er die Pumpe wieder ab und leuchtete an die Wand neben dem Eingang. An einem urtümlichen Anzeigegerät, das durchaus noch aus der Entstehungszeit der Anlage stammen konnte, war der Wasserstand der Zisterne abzulesen. Ein Zeiger auf einer senkrechten, weißen Skala zeigte auf 10 Meter. Bei der 2-Meter-Markierung befand sich augenscheinlich ein Kontakt.
Bode deutete darauf. »Hier schaltet sich die Pumpe ein, aber im Moment ist genug Wasser drin. Also hier ist alles in Ordnung.«

»Und was jetzt?«

Bode zog seine Zigarettenschachtel aus der Tasche und hielt sie Nico hin. Sie setzten sich rauchend auf einen Mauervorsprung in dem Pumpraum. »Keine Ahnung. Es müsste an der Leitung liegen, aber ich kann mir das eigentlich nicht vorstellen. Von außen können wir da auch nicht viel machen, die Leitungen liegen ja unterirdisch.«
Während sie rauchten, grübelte Rainer Bode angestrengt nach. »Es gibt vielleicht eine letzte Möglichkeit.. auf halber Strecke liegt noch ein Absperrschieber, falls es dazwischen eine Reparatur geben sollte. Aber frag mich jetzt nicht, wo der ist.«

»Gibt’s keinen Bauplan oder sowas?«

»Doch, aber in Steins Büro. Na gut, komm, wir sehen mal nach.«

Bode schloss die Tür, dann ging er ein Stück an dem Gebäude entlang, das an den Seiten mit Erde aufgefüllt war. »Komm, ich möchte nur noch mal kurz ein Blick da drauf werfen.«

Nico folgte ihm und auf der linken Seite krabbelten sie an der Aufschüttung auf das Gebäude. Der Betreuer leuchtete den Boden ab, der mit niedrigem Gras und kleinen Büschen bewachsen war.

»Kein Wunder dass die das Ding im Krieg nicht gefunden haben«, stellte Nico beim Anblick des Daches fest.

»Hier.« Bode leuchtete auf einen eisernen Deckel. Er hatte einen Durchmesser von fast vier Metern. »Da drunter ist die Zisterne. Früher haben die bei Regen den Deckel aufgemacht. Aber das muss man ja jetzt nicht mehr.«

»Ach Gott, wie viel Leute mussten denn da immer ran? Das Dinge wiegt doch garantiert ein paar Tonnen.«

Bode lachte. »Tonnen nicht grade, aber hier, sieh mal.« Er leuchtete an einem Seil entlang, das zunächst auf dem Boden entlang führte, dann über eine Rolle um 45 Grad anstieg und an einer Winde mit Handkurbel endete. »Ein Mann hat da gereicht.«

»Und.. das funktioniert noch?«

»Jep, wir achten immer drauf dass es leichtgängig bleibt. Alle zwei Jahre ist Inspektion des Schachtes fällig, deswegen.«

Später standen sie in Steins Büro und suchten die Pläne der Wasserleitung.
Nico sah auf die Uhr und gähnte, obwohl er es unterdrücken wollte. Mittlerweile war es Mitternacht und die Jungs würden bestimmt in tiefem, seligen Schlaf stecken, wogegen er sich erneut eine Nacht um die Ohren schlagen musste. Was war es doch so viel einfacher, Teilnehmer und nicht Betreuer zu sein.. Aber das Wasser war wichtig, daran gab es nichts zu deuteln.

»Hier, ich hab sie«, reif Bode nach nur fünf Minuten. »Falk ist doch ein ordentlicher Mensch.«

»Und wenn es dieser Schieber auch nicht ist?«, wollte Nico wissen.

»Dann können wir nichts mehr machen. Dann wird es Sache der Stadt, den Fehler zu finden.«

Bode breitete den Plan auf dem Schreibtisch aus und lange musste er die Stelle nicht suchen. Er deutete mit dem Finger auf einen Punkt in dem Plan. »Hier ist der Schieber. Genau auf halbem Weg.«

Nico fragte nicht, ihm war klar dass sie da jetzt noch raus fahren mussten. Sein Blick fiel auf Rick, der neben ihnen saß und scheinbar jedes Wort belauschte. »Wenigstens ist es nicht heiß, was Rick?«
Der Husky schwänzelte freudig.

Bode zeigte erneut mit dem Finger auf die Karte. »Hier hat man an einem Baum eine Markierung angebracht. Da müssen wir drauf achten, links geht’s dann zu dem Schacht.« Bode musterte Nico ausgiebig. »Soll ich alleine fahren? Es macht mir nichts aus.«

Nico winkte ab. »Quatsch, ich komm mit. Ewig kann das ja nicht mehr dauern.«

»Okay, dann lass uns fahren.«

Bode orientierte sich an seinem Kilometerzähler, denn wie alle guten Pläne waren die Entfernungen der Leitung mit Metern angegeben.
Nach reden war Nico nicht zumute, allmählich musste er doch stärker gegen seine Müdigkeit ankämpfen. Aber schließlich war er in wichtiger Mission unterwegs, die Jungs würden es ihm zumindest in Teilen anrechnen. Nichts war schlimmer als kein Wasser, noch dazu bei dieser Tageshitze.

»So, hier muss es irgendwo sein«, sagte Bode schließlich und fuhr nur noch Schritttempo.

Nico leuchtete mit seiner Stablampe den linken Waldrand ab, was teilweise deshalb schwierig war, weil der Weg in diesem Bereich praktisch die Büsche am Rand schon berührte. Dann tauchte im Schein der Lampe die Markierung auf. Ein roter Balken, darüber wies ein weißer Pfeil in einen Waldweg hinein.

Bode sah die Markierung ebenfalls und hielt den Wagen an. »Okay, das Auto lassen wir hier stehen, ich hab keinen Bock, rückwärts da rauszufahren. Laut Plan sind es zum Schacht ungefähr 50 Meter. Verfehlen dürften wir ihn nicht.«

Sie stiegen aus und Rick schien den Weg zu wissen, den sie einschlagen mussten. Er ging den beiden voraus, blieb nach einigen Metern jedoch plötzlich stehen und sicherte nach vorn. Sein Knurren war fast nicht zu hören, aber Bode und Nico blieben auf der Stelle stehen.

»Was hat er?«

Bode zog die Schultern hoch. »Mach deine Lampe aus«, flüsterte er und Sekunden später standen die drei in der tiefschwarzen Nacht des Waldes.
Angestrengt lauschten sie. Aber nur weit entfernt war ein Waldkauz zu hören, sonst herrschte eine Stille, in der man das Rauschen in den Ohren hören konnte. Ab und an raschelte es dann im Laub, was auf Mäuse oder anderes niederes Getier schließen ließ. Die beiden Männer wussten, dass Rick nicht deshalb stehen geblieben war.

Nico neigte sich ganz nah an Bodes Gesicht. »Da stimmt doch was nicht..«

Bode nickte nur. »Wir warten.«

Rick setzte sich jetzt und starrte unvermindert den Weg entlang. Immer wieder knurrte er leise und es gab nun keinen Zweifel, dass er irgendetwas gewittert hatte. Dabei wussten die beiden, dass Hunde Dinge hören und riechen konnten, die Kilometerweit weg ihren Ursprung hatten. So sehr die beiden auch lauschten, es war nichts Ungewöhnliches zu hören.

»Bis es hell wird können wir aber nicht bleiben«, flüsterte Bode schließlich. »Komm, lass uns mal vorgehen.«

Rick stand im selben Moment auf und setzte sich langsam in Bewegung. An seinem ganzen Verhalten war jedoch zu merken, dass das, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte, noch immer existieren musste. Langsam kam der kleine Trupp voran, wobei sich die beiden Männer im Dunkeln orientierten.

»Wie weit ist es noch?« Nico sprach so leise wie es ging.

»Zwanzig, dreißig Meter.. keine Ahnung.«

Nun blieb Rick erneut stehen. Seine Ohren waren weiter nach vorn gerichtet und das Knurren ließ nicht nach, schien dann sogar um eine Stufe lauter zu werden.
Nun wurde den beiden Männern doch etwas mulmig. Wegen eines Tieres würde Rick wahrscheinlich gar kein Aufheben machen, solche Dinge waren schließlich schon Gewohnheit für ihn.
Dann zerriss ein dumpfer Knall die Stille. Der Husky zuckte kurz zusammen, während die beiden Männer starr vor Schreck den hundertfachen Widerhall des Schusses vernahmen.

»Scheiße«, sagte Bode, der wie Nico im Augenblick zu keiner Handlung fähig war.

»Das waren doch.. keine hundert Meter..«, flüsterte Nico mit zittriger Stimme. Er sah nicht, dass Bode nickte, hörte aber wohl dessen verkrampftes Schlucken. »Und jetzt?«

So lange sie im absoluten Dunkel standen, waren sie wenigstens nicht in unmittelbarer Gefahr.

»Abwarten..«, flüsterte Bode und ging in die Hocke, was ihm Nico sofort nachmachte.

Rick sicherte noch immer knurrend in die Richtung und vermittelte den beiden Männern eine gewisse Sicherheit. Ihre Augen schmerzten fast durch das angestrengte absuchen, aber wenn man hier überhaupt etwas sehen konnte, dann einen möglichen Lichtschein. Ein Mensch, der sich sehr leise fortbewegt, könnte in zehn Metern an ihnen vorbei ohne gesehen zu werden. Aber Rick entging nichts, wahrscheinlich konnte er sogar die Schritte hören, die ohne Zweifel dort drüben im Unsichtbaren genommen wurden.

»Ich würd mir jetzt glatt wünschen, Rick wäre ein richtiger Kampfhund.« Bodes Wunsch passte nicht ganz in die Szene, aber völlig sinnlos war er nicht.

In der Dunkelheit sahen sie nicht, wie sich Ricks Nackenfell fast senkrecht sträubte und hätten sie den Hund angefasst, wäre er ihnen wie aus Stein gehauen vorgekommen, so sehr war das Tier angespannt. Dann, ohne Vorwarnung, stürmte der Husky plötzlich laut bellend los und wurde in Sekunden von der Dunkelheit verschluckt.

»Rick!«, rief Bode und stand auf, »zurück!«

Auch Nico rief nach dem Hund, aber der reagierte nicht. Sein Bellen wurde leiser und dann wurde es lauter, weiter vorne im Unterholz.

Bode schaltete seine Lampe an, Nico folgte dem Beispiel und sie richteten die starken Lichtstrahlen nach vorn. Rick war nicht zu sehen, stattdessen hörten sie ein wildes Durcheinander von knurren und bellen. Laub raschelte und die Geräusche vermittelten etwas Bösartiges. Ab und zu war ein aufheulen zu hören, so wie es verletzte Hunde von sich geben.
Rainer Bode zögerte nicht mehr länger und rannte nach vorn. Nico folgte ihm dicht dahinter, während er immer wieder Ricks Namen rief.
Die Kampfgeräusche kamen schnell näher und es schien festzustehen, dass es zwei Hunde waren, die sich dort anscheinend bekämpften. Immer wieder war ein Jaulen dazwischen zu hören und plötzlich eine Männerstimme.

»Hau ab, du Mistvieh! Verschwinde.«

Bode wurde immer schneller, musste sich aber an den Geräuschen orientieren, da noch immer nichts zu sehen war.
Dann kam die Szene in seinen Lichtkegel. Ein Hund, dessen Rasse auf Anhieb nicht zu erkennen war, wirbelte mit Rick auf dem Boden herum. Einen Moment blieb Bode stehen, da er die Situation nicht überblicken konnte. Eingreifen konnte böse Folgen haben, aber in diesen Sekunden wurde ihm gewahr, dass Rick nicht mehr der war, wie er ihn kannte. Sein Umfang schien auf das doppelte angewachsen zu sein, ab und zu blitzen seine rotgefärbten Fänge im Lichtschein auf. Der andere Hund wollte sich offenbar nur verteidigen, richtig anzugreifen schien er nicht.

»Rick, komm zurück. Aus«, rief Bode und hörte im selben Augenblick wieder diese Männerstimme.

»Scheiße. Lukas, komm, aus.«, rief der Mann, den Bode jetzt mit seiner Lampe anleuchtete. Er steckte vollständig in grünen Jagdklamotten, das Gesicht durch schwarze Färbung unkenntlich gemacht. In seinen Augen standen sowohl Überraschung als auch Furcht geschrieben. Unter dem Arm trug er ein Gewehr mit einem Nachtsichtzielfernrohr und Schalldämpfer, vor sich auf dem Waldboden lag ein totes Reh. Offenbar war der Mann so überrascht, dass er völlig unschlüssig dastand und die beiden Männer anstarrte. Auch wenn er nicht zu erkennen war, schätzte ihn Bode anhand seiner Kenntnisse auf diesem Gebiet auf höchstens Dreißig. Groß, schlank, drahtig. Ein Mann, der sich hier nicht nur auszukennen schien, sondern sicher auch in der Lage war, mit seiner Umgebung unsichtbar zu verschmelzen.

»Lukas..«, rief der Fremde erneut, womit er seinen Hund meinte.

Inzwischen stand Rick über dem fremden Hund und hatte sich fest in dessen Kehle verbissen. Dabei floss kein Blut, so dass man davon ausgehen konnte, dass Rick seinen Gegner nur festhielt. Bode wurde schnell klar, das sie trotzdem unterlegen waren, spätestens in dem Moment, als der Fremde seine Waffe von der Schulter nahm. Er entsicherte sie und richtete sie auf Rick.

»Macht dass ihr verschwindet«, fauchte er und der Stimme nach schien er keine leeren Worte zu machen.

»Rick, lass los.« Bode wurde nervös, Angstschweiß rann ihm am ganzen Körper herunter. Aber der Rüde reagierte nicht. Unablässig hielt er den fremden Hund, den Bode jetzt als einen Deutsch-Drahthaar erkannte, in seinen Fängen. Jagdhunde sind selten böse, darum war dieser Kampf nicht schlimmer ausgegangen. Dennoch, die Gefahr ging nicht von diesem Hund aus.

Offenbar entschlossen, Rick zu erschießen, verlieh der Fremde seinem Vorhaben nochmals Nachdruck. »Nehmt den Köter da weg und verzieht euch.«

Rick war deshalb ein leichtes Ziel, weil er sich nicht bewegte. Bode bekam es immer mehr mit der Angst. Schließlich konnte man nicht wissen, ob der Mann, bei dem es sich offenbar um den vermuteten Wilderer handelte, nicht auch auf ihn oder Nico schießen könnte.

Plötzlich hörte Bode hinter dem Fremden einen weiteren Hund bellen. Erschrocken wirbelte der Mann herum und in diesem Augenblick leuchtete eine starke Lampe auf und blendete ihn. In seiner Panik riss der Fremde erneut sein Gewehr hoch und zielte in die Richtung des Lichtscheins. Doch bevor er abdrücken konnte, nahm Bode ein paar beherzte Schritte, stürmte auf den Fremden und schlug ihm mit seiner Stablampe mit voller Wucht auf den Hals.
Doch der Fremde strauchelte nur, ließ sein Gewehr sinken und verschwand urplötzlich seitlich im Gebüsch.

»Stehen bleiben«, hörte Bode jetzt und erkannte Angelmann an der Stimme. Rick ließ daraufhin den Hund los und wollte hinterher.

»Rick. Zurück!«, schrie Nico, der die ganze Zeit hinter Bode gestanden und sich fast zu Tode gezittert hatte.

Diesmal folgte der Rüde, brach die Verfolgung des nun auch flüchtigen Hundes ab und blieb stehen, wohl auch, weil ihn Hasso nun ablenkte. Wie immer begrüßte ihn der Hund des Försters.

Der kam nun auf die beiden geschockten Männer zu. »Hallo. Ist alles okay mit euch?«

»Puh, ja. Das war aber in letzter Sekunde.« Bode ließ sich auf den Boden sinken und schnaufte tief durch. »Mann, das war vielleicht ein Ding.«

Nico stand noch immer völlig perplex da und starrte den Förster an.

»Nico, alles klar mit dir?«

»Ähm.. ja.. nein..«

Angelmann leuchtete zu den beiden Hunden. »Rick scheint nichts abbekommen zu haben«, stellte er schnell fest.

»Aber knapp war’s. Wer war das? Hast du ihn erkannt?«, wollte Bode von dem Förster wissen.

»Nein, aber erstens hab ich mir seinen Hund gut gemerkt und dann..« Er kniete sich neben das tote Reh, »ich werde die Kugel untersuchen lassen. Zeig mal deine Lampe«.

Bode reichte sie ihm und Angelmann kratzte sich am Bart, nachdem er die Lampe begutachtet hatte. »Da sind Blutspuren dran. Viel helfen wird das nicht, aber fest steht, dass du ihn verletzt hast. Der Hund dürfte ebenfalls Bissspuren haben und dann bin ich ziemlich sicher, dass ich Reifenspuren finden werde. Alles in allem, ich mache einen Aushang in der ganzen Gegend und von daher.. den kriegen wir. Aber nun mal was ganz anderes: Was in drei Teufels Namen macht ihr mitten in der Nacht hier draußen?«

Mit zittrigen Fingern zündete sich Bode eine Zigarette an. »Ich werde den Kippen eingraben, keine Angst, aber die brauch ich jetzt.« Er hielt Nico die Schachtel hin. »Im Camp ist kein Wasser und wir wollten nach dem Schieber sehen. Oben in der Anlage ist alles in Ordnung.« Trotz der noch anhaltenden Spannung musste Bode jetzt grinsen. »Schon mal gut dass hier kein reger Publikumsverkehr herrscht.«

Angelmann sah an sich herunter. »Wäre ja mal gespannt, wie du aussehen würdest wenn du nur ein paar Sekunden Zeit hast«, antwortete er grinsend.

Der Förster war lediglich mit einem Trägerhemd und einer etwas sehr altmodischen halblangen, grauen Unterhose bekleidet.

Auch Nico musste nun grinsen. »Das dürfte wohl ein Vorläufer der Boxershorts sein«, lästerte er.

»Na ja, immerhin gab’s dadurch einen gewissen Erfolg, oder? Hasso hat wohl noch alles mitbekommen. Den Schuss, die Geräusche, der Geruch. Vor allem das Blut des Rehs dürfte ihn direkt hierher geführt haben. Sein Auto dürfte nicht weit sein, aber der ist erst mal über alle Berge.«

Nico sah zu dem toten Tier hin. »Scheinbar hat es aber nicht gelitten.«

Angelmann schüttelte den Kopf. »Dem Blut nach dürfte es ein Lungenschuss sein, aber das seh ich mir mal noch genauer an. Okay, kommt, lasst uns nach dem Schieber sehen. Den Wilderer kriegen wir eh nicht mehr.«

Bis zu dem Schacht waren es nur wenige Meter, wobei die Suche danach durch Angelmanns Anwesenheit wesentlich erleichtert wurde. Man konnte zweifellos davon ausgehen, dass der Mann jeden Meter in diesem Wald kannte. »Tja. Wenn ich mir das hier so betrachte«, sagte er nachdenklich und inspizierte die Schachtabdeckung. Gemeinsam mit Bode stemmte er die Eisengussplatte von dem Schacht und klappte sie nach hinten. »Leucht mal da runter«, bat er Nico, der dem sofort Folge leistete.

Der Schacht war etwa ein Meter breit und lang und im ebenso tiefen Loch saß der Absperrschieber.

»Fällt dir weiter was auf?«, fragte der Förster, wen auch immer von den beiden er meinte.

Bode bückte sich tief hinunter. Dumpfer, modriger Geruch schlug ihm entgegen, dann hob er den Kopf. »Ich weiß nicht genau, aber es ist sicher schon Monate her dass wir hier waren wegen der Kontrolle.«
Angelmann nickte. »Und in der Zeit müsste es da unten ganz anders aussehen. Erstens lag auf dem Deckel kein Laub und ich vermisste des Weiteren zum Beispiel Spinnenweben. Ich gehe jede Wette ein, dass der Schieber geschlossen ist.«

Bode rieb sich am Kinn. »Wer zum Geier sollte das tun und vor allem: Warum?«

Angelmann hob die Schultern. »Das kann ich dir nicht sagen. Aber es mag viele Gründe geben. Hier treiben sich ja manchmal Jungs aus der Ortschaft herum, von daher würde ich einen dummen Jungenstreich an die erste Stelle setzen. Denn einen anderen Hintergrund gibt es eigentlich nicht, zumindest keinen für mich logischen.«

Nico horchte auf. Noch nie, so oft er schon im Camp war, gab es eine Begegnung mit Einheimischen, jedenfalls nicht mit der hiesigen Dorfjugend. Allerdings leuchtete ihm ein, dass die zumindest am Bahnhof jede Menge zum herumstreunen hatten.

Der Schieber war leichtgängig und Rainer Bode konnte ihn ohne großen Kraftaufwand öffnen. Danach schlossen er und Angelmann den Deckel wieder.

Bode wischte sich die Hände ungeniert an seiner Hose ab. »So, ich hab für heut erst mal richtig genug.«

»Ja, ich auch«, fügte Nico an. Er hatte die ganze Zeit dazu gebraucht, um wieder runterzukommen. Seine Angst war unbeschreiblich und wahrscheinlich würde er nie wieder die Augen des Fremden vergessen, als er auf Rick gezielt hatte. Was anschließend noch hätte passieren können, wühlte ihn zusätzlich noch auf.

Der Förster nickte. »Okay, ich nehme das Reh mit. Wenn ich Näheres weiß, gebe ich euch Bescheid. Denn wünsch ich euch mal noch ne gute Restnacht.«

»Können wir noch irgendwie helfen? Das Auto steht nicht zu weit von hier.«

»Nee, lasst mal, ich bin’s gewohnt und allzu weit hab ich ja nicht. Zudem, dann habt ihr nachher die ganze Sauerei im Auto, das ist nicht angenehm.«

Nico und Bode verabschiedeten sich von Angelmann und verließen ziemlich eilig diesen Ort.

Im Auto lehnte sich Bode zurück und atmete laut aus. »Mann, was bin ich jetzt fertig. Also schlafen, das kannst bei mir vergessen.«

»Ich fürchte, das wird bei mir auch nichts. Mir geht dauernd im Kopf herum, was noch alles hätte passieren können.«

»Daran denkt man aber besser gar nicht. Schau dir Rick an da hinten. Dem ist das irgendwie wurscht.«

»Hm, ich weiß nicht ob er geahnt hat, wie knapp das war. Übrigens möchte ich jetzt nicht in der Haut von diesem Typen stecken. Dein Schlag mit der Lampe hat richtig gekracht. Ich dachte erst, dem hast du das Genick gebrochen.«

Bode nickte nachdenklich. »Darauf, Nico, hab ich’s echt ankommen lassen. Mich hat gewundert dass er nicht in die Knie gegangen ist.«

»Hart im Nehmen, der Bursche. Aber komm, lass uns fahren, vielleicht klappt das mit ner Mütze Schlaf doch noch.«

Ständig wanderten auf der Rückfahrt ihre Augen hin und her. Wenn man irgendeine Vermutung hat, im Gebüsch könnte sich wer verstecken, so ist eine Nachtfahrt durch den Wald die reinste Katastrophe. Hinter jedem Busch oder Baum, den die Scheinwerfer streifen, scheint sich etwas zu bewegen. Nico unterließ es dann, als sie auf den unbefestigten Waldweg fuhren.

»Was ich nicht ganz verstehe.. der Schuss fiel, da waren wir doch schon hier im Wald. Ist es nicht so, dass man Geräusche wie weit hören oder das Licht sehen kann? Warum hat er geschossen, obwohl er doch sicher sein musste, dass wir ihn dabei erwischen? Und wieso ist das Reh nicht abgesprungen?«

»Hm. Kann nur eine Erklärung geben, Nico: Der hatte das Reh schon im Visier. Vielleicht hat er ja überlegt ob er es wagen kann, aber die Sache mit Rick, daran konnte er nicht denken. Das war sein Verhängnis.«

Endlich kam die Schranke. Bode hielt kurz an, damit Nico sie schließen konnte, dann steuerten sie das Hauptgebäude an.

Noch immer zitterte Nico Knie, als Bode das Gebäude aufschloss. Kaum hatten sie den Gang betreten, war auch schon lautes Wasserrauschen zu hören. Die beiden Männer dachten aber im gleichen Augenblick dasselbe und lachten sich an.

»Hilft nichts, Nico, trocken kommen wir nicht an die Armaturen.«

Nico betrat den Duschraum, wobei ihm feuchtwarmer Dampf entgegenschlug. Es war den Jungs kein Vorwurf zu machen, dass sie die Wasserhähne nicht wieder zugedreht hatten und so prasselte es aus jeder Dusche volle Kanne auf den Fliesenboden.
Nico zog sich nackt aus und trotz der Aufregung, der Müdigkeit und seines Allgemeinzustandes, der nicht der beste war an diesem frühen Morgen, drehte er zunächst alle Hähne zu, bis auf einen. Er ließ das Wasser an sich herunterrieseln und war fast dankbar für diese Abwechslung. Rainer war ihm nicht gefolgt und Nico hoffte, in einigen Minuten wieder einigermaßen hergestellt zu sein. Allerdings ging ihm ständig im Kopf herum, wer diesen Schieber im Wald geschlossen haben könnte.

Nach etlichen Minuten stellte er das Wasser ab und setzte sich auf die Holzbank. Runterkommen war sein Wunsch und vor allem, reinfallen ins Bett und vor morgen Mittag nicht aufzustehen. Wenn er sich alles vorgestellt hatte, aber dass es bisweilen so anstrengend sein konnte, das nicht.

Rick lag bereits auf seiner Decke, als Nico aus dem Duschraum zurückkam. Nico streichelte den Kopf des Rüden, der aber eher müde mit seinem Schwanz wedelte. »Hund, da war was los, wie? Ich fürchte, wenn Falk nen Strich unter diese Woche macht, geht er nicht weg bis ich die Heimreise antrete. Weiß der Geier, es muss doch an mir liegen. Irgendwie.«

Damit legte er sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Die Uhr auf seinem Nachttisch zeigte kurz vor Vier, aber das war das Letzte was Nico bewusst wahrnahm, dann holte ihn dennoch ein tiefer, traumloser Schlaf ein.

Ein Klopfen an der Tür weckte ihn auf und als Nico müde »herein« rief, öffnete sich die Tür einen Spalt und Steins Kopf erschien. »Na, noch am pennen? Es ist gleich Neun, nur zur Info. Aber mach langsam, Felix hat dir was zum Frühstück zurückgelegt.«

Nico richtete sich auf und rieb sich die Augen. »Mann, Mann..«

»Hab schon gehört was los war. Also, keine Panik.«

Noch bevor Nico etwas sagen konnte, schloss Stein die Tür. Nico wusste nun auch, warum er verschlafen hatte: Die Vorhänge waren noch zugezogen und damit herrschte im Zimmer ein schläfriges Dämmerlicht. Langsam stand Nico, der immer noch jeden Knochen spürte, auf und zog die Vorhänge beiseite. Ein kurzer Blick nach oben bestätigte ihm den zu erwartenden Sommertag. Steins Abschied war heute Programm, im Grunde kein schöner Tag in dem Sinn, grübelte Nico. Er fischte sich eine Zigarette aus der Schachtel und setzte sich auf die Fensterbank. Im Augenblick war ihm egal was da draußen grade lief, er musste erst langsam zur Besinnung kommen. Aber selbst Rick hatte den Weg nach draußen noch nicht gefunden und kam völlig verschlafen um das Bett herum.
»Mojn Rick. Gut gepennt? Kein Wunder, nach so einer Nacht.«
Samstags und sonntags gab es keinen Frühsport, deswegen herrschte auch diese ungewohnte Stille vor dem Gebäude.

Nachdem Nico geduscht hatte, begab er sich in den Speiseraum. Auf seinem Platz stand sein Gedeck und eine ganze Kanne Kaffee. Kaum hatte sich Nico gesetzt, erschien Falk Stein im Raum. Er setzte sich zu ihm. »Na, einigermaßen fit?«, fragte er und schenkte sich Kaffee in seiner Tasse, die er mitgebracht hatte.

»Einigermaßen, ja.« Würde Falk gleich damit loslegen, dass es doch irgendwie mit seiner Anwesenheit zu tun hatte? Dass vom ersten Tag an Tohuwabohu herrschte? »Ich wollte mich noch bedanken, für den Ventilator.«

Stein grinste. »Hoffentlich bringt er was. Ich mein, er wirbelt ja auch nur die heiße Luft durcheinander.«

»Schon klar, aber besser als nichts. Wie läuft das denn heute eigentlich?«

»Die Jungs sind erst Mal beschäftigt, die machen ihre Hütten wohnlich und waren fast nicht zu bremsen. Heute Abend ist dann das kleine Festchen geplant. Du hast also alle Zeit der Welt für Berichte zu schreiben oder was dir sonst in den Sinn kommt.«

»Ähm, also wegen heute Nacht..«

»Das war ein starkes Stück, ehrlich. Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können.«

»Rainer hat ihm ganz schön eine verpasst. Angelmann hält ja jetzt die Augen offen, der kriegt den bestimmt.«

Stein nickte und nippte an seiner Tasse. »Mich würde viel mehr interessieren, wer den Schieber zugedreht hat und vor allem, warum.«

»Tja, da rätseln wir auch. Angelmann meinte, das könnten ein paar Jungs aus dem Dorf gewesen sein.«

»Möglich, ja. Ich meine, es ist ja niemand zu Schaden gekommen. Aber trotzdem, für einen dummen Streich war es eine Stufe zu viel. Aber da wir es grad von Wasser haben: Das Wetter bleibt ja vorerst so, da hat heute Morgen Michael den Vorschlag gemacht, wir.. also besser ihr.. könnt ja mal ins Schwimmbad fahren. Der Fluss, an den du dich sicher noch erinnern kannst, führt nur wenig und daher schmutziges Wasser.«

Nico strahlte. Und sicher erinnerte er sich noch an den kleinen Fluss, den sie damals trockenen Fußes überqueren sollten. »Das ist eine prima Idee. Aber dort ist doch sicher proppenvoll.«

»Das bestimmt. Wenn ihr gleich am frühen Morgen losfahrt ist das Wasser noch frisch und richtig Betrieb gibt es eh erst ab elf oder so. Da könnt ihr ja schon wieder zurück.«

»Und wann dachtet ihr?«

»Ich würde Montag vorschlagen. Am Wochenende kann man es echt vergessen.«

»Okay, Falk, ich seh mal nach was die Jungs treiben.. ach, und wegen einem Namen für die Hütten und all das?«

»Ich hab ne Idee, aber die geb ich heute Abend bekannt.« Dabei zwinkerte Stein und trank seinen Kaffee aus. »Ich werde mich jetzt mit Felix um Details fürs Fest kümmern. Wir sehen uns.«

Mit Rick im Gefolge machte sich Nico auf den Weg zum Camp. Er war schon mächtig gespannt, was sich Falk in Sachen Namen hatte einfallen lassen. Er selbst hatte er auch schon einige Ideen, aber natürlich hatten Falks Vorschläge Vorrang.

Simon, Roman und Roko saßen auf dem Baumstamm als Nico aus dem Pfad trat, aber sie waren im verschwinden lassen ihrer Kippen nicht schnell genug. Nico hatte von vorneherein gewusst, dass sich während der Abwesenheit der Betreuer kaum einer an das Rauchverbot halten würde. Ob er die Jungs nun maßregeln wollte oder nicht, geriet in eine Gewissensfrage. Zu sehr konnte er sich in ihre Situation versetzen, so wichtig dieses Verbot auch war. Er beschloss, nichts gesehen zu haben und hoffte damit auch, dass sie in Zukunft vorsichtiger damit umgehen würden. »Na Jungs, alles klar?«

Die drei nickten. »Unsre Hütten sind fertig«, antwortete Roman.

Simon stand auf, als Nico näher kam und sein starrer Blick war wie immer auf Rick geheftet. Nico ging nicht darauf ein, irgendwann dieser Tage würde er sich der Sache intensiver widmen.
Die drei gingen nun voraus, um Nico ihre Behausung zu zeigen. Ohne Zweifel hatten sie sich Mühe gegeben, die Einrichtungen waren sauber und ordentlich aufgeräumt.

»Morgen Herr Hartmann.« Marco stellte sich zu ihm und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »So langsam wird’s.«

Nico murmelte ein »Morgen« zurück. Noch hing in den Hütten der Geruch nach frischem Holz, fast schon etwas aufdringlich, aber die Türen standen alle weit auf, die Fenster ebenso.

Marco ging in seine Hütte hinein und Nico folgte ihm. »Also, ich persönlich könnte mich jetzt glatt an das alles hier gewöhnen..«

Nico lachte. »Das nehm ich dir sogar ab. Aber ihr seid ja aus anderen Gründen hier.«

Nun waren sie allein in der Hütte und Nico spürte erneut diese Spannung, die unsichtbar zwischen ihm und Marco herrschte. Eine angenehme Spannung und sie bestand nicht in seiner Einbildung. Irgendwie hätte Nico gern gewusst, ob Marco dieselben Empfindungen hatte. Vielleicht war es aber auch nur der Entzug, den er so fühlen ließ. Die verpatzte Selbstbefriedigung war auch noch nicht vergessen und trug sicher zur Verstärkung dieser Gefühle bei. Die Atmosphäre in diesem kleinen Raum war seltsam dicht und weckte so einige Assoziationen. Aber sie waren nicht allein, immer wieder lief der eine oder andere draußen vorbei, man hörte Stimmen und Lachen. Von irgendeiner Hütte dudelte der örtliche Sender aus einem Radio und vermittelte dem Ganzen tatsächlich eher den Eindruck eines Ferienlagers. Grade das ließ Nico innerlich seufzen. Wieder war die Grenze dabei zu verschwimmen. Vor seinem geistigen Auge sah Nico diesen schmalen Grat, auf dem er nun wieder wandelte; er war in Wirklichkeit nicht breiter als ein Seil. Während seine Gedanken kurz auf Abwegen waren, musterte ihn Marco ziemlich ausgiebig, wie Nico dann feststellte. Keine Frage jedoch, dass es ihm nichts ausmachte. »Aha, das darf ja nicht fehlen«, lenkte Nico ab, als er auf dem kleinen Tisch einen Aschenbecher entdeckte.

Marco wurde leicht rot. »Ähm.. ja, also ich denke hier drin kann nicht viel passieren. Oder ist das verboten?«

Nico zog unwissend die Schulter hoch. Sicher war es nicht angenehm, dass die Hütten im Lauf der Zeit zu Räucherkammern degradierten, aber das lag nicht in seiner Entscheidung. Wahrscheinlich würde es Falk nicht gutheißen. »Also ich hab ja nichts zu verbieten. Nur draußen, da müsst ihr es bleiben lassen. Ich nehme an, dass sich das Verbot an jenen Zeiten ausrichtet, in denen das Rauchen im Wald sowieso verboten ist.«

Eigentlich war es nicht das Gespräch, das Nico mit dem Jungen führen wollte, aber worüber dann mit ihm reden? Wie hübsch er war und dass er dabei war, sich in ihn zu vergucken? Eher nicht.
So breitete sich plötzlich ein Schweigen zwischen beiden aus aber gerade das führte dazu, dass diese knisternde Spannung umso deutlicher wurde. Nico verließ die Hütte, denn er befürchtete, neben dieses Seil zu treten. Marco reizte ihn ohne es vielleicht wirklich zu wollen und dieser Gefahr galt es, auszuweichen.

Rick lag weiter drüben unter den Büschen und beobachtete die Jungs. Im Gegenzug stand Simon vor seiner Hütte, die er mit Roman teilte und ließ den Husky nicht aus den Augen. Rick schien das zu spüren, immer wieder sah er zu Simon hinüber.
Der Junge wirkte fast wie weggetreten, schien nicht anderes um sich herum wahrzunehmen als den Hund.

Nico ging zu Simon hin. »Möchtest du.. nicht irgendwie reden? Ich meine, du bist ja völlig neben der Kappe. Dabei weißt du doch, dass Rick keiner Fliege etwas zu leide tut.« In Erinnerung an die letzte Nacht jedoch ergänzte er: »Solang man ich nichts tut. Und ich denke mal nicht, dass du das vorhast?«

Simon lächelte gequält. »Nein, sicher nicht.«

»Simon, komm mal.« Nico fand es an der Zeit, mit dem Jungen zu reden. So konnte es nicht weitergehen und zudem wurde er über den Grund dieser Angst neugierig. Er nahm Simon am Arm und ging in die Hütte hinein. »Setzt dich mal, bitte.«

Der Junge ließ sich zögernd auf dem Stuhl nieder. Von hier aus konnte er Rick nicht sehen und das war auch gut so.
Nico setzte sich neben ihn. Auch auf dem Tisch stand ein Aschenbecher und bevor ein offizielles Verbot ausgesprochen war, gab es eben keins. Nico zog seine Zigaretten aus der Tasche und hielt Simon die Schachtel hin. »Möchtest du?«

Simon nickte und wenig später glimmten die Zigaretten.

»Was ist passiert, Simon? Warum hast du so eine Angst vor Hunden?«

Der Junge schien nachzudenken, offenbar suchte er sich die Antwort zusammen. »Also gut. Es war vor vier Jahren. Ich war mit einigen Kumpels unterwegs, also wir waren im Düsseldorfer Bahnhof und haben unseren Lieferanten gesucht, der wollte uns Hasch besorgen. Aber irgendwie bekamen die Bullen, also ich mein die Polizei, Wind von der Sache. Die waren plötzlich überall, auch mit ihren Hunden.« Nervös tippte Simon die Asche ab. »Und da ist Uwe, einer meiner Kumpels, irgendwie ausgerastet. Der war eh immer ein bisschen impulsiv und ohne groß zu fackeln ging er plötzlich auf einen den Polizisten los, keine Ahnung warum. Aber kaum war er bei dem, gab’s ein Gerangel und auf einmal war dieser Schäferhund da. Wie der Blitz kam der angeschossen und hat Uwe am Bein gepackt. Der hat auf einmal ein Messer gehabt, ich wusste gar nicht dass er eins besessen hatte, und versuchte auf den Hund einzustechen. Aber der hat sich sofort in Uwes Arm verbissen. Es hat.. es hat wirklich richtig geknackt und bevor der Polizist reagieren konnte, hing Uwes Hand plötzlich ganz komisch nach unten. Dann kam das Blut; es war furchtbar. Ich höre Uwe manchmal Nachts noch schreien.. und dieses Knacken.«

Nico merkte, dass Simon am ganzen Körper zitterte. »Und du hast nichts abbekommen?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich war ein paar Meter weg und hab gar nichts gemacht.«

»Und wieso bist du jetzt hier?«

»Na ja, nach dieser Sache kam halt das Übliche. Anzeige, Gericht, Bewährung. Vor einem halben Jahr bin ich wieder mitgegangen, eigentlich wollte ich nicht, aber die Jungs meinten, es wäre ungefährlich, da wo wir den Stoff holen würden wüsste niemand was von. Pfeifendeckel. Einer hat wohl gesungen und nun bin ich hier.«

»Also, dich hat kein Hund angefallen oder so? Es ist demnach nur, weil du das gesehen hast, das mit deinem Freund mein ich?«

Simon nickte und drückte die Kippe aus. »Nur ist gut. Es ist wie ein Alptraum gewesen und ist es noch. Ich war schon bei einem Psychologen, aber der konnte es nicht raus bringen.«

Nico zweifelte, ob er es dann schaffen würde. Dennoch war es einen Versuch wert. »Hast du seit damals je wieder einen Hund angefasst?«

Als Antwort kam nur ein heftiges Kopfschütteln. »Ich bring das einfach nicht fertig. Das hat nichts mit Rick zu tun, es ist ganz allgemein.«

Nico stand auf und klopfte Simon auf die Schulter. »Danke, jetzt weiß ich wenigstens Bescheid. Aber ein Vorschlag hab ich trotzdem: Wenn du es dir zutraust, Rick ist echt ein lieber Kerl, ich denke er spürt auch deine Angst. Vielleicht redest du einfach mal mit ihm darüber, er versteht jedes Wort.«

»Ich soll mit einem Hund reden?« Simons Augen wurden groß.

»Ja, klar. Vielleicht erzählst du ihm deine Gesichte, er wird dir zuhören.«

Simon zog die Mundwinkel hoch und schüttelte leicht den Kopf. »Ideen hast du..«

Als Nico aus der Hütte trat, war der Platz rundum leer. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass noch keine Mittagszeit war, verwundert suchte er die Hütten ab, aber die waren verwaist. Dann hörte er Stimmen, sie kamen von drüben, wo der kleine Bach entlang floss.

Neugierig machte er sich auf den Weg dorthin und kurz darauf traf er auf die Jungs. Sie hatten ihre Shirts ausgezogen und tapsten Barfuss in dem kleinen Rinnsal. Nico setzte sich etwas Abseits und beobachtete das Treiben. Nein, in der Tat, erwachsen waren sie noch nicht. Ein bisschen vielleicht, aber das waren noch Jungs. Welche, die jetzt im Unterholz nach Ästen suchten und begannen, den kleinen Bach anzustauen. Roko und Patrick gruben mit ihren Händen im Bach und sorgten für eine Vertiefung, Roman und Marco legten dagegen die Äste so in den Flussweg, dass sich das Wasser zu einem kleinen Teich anstaute. Nico fiel der Vergleich mit Bibern ein, die ja ebenso vorgingen.
Das wenige Wasser, das der Bach noch führte, füllte die Fläche dennoch schnell auf. Nico wähnte sich in einem Traum, als Roko seine Shorts herunter- und dann auszog und schon saß er nackt in der künstlichen Badewanne. Seinem Beispiel folgten die anderen und im Nu planschten die Vier völlig von der Rolle gelassen in dem Wasser, was dann jedoch eher einem Schlammbad ähnelte. Sie alle hatten Nico gesehen und dennoch zierte sich kein einziger. Aber worin lag auch der Unterschied, ob sie zusammen nackt unter der Dusche standen oder sich hier ebenso freizügig gaben?

Im Laufe des lustigen Gerangels nahmen die Gestalten eine dunkelbraune Färbung an und je schlammiger sie wurden, desto wilder ihr herumtoben.

Nico schüttelte grinsend den Kopf, als sich Rick diesem Treiben anschloss und sich kurz darauf in ein ebenfalls braunes, herumwirbelndes Etwas verwandelte. Ein ausgelassenes Lachen und Schreien erfüllte den Wald, mittendrin der patschnasse Rüde.

Simon kam nun zu Nico und setzte sich neben ihn. »Möchtest du nicht mitmachen?«, fragte Nico, aber Simon schüttelte den Kopf.

»Nein, eher nicht..«

»Wegen Rick, nicht wahr?«

Nico spürte, dass es dem Jungen peinlich war. Ganz bestimmt würde er dort mitmischen, denn für einen zurückgezogenen Eigenbrötler hielt ihn Nico nicht. »Komm, sein kein Frosch. Was denken die anderen, wenn du hier sitzt und zusiehst? Oder mögen sie dich nicht?«

»Doch, ich denk schon.«

»Na los, komm, lass dich nicht so hängen. Sieh dir Rick an, der macht auch jeden Scheiß mit.«

Simon rupfte nachdenklich an den Binsen. »Okay, aber nur, wenn du auch mitkommst.«

Nico lachte. »Hey, das nenn ich aber ne glatte Erpressung.« Jedoch schon der Gedanke, sich hier und jetzt nackt auszuziehen und dem Toben dort drüben anzuschließen, versetzte ihm einen kleinen Stich. Soweit er erkennen konnte, hatte keiner der Jungs erkennbare Erregungszustände, auch Marco nicht. Der blickte schon mal öfter zu ihm herüber, hielt aber in der Schlammschlacht nicht inne. Was würde Falk oder Rainer sagen, wenn er mitmischen würde? Diese ewigen Fragen über das Für und Wider machten ihn mürbe. Wo waren denn die Grenzen genau? Sicher würde es für jeden anderen Betreuer eine Selbstverständlichkeit sein, sich jetzt zu verziehen und die Jungs alleine zu lassen. Bestenfalls den Aufpasser spielen und genau da sitzen zu bleiben und schlimmstenfalls diesem Treiben sofort ein Ende zu bereiten. Aber mitmachen? Nein, das ging mit Sicherheit zu weit. Aber wie sah es denn mit einer Rechtfertigung aus, was Simons Angst vor Hunden betraf? Konnte das nicht im weitesten Sinne auch eine therapeutische Maßnahme sein? Wenn doch bloß einer der Betreuer jetzt eine Antwort geben könnte. Nico fand aber immer mehr Gefallen an den Tobsüchtigen und es reizte ihn bis aufs Blut, einfach mitzumachen. Wie groß war eigentlich die Gefahr, dass Falk oder sonst wer hier auftauchen könnte? Das Geschrei war weithin zu hören und mit absoluter Sicherheit hatten das die anderen schon längst vernommen. Sie würden über kurz oder lang nachsehen, was hier los war.
Nicos Handy klingelte.

»Falk hier. Wo bist du?«

»Im Camp.«

»Was ist denn da los? Bringen die sich gegenseitig um?«

Nico lachte. »Nein, das eher nicht. Die haben die Vorzüge eines kleines Staudamms am Bach kennen gelernt und toben jetzt in den schlammigen Fluten.«

Einen Moment Schweigen. »Aha. Dann pass auf dass die nicht auf dumme Gedanken kommen.«

»Nein, ich bin.. ja dabei.« Sollte er jetzt einfach fragen? Diese Antwort konnte im Übrigen verschiedenartig ausgelegt werden. Nico stand auf und ging ein paar Schritte aus Simons Hörweite. »Ich habe mit Simon gesprochen.. wegen seiner Angst vor Hunden.«

»Ah, und?«

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