Traumschiff – Teil 1

Diese Geschichte ist frei erfunden , eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind nicht gewollt, Orte ,Einrichtungen sowie Berichte über bestimmte Abläufe sind in großen Teilen identisch, haben aber keinen Anspruch auf

Vollständigkeit. Ich wünsche allen Lesern ein paar vergnügliche und spannende Unterhaltungsstunden. Feedback an Niffkon49@t-online.de

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Donnerstag ,22.04.2010,  08:35Uhr auf einem Gymnasium in Bremerhaven. Klasse 12.

Ole

Die Tür geht auf, schlagartig verstummen die Gespräche der 27 anwesenden Schüler. Studienrat  Hausschulte wuchtet seine Aktentasche auf seinen Schreibtisch,

„Guten Morgen, meine Damen und Herren.“

„Guten Morgen, Herr Studienrat“, antworteten die meisten der mehr oder wenig aufgeregten Schülerinnen und Schüler.

„ Die Stunden der Wahrheit sind angebrochen. Wir schreiben heute die Mathematikklausuren für das Abi und ihr wisst, das morgen und in den nächsten 2 Wochen die weiteren Klausuren stattfinden“, lässt uns der Hausschulte wissen, obwohl das hier jedem schon länger bis ins Detail bekannt ist.

„Nehmen sie bitte Platz, ich verteile nun die Aufgaben und weise nochmals darauf hin, dass es keinen Sinn macht,  Hilfe beim Nachbarn zu suchen, weil erstens, die Aufgaben ihrer Nachbarn anders sind, als die Ihren und weil ich zweitens,  jeden Versuch, abzuschreiben oder anders zu betrügen mit einer 6 und den damit verbundenen Folgen bestrafen werde,“ steckte er für alle deutlich die Grenzen ab.

Ich bin eigentlich gar nicht aufgeregt, ist doch Mathe kein Problem für mich und auch in den meisten der anderen Fächer habe ich keine Probleme. Auf  Grund meiner Leistungen habe ich die 9. Klasse nach dem Halbjahreszeugnis verlassen und bin in die 10.Klasse versetzt worden.

Durch diese Tatsache  hatte ich alle meine langjährigen Mitschüler verloren und war in der neuen Klasse wie ein Fremdkörper von vorne herein als Streber gebrandmarkt.

Da ich aber sowieso mehr ein Einzelgänger war, störte mich das weniger und mit der Zeit hatte ich doch zu dem ein oder anderen aus der neuen Klasse eine, wenn auch meist eher lockere Freundschaft.

Einzig und allein Armin und Denise aus meiner vorherigen Klasse hatte ich als echte Freunde  und mit Ihnen verband mich eine lange Freundschaft, da wir aus der gleichen Gegend der Stadt stammten und schon zusammen in den Kindergarten gegangen waren. Die beiden kannten meine Familie und ich kannte ihre Familien und wir haben in der Vergangenheit einiges an Freizeit, aber auch mit gemeinsamen Hausaufgaben verbracht.

Kleiner Rückblick

Mein Name ist Sven Ole Jensen, gerufen werde ich aber Ole, ich bin gut siebzehn Jahre alt und wohnte bis vor etwa drei Jahren in dem Bremerhavener Ortsteil Eckernfeld.

Dann, im April 2008  haben meine Eltern ein Haus in Königsheide gekauft. Das Haus war damals gerade fünf Jahre alt und Tipp-topp in Schuss. Da sind wir dann am letzten Aprilwochenende eingezogen, aber auf Grund der geringen Entfernung konnten meine um zwei Jahre jüngere Schwester Marie und ich weiterhin in unsere alte Schule gehen, was natürlich ganz in unserem Sinne war. Meine Hobbys waren Radfahren, unser Garten und mein PC, den ich aber nicht nur zum Spielen benutzte.

Just in der Zeit, als wir umgezogen sind, war mir klar geworden, dass ich mir nichts aus Mädchen mache. Das war ein Schock, der aber im Umzugstrubel  zunächst einmal verdrängt wurde. Ich beschloss einfach jetzt nicht daran zu denken und da ich niemand spezielles im Auge hatte, den ich anschmachten wollte, dachte ich, vielleicht legt sich das ja wieder. Also tat ich zunächst so, als wäre alles wie sonst und ließ mir auch nichts anmerken.

Es legte sich natürlich nicht, aber ich konnte zunächst einfach nicht damit umgehen. Ab und an schaute ich schon mal heimlich einem Jungen hinterher und auch in der Schule waren genügend hübsche Kerle zum angucken, aber dabei blieb es auch. Meine in dieser Zeit häufigen feuchten Träume befassten sich aber ausschließlich mit Jungs und so akzeptierte ich dann irgendwann mit sechzehn, dass ich wohl  schwul war. Darüber war ich zunächst nicht glücklich.

Mein Vater war  Dipl.-Ing. und arbeitete auf einer großen Bohrinsel in der Nordsee. Er war auf Grund dieser sehr einträglichen Tätigkeit aber verständlicherweise oft über mehrere Wochen nicht zu Hause und der Kontakt wurde über E-Mail, Chat und Telefon so gut wie möglich aufrecht erhalten und wir hatten eigentlich immer guten Kontakt zu ihm. Am 24.Juli, vier Monate, nachdem wir das Haus gekauft und umgezogen waren, verunglückte mein Vater während seiner Arbeit auf der Plattform so, dass er an den Folgen noch auf dem Transport in eine Klinik verstarb.

Wir saßen an diesem Tag gerade beim Abendessen zusammen, als  zwei Mitarbeiter der Firma bei und klingelten, um uns zu unterrichten, was da für uns so furchtbares passiert ist. Über den weiteren Tag und auch über die nächsten Tage kann ich nicht viel sagen. Auch meine Schwester und vor allem Mutsch waren am Boden zerstört. Die meiste Zeit heulten wir und wenn nicht der Bruder meines Vaters da gewesen wäre und sich um alles  und uns gekümmert hätte, wären wir im Chaos versunken.

Mutsch war die erste, die sich wieder aufrappelte, die begann, die alltäglichen Dinge wieder in die Hand zu nehmen und sich um uns und alles andere zu kümmern. Onkel  Johannes,  von uns nur Jo genannt,  hatte unterdessen die Trauerfeier und die Beisetzung geregelt und zusammen mit einem Bestatter die Formalitäten mit Behörden, Versicherungen und sonstige Dinge erledigt .Jo war der jüngere Bruder meines Vaters, er wohnte in Surheide, einem südlichen Teil von Bremerhaven.

Jo war nicht verheiratet und fuhr auf der MS Europa als Zahlmeister. Er war ausgebildeter Hotelfachmann und schon seit 11 Jahren auf Kreuzfahrtschiffen unterwegs. Er kam uns ab und an besuchen, aber ich konnte mich nicht erinnern, dass wir einmal bei ihm gewesen wären. Er konnte immer tolle Geschichten erzählen und hatte schon einige Weltreisen mit gemacht.

Den Tag der Beerdigung erlebte ich wie in Trance, alles kam mir so unwirklich vor, und selbst bei dem üblichen Zusammensein nach einer Beisetzung sprach ich kein Wort, kämpfte dauernd mit den Tränen, wusste nicht, wie denn nun ohne Papa alles weitergehen sollte.

Onkel Jo nahm mich auf die Seite legte seinen Arm um mich und sagte: „Lieber armer Ole, ich weiß, dass es ganz schlimm in dir aussieht und auch ich vermisse meinen Bruder sehr. Trotzdem geht unser Leben weiter und wenn ich am Sonntag wieder nach Hause fahre, dann bist du der Mann im Haus hier, der sich um einige Dinge kümmern muss, der Verantwortung übernehmen muss. Das kommt dir jetzt bestimmt wie eine unüberwindliche Aufgabe vor, aber ich bin überzeugt, dass du nach einer gewissen Anlaufzeit diese Aufgaben lösen wirst. Irgendwann in absehbarer Zeit wirst du die Kraft haben, mit dem grausamen Schicksal Frieden zu schließen und euer Leben im Sinne deines Vaters weiter zu führen.“

Wieder liefen mir die Tränen herunter und ich drückte mich fest in den Arm von Onkel Jo. „Er fehlt mir so, ich weiß nicht, ob ich das alles schaffe. Es ist alles so furchtbar und ich habe solche Angst“, sagte ich kaum verständlich, aber Jo drückte mich und sagte: „Du bist ja nicht allein, deine Mutter ist bei Euch und ich komme, sooft ich kann und  gemeinsam werden wir über den großen Verlust hinweg kommen .Es gibt immer Hoffnung und immer ein Morgen. Du schaffst das.“ Zwei Tage später waren die Ferien zu Ende und die Schule begann wieder.

Ein viertel Jahr später tat es immer noch sehr weh, aber die Alltagssorgen hatten dafür gesorgt, sich nicht mehr so intensiv auf den Verlust und die Trauer zu konzentrieren. Nach einem kurzen Absacken in der Schule erinnerte ich mich daran, das Papa immer sagte: „Kinder, die Schule ist der erste und meist auch der wichtigste Weg ins Leben, strengt euch an, dann werdet ihr es später Leichter haben, einen Beruf zu erlernen, der euch Spaß macht und der euch ernähren kann“. Ich wollte ihn nicht enttäuschen.

Diesen Satz im Hinterkopf, fing ich mich und strengte mich noch mehr an als in der Vergangenheit. Ich übernahm die komplette Pflege der Außenanlage mit Rasenmähen und Gartenarbeit. Das nötige Wissen dazu hatte ich aus dem Internet und auch Papa hatte mir schon früher einiges gesagt und gezeigt.

Die Erfolge waren ganz brauchbar und Mutter freute sich, dass ich das alles machte und dass unsere Anlage ordentlich und schön aussah. Wenn ich was Spezielles wissen wollte, dann fragte ich unseren Nachbarn, einen pensionierten hohen Polizeibeamten, der auch noch im Gartenbauverein den Vorsitzenden machte. Der wusste auf alle Gartenfragen eine Antwort und versorgte  uns mit Setzlingen und Ablegern, die ich dann unter seiner Anleitung fachgerecht einpflanzte. Ich lernte sehr viel von Herr Hagenbeck.

Auch Marie schien langsam wieder etwas mehr Freude am Leben zu finden und erreichte ihren alten, hohen Leistungsstand wieder. Mutter hatte sich mit Jo,s Hilfe mit allen Dingen auseinandergesetzt, die nach dem Tod eines Menschen zu erledigen waren. Sie bekam jetzt Rente, wir bekamen Halbwaisenrente.

Die Versicherungen meines Vaters sorgten dafür, dass das Haus abbezahlt  und noch ein ansehnliches Polster für Notfälle übrig war. Das erste Weihnachtsfest ohne Papa war noch einmal sehr schlimm für uns alle, aber Onkel Jo war am ersten Feiertag zu Besuch gekommen und hat uns ein bisschen getröstet und aufgemuntert.

Meine Mutsch wollte aber trotzdem nicht mehr den ganzen Tag zu Hause bleiben, wir waren alt genug, um zu Recht  zu kommen und so beschloss sie im Februar, nachdem sie mit uns darüber gesprochen hatte, sich eine Arbeitsstelle zu suchen. Bevor ich geboren wurde, war meine Mutter als Hauswirtschaftsmeisterin  in Arbeit gewesen und als solche inserierte sie dann auch in ihrer Stellenanzeige. Zwei Wochen nach Aufgabe des Inserates hatte sie dann ein Vorstellungsgespräch in einem Privathaushalt in Bremerhavens Nobelgegend.

Als Marie und ich aus der Schule kamen, stand Mutsch am Eingang und wartete auf uns. Sie strahlte, freute sich, uns zu sehen und winkte uns. Nach dem wir sie erreicht haben erzählte sie uns, dass sie die Anstellung bekommen hat und wir jetzt zur Feier des Tages  in ein Restaurant zum Essen gehen würden.

Dort wollte sie uns von dem Vorstellungstermin berichten. Wir fuhren zu unserem Lieblingsrestaurant, wo wir auch früher oft mit Papa gewesen waren. Marie und ich waren gespannt, was Mutsch erzählen würde.

Mutsch.

Nachdem wir bestellt hatten und die Bedienung unsere Getränke gebracht hatte, begann ich, zu erzählen:  „Also, das Haus ist ein riesiger  Traum, eher schon ein Palast mit über 25 Zimmern in einem parkähnlichen Garten. Die Familie heißt Remmers und die wohnen mit 6 Personen dort. Der Mann ist so um die 45 Jahre alt und ist  Chef eines großen Konzerns und hat noch einige Beteiligungen an anderen Unternehmen. Überall hängen Bilder mit Schiffen und von Werften und auch von großen Luxushotels.

Seine Frau dürfte ein paar Jahre jünger sein und sie ist sehr hübsch. Sie haben zwei Kinder, einen Sohn und  eine Tochter, der Sohn ist ein Jahr älter als du, Ole und die Tochter ist 15 Jahre alt. Die gehen aber nicht in eine normale Schule, die werden zu Hause unterrichtet. Die Kinder haben auch ihr eigenes Personal.

Nun, dann ist da noch die Mutter von Herrn Remmers und eine Schwester der Mutter, die alten Damen bewohnen einen Teil im Obergeschoss, 6 Zimmer und zwei Bäder, aber die nehmen am Familienleben offensichtlich rege teil.

Ich soll mich um den Haushalt der alten Damen kümmern, von Montag bis Freitag und jeden zweiten Samstag  von Morgens um 09:00 Uhr bis nachmittags um 15:30, also 6 Stunden bei einer halben Stunde Mittagspause, zum Saubermachen ist extra noch eine junge Frau angestellt.  Meine Vorgängerin ist seit ein paar Tagen im Ruhestand.

5 Wochen im Jahr gibt es Urlaub,  das Gehalt ist sehr ansprechend und Weihnachtsgeld gibt’s auch. Wenn irgendwelche Familienfeiern sind, muss  ich auch mal abends oder am Wochenende arbeiten.

Die beiden alten Damen sind sehr nett und die haben entschieden, dass ich die Stelle bekommen soll. Es haben sich noch andere Frauen für die Arbeit beworben, eine kam sogar aus der Schweiz, haben sie mir erzählt.

Den beiden Kindern, der Junge heißt übrigens  Jerome und das Mädchen Natascha, wurde ich nur kurz vorgestellt, damit sie wissen,  wer ab dem nächsten Ersten  die Oma und die Tante betreut. Ich hoffe, das ihr jetzt trotzdem nicht traurig seid, das ich jetzt wohl erst immer am Nachmittag um 16:00 Uhr zu Hause bin.“

Die Bedienung brachte das Essen und das Gespräch ruhte zunächst. Das Essen war super lecker und es dauerte auch nicht allzu lange, bis alles verschwunden war. Nach einem monströsen Eisbecher zum Nachtisch fuhren wir dann alle nach Hause.

Donnerstag, 24.04.2010, 10:25 Uhr

Ole

Die Matheklausur war zu Ende, Hausschulte hatte alles eingesammelt und war abgerauscht. Wir hatten manchmal den Eindruck, dass der ständig unter Strom steht. Seinen Lehrstoff konnte er aber sehr gut vermitteln und wer bei ihm nichts lernte, der würde bei niemand was lernen.

„Und, Streber, haste alles gewusst?“,  quakte Paul durch die Klasse und schaute dabei natürlich auf mich. Paul war der große Wortführer in der Klasse. Er war zwar nicht der Hellste, aber das Mundwerk war gigantisch, deshalb war er wohl auch zum Klassensprecher gewählt worden.

Er verbrachte viel Zeit im Fitnessstudio und auf dem Fußballplatz und war dem entsprechend proportioniert. Sein Lieblingsthema nach Fußball waren Frauen, speziell welche mit Körbchengrösse  D aufwärts. Bei allem Gelaber war er jedoch immer ehrlich und man konnte ihm nicht böse sein.

„Na ja, Paule, ich denke, ich bin mal nicht durchgefallen“, antwortete ich mit einem Grinsen, und begann meine Sachen einzupacken. Das Schöne an den Klausurtagen ist, das nach der Klausur für uns angehende Abiturienten frei war. Ich war für die Pause mit Armin und Denise verabredet, wir wollten uns am Kiosk treffen. Armin hat am kommenden Wochenende seinen 18. Geburtstag und will eine große Party machen, zu der auch noch andere aus meiner ehemaligen Klasse eingeladen sind.

„Sag mal, Ole, du  hattest doch auch die B-Arbeit, wie war denn das Ergebnis bei der Dritten Aufgabe?“, fragt mich jetzt Anna, die zwei Bänke vor mir gerade ihre Sachen einräumt .Als ich ihr die Formel und das Ergebnis sage, fängt sie an zu strahlen. „Also hab ich die zumindest mal richtig. Fast hätte ich daran verzweifelt, weil ich die Formel nicht auf die Reihe gekriegt habe. Zum Schluss ist sie mir dann doch noch mal eingefallen und jetzt hab ich das gleiche Ergebnis wie du“, frohlockt sie regelrecht und sieht mich freudestrahlend an.

Wir gehen dann Richtung Ausgang, die meisten anderen waren schon weg. Im Flur mache ich mich dann Richtung Kiosk auf den Weg, um meine beiden Freude zu treffen. Die Beiden warten schon auf mich, ich kaufe mir eine Cola und wir setzen uns in den Aufenthaltsbereich. Armin erzählt, wie alles ablaufen soll mit der Party und bittet mich, meine Mutsch zu fragen, ob sie einen Nudelsalat für ihn machen kann, weil das halt seiner Meinung nach keiner besser kann.

Wir wollen uns dann schon am Samstag- Nachmittag um 14:00 Uhr treffen, um alles vor zu bereiten. Die Beiden müssen zurück in ihre Klasse und ich hole mein Fahrrad und mache mich auf den Heimweg. Zuhause bin ich zunächst mal allein, weil ja auch Marie noch ein paar Schulstunden vor sich hat. In meinem Zimmer im Obergeschoss angekommen, mache ich den Rechner und die Stereoanlage an.  Von Rosenstolz berieselt, schaue ich mal, was es neues in der Welt gibt.

Mutsch

Ich war jetzt schon  gut eineinhalb Jahre bei den Remmers in Arbeit. Jerome Remmers hatte vor zwei Monaten einen schweren Autounfall. Er war in einer Baustelle als Führerscheinneuling in einen Unfall verwickelt, hat eine Teermaschine gerammt und  war dann wohl eingeklemmt. Der heiße Teer hatte seine Füße so stark verbrannt, dass sie 20 cm unterhalb der Knie amputiert werden mussten, die Haut bis an die Knie war ebenfalls  stark in Mitleidenschaft gezogen.

Da er zum Zeitpunkt des Unfalls ausnahmsweise einmal allein unterwegs war, konnte die Ursache des Unfalls  nicht eindeutig geklärt werden. Er konnte sich im Nachhinein an nichts erinnern. Fest stand jedoch, dass er zu schnell gefahren ist.

Das hatte natürlich für Turbulenzen im Haus Remmers gesorgt, die auch an mir nicht spurlos vorbei gegangen waren. Es war eine hektische Zeit und es war auch ein großer Schock für Herr Remmers, das sein Sohn durch den Unfall so schwer verletzt wurde. Seine Mutter wich nicht vom Krankenbett und einige der besten Ärzte aus ganz Deutschland gaben sich bei Jerome im Krankenhaus und auch in der Villa die Tür in die Hand.

Nun wartete die Familie Remmers darauf, dass der  junge Mann  aus der Rehaklinik zurück kommen würde. Ich hatte meinen beiden Kindern auch erzählt, dass er, wenn alles richtig ausgeheilt ist, zwei Prothesen bekommen sollte, die ihm ein selbstständiges Laufen ermöglichen sollten. Ich hatte  großes Mitleid mit dem Jungen. Allein schon die Vorstellung, keine Füße mehr zu haben, trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Das war einfach unvorstellbar.

Die alten Damen hatten ein paar Wochen gebraucht, den Schock zu überwinden und es gab keinen Tag, an dem sie nicht darüber  spekulierten, ob und wie der Junge mit der Tatsache fertig werden könnte, das er nun keine Füße mehr hat. Auch machten sie sich große Sorgen um den eh schon sehr  zurückgezogen lebenden jungen Mann, ob er denn unter diesen Voraussetzungen überhaupt eine Partnerin fürs Leben finden könnte.

Donnerstag, 24.04.2010, 14:30

Jerome

Jetzt bin ich bald wieder zu Hause, Martin hat mich heute aus der Reha abgeholt. Morgen soll der Spezialist für die Prothesen kommen. Martin ist mein persönlicher Fahrer, Butler, Begleiter und auch ein bisschen Bodyguard. Er ist jetzt 52 Jahre alt und ist körperlich noch gut drauf. Hände hat der wie Baggerschaufeln, wenn ich meine beiden Hände nebeneinander auf seine Hand lege und er legt die Zweite oben drauf, dann sind meine Hände verschwunden, obwohl ich ja auch kein Hänfling bin.

Warum bin ich nicht einfach draufgegangen bei dem Scheißunfall. Wer eh besser gewesen, wenn ich  an alles denke, was mir noch bevorsteht. Ich könnte gerade kotzen. Die Erkenntnis, für den Rest des Lebens ein Krüppel zu sein, die frisst an mir, da werden wohl auch keine Prothesen was dran ändern. Und auch sonst läuft alles nicht so, wie ich es mir wünschen würde.

Wenn Papa und Mama wüssten, was mit mir los ist, würden sie sich vielleicht auch wünschen, es hätte kein Überleben gegeben. Obwohl, nein, Mama würde nie so denken, die hat uns beide, Natascha und mich sehr lieb und würde uns  alles verzeihen.

Ich habe nur noch Scheißgedanken in meinem Kopf und hätte gern mal  jemanden gehabt, der mir mal zugehört hätte in dieser schweren Zeit. Mit Martin konnte ich über sowas nicht reden, er war einfach anders gestrickt und Natascha wollte ich auch nicht immer als meinen persönlichen Beichtvater benutzen.

Martin ist als  ehemaliger GSG-9 Mann und auch wegen des Altersunterschieds für meine  seelischen Probleme  eher  weniger geeignet. Dafür ist er aber grundehrlich, einfallsreich, verschwiegen  und ein Organisationstalent. Es gab selten mal etwas, das er nicht gut erledigte und besorgen konnte er alles. Allerdings würde er nie etwas für mich  tun, das mein Vater nicht billigen würde.

Eigentlich war er der Bewacher meines goldenen Käfigs und da er keine Familie hatte, war er fast 365 Tage im Jahr präsent  und er fuhr auch mit, wenn unsere Familie in Urlaub oder sonst wo hin fuhr.

Der Tag meines Unfalls war einer der wenigen Tage, an denen Martin nicht da war und er machte sich deswegen viele Vorwürfe. Wäre er dagewesen, hätte er neben mir im Auto gesessen und dann wär wohl alles anders gelaufen. Hätte ich nicht so viel über mich nachgedacht, hätte ich wohl auch nicht das Steuer verrissen und wäre  dann wohl auch nicht in diesen Scheissteerkocher gerast.

Richtige Freunde hatte ich eigentlich nie, ein paar Bekannte, die wir immer wieder auf irgendwelchen Festlichkeiten und Empfängen trafen, Schule in dem Sinn kannten wir nicht, wir hatten private Lehrer, die zu uns ins Haus kamen.

Events und öffentliche Konzerte, zu denen wir gerne mal gegangen wären, gab es ganz, ganz selten und wenn, dann war Martin immer dabei. Nach heutigen Gesichtspunkten war unsere Erziehung preußisch streng und oft habe ich mal mit dem Gedanken gespielt, für ein paar Tage einfach abzuhauen, getraut habe ich mich aber nie.

Und jetzt, jetzt war ich ein Krüppel! Tränen stiegen mir in die Augen, aber wie hieß es immer bei Vater: „Männer weinen, wenn überhaupt nur allein und heimlich!“ Mir kamen schon wieder die Tränen und alles kam mir so ungerecht vor.

Im Sommer waren wir meist noch ein paar Wochen in Portugal, dort hatten wir ein großes Anwesen und im Winter wohnten wir 4 -6 Wochen Sankt Moritz in der Schweiz. Hier  war Papa an einem von einigen 5-Sterne Hotels beteiligt, die anderen waren über Europa verteilt.  Er unterhielt auch noch ein Haus in der Nähe von NewYork, wo wir natürlich auch schon einige Male gewesen waren.

Bei Werder sitzen wir in der Vip Lounge und alle krabbeln meinem Vater pausenlos hinten rein. Andere Eltern aus diesem elitären Kreis versuchten ständig auf solchen Veranstaltungen ihre mehr oder minder schönen Töchter an den Mann zu bringen.

Das brachte mich schon oft in heikle Situationen, die ich aber mit viel Glück immer unter Kontrolle halten konnte. Ich hatte ungeheure Angst, dass mal jemand auf die Idee kommen könnte, ich wäre schwul. Ich wollte das nicht sein und ich durfte das auch nicht sein.

Einen Freund, mit dem  man alles teilen konnte, bei dem man sich mal ausheulen konnte, oder mit dem  man mal was unternehmen konnte, nee, sowas kannten wir nicht. Wir saßen in einem goldenen Käfig, hatten alles, was man für Geld kaufen kann und waren doch einsam und allein.

Mit meiner Schwester Natascha verstand ich mich super gut, sie war die einzige nicht erwachsene Person, die ständig real greifbar war und wir hatten keine Geheimnisse voreinander, also fast keine. Wir tauschten uns über alles aus und jeder erzählte dem anderen von seinen Vorstellungen, Träumen und Sehnsüchten, jedenfalls von fast allen. Ihr würde ich es vielleicht noch am ehesten sagen, wenn ich es denn mal selber akzeptiert hätte.

Vielleicht sollte ich einfach Schluss machen mit meinem beschissenen Leben, aber ich zweifelte gleich, dass ich den dafür nötigen Mut aufbringen würde.

 

Ole

Ich habe mir nochmal einige Sachen in Deutsch angesehen, dort  kommen morgen die Klausur-arbeiten. Das sind insgesamt 3 und da werde ich wohl nicht so früh zu Hause sein wie heute. Ich werde jetzt mal duschen gehen und dann wird wohl auch bald Mutsch kommen.

Das Handy klingelt, Denise ist dran. Sie hat unser  gemeinsames Geschenk für Armin besorgt, wir hatten zusammengelegt und zwei tolle Spiele für den PC gekauft. Armin ist echt der PC Freak, der hat das voll drauf. Dem entsprechend waren auch die Spiele und ihr Preis, aber für Armin machten wir das gerne. Er ist der beste Freund, den man haben kann. Nur Armin und Denise wussten von meiner sexuellen Orientierung und sie hatten zu keiner Zeit ein Problem damit.

Unten geht die Tür und ich höre Marie kommen. Ich geh runter und begrüße sie, um dann den Tisch für einen kleinen Imbiss zu decken. Abends ist ja dann Mutsch zu Hause und dann essen wir immer was Warmes. Entweder kochen wir oder Mutsch bringt Sachen mit, die wir dann wärmen. Einmal im Monat gehen wir dann auch zu unserem Lieblingsitaliener, zu dem sind wir schon mit Papa immer gegangen.

Nach dem ich mit Marie zusammen etwas gegessen habe, geht die auf ihr Zimmer, um dort die Aufgaben zu machen. Auch Marie hat, wie ich schon mal erwähnte, keine Probleme in der Schule, ist dort sehr beliebt und hat durchweg gute Noten. Im Gegensatz zu mir hat sie sehr viele Freundinnen und Freunde und von denen sind auch öfter welche bei uns. Zu mir kommen lediglich Armin und Denise, was mir zurzeit auch vollkommen ausreicht.

Jetzt dauert es nicht mehr lange, dann kommt Mutsch nach Hause. Ich bin mal gespannt, was sie heute erzählt. Der Junge, Jerome heißt der, kommt heute nach seinem schweren Unfall aus der Reha nach Hause. Ich denke, dass der schon ganz schön an diesen Verletzungen zu knabbern hat. Wenn ich mir das so vorstelle, das meine Beine kurz unterm Knie verschwunden wären- kalt überläuft es mich, das ist schon  tragisch für den Jungen.

Ich räume die Reste unserer Mahlzeit auf und gehe ebenfalls auf mein Zimmer. Dort fahre ich den PC hoch und öffne mein Mail-Programm. Onkel Jo hat eine Mail geschickt, aus Lissabon. Dort ist die „MS Europa“ zurzeit unterwegs. Er hat ein paar tolle Bilder angehängt.

Denise hat eine Mail geschickt mit Abbildungen der von ihr gekauften Spiele „Uncharted 2“ und „ Demons Souls“. Auf solche Spiele steht Armin, mir sind die etwas zu düster aber manchmal spiel ich dann doch mal bei ihm zu Hause. Der wird sich bestimmt freuen über die zwei Spiele.

Mutsch kommt, ich höre wie die Haustür geht. Ich fahre den PC runter und geh zu ihr nach unten. „Tag, Mutsch“, sage ich und nehm sie kurz in den Arm, „wie war dein Tag?“ „Es war ja heute soweit, dass Jerome aus der Reha gekommen ist. Meine zwei Tanten sind den ganzen Morgen nervös umher gelaufen und haben dauernd aus dem Fenster geschaut“, erzählt Mutsch.

Sie hat die Kaffeemaschine angestellt. „Willst du auch Kaffee, Ole?“, fragt sie. „Ja, Mutsch, gerne“, sag ich und setz mich an den Küchentisch. Sie macht zwei Tassen Kaffee und stellt Zucker und Milch auf den Tisch. Dann setzt sie sich mir gegenüber auf den Stuhl. Schweigend trinkt sie die ersten Schlucke.

„Hast du den Jungen gesehen?“, frage ich und als sie nickt: „Wie sieht das aus mit seinen Beinen, ist alles verheilt oder noch nicht?“ „Du stellst Fragen Ole, das konnte ich ja alles nicht sehen, der Martin hat ihn aus dem Wagen gehoben und ins Haus gebracht. Er hatte eine Trainingshose an und die Enden der Hosenbeine hingen in der Luft“, gibt Mutsch zur Antwort. „Er sah schon sehr unglücklich und niedergeschlagen aus, ich hoffe, dass man ihm richtig helfen wird, über dieses schlimme Ereignis und sein schweres Los hinweg zu kommen“, fährt sie fort. „Ich glaube, das dass für jeden ein furchtbarer Schlag wäre, plötzlich keine Beine mehr zu haben, vor allem dann, wenn man noch so jung ist. Der Junge kann einem schon leidtun“, sage ich zu Mutsch.

„Mutsch, mal was anderes, du weißt ja, das Armin am Wochenende feiert und es kann gut sein, das ich bei ihm übernachte, denn wir wollen richtig toll feiern“, bereite ich meine Mutter schon mal darauf vor, das ich am Samstag ab dem frühen Nachmittag nicht zu Hause sein werde und auch erst am Sonntag frühestens zur Mittagszeit, wohl eher noch später wieder nach Hause kommen werde.

„Du gehst ja so selten weg und bei Armin weiß ich dich ja gut aufgehoben“, meint Mutsch und hat wohl keine Einwände gegen unsere Wochenendpläne. „Du weißt ja Mutsch, das ich im Oktober auch Achtzehn werde und da möchte ich dann auch eine Party machen“, sage ich. „Bis dahin ist noch lang hin“, sagt Mutsch, „dann gehst du nicht mehr zur Schule und wir wollen mal abwarten. Selbstverständlich werden wir den Geburtstag gebührend feiern“.

Mutsch sagt: „ Ich mache nachher einen Nudelauflauf mit Thunfisch, den esst ihr beide ja gern und das geht auch ziemlich flott. Ich habe noch einen Kopf Salat, den mach ich dann dazu. In einer Stunde können wir dann essen. Sag bitte Marie Bescheid, dann muss ich nicht extra noch hoch laufen.“ Ich gehe wieder nach oben und nachdem ich Marie gesagt habe, dass wir in einer Stunde essen, geh ich wieder auf mein Zimmer.

Ich lege mich aufs Bett, um ein bisschen zu dösen. Vorher mache ich noch leise Musik an, so eine Entspannungs-CD. Die habe ich von Jo bekommen,  als ich nach Papas Tod lange nicht gut schlafen konnte. Die Musik beruhigt echt und man kann saugut chillen. Die morgige Klausur geht mir durch den Kopf aber immer wieder auch das Bild eines Jungen, dem die Beine fehlen. Irgendwie lässt mich das nicht los.

„Ole, komm runter essen“, weckt mich Marie. Ich bin wohl doch eingepennt. Mutsch hat den Tisch gedeckt und es duftet wirklich fein. Wir setzen uns um den Tisch und Mutsch sagt: „Lasst es euch gut schmecken, Kinder“. Das schmeckt wirklich gut und zunächst wird schweigend gegessen. „Wer kommt denn alles zu eurer Party am Samstag?“, fragt Marie, nachdem wir mit dem Essen fertig sind.

„Nun, die Hälfte aus der Klasse von Armin und Denise, die kenn ich ja auch noch fast alle. War ja mal meine Klasse“, sage ich,  „Maike, Sören, Oliver und Silke kommen auf jeden Fall, dann noch Heiner und Lukas  und Annika, wer sonst noch kommt, weiß ich nicht.

„Heiner, den find ich echt süß“, sagt Marie und kriegt ein bisschen Farbe ins Gesicht. „Ja, der ist auch ganz nett und soweit ich weiß, hat der auch keine Freundin“, sag ich. „Apropos Freundin, wie sieht es denn bei dir aus, gibt es da jemanden, von dem wir noch nichts wissen?“ fragt Mutsch. Sofort wird ich rot und verlegen: „Nein, nein, da ist nix, das hat sich bisher nicht ergeben“, versichere  ich ver-legen.

Mutsch meint: „Manchmal habe ich den Eindruck, das ist dir peinlich, wenn ich dich so etwas frage?“ „Na Ja, Mutsch, es ist schon ein bisschen peinlich, weil es ja keine Antwort auf diese Frage gibt. Ich weiß auch nicht, ob sich das in absehbarer Zeit im Sinne der Frage ändern wird. Ich bin mir über wen und wann und auch über mich selber noch nicht im Klaren“, erwidere ich mit rotem Kopf und schaue dabei auf die Tischplatte.

„Nun, wen und wann du auch immer hier mal  jemanden als deinen Schatz vorstellen wirst“, sagte Mutsch, „ die Person wird uns willkommen sein, wenn es dann ein guter Mensch ist und dich glücklich macht. Und sollte es sich, wie ich jetzt schon vermute, ein Junge sein, dann ändert das nichts an unserem Verhältnis, Hauptsache du wirst glücklich!“

Was war das denn jetzt, bin ich jetzt out oder wie war das gemeint?

„Ole, guck nicht so, du hast mich schon richtig verstanden. Wenn du schwul bist, dann ist das so und ich habe dich immer noch genau so lieb“, legt Mutsch nach. Mir schießt das Wasser in die Augen und durch den Schleier sehe ich Mutsch, die auf mich zu kommt. Sie nimmt mich in den Arm und drückt mich an sich und streicht mir über den Kopf. „Is ja gut mein Junge, Wein man nicht.“ Sie hält mich einfach nur.

Nach zwei Minuten sind die Tränen versiegt und ich erkenne langsam, was hier gerade passiert ist. Meine Augen suchen Marie und als ich ihr Gesicht finde, sehe ich ein kleines Lächeln auf ihren Lippen, so als wollte sie sagen:“Das habe ich doch schon lange geahnt“.

Soviel zu meinem Geheimnis. „Das muss ich jetzt erst mal verarbeiten“, sage ich und mache mich aus Mutschs Armen frei. Ich wisch mir die Tränen aus dem Gesicht und gehe in mein Zimmer. Erst als ich auf dem Bett liege, wird mir richtig bewusst, dass jetzt alle hier im Haus wissen, dass ich schwul bin.

In mir wächst ein positives Gefühl, endlich ist es raus, kein Verstecken mehr, keine Angst mehr, entdeckt zu werden. Ich muss wieder etwas Weinen, aber jetzt wohl eher aus einem Glücksgefühl heraus. OH Mann, bin ich so froh, dass alle damit zurechtkommen.

In dieser Nacht habe ich viel geträumt, was genau, kann ich nicht sagen, aber mein Short war reif für die Wäsche und ich fühlte mich ziemlich schlapp. Offenbar hatte mein Unterbewusstsein auf die Tatsache, dass jetzt bekannt war, das ich auf Jungs stehe, eine ganze Horde solcher in mein Bett geschickt und das mir, der ich doch immer noch „jungfräulich“ war.

Nachdem die Spuren des nächtlichen Traums, das Bettlaken war auch fällig, beseitigt waren, machte ich mich fertig für die Schule. Heute Morgen ging’s in Deutsch ums Eingemachte. Bevor es aber aus dem Haus ging, frühstückten wir noch zusammen. Mutsch konnte sich ein kleines Lächeln heute Morgen nicht verkneifen und auch Marie schaute öfter als sonst in mein Gesicht. „Ich bin immer noch der gleiche wie gestern“, sage ich, „warum lacht ihr so mit mir“, will ich wissen.

„Nun, ich bin froh, dass wir nun alle wieder gut drauf sind und keine Geheimnisse mehr haben“, sagt Mutsch und Marie meint: „ Ich hoffe, das du mir nicht versuchst, meine Freunde aus zu spannen. Das würde mir,  glaub ich, gar nicht gefallen.“

„Ich denke, davor musst du keine Angst haben, ich werde dir schon nicht in die Quere kommen, aber genug davon, wir müssen los, die Penne wartet nicht“, sagte ich und nahm meinen Rucksack, gab Mutsch einen dicken Kuss und wandte mich zur Tür. Marie folgte mir auf dem Fuß.

Armin und Denise warteten am Kiosk auf mich, das war unser morgendlicher Treffpunkt. Sie waren früher in der Schule, weil sie mit einem anderen Bus kamen. Marie ging gleich weiter zu ihren Klassenkameradinnen. „Du strahlst so Ole, ist was passiert, was wir noch nicht wissen?“, fragte Denise. Sie merkte immer sofort, wie ich gerade drauf war „Ich bin seit gestern out bei Mutsch und Marie“, sagte ich nicht ohne Stolz und mit freudigem Grinsen. „Erzähl“, sagte Armin nur.

Also erzählte ich den beiden, was gestern passiert ist. „Krass“, sagte Armin grinsend, „dann können wir ja jetzt endlich ein Schätzchen für dich suchen. Auf was stehst du denn so, fall ich auch in dein Beutechema?“  „Lass gut sein, Armin, du bist mein Freund, aber als mein Herzblatt kommst du nicht in Frage und außerdem, du stehst ja wohl auf Frauen“, erwiderte ich.

„Wir müssen los, viel Glück bei deinen Klausuren, wir sehen uns heut Mittag hier“, sagte Denise und die zwei verschwanden Richtung Klasse. Auch ich ging los und kam gerade noch rechtzeitig, um vor Frau Zimmer, unserer Deutschlehrerin in die Klasse zu schlüpfen. Und dann ging es los, Dauerstreß, unterbrochen von zwei kurzen Pausen unterbrochen, bis 11:50Uhr, dann war auch dieses Fach geschafft. Das Wochenende konnte kommen.

Am Kiosk warteten meine beiden Freunde und gemeinsam gingen wir raus auf den Pausenhof. Armin fragt mich: „Kannst du mir heute Nachmittag beim Einkaufen helfen, meine Mutter fährt uns, aber ich will nicht, dass sie die Kasten schleppen muss“. „Ok, wann soll ich denn bei Euch sein?“ frage ich.  „14:00  Uhr reicht“, meint Armin.

Ich werde mit dem Fahrrad ungefähr 20 Minuten brauchen, also sag ich: „Ok, dann muss ich aber jetzt los und gucken, das ich nach Hause komme. Ich will noch in Ruhe was essen und muss auch noch andere Klamotten anziehen. Bis später dann“.

Zu Hause angekommen, bring ich meine Schulsachen auf mein Zimmer. Dann mach ich mir eine Kleinigkeit zu Essen und nachdem ich alles wieder verräumt  habe, geh ich mir andere Klamotten anziehen. Nun wird es Zeit aufzubrechen und zu Armin zu fahren. Mit dem Fahrrad ist das schnell erledigt und 20 Minuten später steh ich vor deren Haus.

Auf mein Klingen öffnet mir seine Mutter: „Hallo Ole, schön das du da bist, Armin hat gesagt, das du mit  zum Einkaufen für die Party fährst. Da brauch ich ja keine Kasten schleppen. Komm rein, Armin zieht sich gerade noch um, dann können wir fahren“. Ich gehe ins Haus und setz mich in der Küche auf einen Stuhl während Frau Köhler noch ein Paar Taschen für den Einkauf zurechtlegt.

Armin kommt die Treppe runter und ruft; „Ich bin fertig, wir können los, Mama“. So machen wir uns auf den Weg zum Auto und fahren zum nächsten Supermarkt. Mit zwei Einkaufswagen fahren Armin und ich im Schlepptau von Frau Köhler zuerst mal in die Getränkeabteilung.

Dort stellt Armin diverse Getränke in die Wagen. Harter Alkohol ist nicht dabei, denn für Gelage und Koma saufen sind wir nicht zu haben. Nicht, das wir nicht schon mal gut angedudelt waren, aber so richtig voll laufen lassen, das taten wir nicht.

Mixgetränke, Bier mit Limo oder Cola, und ein paar Flaschen Sekt sowie einige Kasten Alkoholfreie Getränke wandern in die Wagen. Nun geht’s zum Knabberzeug, auch da wird einiges eingeladen und dann kauft Frau Köhler noch was zum Kochen, Kasseler, Sauerkraut und so, das hat Armin sich gewünscht.

Nun noch ein bisschen Deko und so und fertig war der Großeinkauf. Frau Köhler gab dann noch einen Kaffee aus und nach dem alles im Auto verstaut war, machten wir uns auf den Heimweg. Dort angekommen, wurde das Zeug ausgeladen und je nach Art verstaut. Die Getränke verschwanden im Keller, hier war übrigens auch der Partyraum, wo die Fete steigen sollte. Die Lebensmittel wurden in der Küche verstaut und die Deko an Ort und Stelle, sprich im Partyraum gelagert. Morgen wollten wir dann den Raum fertigmachen.

„Komm, Ole, wir gehen in mein Zimmer“, sagte Armin und wir machten uns die Treppe hoch. Sein Zimmer war recht groß und gut eingerichtet und im Gegensatz zu meinem Zimmer eher etwas chaotisch, was die Ordnung angeht. Nur Armin hatte den Überblick über das Chaos und wusste fast immer wo das Teil lag, das er gerade suchte. Mir war das etwas zu viel durcheinander hier aber es war doch irgendwie gemütlich.

„Räum dir was frei und setz dich“, sagte Armin, „willste eine Cola oder sowas?“  „Cola ist  gut“,  sagte ich und Armin ging an seinen Kühlschrank, so ein kleiner wie sie oft in Hotelzimmern zu finden sind und gab mir eine Cola.

„Es geht dir anscheinend wesentlich besser, seit deine Familie weiß, dass du auf Jungs stehst, oder?“ fragt mich Armin frei raus. „Ja, ich bin echt froh, dass sie es so cool aufgenommen haben und es ist mir echt ein Stein vom Herzen gefallen. Ich habe bestimmt ein saudummes Gesicht gemacht, als mich meine Mutter regelrecht überfahren hat. Als mir dann bewusst wurde, dass sie mich gerade geoutet hatte, konnte ich mir ein paar Tränen nicht verkneifen“, antworte ich. „Na siehste, jetzt hast du eine große Sorge weniger. Nun müssen wir nur noch ein Schätzchen für dich suchen“, meint er grinsend.

„Das ist gut von dir gemeint“, antworte ich „aber das werde ich wohl lieber selber machen. Erstens weiß du ja gar nicht, auf welchen Typ Junge ich abfahre und dann mische ich mich ja auch nicht in deine Suche nach einer Partnerin ein. Also halte dich besser daraus, das will ich selber tun.“

„Gut Gebrüllt, Löwe“, sagt Armin, „du bist doch viel zu schüchtern, irgendwen anzusprechen, wenn er dir gefällt. Du wirst doch schon rot, wenn einer nach dir guckt“. „Jetzt mach mal halblang“, entgegne ich, „wenn der richtige kommt, wird sich das wohl ändern. Ich bin halt so, wie ich bin und  starre halt nicht gleich jedem, der mir gefällt, hinter her und fang an zu sabbern.“

„ Wir werden sehen“, sagt Armin, „komm, wir stöbern mal ein bisschen im Internet, da sind doch bestimmt ein Haufen Typen. Dann kannst du mir ja mal sagen, welcher Typ dir gefällt.“ Das wurde mir jetzt doch zu persönlich und es wäre mir auch unangenehm, hier mit Armin schwule Seiten nach Jungs abzusuchen, die mir gefallen.

„ Tut mir leid, Armin, aber das will ich jetzt nicht, das würde mich jetzt überfordern, mit dir hier nackte Typen anzuschauen und dann zu sagen, auf wen ich abfahre. Soweit bin ich noch nicht, dass ich das jetzt möchte. Vielleicht später einmal in naher Zukunft, aber nicht heute. Komm, wir gehen in den Partykeller und dekorieren noch eine Stunde. Das bringt Dich und mich auf andere Gedanken.“

„Ok, du eiserne Jungfrau, dann gehen wir eben dekorieren, aber das ist jetzt nur aufgeschoben. Ich will wissen auf welche Jungs du stehst, wenn nicht heut, dann aber bald, wenn du deine Schüchternheit überwunden hast und mir als deinem besten Freund vertraust, “sagt er und knufft mich in die Seite. Gemeinsam gehen wir nach unten und widmen uns der Verschönerung des Partykellers. Nach etwa eineinhalb Stunden mache ich mich dann auf den Heimweg, mit dem Versprechen, morgen um 15:00 Uhr wieder da zu sein, um den Rest noch vor zu bereiten.

Mutsch ist auch schon zu Hause und ist in der Küche beim Herrichten des Abendessens, das ja auch immer zugleich unser gemeinsames Essen ist. Sie wirkt etwas bedrückt und ist offensichtlich mit den Gedanken woanders.

Erst nach zweimaligem Gruß meinerseits reagiert sie und begrüßt mich. „ Ich war in Gedanken gerade bei Jerome. Er leidet offensichtlich sehr unter seiner Verletzung, die Tanten hatten heute kein anderes Thema und sie machen sich Sorgen, das der Junge das alles verkraftet. Der Vater hat jetzt noch einen Psychologen engagiert, der sich um den Jungen kümmert. Das Ganze ist einfach tragisch und der Junge tut mir sehr leid.“

„ Mal was anderes, Mama“, sage ich, „ wenn die Klausuren rum sind, werde ich mir einen Ferienjob suchen. Du weißt, ich will den Führerschein machen und das Geld dazu werde ich mir in den Ferien verdienen. Ich werde versuchen, irgendwas im Gartenbereich oder im Landschaftsbau zu kriegen, da hab ich ja mittlerweile ein bisschen Erfahrung und das wird mir dann wohl zu Gute kommen.

„Ich finde die Idee nicht schlecht, aber wenn es geht, dann mache wenigstens zwei Wochen Ferien, arbeiten musst du später noch viele Jahre und je nach dem, was du nach dem Abi machen willst, tut dir ein bisschen Urlaub ganz gut“, meint Mutsch, die jetzt mit der Zubereitung des Essens fertig ist. „Ruf bitte Marie, wir wollen essen“, sagt sie zu mir und ich mache mich auf den Weg nach oben, um meine Schwester zu holen.

Während der gemeinsamen Mahlzeit erzählen wir uns dann nochmal gegenseitig, wie der Tag so verlaufen ist. Nach dem Abwasch, den Marie und ich erledigen, geht jeder seinen Interessen nach. Mama guckt ein bisschen Fernsehen, irgend so eine Serie, ich sage immer „Sülze“, Marie geht auf ihr Zimmer telefonieren, mir scheint, sie hat sich in Heiner verliebt, und ich geh auf mein Zimmer.

Dort mache ich meinen PC an, logge mich ein und schaue, ob ich E-Mails habe. Bis auf drei  Werbemails und eine Nachricht von EBay ist nichts gekommen. Vor einiger Zeit, als ich mir darüber im Klaren wurde, dass ich auf Jungs steh, habe ich natürlich im Internet gesurft und mir einen Überblick darüber verschafft, was es da an schwulen Seiten so alles gibt. Natürlich habe ich das alles Mal durchstöbert und einiges hat mich auch angemacht, aber nicht alles. So bin ich dann auch auf Seiten gestoßen, auf denen Geschichten zu lesen waren.

Geschichten, die sich mit Liebe, Freundschaft und vielen unterschiedlichen Schicksalen befassten, oft tragisch ,oft schön und manchmal so rührselig, das man heulen musste, eben einfach schön. Diese Seiten besuchte ich regelmäßig und sucht nach Geschichten, die ich dann mit Begeisterung las, oft stundenlang.

Auch jetzt schaue ich dort nach, um zu sehen, ob es neue Geschichten gibt. Manche hatte ich schon öfter als einmal gelesen. Sie waren einfach so gut, dass man sie mehr als einmal lesen konnte. Manche Geschichten waren auch so komplex, das es Sinn machte, sie mindestens ein zweites Mal zu lesen. Ich lese zwei neue Geschichten, dann ist es auch schon 22:00Uhr und ich geh mal duschen um dann anschließend schlafen zu gehen. Zwar ist morgen Samstag, aber der wird mit Sicherheit sehr lang werden bei Armin. Also lieber etwas vorschlafen.

Samstag 24.04,2010 09:35

Jerome

Meine Mutter hat mich vor 20 Minuten geweckt und nun sitze ich, von Martin hinein gesetzt, in der Badewanne. Der Blick auf meine verstümmelten Beine ist grausam und kaum zu ertragen für mich. Die Brandnarben sind weitgehend verheilt, dank der Hauttransplantationen, aber die Füße sind halt nicht mehr da. Mir kommen wieder die Tränen hoch und nur mühsam kann ich mich wieder fassen.

Gleich kommt der Techniker mit den Prothesen und die sollen dann angepasst werden. Irgendwann in zwei oder drei Monaten soll ich dann wieder einigermaßen laufen können. Es fällt mir nicht leicht, daran zu glauben und es ist auch zurzeit für mich nicht vorstellbar, wie das funktionieren soll. Allein schon die Tatsache, dass da ein wildfremder Mann kommt und an meinen verkrüppelten Beinen rum schafft, macht mir Angst.

Nach dem ich mich gewaschen habe, klingel ich nach Martin, der mich heraus hebt und in einen bereit stehenden Liegestuhl setzt, so dass ich mich abtrocknen kann. Meine frische Unterwäsche liegt in Reichweite und als ich fertig bin, trägt Martin mich in mein Apartment, wo ich ein Shirt und eine Bermuda anziehe. Jetzt kann der Typ kommen und mir meine Ersatzfüße anpassen. Ich bin mal gespannt, was da jetzt passiert.

Zur selben Zeit

Ole

Der Wecker rappelt und nach fast 12 Stunden Schlaf steh ich fit und hungrig auf. Erst mal frühstücken jetzt. Mutsch ist heute arbeiten, hoffentlich hat sie an den Nudelsalat für Armins Geburtstag gedacht. Zuerst mal runter und in die Küche.  Der Kaffee ist schnell gekocht und jetzt wird erst mal ausgiebig gefuttert. Marie erscheint ebenfalls schon und jetzt frühstücken wir gemeinsam. Der Geburtstag ist Thema und dann rückt sie damit raus, dass sie mit Heiner auch dort hin kommt. Armin hat gesagt, dass sie Freund oder Freundin mitbringen können und Heiner hat sie gefragt, ob sie mit ihm hingeht.

Sie ist ganz happy und richtig aufgedreht. „ Vielleicht wird das was mit dir und Heiner, der ist echt in Ordnung und wenn er dich gefragt hat, dann will er auch bestimmt mit dir gehen“, sag ich. „Ich bin ganz aufgeregt, ich mag ihn sehr gern, aber wir kennen uns ja noch nicht so richtig. Aber ich freu mich ganz Doll auf heute Abend“, meint Marie.

Nachdem wir fertig sind, verräumen wir die Sachen und jeder geht in sein Zimmer. Ich geh duschen und zieh mich an. Es sind noch einige Dinge in Haus und Garten zu machen und so mache ich mich an die Arbeit. Die Zeit vergeht wie im Flug und bald ist es an der Zeit, etwas zu Mittag zu essen. Marie hat einen Imbiss vorbereitet und nach dem Essen geh ich hoch und  mach mich fertig für den Besuch bei Armin.

Natürlich muss ich mich nach der Gartenarbeit noch einmal duschen, das stört mich aber in keiner Weise Ich geniesse die heißen Strahlen auf der Haut und lass mir diesmal viel Zeit. Erst der Gedanke an die Wasserrechnung lässt mich die Hähne zudrehen. Nun werfe ich mich in meine coolsten Kleider und bevor ich aufs Rad steige, lass ich mich noch von Marie begutachten. Sie ist mit meinem Äußeren sehr zufrieden und so steige ich frohgemut in die Pedalen. Das wird bestimmt eine tolle Fete und vielleicht lernt man ja mal wen kennen.

Jerome

Fast drei Stunden war der Mann, ein Dr. Schmelzer, bei mir und hat sich mit meinen Beinen und mit den Prothesen beschäftigt. Damit ist die erste Anpassungsphase beendet und nun werden die Teile auf meine Beine bezogen angepasst. Das dauert etwa eine Woche und dann muss ich in die Klinik zum Anziehen und Ausprobieren.

Der hat einen kompetenten Eindruck gemacht und auch keine Mitleidstour abgezogen. Es wurde alles vermessen, Nervenströme gemessen und Sensoren an die Beine geklebt. Dann wurden die Prototypen angezogen und festgemacht. Ich bin dann nach Aufforderung aufgestanden, hatte aber gleich Schmerzen. Das ist normal, das Bein muss sich an die Prothese gewöhnen, hat der Schmelzer gesagt. An seiner und Martins Hand habe ich dann ein paar Schritte gemacht aber außer Schmerzen nicht sonderlich viel empfunden.

Wenn das immer so weh tut, dann pfeif ich auf die Dinger. Herr  Schmelzer hat dann mit einen Reizstromgerät noch Nervenbahnen am Fuß stimuliert. Wenn der Strom auf die Nerven getroffen ist, hat der Sensor Impulse an die Prothese abgegeben.

Herr Schmelzer war mit den Ergebnissen zufrieden und meint: „ Wenn noch ein halbes Jahr ins Land gegangen ist, werden sie wieder fast ganz normal gehen können und wenn sie die Prothesen und die Nerven richtig beherrschen, wird keiner, der es nicht weiß, vermuten, dass sie ihre Füße verloren haben. Sie müssen Geduld haben und einen festen Willen und viel, viel üben. Das war es erst mal für heute und nächste Woche sehen wir uns in der Klinik“.

Er ließ eine große Tube mit einer speziellen Salbe da. Mit dieser Salbe müssen die Stümpfe und die Hautpartien bis zu den Knien jetzt fünfmal täglich eingerieben werden, damit die Haut widerstandsfähig  wird und trotzdem sensibel  bleibt. Das wird Martin übernehmen und bestimmt täglich auf die Minute genau nach Anweisung handeln.

Als er weg war, kommt  Mama gleich und will wissen, wie es gegangen ist. Ich erzähle ein bisschen, Martin erstattet einen präzisen Lagebericht, was nicht anders zu erwarten ist. Dann  beginnt er mit der ersten Salbenbehandlung und er geht weiß Gott nicht zimperlich mit meinen Beinen um.

„Beiß die Zähne zusammen, das ist halb so schlimm“, sagt er und massiert die Salbe ein. Mit der Zeit lässt der Schmerz etwas nach und es ist erträglich. Nach 20 Minuten macht er Schluss, ich bin froh und nachdem die direkte Einwirkung beendet ist, hinterlässt die Salbe ein Kribbeln, das durchaus nicht unangenehm ist. Es fühlt sich an, als ob die Durchblutung aktiviert worden ist und ein warmes Gefühl breitet sich aus.

„Bring mich bitte in meinen Rollstuhl oder bring den Stuhl zu mir. Ich möchte in den Garten und danach will ich zur Oma, bei der war ich schon viel zu lange nicht mehr. Papa lässt sich auch kaum noch sehen, manchmal mein ich, er hat ein Problem damit, dass ich jetzt ein Krüppel bin. Das tut weh, Mama, das kannst du ihm mal sagen“, mache ich mir mal etwas Luft nach der ganzen Prozedur.

„Dein Vater ist im Moment viel beschäftigt“, will Mama ihn entschuldigen. „Er läuft vor meinem Anblick  weg, er wird da nicht mit fertig. Aber ich soll damit fertig werden“, sage ich, etwas erbost über ihren Entschuldigungsversuch. Einmal in Fahrt, mache ich weiter: „Er wird noch mehr Enttäuschungen über seinen Sohn hinnehmen müssen. Ich bin nämlich nicht nur ein Krüppel, nein, ich bin auch noch schwul, ich mag Jungs. Ob ihr das akzeptieren könnt weiß ich nicht, aber es ist so.

Schweigen, große Augen sind auf mich gerichtet, füllen sich langsam mit Tränen. Auch mir kommen die Tränen und ich schließe meine Augen.

Zwei Arme schließen sich um mich und mein Kopf wird an Mutters Brust gepresst. Sie sagt kein Wort aber ihr Verhalten sagt mir, dass es ihr gar nichts ausmacht, das ich schwul bin, das sie mich trotzdem liebt, vielleicht noch mehr als vorher. Sie streichelt meine Haare, so wie sie es früher oft gemacht hat, als ich noch klein war.

Ein Räuspern im Hintergrund deutet an, das Martin mit dem Rolli zurück ist. Mama gibt mich frei und küsst mich auf die Stirn, „Mein Junge, ich bin deine Mutter und ich liebe dich, egal was kommt und ich bin immer auf deiner Seite und immer da, wenn du mich brauchst“, sagt sie und hilft mir, in den Stuhl zu kommen,  „Geh in den Garten und wenn du willst, soll Martin dich zur Oma bringen.

Martin fuhr mich in den Garten, besser gesagt in den Park, denn der Garten war riesig und alles war schön angelegt. Wir hatten einen eigenen Gärtner, der die Anlagen das ganze Jahr über betreute. Der wohnte in einem kleinen Haus unmittelbar am Eingang zu unserem Anwesen. Früher hatte ich ihm oft zu gesehen und auch mal geholfen, aber mit zunehmendem Alter war das eingeschlafen. Er müsste so alt sein wie Martin, glaub ich.

Auf den Wegen durch den Park konnte ich gut allein fahren und ich bat Martin, auf mich zu warten, bis ich wieder zurück komme. Allein fuhr ich die Wege entlang bis zum Ende und wieder zurück. „Ich bin geoutet, was wird Vater wohl sagen? Ob Mutter es ihm  erzählt? Es wäre besser, ich würde das selber tun, Sobald ich ihn sehe, werde ich es sagen.“ Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf und ich hatte ein bisschen Angst vor Vaters Reaktion.

Ich machte mich auf den Rückweg und nach etwa 15 Minuten, ich fuhr noch ein bisschen kreuz und quer, kam ich bei dem wartenden Martin an, der jetzt den Rolli Richtung Haus schob. Mit dem erst nach meinem Unfall eingebauten Lift fuhren wir hoch in den ersten Stock, wo Oma mit ihrer Schwester wohnte, und klingelte an ihrer Eingangstür. Frau Jensen, Omas Betraute, öffnete und war wohl etwas erstaunt, mich zu sehen, war ich doch lange nicht mehr hier oben gewesen.

„Hallo, Herr Jerome, das wird die Damen aber freuen, kommen sie bitte herein. Die Beiden sind im Wohnzimmer und spielen gerade eine Partie Rommé“, sagte Frau Jensen und ließ mich vorbei.

Ich fuhr gerade Wegs ins Wohnzimmer, wo die beiden alten Damen sofort als sie mich sahen, die Karten fallenließen, aufsprangen und auf mich zu kamen um mich zu erdrücken. „So eine Überraschung, dich hier oben zu haben. Wir haben dich in der letzten Zeit ja kaum gesehen. Schön, dass du gekommen bist. Frau Jensen kann dir gleich mal einen guten Kakao machen, den  trinkst du doch immer so gern“, redete Oma wie ein Wasserfall drauf los.

Vorsichtig befreite ich mich von den Beiden und strich meine Haare wieder ein bisschen in die richtige Richtung. Sie setzten sich wieder hin und sahen mich erwartungsvoll an. Frau Jensen kam und stellte eine große Tasse heißen Kakao vor mich hin und goss den beiden Damen noch Tee nach. Dann ließ sie uns allein. Martin war wohl in der Küche oder wieder nach unten gegangen. Ich war mit Oma und ihrer Schwester allein.

 

 

 

 

 

 

 

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3 Kommentare

    • niffnase auf 9. November 2011 bei 21:08
    • Antworten

    Nun ist der zweite Teil fertig und bei Pitstories lesbar. Der 3. Teil ist angefangen.
    Viel Spass beim Lesen

    LG Niffnase

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    • Alexander auf 10. August 2011 bei 06:29
    • Antworten

    Hallo Niffnase,

    eine sehr schöne Story – warte sehr auf die Fortsetzung.

    Gruß

    Alexander

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    • Schneider Michael auf 1. August 2011 bei 20:37
    • Antworten

    Hallo Niffnase,

    eine Wunderschöne Geschichte, ich ahne die Fortsezung und bin aber doch wahnsinnig neugierig auf die Fortsetzung ob ich auch wirklich recht habe.
    Laß nicht zu lange auf sie warten.

    Gruß Michael

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