Boycamp IV – Teil 10

Stein wuschelte seine Haare, schon wieder.

„Weiß ich. Aber komm, wir sollten langsam ans Abendessen denken.“

Unter der Tür blieb Stein stehen.

„Ach, noch etwas. Ich habe mich erkundigt, wir werden keinen Ersatz für Nils bekommen.“

„Wieso das denn nicht?“

„Es würde zu lange dauern, bis da alles in die Wege geleitet ist. Sie haben niemanden, den man sofort hierher bringen könnte.“

„Oh, das ist schade.“

Das Feedback nach dem Abendessen fiel kurz aus. Das Ergebnis der Reihenaufnahmen, Haber trug Jonas‘ Lebensgeschichte in Kurzform vor und auch, welche Maßnahmen wegen seines Berufs ergriffen werden können.

Als Nico später vor das Haus trat, um nach dem Wetter zu sehen, hatte es aufgehört zu schneien. Die Luft war nicht kalt und so begann die weiße Pracht schon wieder, dahin zu schmelzen.

„Ah, Rick. Sag mal, wo treibst du dich eigentlich den ganzen Tag herum?“

Das Fell des Husky war über und über mit Schnee und kleinen Eisklümpchen bedeckt, vermutlich war er durch irgendwelche Hecken geschlichen. Er schüttelte sich kurz, blickte einen Moment zu Nico hoch und trottete dann über den Vorplatz in Richtung Wald.

Der Rüde fühlte sich bei dem Wetter offensichtlich in seinem Element und trotzdem fiel Nico auf, dass sich der Hund seit dem letzten Camp irgendwie verändert hatte. Er kam ihm nun größer und kräftiger vor. Vielleicht war es auch nur das Winterfell. Sein Gesichtsausdruck, wenn man das so nennen wollte, war erwachsen geworden. Nicht mehr so sehr der knuddelige Hund.

Nico fielen plötzlich Fußspuren auf, die einsam und getrennt von den übrigen Spuren am Haus entlang führten. Es lag in seinem Blut, dass er neugierig wurde und den Spuren folgte. Sie führten direkt zum Eingang des Heizwerks und auf demselben Weg wieder zurück.

Ohne die Spuren zu zerstören, ging er zurück zum Haus, wo er auf Rainer Bode stieß.

„Rainer, weißt du wo Leo ist?“

„Hm, den hab ich vor ein paar Minuten im Flur gesehen. Wahrscheinlich ist er hoch auf sein Zimmer.“

Kurz darauf klopfte Nico an Leos Tür und bekam Antwort. Er trat ein.

„Sag mal Leo, warst du vor Kurzem im Heizwerk?“

„Nee, seit heute Morgen nicht, warum?“

„Geht da sonst noch jemand von uns hin?“

„Eigentlich nicht, den Schlüssel habe sowieso nur ich. Aber warum fragst du?“

„Komisch, es führen vom Haus Spuren im Schnee dahin.“

„Wird einer der Jungs gewesen sein. Die sind ja auch mal neugierig.“

„So eine Schuhgröße hat hier keiner, das waren richtig große Latschen. Kann ja sein, dass das nichts zu bedeuten hat, aber ich hab mal wieder so ein komisches Gefühl.“

Leo stand vom Schreibtisch auf und nahm seine Jacke vom Haken. Er kannte inzwischen Nicos Ahnungen und das Ganze einfach als harmlos abzutun, das wollte er deshalb nicht.

„Na, dann lass uns das mal näher anschauen.“

„Hm, in der Tat, da war jemand an der Tür“, grübelte Leo kurze Zeit später.

„Von uns war’s ja aber scheinbar keiner.“

Leo bückte sich und leuchtete mit der Taschenlampe auf eine der Spuren.

„Stiefel, von der groben Sorte. So welche hat hier von uns keiner. Wir nicht und die Jungs erst recht nicht.“

„Das habe ich auch so gesehen, darum kommt mir das seltsam vor. Aber ein Fremder? Hier? Da wäre doch Rick aufs Programm gekommen.“

„Auf den würde ich mich im Moment nicht so verlassen. Der ist den lieben langen Tag verschollen, weiß der Geier wo der sich herumtreibt.“

Nico fröstelte. Er musste an die Leute an dem Sender oben denken. So unwahrscheinlich es auch klang, wenn jemand etwas Böses wollte, wäre er am Heizwerk sicher an der richtige Adresse.

„Leo, das gefällt mir nicht. Wir sollten besser aufpassen.“

„Ich frage mich nur, wer sollte denn da was zu suchen haben und warum?“

Leo rieb sich nachdenklich am Kinn.

„Nun, Gesindel gibt’s ja überall. Aber hier war ja eindeutig auch nur eine Person.“

„Ausspähen?“

„Nico, der muss alle Augenblicke damit rechnen, dass jemand von uns aus dem Haus kommt oder sogar da ins Heizwerk will. Das ist alles nicht logisch irgendwie.“

Nico sah ein, dass das keinen Sinn ergab.

„Na ja, sicher hast du recht. Wir sollten trotzdem den Koch und den Hausmeister fragen. Wieso hat der eigentlich keinen Schlüssel? Wäre das Heizwerk nicht in seiner Regie?“

„Doch im Grunde schon. Aber er hat noch ein paar andere Häuser im Ort und außerhalb zu bedienen und wenn an der Anlage etwas wäre, könnte es dauern bis er hier ist. Da ich ja mal in der Branche tätig war – als junger Mann wie du – kenn ich mich soweit ganz gut aus, weshalb er mir auch den Zweitschlüssel gegeben hat. Aber du hast recht, wir sollten alle fragen.“

Doch keiner der beiden war da draußen, wie sich später herausstellte. Holzmann kam gar nicht erst ins Freie, wie er leicht betrübt erklärte und Eidamer war den ganzen Tag nicht im Camp.

Die beiden verließen den Ort und berichteten Stein umgehend von ihrer Entdeckung.

„Gut, wir wollen mal nichts dramatisieren. Trotzdem werde ich Rick zur Wache verdonnern, der hat hier auch eine Aufgabe. Außerdem ist es ihm egal, wenn er nachts draußen sein muss. Ich kann ihm vielleicht auf die Schnelle eine Hütte basteln.“

„Oh, wenn du magst, kann ich das machen, Falk. Ich denke außerdem, morgen sind ja noch die Befragungen durch Haber, vielleicht möchten die Jungs mithelfen, wenn nichts Besonderes auf dem Plan steht. Ich schau mal, was wir alles brauchbares hier haben. Da ist doch genug Holz im Lager, bestimmt finden wir was für eine kleine Hütte.“

Leo nickte.

„Dann kommt, lass uns mal nachsehen.“

Sie betraten kurz darauf das kleine Heizwerk, durchquerten den Kesselraum und betraten das Holzlager. Es war größer, viel größer als es sich Nico vorgestellt hatte. Da lagerten Holzscheite, Bretter, sogar richtige zugeschnittene Baumstämme. Der Geruch nach Holz und Harz erfüllte die Luft und machte sie fast stickig. Dazu kam, dass es durch die Trockenheit recht staubig war.

„Schau mal, da hinten sind ganze Latten gestapelt.“

Nico ging in die Ecke, in der die Latten bis fast unter das fast drei Meter hohe Dach gestapelt lagen. Plötzlich spürte er einen kühlen Luftzug. Er sah sich um, dann nach oben.

„Du, Leo, ist es so gewollt, dass das Dachfenster offen steht? Da kann’s ja reinregnen wenn es dumm kommt.“

Leo stellte sich neben ihn und sah nach oben.

„Nee, das hat nicht offen zu sein. Außerdem bin ich ziemlich sicher, dass das geschlossen war. Wär ja auch wirklich Unsinn. Und mir zudem aufgefallen.“

Einen Moment lang sahen sie sich an.

„Leo, es gibt doch ganz bestimmt einen Zweitschlüssel. Den solltest du dir zeigen lassen. Ich kann mir vorstellen, dass die Luke da oben jemand mit ganz bestimmten Absichten geöffnet hat.“

„Du meinst, es war wirklich jemand hier? Eidamer hat den Zweitschlüssel, das weiß ich genau.“

„Wir haben ja gesehen, dass die Tür verschlossen war und Gewalt hat da auch keiner ausgeübt. Also muss jemand ganz normal aufgeschlossen haben.“

„Nico, das ist aber kein Sicherheitsschloss. Mit etwas Übung kriegt das jeder mit einem Dietrich auf.“

„Umso schlimmer, Leo. Von alleine geht so eine Luke doch nicht auf. Außerdem könnte man ohne Probleme dort oben einsteigen.“

„Aber was hat man hier denn gewollt? Die Anlage läuft einwandfrei, soweit ich das beurteilen kann.“

Stein hatte inzwischen alle Ecken und Nischen des Lagers durchsucht.

„Ich habe nichts Verdächtiges gefunden, aber Tatsache scheint zu sein, dass jemand hier war und wenn die Klappe absichtlich aufgemacht wurde, dann steckt da auch etwas dahinter.“

„Falk, ich weiß, wir sollten da erst mal kein Drama draus machen, aber ich denke nur dran, dass jemand versuchen könnte, das Holz anzuzünden. Man braucht bloß einen brennenden Lappen da oben reinwerfen. Das Holz hier ist knochentrocken.“

„Dazu müsste jemand über mehr als nur kriminelle Energie verfügen, Leo. Wenn das hier brennt, dauert es ein paar Minuten bis auch das Haus in Flammen steht. Aber gut, zuerst mal schließen wir die Klappe. Ab morgen bewacht Rick das Haus, außerdem befragen wir die Jungs, ob ihnen irgendjemand hier aufgefallen ist, den sie nicht kennen.“

Kurz darauf betraten die drei den Gemeinschaftsraum. Es traf sich sehr gut, dass alle Jungs vor dem Fernseher versammelt waren und noch besser, dass gerade Werbung lief.

Stein nahm die Fernbedienung und stellte den Ton ab.

„Jungs, hört mir mal bitte einen Augenblick zu. Es besteht Grund zur Annahme, dass sich ein oder mehrere Fremde hier am Haus aufgehalten haben. Das ist zunächst nicht weiter Schlimm, aber wir wollen natürlich nicht, dass hier irgendwelche Leute herumschnüffeln. Außer uns hat auf dem Gelände niemand etwas zu suchen. Ich denke, das ist auch genau in eurem Sinne. Daher meine Frage: Ist euch heute Abend irgendjemand aufgefallen? Einen, den ihr nicht kennt oder zumindest der euch im Dunkeln merkwürdig vorkam?“

Nico sah in die Runde. Es war ein merkwürdig vertrautes und ruhiges Bild, das sich ihm bot. Alle hatten ihre neuen Jogginganzüge an und keiner sah auch im Entferntesten verwahrlost oder heruntergekommen aus.

Timo räusperte sich und setzte sich von seinem Sessel auf.

„Da war heut Abend einer draußen.“

Steins Augen verkleinerten sich.

„Kanntest du ihn?“

„Nein, es war ja auch schon dunkel. Aber der ging einfach an mir vorbei ohne zu schauen oder was zu sagen.“

„Und du hast dir keine Gedanken gemacht, was der hier wollte?“

„Na ja, ich wusste ja nicht, ob der hier irgendwie dazugehört. Darum hab ich mir dann auch keine weitere Gedanken gemacht.“

„Würdest du den wiedererkennen?“

„Hm, der hatte ne Mütze tief ins Gesicht gezogen, das konnte ich so nicht sehen.“

„Aber an seiner Kleidung vielleicht?“

„Ein langer Mantel, grün war der denk ich, ein dunkles Grün. Und klobige Stiefel hatte er an, das ist mir aufgefallen. Der Kerl war größer als ich und ziemlich kräftig gebaut.“

„Was für Stiefel?“

„Na ja, so Gummistiefel.“

Das deckte sich durchaus mit den hinterlassenen Spuren im Schnee.

„Danke, Timo. Hat den noch jemand gesehen?“

Die Jungs schüttelten den Kopf.

„Ich war zu der Zeit alleine draußen, da war sonst keiner dabei“, bemerkte Timo dann noch.

„Gut. Abschließend habe ich eine Bitte, nein, einen Auftrag für euch: Ihr haltet ab jetzt die Augen offen. Es hat sich hier niemand, ich wiederhole, niemand herumzutreiben. Sobald ihr etwas bemerkt, meldet das auf der Stelle einem Betreuer. Und wenn das mitten in der Nacht ist. Aber eins ist ganz wichtig: Ihr werdet keinesfalls selbst tätig. Ihr meldet sofort, und das war’s. Einverstanden?“

Die Jungs nickten eifrig. Nico könnte schwören, sie würden ab jetzt jede Maus ausfindig machen. So ein bisschen Nervenkitzel schadete überhaupt nicht. Aber das kannte er schon aus den anderen Camps.

Stein stellte den Ton des Fernsehers wieder an, dann verließen die drei den Raum. Sie gingen vor die Tür.

„Also, ich glaube da jedes Wort. Nur, wer ist so unverschämt und läuft seelenruhig am Haus vorbei? Da stimmt doch was nicht.“

„Mich lässt es vermuten, dass dieser Mensch nicht fremd ist, zumindest denen nicht, die hier schon immer waren. Wie auch immer, da treibt sich jemand herum und das geht nicht. Nico, das erste was du morgen tust ist die Hütte für Rick bauen. Dazu macht jeder von uns abwechselnd einen Rundgang um das Haus, vorerst jede Stunde. Ich trage die Verantwortung für alle hier und habe überhaupt keine Lust, für etwas grade stehen zu müssen, was wir hätten verhindern können.“

„Und Nachts?“, führte Nico an.

„Rick ist ja da. Auf der anderen Seite ist der Abhang, von da dürfte es sehr schwierig werden, es sei denn, jemand ist ein sehr guter Kletterer. Trotzdem ordne ich an, dass hier draußen und am Aufzug unter der Terrasse Bewegungsmelder angebracht werden. Da muss Eidamer morgen noch ran. Eine Halogenleuchte hier auf dem Vorplatz und eine am Hang sollten reichen. Ich möchte, dass das taghell ausgeleuchtet wird, wenn die Melder ansprechen. Heute Nacht müssten wir uns allerdings selbst kümmern. Ich schlage vor, dass wir Wache schieben.“

„Ich werde Eidamer informieren“, warf Leo ein, „das müsste an einem Tag zu machen sein.“

Nico hatte schon einiges erlebt, aber dass sie ein Camp schützen mussten, war neu. Eine Alternative gab es jedoch nicht, zudem würde auch er sich sicherer fühlen. Nach wie vor wurde er das Gefühl nicht los, das sich hier etwas zusammenbraute. Er hoffte in diesen Minuten, sich einfach nur getäuscht zu haben.

Erneut zeigte Falk Stein ein Gesicht, das Nico so noch nie kennen gelernt hatte. Er war außer sich vor Zorn, das konnte jeder spüren und er ließ keinen Zweifel aufkommen, wer hier der Chef war. Und er würde das Camp wahrscheinlich mit Panzern und Kanonen sichern, wenn das notwendig gewesen wäre.

„Und noch was: Die Jungen dürfen auf gar keinen Fall etwas von all dem bemerken. Sie wissen noch nicht, dass das eine Bedrohung sein kann. Aufpasser spielen tun sie alle gern, das ist nicht das Problem. Aber sie dürfen nicht wissen, dass das wirklich ernst ist. Wie wollen wir das mit einer Wache am besten machen?“

„Wir müssten mit jeder zwei Stunden hinkommen.“

„Gut, Leo, das machen wir so. Es muss ja auch keiner die ganze Zeit draußen herumlaufen. Wir stellen einen Stuhl hier unter die Tür, da hat man einen guten Überblick. Ich werde die erste Runde drehen. Von elf bis eins.“

Rainer Bode hob die Hand

„Von eins bis drei“, dann folgte Leo. „Ich mach von drei bis fünf.“

„Ok, ich dann mach ich die letzte von fünf bis sieben“, sagte Nico und war froh, nicht mitten in der Nacht hier draußen sein zu müssen.

Stein nickte.

„Schön, vielen Dank für eure Unterstützung. Jeder hat ne Taschenlampe und da es möglicherweise nicht klappt, im Ernstfall erst zum Handy zu greifen, hab ich oben ein paar Walki-Talkis. Jeder der draußen ist, übernimmt es vom anderen, das zweite Gerät hab ich hier.“

Nico konnte sich ein Grinsen nicht vermeiden.

„Wo hast du denn die Dinger her? Warst du im Technik-Museum?“ Er musste trotz dem Ernst der Lage lachen.

Stein machte ein gekünstelt ernstes Gesicht.

„Von wegen. Die hab ich zwar schon länger, aber noch nie benötigt. Und wie man sieht, tun sie auch heute noch ganz ausgezeichnete Dienste.“

„Und dann noch Batterien dafür dabei..“, schmunzelte Bode.

„Die gehören zur Grundausrüstung, ihr Banausen. So, genug geredet, ihr wisst Bescheid. Sollte das mit dem Licht morgen noch nicht klappen, müssen wir eine Nacht länger Wache schieben. Wir tauschen dann die Zeiten untereinander. Das war’s, meine Herren. Trotz allem wünsche ich euch einen schönen Abend.“

Falk Stein ging ins Haus, rief dann aber: „Nico. Kommst du bitte einen Augenblick?“

Er tat, wie ihm befohlen, kurz darauf saßen sie in Steins Zimmer. Stein holte die obligatorische Flasche Wein aus dem Schrank, ihr Inhalt reichte grade noch für zwei Gläser.

„Also, ich hab mir deinen Bericht durchgelesen.“

„Und, wie findest du ihn?“

„Tja, eigentlich möchte ich das genauso haben. So wie er ist, kann ich ihn ohne Weiteres Frau Berger zuschicken. Da steht alles drin, nicht zu viel, nicht zu wenig. Ich muss zu Jonas‘ Lebenslauf keine weiteren Fragen stellen und das ist einfach wichtig.“

Sie stießen an.

„Dein Einstieg hier ist dir gelungen. Und siehe da – du hast auch den Beweis, dass du nicht Schuld bist an den sogenannten Katastrophen. Du hast ja möglicherweise sogar eine verhindert.“

Nico grinste.

„Ja, fraglich ist, ob das ohne mich auch genau so gekommen wäre. Außerdem- ich bin immer noch der Praktikant.“

Stein knuffte ihn in die Schulter und lachte.

„Was ist schon eine Bezeichnung.“

Als Nico später in sein Zimmer kam, sah er von weitem sein Handy blinken. „Anruf in Abwesenheit“. Er nahm es und drückte auf Rückruf.

„Nabend Vlado. Na, wie fühlt man sich?“

„Hallo Nico. Wie man sich fühlt? Gut, würde ich sagen. Mit dir am Hörer sehr gut.“

Er lachte und Nico grinste. Kein moralischer Kater, kein schlechtes Gewissen. Das hätte er gehört.

„Du, es gibt Neuigkeiten. Kaum war ich heut Abend zu Hause, taucht doch dieser Moslers Josef auf. Und weißt du, was der zu mir gesagt hat?“

Nico ahnte es, aber er mochte nichts sagen.

„Was hat er denn gemeint, der Herr Polizist?“

„Stell dir vor: Er behauptet allen Ernstes, meine Speicherkarte mit den Fotos sei kaputt. Er sagt, er habe sie in sein Lesegerät am Computer gesteckt, aber da kam eine Fehlermeldung. Er hätte dann alles Mögliche versucht, an die Bilder zu kommen, aber am Ende hätte die Karte gar nichts mehr von sich gegeben.“

Obwohl es Nico auf die Palme hätte bringen müssen, nickte er vor sich hin.

„Okay, Vlado. Ich nehme an, du hattest noch nie Probleme mit der Speicherkarte?“

„Quatsch. Keine Ahnung, wie viel tausend Bilder ich mit der schon gemacht habe.“

„Hast du sie wieder? Ich meine, hat er dir deine Karte wieder zurückgebracht?“

„Nein. Er hat mir ne neue besorgt. Er geht davon aus, dass er zumindest Mitschuld hat, dass sie am Arsch ging.“

„Typisch.“

„Bitte?“

„Vlado, ich denk das sollten wir nicht am Telefon besprechen. Hast du Lust, morgen Abend raufzukommen? Ich glaube, ich hätte da noch ein paar Fragen an dich.“

„Na ja, wenn dir das dann nicht zu spät wird.“

„Eher nicht. Wenn’s für dich passt, komm ruhig rauf.“

„Wie du meinst. Bis dann also.“

Nico klopfte sich auf die Schenkel. Genauso hatte er es kommen sehen. Damit stand für ihn fest, dass dieser Polizist keinerlei Interesse daran hatte, jemanden aus dem Dorf anzuschwärzen.

Allerdings musste er ihm absolut stümperhaftes Vorgehen dabei bescheinigen. Er hätte sich nur darauf zu berufen brauchen, dass Digitalfotos keine Beweismittel sind. Aber hier auf dem Dorf gab es wahrscheinlich nur wenig helle Köpfe, so wie der Vlado einer war.

Steins Tür stand offen und Nico präsentierte ihm die Neuigkeit fast schon unter der Tür.

„Aha. Du hattest also recht. Der will gar nicht.“

„So ist es, Falk. Der will Ruhe und Frieden, auf keinen Fall Ärger. Ich mutmaße ja auch Vetternwirtschaft. Wenn der es wagt, gegen einen Dorfbewohner vorzugehen, ist er seinen Job los. Dem traue ich zu, dass der den Zaun da oben wieder geflickt hat. Damit würde niemand mehr an der Sache rütteln. Aber gut zu wissen. Egal was hier im Camp abgeht, den brauchen wir nicht mehr zu rufen. Er wird schon dafür sorgen, dass da nichts recherchiert wird. Ich habe übrigens Vlado gebeten, morgen Abend raufzukommen. Vielleicht hat er eine Idee, wer hier herumgeschlichen sein könnte.“

„Gute Idee, der Junge kennt seine Pappenheimer. Aber wie auch immer, Nico, geh jetzt schlafen. Du musst morgen sehr früh raus.“

„Mach ich, Falk. Gute Nacht. Ach übrigens, ist Rick draußen?“

„Sollte er, hier ist jedenfalls nicht.“

Nico löschte das Licht und mummte sich in seine Decke. Der Tag hatte es wirklich in sich, mehr passte da gar nicht mehr hinein. Mit einem virtuellen Bauplan für eine Hundehütte im Kopf schlief er an diesem Abend sofort ein.

Trotz seines tiefen Schlafs fühlte er sich wie gerädert, als ihn um halb Fünf das Handy weckte. Er streckte sich und stand sofort auf, noch einmal umdrehen wäre schief gegangen. Schon am Abend hatte er sich vorgenommen, erst nach der Wache zu duschen. Bei dem Gedanken an die Kälte draußen fand er das anschließend besser.

Der Blick auf das Thermometer zeigte drei Grad unter null, vom Fenster aus konnte er am Himmel die Sterne blitzen sehen. Das Tiefdruckgebiet war also bereits abgezogen und im Grunde dürfte das ein eher schöner Tag werden.

Er schlüpfte in seinen Kampfanzug und in die Pelzstiefel, die würden ihn gegen die Kälte am besten schützen und mummte sich in den Parka. Es folgten Schal, die Mütze und die Handschuhe. Damit sollte er die zwei Stunden überstehen. Notfalls konnte er sich ja unter der Tür ein paar Minuten aufwärmen.

Leise stieg er nach unten. So still war es hier noch nie, zumindest war es ihm nicht bewusst geworden. Unten im Gang blieb er stehen, aber er hörte nicht einmal ein Schnarchen. Ungewöhnlich, aber so etwas gab es schließlich auch.

Die Tür nach draußen war nur angelehnt. Er öffnete sie und spähte hinaus. Leo erkannte er nur als sich bewegender Schatten auf dem Platz. Geräuschlos ging er langsam seine Runde. Nico trat hinaus, worauf Leo sofort stehen blieb.

„Nico?“

„Ja, ich bin es. Morgen Leo.“

Er kam auf Nico zu.

„Puh, ist das vielleicht kalt geworden in der letzten Stunde.“

„Nordwind und Schnee am Boden, dazu sind die Wolken weg, das passt dann schon. Gab es etwas?“

„Außer einem Kauz da oben im Baum nichts. Erschrecke nicht, wenn der loslegt. Sonst aber Totenstille. Solange kein Wind geht, würdest du hier Ameisen laufen hören. So noch welche da wären. Die Nacht war jedenfalls ruhig.“

„Wo ist eigentlich Rick?“

„Keine Ahnung. Ich hab ihn jetzt ne ganze Weile nicht gesehen.“

„Hm, das ist aber seltsam. Er schleicht doch sonst immer um einen herum. Aber gut, dann geh noch ne Runde pennen, Leo. Wir sehen uns beim Frühstück.“

Leo klopfte ihm auf die Schulter und verschwand im Haus. Ihm war scheinbar wirklich sehr kalt. Nico brauchte einige Minuten, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann jedoch erkannte er nach und nach immer mehr Details.

Seine Schritte knirschten auf den angefrorenen Schneeresten und ließen keinen Zweifel, dass der Winter hier seine ersten Fühler ausgestreckt hatte. Dann begann er, sich eine Runde auszudenken. Nur an der Tür sitzen fand er bei der Kälte nicht optimal.

Er würde erst zur Auffahrt hinlaufen, von dort rechts zum Hang, da entlang zum Haus, vorbei bis zum Heizwerk, dort am Waldrand entlang und wieder an diese Stelle zurück. Von jedem Punkt aus konnte er den Platz überblicken.

Der Sicherheit halber würde er aber auch mal abrupt die Richtung ändern, zurücklaufen und auch einmal quer. Niemand sollte seine Marschrichtung vorahnen können.

Mulmig war ihm schon, das musste er zugeben. Immerhin war das kein Zeitvertreib.

ußerdem konnte man nicht wissen, welche Energie jemand daran setzen würde, um ihnen zu schaden. Und nur darum musste es gehen. Was früher durch offene Proteste im Ort geschah, sollte jetzt aus dem Verborgenen heraus passieren.

Da gab es keine Widerstände, keine Diskussionen, kein Wenn und Aber. Man handelte jetzt einfach und das schien für ihn die logische Erklärung. Er wünschte sich jedem, der daran beteiligt war, ein Leben, wie es die Jungs bereits hinter sich hatten.

Auf der Straße. Ohne jede Mittel, einfach nur im Freien. Essen zusammenbetteln, Schlafsäcke anderer benutzen, Streit um Brückenplätze. Kein Eigentum in dem Sinne, kein Geld. Dem Wetter ausgesetzt sein, keine Hoffnung, niemand, der einem wirklich Beistand. Eltern, die den Namen nicht verdienten.

Es würde für jeden als Strafe ausreichen. Aber er wusste, dass es dazu nicht kommen konnte. Diese Leute hier lebten in ihrer kleinen, heilen Welt und niemand hatte dort etwas zu suchen. Schon gar keine fremde Jugendliche.

Nico schüttelte den Kopf. Er würde das sicher niemals verstehen. Er wäre tatsächlich fast erschrocken, als der Kauz zu rufen anfing. Ihn wunderte nur, dass er ihn überhaupt noch nie gehört hatte. Aber vermutlich war er erst seit heute Nacht hier.

Er kam an den Hang und der Blick ins Tal war trotz der Dunkelheit atemberaubend. Der Schnee hellte die Nacht auf und man konnte dort unten sogar Einzelheiten erkennen. Gebannt lauschte Nico, ob er vielleicht den Wolf wieder hören könnte, aber es blieb absolut still.

Dass Rick mit keinem Auge sichtbar war, begann ihn zu beunruhigen. Immer wieder glaubte er, ihn zu hören oder zu sehen, aber das waren alles Täuschungen der Nacht. Als er sich erneut auf dem Weg zum Haus befand, blieb er stehen und lauschte.

Ein Geräusch, was nicht natürlichen Ursprungs war, setzte ihn sofort unter höchste Spannung. Was oder wer immer das war, musste sich irgendwann zu erkennen geben, er durfte nur die Geduld nicht verlieren.

Obwohl er gegen Waffen war, wünschte er sich jetzt eine solche, und sei es nur, um sich sicher zu fühlen. Dann hörte er ein leises Husten. Seine Anspannung legte sich, als er den Schein einer kleinen Flamme sah.

Das war alles ungefährlich. Einer der Jungs konnte wohl nicht schlafen. Trotzdem ging er nur langsam auf das Haus zu. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte plötzlich niemanden und nichts mehr erkennen.

Jetzt war ihm doch wieder seltsam zumute. Er zuckte zusammen, als kurz darauf sein Walkie-Talkie in der Tasche krächzte. Er fummelte das Gerät heraus und vernahm Falk Steins Stimme.

„Nico? Hörst du mich?“

Es knackte und krachte fürchterlich, wenn auch nicht laut.

„Ja, ich höre.“

„Wo bist du?“

„Fast direkt am Haus.“

„Ist alles in Ordnung?“

„Ich hab gerade was gehört, aber scheinbar habe ich mich getäuscht.“

Nico war sich plötzlich gar nicht mehr sicher, ob Geräusch und Licht keine Einbildung waren. Er kannte diese Gespenster, die bei nervöser Anstrengung irgendwann in der Dunkelheit auftauchten.

„Gut Nico, du hast ja nur noch eine Stunde. Ende.“

„Ende.“

Nico steckte das Gerät wieder ein und ging zum Haus, diesmal etwas entschlossener. Aber es war dort wirklich niemand. Er rätselte, wieso ihn Falk angefunkt hatte. Kontrolle? Möglich und legitim, aber bei allem nicht Falks Handschrift. Der verließ sich auf seine Mannen.

Langsam aber unaufhaltsam begann die Kälte, sich ihren Weg durch Stiefel und Klamotten zu bahnen. Bis Sonnenaufgang schätze Nico, würden es fünf oder sechs Grad unter null werden. Der Kauz hatte sich weiter den Wald verzogen, seine Rufe wurden immer leiser.

Doch trotz der Kälte huschten auf einmal winzige Schatten durch die Hecken am Rand des Grundstücks. Ein erstes, leises Piepsen sagte Nico, dass die Rotkehlchen aufgestanden waren. Nun war auch ein leichter, heller Schimmer am Horizont über dem Tal auszumachen.

Die Dämmerung brach herein. Das konnte nicht verhindern, dass sich Nico in den Hauseingang setzte. Er musste sich ein paar Minuten aufwärmen, die Kälte wurde jetzt beißend.

Sollten sie kommende Nacht nochmals Wache stehen müssen, würde er die erste übernehmen und sich noch besser einmummen. Nun ging es sehr schnell. Der Himmel hellte sich auf und in der Küche ging das Licht an.

Trotzdem blieb Nico auf Posten, schließlich mussten sie auch am Tag Wache laufen. Der erste müde Junge tauchte auf. Er erschrak zunächst, als er Nico sah, dann atmete er erleichtert aus.

„Hast du mich erschreckt.“

„Keine Absicht, Benjamin. Morgen erst mal.“

Das Reden fiel Nico zunächst schwer, irgendwie war wohl sein Kinn steif geworden. Der Junge zündete sich eine Zigarette an.

„Ungesund auf leeren Magen“, brummte Nico.

„Weiß ich. Aber es gibt trotzdem Schlimmeres.“

Benjamin Roßnagel war einer der eher unauffälligen Jungen. Etwas kleiner als Nico, wohl auch jener mit leichtem Untergewicht. Er hatte nur den Schlafanzug an, seine dunklen Haare standen noch in alle Richtungen und nun stand er da und fror augenscheinlich.

„Tja, es ist Winter, zumindest gerade.“

Timo hatte sich fast unbemerkt zu ihnen gesellt.

„Stimmt. Saukalt.“

„Was machst du denn hier? Du rauchst doch gar nicht.“

„Na und? Vielleicht will ich ja mal kurz um den Block joggen.“

Benjamin grinste hämisch.

„Hehe, dann mal viel Spaß beim Arsch abfrieren.“

 

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