Up and away – Teil 1

1.

 Eine Woche. Noch eine Woche sollte es dauern bis ich meine alte Heimat verlassen würde und einen komplett neuen Abschnitt in meinem Leben beginnen würde. Ich war richtig gespannt auf alles das, was mich in den nächsten paar Monaten neues erwarten würde…

Aber ich denke ich sollte besser von vorne Anfangen : Also, mein Name ist Steffen, ich bin 16 Jahre alt und wohne in einer großen Stadt im Nordwesten Deutschlands – oder um ganz genau zu sein ich wohne noch in einer großen Stadt im Nordwesten Deutschlands denn ich habe als einer der wenigen Jungs in meinem Alter die Chance mein Leben in Deutschland zu beenden und einen Neuanfang zu machen – im Land meiner Träume, in den USA.

Doch fangen wir am Anfang an, wie kam es dazu? Anfang dieses Jahres erklärte mein Vater mir, meiner Mutter und meinem 17 Jahre alten Bruder Sven, dass sein Chef ihn für einen Posten in Amerika vorgeschlagen hätte und dieser Posten alles das beinhalte, wovon er schon immer geträumt hatte.

Ein neues Haus, ein neues Arbeitsgebiet mit einem Gehalt wovon er jetzt nur träumen konnte und außerdem die Aussicht in einer der interessantesten Regionen für Computerspezialisten (wie es mein Vater es nun einmal war) überhaupt zu arbeiten – Californien.

Die Entscheidung ob unsere Familie umziehen würde oder nicht war daher auch ziemlich schnell getroffen. Mein Vater war sowieso hellauf begeistert von der Idee sich endlich beruflich verbessern zu können, schließlich hatte er nun schon so viele Jahre darauf gewartet und immer das getan, was man von ihm verlangt hatte.

Meine Mutter hatte zwar anfangs ein paar kleine Bedenken gehabt, weil sie seit ihrer Schulzeit eigentlich kein Englisch mehr gesprochen hatte aber das war kein wirklicher Hinderungsgrund gewesen denn wie sie selbst auch immer so schön anmerkte : „Wenn wir erstmal da sind, werden die Sprachkenntnisse sich auch ganz von alleine wieder einstellen“.

Sven und ich waren sowieso bei dem Gedanken daran nach Amerika zu ziehen kaum noch zu halten gewesen – wie wohl fast jeder in unserem Alter. Wir hatten ja schließlich auch schon gehört, wie schwer es normalerweise ist eine GreenCard zu bekommen und jetzt wurden wir sogar vom Chef meines Vaters über den großen Teich geschickt – es war einfach traumhaft.

Klar auch ich hatte ein paar Momente in denen ich es auch traurig fand alles hinter mir lassen zu müssen und in einer neuen Schule, einer neuen Stadt, ja in einem komplett neuen Land einen Neuanfang zu riskieren – aber dann stellte ich mir wiederum vor, welche Möglichkeiten sich auch für mich dadurch ergeben würden und sehr schnell hatte ich meine Zuversicht wieder gefunden.

‚Vielleicht treffe ich ja sogar die Liebe meines Lebens‘ dachte ich mir ‚Den Jungen, auf den ich immer schon gewartet habe und der mich so versteht wie ich bin. Den ich lieben kann und der mich liebt‘ kurz und gut ich suchte eben meinen Partner fürs Leben.

Ach ja ich habe es ja noch gar nicht so deutlich gesagt – ich bin schwul.

Ich weiß es spätestens seit ich es auf einer Ferienfreizeit mit 15 Jahren abends kaum erwarten konnte die nackten Jungenkörper unter der Dusche zu sehen. Jeden Abend malte ich mir aus, was ich mit meinen Kumpels alles erleben könnte und was wir zusammen erforschen könnten – doch das alles kam nie über meine Phantasie hinaus.

Nichts von alledem passierte – keine gemeinsamen Wichsabende wie ich es mir immer heimlich gewünscht hatte und oft gehofft hatte. Keiner der Jungs sah mich mit diesem Blick an, den ich sofort erkennen würde (dachte ich zumindest) und keiner gestand mir seine große Liebe für mich.

Was mich angeht – ich war natürlich auch zu feige dafür gewesen irgendwem zu sagen, wie ich empfinde und zu wem ich mich hingezogen fühlte.

Noch niemand wusste es – nicht mal meine Familie. Ich stand schon mehrmals kurz davor es meinem Bruder zu sagen aber irgendwie habe ich dann doch jedes Mal wieder einen Rückzieher gemacht. Dabei kann ich mir das selber eigentlich auch nicht erklären.

Sven und ich haben wirklich ein einwandfreies Verhältnis zueinander, etwas wovon viele Geschwister nur träumen würden. Wir beide hielten zusammen egal was auch kam. Hatte einer von uns mal Mist gebaut versuchte der andere auf jeden Fall es vor unseren Eltern geheim zu halten und dem anderen aus der Patsche zu helfen.

Wir waren eigentlich mehr wie zwei gute Freunde als wie zwei Brüder. Manchmal fühlte ich mich schon richtig mies dabei Sven so im Unklaren zu lassen über das, was ich fühlte. Er war wirklich in jeder Hinsicht so offen zu mir wie ich es noch von niemandem erlebt hatte.

Wir hatten über soviel zusammen geredet und soviel zusammen erlebt. Wir beide haben damals verglichen, wer die meisten Haare am Schwanz hat (wenn ich heute darüber nachdenke treibt es mir immer noch ein Grinsen ins Gesicht).

Wir haben über Selbstbefriedigung geredet und wer es wie am besten macht – wir standen sogar einmal kurz davor es selber miteinander auszuprobieren aber irgendwie hatten wir uns dann beide doch nicht so richtig getraut und so ist es also beim Gespräch geblieben.

Sven hatte mir sogar von seinem ersten Mal mir seiner damaligen Freundin erzählt wobei ich mich unheimlich geehrt fühlte – er war in jeder Hinsicht absolut offen zu mir und ich war in jeder Hinsicht absolut offen zu ihm – nur eben in dem einen kleinen Punkt nicht, dass ich es noch nicht geschafft hatte mich zu überwinden und ihm zu sagen, dass ich schwul war.

‚Aber das kann auch nur eine Frage der Zeit sein‘ dachte ich mir und ich meinte es auch wirklich ernst – ich liebte meinen Bruder. Nicht auf die Art wie er seine Freundin liebte sondern auf die brüderliche Art eben und es tat mir fast schon weh dieses Geheimnis vor ihm zu haben.

Aber ich war noch nicht soweit es ihm zu sagen – nicht jetzt, nicht mitten in den letzten Vorbereitungen zum endgültigen Umzug nach Amerika. ‚Wenn wir erst einmal da sind dann wird auch Sven alles erfahren‘ dachte ich mir als ich gerade dabei war, meine letzten Sachen einzupacken.

Der Großteil unserer Einrichtung würde in Deutschland bleiben und war schon so gut wie verkauft gewesen. Meine Eltern hatten sich in ihrem letzten Urlaub unser neues Haus in Californien angesehen und beschlossen alles was sie konnten direkt dort einzukaufen und dort aufbauen zu lassen.

Alles, was wir mitnehmen mussten waren unsere persönlichen Sachen, die sich eben so im Laufe der Jahre angesammelt hatten und von denen man sich einfach nicht trennen konnte – oder wollte.

Ich war verblüfft gewesen, als uns mein Vater erklärte, dass seine Firma (die große Computerfirma mit den drei blauen Buchstaben) ihm ein komplett neues Haus überlassen würde – für einen Spottpreis. Ein im Vergleich zu unserer alten 100 qm großen Wohnung geradezu riesengroßes Haus.

Ich war verblüfft aber vor allem war ich jetzt voller Vorfreude gewesen. Ich hatte mir immer gewünscht in einem richtig großen Haus mit allem drum und dran zu wohnen und jetzt sollte es endlich soweit sein. Mein Vater hatte sogar vor noch einen Pool in den ebenfalls riesengroßen Garten einzubauen – konnte es überhaupt noch besser werden?

Ich wühlte ein bisschen in meinem (doch recht kleinen) Zimmer herum um die letzten der für mich wichtigen Sachen einzupacken und mit dem Rest an Gepäck schon nach Amerika vorzuschicken, als ich ein altes Photoalbum in die Finger bekam. Ich blätterte es langsam durch und wurde an so viele wunderbare Dinge in den letzten sechzehn Jahren erinnert.

Da waren Bilder meiner Einschulung, von diversen Familienurlauben und sogar ein paar Bilder von mir, als ich mit zehn Jahren endlich mein eigenes Zimmer bekam. Was waren Sven und ich damals stolz gewesen, dass nun endlich jeder sein eigenes kleines Reich hatte. Das paradoxe und witzige an der ganzen Sache damals war nur gewesen, dass wir zwar endlich unsere eigenen Zimmer hatten, die wir uns jeder unheimlich gewünscht hatten aber letzten Endes doch immer zusammen in einem Zimmer hingen und eigentlich nur zum Schlafen getrennte Wege gingen.

Ich legte das Photoalbum aus den Händen und merkte selber, wie sich mein Mund zu einem breiten Lächeln verzogen hatte. Ich glaube in diesem Moment wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie viel Glück ich doch eigentlich hatte so eine tolle Familie zu haben. Ich hatte einen unheimlich guten Draht zu meinen Eltern und meine Verbindung zu meinem Bruder – die war besser, als es manch andere beste Freundschaft hätte sein können.

Ich wühlte weiter in meinem Schrank und fand einen Ordner mit meinen Zeugnissen – na ja nicht gerade Vorzeigezeugnisse aber ich war zufrieden gewesen und soooo schlecht war ich ja auch wieder nicht.

Ich wollte sie gerade schon zusammen mit dem Photoalbum und ein paar anderen Kleinigkeiten in einen Karton packen, da fiel mir ein Photo heraus – das Photo, dass ich schon seit mehreren Tagen gesucht und schon fast abgeschrieben hatte.

Es war ein Photo von mir mit ein paar Leuten aus meiner Klasse – nichts spezielles es war an irgendeinem Schulfest aufgenommen worden, das noch gar nicht mal so lange zurücklag aber es war eines der wenigen Photos auf denen ich mir richtig gut gefiel.

Ich bin normalerweise nicht der Photo-Typ aber auf diesem Photo sah das alles anders aus. Ich saß zwischen zwei meiner Freunde aus der Schule, hatte ein Glas Cola in der linken und winkte mit der rechten Hand in die Camera. Meine blonden fast schulterlangen Haare sahen zwar leicht zerzaust aus aber das störte mich nicht – ich wollte auch gar nicht perfekt aussehen sondern einfach nur „normal“.

Normal war ich sonst eigentlich auch – 175 cm groß wobei ich immer noch hoffte ein paar Zentimeter zu gewinnen um damit Sven, der mit seinen 181 cm leicht größer war als ich noch einzuholen aber ich war sonst zufrieden mit meiner Größe. Mein Gewicht von 63 kg war auch »guter Durchschnitt«. Tiefbraune Augen rundeten mein Erscheinungsbild dann ab.

Ich persönlich hielt mich nie für besonders gut aussehend auch wenn Sven immer meinte, dass das ein oder andere Mädchen mit dem er gesprochen hat das ganz anders sieht. „Fast wie Taylor Hanson“ sagte er immer und spielte damit auf meine langen Haare an. Natürlich genoss ich es auch von Zeit zu Zeit wenn er mir wieder mal erzählte, wie positiv sich jemand wieder bei ihm über mich geäußert hatte.

Er kannte ja auch fast die ganze Schule – schließlich war er jetzt seit fast einem Jahr schon Schülersprecher und da gehört sowas schon fast mit dazu aber es waren immer nur Mädchen gewesen und so nett sie das auch gemeint haben mochten – es war nun mal nicht meine Zielgruppe gewesen.

‚Wenn er doch wenigstens mal von einem Jungen erzählen würde, der mich nett findet‘ dachte ich mir aber wusste auch schon, dass das wohl nicht mehr vorkommen würde – aus verständlichen Gründen. Welcher Junge gibt schon offen zu, dass er einen anderen Jungen süß findet, ohne dass damit seine ganze Tarnung auffliegt? Ich kannte das ja auch alles.

Es waren zwar einige Jungs in meiner Klasse und in meinem Jahrgang die ich unheimlich anziehend fand aber ich hätte mich doch auch nie getraut ihnen oder jemand anders das so offen zu sagen – nein das kam für mich einfach nicht in Frage und so konnte ich es nur zu gut nachvollziehen, dass es anderen Jungs genauso ging.

Ein Junge aus meinem Jahrgang hatte es mir aber besonders angetan. Nico ging schon seit fast vier Jahren mit mir in denselben Lateinkurs und wir beide unternahmen auch sonst schon mal was zusammen – aber es entwickelte sich leider nie zu einer richtig dicken Freundschaft. Wir beide waren eben scheinbar doch nicht so sehr füreinander bestimmt.

Vielleicht waren auch einfach zwei verschiedene Typen – zumindestens von Aussehen her waren wir das auf jeden Fall. Nico war 166 cm groß – also noch eine ganze Ecke kleiner als ich, hatte kurzes schwarzes Haar und war auch etwas leichter als ich – na ja bei der Größe auch eigentlich nicht verwunderlich.

Was hätte ich dafür gegeben Nico auch einmal in meinem Sportkurs zu haben – seinen nackten Oberkörper zu sehen und vielleicht wäre er ja auch einer von den wenigen Jungen gewesen, die nach dem Sportunterricht mittwochs nachmittags regelmäßig duschten? Vielleicht hätte ich ja so einen kurzen Blick auf ihn erhaschen können…

Aber dieses Nachdenken führte zu nichts – Nico war nicht bei mir im Sportkurs und wir beide würden uns nach diesem Schuljahr wahrscheinlich sowieso nie mehr sehen – ich hörte einen kleinen Seufzer von mir.

Es war nicht nur wegen Nico – es war eigentlich wegen allen von meinen Schulkameraden, die ich nun nicht mehr sehen würde. Wer weiß, wahrscheinlich würde ich niemanden von ihnen je wieder sehen.

Es war nicht so gewesen, dass ich mit allen und jedem gut Freund war – um ehrlich zu sein war ich eigentlich mit niemandem besonders gut befreundet – ich traf die Leute regelmäßig jeden Morgen in der Schule, unterhielt mich auch super mit ihnen aber nach der Schule unternahm ich relativ selten etwas mit ihnen.

Mein Bruder war in dieser Hinsicht sehr verschieden gewesen – er hatte oft jemanden aus seiner Klasse bei sich zu Besuch und da ich eigentlich auch immer mit ihm rum

hing hatte ich teilweise wirklich schon das Gefühl seine Klasse besser zu kennen als meine eigene und eigentlich übernahm ich seine Freunde mit. Das war für mich kein Grund zur Besorgnis aber manchmal fand ich es eben doch schade nur wenig Kontakt zu meinen eigenen Klassenkameraden zu haben.

Na ja in wenigen Tagen würde das alles sowieso ein Ende haben und ich würde in Amerika einen neuen Anfang in einer neuen Schule machen – die Gelegenheit alles noch einmal von vorne zu beginnen und einen neuen Start zu riskieren.

Ich räumte meinen Schrank weiter aus und fand noch ein paar Kleinigkeiten, die ich mit in den Karton einräumte. Nichts was besonders groß oder aufregend war aber viele der Sachen hatten trotzdem einfach einen unheimlich großen Wert für mich.

Als ich ein paar meiner alten Stofftieren in der hintersten Ecke auf dem Schrank oben fand musste ich wieder lächeln – was hatten mich die ganzen Bären, Hunde und Hasen nicht schon vor bösen Krokodilen und anderen dunklen Gestalten beschützt – es war einfach schön noch einmal in alten Erinnerungen kramen zu können.

Ich hörte eine Person die Tür zu mir reinkommen und wusste sofort, dass es eigentlich nur Sven sein konnte, denn meine Eltern kamen nie rein ohne anzuklopfen. Ich sollte mit dieser Vermutung auch mal wieder Recht haben. Es war mein Bruder.

„Hey Stef, ich soll dir von Paps sagen du sollst dich ein bisschen ranhalten mit deinen Sachen, damit er das ganze Zeug morgen früh mit zu UPS nehmen kann“, sagte er während er sich durch mein Chaos wühlte.

„Ja Okay – ich glaube da habe ich noch ein bisschen was zu tun“, grinste ich ihn an.

„Na das glaube ich dir. Ich habe ja auch gerade erst bei mir die letzten Reste zusammengepackt – schon interessant was sich alles noch so findet oder?“

Ich nickte nur und Sven verschwand wieder. Ich wollte nicht bis spät in die Nacht noch am Packen sitzen und so verschob ich den Rückblick in meine Kindheit auf das Auspacken in Amerika.

Der nächste Tag in der Schule sollte auch einer der Tage in meiner bisherigen Schullaufbahn werden, an die ich mich noch lange erinnern würde – mein letzter Schultag an einer deutschen Schule. Für alle anderen war es einfach nur der letzte Schultag in der neunten Kasse aber für mich war es der Abschluss einer Zeit auf die ich teilweise mit viel Freude aber manchmal auch mit weniger guten Gefühlen blicke. Ein paar von meinen Mitschülern konnte ich eigentlich nicht früh genug loswerden, bei den meisten anderen fiel es mir zwar auch nicht leicht auf Wiedersehen zu sagen aber ich würde es schon schaffen. Nur bei einer Hand voll tat es mir wirklich leid, dass ich sie wahrscheinlich nie wieder sehen würde.

Ich schaffte es an dem Abend tatsächlich noch meine Sachen mehr oder weniger gut in die Kartons zu stopfen und ins Auto zu bringen mit dem mein Vater alles zu UPS bringen wollte. Danach machte ich mich zurück auf den Weg in mein jetzt so gut wie leeres Zimmer. Es war schon komisch – nie hatte ich daran gedacht es so früh wieder verlassen zu müssen aber hier war ich nun. So gut wie weg … Up and away…

2.

Am nächsten Morgen als ich in der Schule ankam hatte ich irgendwie ein seltsames Gefühl. Ich fand unser Schulgebäude und die ganze Umgebung drum herum nie besonders anziehend aber diesmal erschien es mir plötzlich nicht mehr so trostlos und alt – es war für mich unbemerkt irgendwie zu einer Art zweiten Heimat geworden und die würde ich nun auch verlassen müssen.

Ich seufzte einmal tief und machte mich auf den Weg in meine Klasse. Der ein oder andere, den ich kannte und der mich auf dem Flur sah wünschte mir viel Spass und so und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich wieder wirklich wohl in der Schule – es war, als würden sich alle irgendwie um mich kümmern.

Die Unterrichtsstunden selber verliefen – wie es eigentlich auch zu erwarten war – nicht gerade nach Plan sondern vielmehr gab es die übliche Letzter-Tag-Routine. Entweder wurde gefrühstückt oder sonst irgendetwas getan um die Zeit totzuschlagen. Zu Unterricht im eigentlichen Sinne hatte niemand mehr richtig Lust – weder die Lehrer noch wir Schüler (aber das war ja nichts Neues).

In der letzten Stunde, die ich mit meinen Klassenlehrer hatten und in der auch die Zeugnisse ausgegeben wurden, fühlte ich mich auf der einen Seite froh nun endlich gehen zu können aber gleichzeitig auch ein bisschen traurig, weil ich meine alte Klasse verlassen musste.

In so einem Moment merkt man erst einmal wie sehr einem doch so eine Gruppe ans Herz wachsen kann. Da wird man irgendwann bunt zusammengewürfelt nach irgendwelche Listen, die sich die Schule gerade hat ausdrucken lassen doch dann passiert etwas Wunderbares: Die vielen verschiedenen Namen auf dem Stück Papier werden plötzlich zu Menschen und diese Menschen werden zu Freunden. Und nun war ich drauf und dran diese einzigartige Gruppe zu verlassen. Das ganze nahm mich doch ein bisschen mehr mit als ich zuerst gedacht hatte.

Dann kam der Moment mit dem ich niemals gerechnet hätte – ein paar Leute gingen nach vorne und erzählten ein kleines Gedicht über mich – über mich!

Denjenigen aus der Klasse, der sich eigentlich immer im Hintergrund gehalten hatte, der nie besonders laut gewesen war. Ich kann mich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern aber ich weiß, dass es ziemlich lustig war und wir alle eine Menge Spass hatten.

Zum Schluss bekam ich dann noch ein großes Bild von meiner – jetzt alten – Klasse und eine Karte auf der wirklich alle unterschrieben hatten. Ich war unheimlich Happy weil wirklich alle mir viel Glück wünschten und ehe ich mich versah klingelte es auch schon und die Stunde war vorbei. Das war es also „The big Good, bye“.

Ein paar Leute gaben mir kurz die Hand und sagten kurz Tschüss aber der Großteil nahm mich wirklich richtig freundschaftlich in den Arm und wünschte mir alles gute – ich glaube ich war nicht mehr sehr weit davon entfernt die ein oder andere Träne zu vergießen so gut fühlte ich mich – mit so einer schönen Verabschiedung hatte ich nicht gerechnet.

Als ich mich noch von meinem Lehrer verabschiedet hatte und alle meine Sachen zusammengepackt hatte musste ich noch kurz im Sekretariat vorbeisehen um die Abmeldungsformalitäten zu Ende zu bringen – ‚Die gute deutsche Bürokratie lässt dich auch hier nicht im Stich‘ dachte ich mir und musste leicht anfangen zu lachen.

Nachdem ich im Sekretariat fertig war machte ich mich auf den Weg Richtung Ausgang als ich schon fast draußen war rief irgendwer von hinten, dass ich noch mal kurz warten sollte. Ich drehte mich um und musste zu meinem Erstauen feststellen, dass es Nico war.

Ich hatte schon gedacht mich gar nicht mehr von ihm verabschieden zu können aber da war er doch noch – mein Herz machte fast einen Freudensprung aber im nächsten Moment fiel mir dann auch wieder ein, dass dies wahrscheinlich das letzte Mal war, dass ich ihn sehe würde und meine supergute Stimmung fiel in sich zusammen.

Nico wünschte mir wie alle anderen vor ihm ebenfalls alles Gute und erinnerte mich noch daran ihm auch ja mal zu schreiben und ihm zu erzählen, wie alles aussieht. Das war eine Aufforderung, der ich natürlich nur zu gerne nachkommen wollte und so versicherte ich ihm, dass ich natürlich an ihn denken würde. Danach war für eine ganze Weile Funkstille zwischen uns – wir standen uns einfach nur in einer Ecke der Schule gegenüber und sahen uns an. Schließlich tat Nico etwas für mich unerwartetes aber wunderbares – er nahm mich in den Arm und drückte mich so fest wie ich es selten erlebt hatte.

„Hey Steffen ich werde dich wirklich vermissen“, sagte er und ich hatte fast das Gefühl, dass ich ein paar kleine Tränen in seinen Augen erkennen konnte aber ich tat es als Einbildung ab – wieso sollte er schon wegen mir anfangen zu weinen?

„Ich dich auch“, antwortete ich, gab ihm einen kleinen Klaps auf den Rücken und das war dann auch schon das Ende des Gesprächs.

Nico ging wieder zurück und ich drehte mich noch mal kurz um und sah wie er sich immer weiter von mir entfernte. Ich ging aus der Schule heraus und warf noch einmal einen letzten kurzen Blick auf das Gebäude, das wohl schon so viele Schülerkarrieren gesehen hatte, bevor ich mich endgültig auf den Weg zur Bushaltestelle machte und nach Hause fuhr.

Das Kapitel „Carl Friedrich Gauss Gymnasium“ war für mich also ein für alle mal abgeschlossen.

3.

Zuhause angekommen sah ich auch schon Sven in der Küche sitzen und sich etwas zu essen machen. Da er ja eine Klasse weiter war als ich hatte er seine offizielle Entlassfeier aus der 10. schon vor ein paar Tagen gehabt und war seitdem nur noch ein paar Mal kurz zur Schule gefahren um ein paar Dinge mit seinem Nachfolger als Schülersprecher zu klären.

„Na kleiner Bruder wie war dein letzter Tag?“, fragte er mich.

„Na ja irgendwie komisch“ antwortete ich und erzählte ihm wie komisch ich mich gefühlt hatte und wie unheimlich freundlich mich alle Leute verabschiedet hatten.

„Ja stimmt es ist schon irgendwie komisch – aber jetzt können wir uns wenigstens richtig auf Amerika freuen oder was meinst du?“

„Klaro!“, antwortete ich und begann mir ebenfalls etwas zu essen zu machen.

„Ich habe mir übrigens erlaubt auch von dir ein paar Leute zu der Party einzuladen“, meinte er zwischendurch.

Moment mal … was für eine Party? Wovon sprach Sven hier eigentlich?

„Bitte was?“, sagte ich etwas verdutzt, „was denn für eine Party?“

Sven lachte kurz.

„Na ich habe mal mit Paps geredet und er meinte wir müssten am Montag doch eigentlich nicht nur mit der Familie ein bisschen feiern sondern könnten auch ruhig ein paar unserer Freunde einladen und da könnten wir dann auch direkt im Garten ein bisschen was grillen.“

Das war doch mal eine Idee gewesen – dieser Vorschlag gefiel mir doch direkt viel besser als der geplante Familiennachmittag, den ich mal wieder vergessen (oder vielleicht doch verdrängt?) hatte.

Am Montag würden wir also noch einmal richtig feiern, bevor wir am Donnerstag endgültig ins Flugzeug steigen würden und die Reise in eine neue Zukunft antreten würden.

Das Wochenende verlief nicht gerade weltbewegend – meine Eltern verbrachten die meiste Zeit am Telefon damit allen möglichen Leuten, die sie kannten oder einmal gekannt hatten auf Wiedersehen zu sagen und Sven und ich saßen die meiste Zeit vor dem Fernseher und versuchten scheinbar noch so viel vom deutschen Fernsehen mitzunehmen wie möglich.

Am Montagnachmittag begannen wir dann alles im Garten für die Party vorzubereiten. Während der Vorbereitungen schmiedeten Sven und ich schon wieder die tollsten Pläne, was wir in Amerika alles vorhatten und stellten die wildesten Vermutungen über unser neues Haus an. Meine Eltern hatten sich nämlich irgendwie die verrückte Idee in den Kopf gesetzt die genau Aufteilung bis zum letzten Tag vor uns beiden geheim zu halten. „Lasst euch einfach überraschen“ grinste meine Mutter uns jedes Mal an, wenn wir mal wieder nachfragten. Langsam hatten wir uns daran gewöhnt.

Gegen Spätnachmittag trafen dann auch die ersten Familienmitglieder bei uns ein und als wenn sie es geahnt hätten und uns vor der Familie retten wollten kamen nur etwa zwei Minuten später auch schon die ersten von Svens Freunden vorbei. Puh, da hatten wir ja noch mal Glück gehabt und konnten uns etwas von der Familie distanzieren. Es war ja nicht so, dass wir beide unsere Verwandten nicht mochten aber wie das eben immer so ist, konnte man auch alles übertreiben.

Sven und ich verzogen uns also mit den drei dazugekommenen Jungs aus Svens Klasse in den Garten und begannen die ersten Würstchen und die ersten Schnitzel auf den Grill zu legen. Im Laufe der nächsten halben Stunde kamen noch ein paar andere Leute, ein paar die ich ziemlich gut kannte und andere, die ich meistens nur mal kurz mit Sven in der Schule gesehen hatte.

Schließlich kamen dann auch ein paar aus meiner Klasse, mit denen ich immer schon eine Menge Spass hatte und genauso war es auch an diesem Abend. Alles in allem waren wir ungefähr 15 Jungs und Mädels, die munter auf unserem Rasen herumtollten.

Nach einiger Zeit kam irgendjemand durch die Terrassentür und rief Hallo. Ich drehte mich kurz um und stellte erstaunt fest, dass es Nico war. Ich ging zu ihm hin begrüßte ihn und musste lachen.

„Na, hättest du gedacht, dass du mich so schnell noch mal wieder siehst?“, fragte er mich.

„Nein eigentlich nicht“, war alles, was ich antworten konnte.

Damit war der Rest des Abends eigentlich auch schon gelaufen gewesen. Nico und ich setzten uns an einen Tisch und unterhielten uns über alles Mögliche.

Das meiste waren Sachen, über die wir noch nie vorher geredet hatten, eigentlich waren es viele von den Dingen, die außer mir eigentlich nur Sven wusste. Je später es wurde, desto mehr Spaß hatten wir zwei zusammen aber desto trauriger wurde ich auch gleichzeitig, da ich wusste, dass Nico ja doch irgendwann im Laufe des Abends durch die Tür gehen musste und ich ihn nicht mehr wieder sehen würde.

Ich denke wir beide waren uns bewusst darüber aber wir beide versuchten es zu unterdrücken. Trotzdem merkten wir dem anderen irgendwie an, dass wir nicht ganz so fröhlich waren, wie wir uns gaben.

Nach und nach verließen die Gäste die Party und es gab wieder einige Abschiedsszenen. Dann kam schließlich auch der Moment an dem Nico und ich uns trennen mussten. Die Party war eigentlich schon so gut wie zu Ende, fast alle anderen waren schon gegangen, als Nico meinte es wäre langsam auch Zeit für ihn den Rückzug anzutreten.

Ich seufzte leise und antwortete, dass es wohl auch besser wäre wenn ich mich langsam auf den Weg ins Bett machen würde. Ich brachte ihn noch zur Tür und da standen wir beide schon wieder voreinander und niemand wusste so recht, was er sagen sollte.

Diesmal aber brach Nico die Stille, griff kurz in seinen Rucksack, den er schon den ganzen Abend bei sich hatte und holte einen Brief heraus. Auf dem Brief stand in kleinen Buchstaben »Steffen«. Ich wollte schon danach greifen aber er zog ihn wieder weg.

„Aber erst aufmachen, wenn ihr in Amerika seit, versprochen?“

„Versprochen“, antwortete ich.

Er gab mir den Brief umarmte mich wieder kurz.

„Tschüss Steffen“.

Dann drehte er sich um und ging aus der Tür. Diesmal merkte ich, wie mir tatsächlich eine Träne die linke Wange runter lief. Ich wischte mir kurz durchs Gesicht und warf dann einen Blick, auf den Briefumschlag, den ich in der Hand hielt. Ich überlegte kurz wieso Nico gewollt hatte, dass ich den Brief noch nicht aufmache und für einen kleinen Moment spielte ich tatsächlich mit dem Gedanken ihn im gleichen Moment aufzumachen aber als ich ihn umdrehte und auf die Klebekante sah stand tatsächlich noch mal >Nicht öffnen bevor du in Californien bist<.

Ich war zwar unheimlich neugierig, was in dem Umschlag war aber ich hatte Nico versprochen ihn noch nicht aufzumachen und dieses Versprechen würde ich auch nicht brechen.

„Na, Stef was gibt’s? Irgendwie siehst du nicht gerade besonders glücklich aus“, hörte ich meinen Bruder sagen, der zu mir gekommen war und mit seinen Arm um die Schulter gelegt hatte.

„Ach Sven, weißt du… ich erkläre es dir später Mal. Okay?“

„Okay kleiner … und jetzt lass uns langsam mal gucken, dass wir die Spuren des heutigen Abends beseitigen okay? Wir könnten schließlich nicht einfach alles so stehen lassen wie es jetzt ist“

Sven und ich begannen also den Garten aufzuräumen und all die kleinen Dinge, die wir von den anderen als Abschiedsgeschenke bekommen hatten zusammen in zwei Reisetaschen zu packen. Eine für Sven und eine für mich. Als wir draußen fertig waren ging ich in mein Zimmer und legte den Brief in meine letzte Reisetasche zu meinen anderen Dokumente, die ich erst am letzten Tag mitnehmen würde.

Ich zog mich um und legte mich in mein Bett. Ich dachte noch mal an den Abend zurück und an den vielen Spass, den ich mit Nico hatte bevor ich auch schon ins Reich der Träume abdriftete.

4.

Die nächsten Tage verliefen ziemlich stressig. Meine Eltern hatten noch alles mögliche bei meinen Verwandten abzuholen und zu erledigen, noch schnell ein paar Einkäufe zu tätigen mit all dem, was wir wohl in Amerika nicht mehr bekommen würden und die letzten Behördengänge um ein für alle mal alles zu klären, was mit unserer Abreise zu tun hatte. Kaum zu glauben aber am Mittwochabend hatten wir es tatsächlich geschafft. Alles war geklärt, die allerletzten Koffer waren bereit um mit uns am nächsten Morgen zum Flughafen zu fahren – kurz und gut unser Leben in Deutschland stand kurz vor seinem Ende.

Doch für mich stand auch noch einiges andere vor dem Wandel – ich wollte mich nicht länger verstecken. Ich wollte meiner Familie nicht länger etwas vormachen. Ich war schwul – aber ich war zu feige es irgendjemand zu sagen.

Na ja es gab ein paar Leute die es wussten – aber ich war weit davon entfernt irgendjemand von ihnen jemals zu treffen. Ein paar E-Mail-Freunde aus dem Internet wussten Bescheid und irgendwie tat es mir gut es zumindest nicht ganz zu verheimlichen. Aber trotzdem – irgendwann musste auch der Moment kommen, an dem ich es meinen Eltern sagen würde.

Ich lag an dem Abend schon ziemlich früh in meinem Bett – oder besser gesagt auf meiner Matratze denn ansonsten war von meinem Bett nichts mehr übrig geblieben.

Nichts war mehr da wo es vor einigen Wochen noch gestanden hatte – ich schlief in einem leeren Zimmer. Einem Zimmer, in dem viele für mich wichtige Prozesse abgelaufen waren. Wie oft hatte ich in meinem Bett gelegen, aus dem Fenster gesehen und mir Gedanken darüber gemacht was mit mir und mit meinen Gefühlen los war. Lange hatte ich mir selber etwas vorgemacht und gedacht, dass die Jungs in meinem Kopf schon irgendwann verschwinden würden und die Mädels ihren »rechtmäßigen« Platz einnehmen würden.

Doch es passierte nicht. Die Jungs verschwanden nicht aus meinem Kopf und irgendwann kam der Moment an dem ich für mich selber nach einer langen Nacht mit ziemlich wenig Schlaf festgestellt hatte: Steffen, du bist schwul.

Jeder, der diesen Moment einmal selber durchgemacht hat, weiß wie schwer es ist sich hierüber selber klar zu werden aber wie erleichternd es gleichzeitig ist sich selber nicht mehr etwas vorspielen zu müssen. Ich war schwul, nicht erst seit diesem einem Abend an dem ich mir hierüber klar geworden war – aber seit diesem Abend erst »richtig«.

Als ich gerade mein Buch zur Seite gelegt hatte und das Licht ausmachen wollte kam Sven herein – er war scheinbar auch schon fürs Bett fertig denn außer seinem Pyjama hatte er auch nichts mehr an – ich fand ihn richtig süß, wie er so in diesem »Aufzug« vor mir stand. Nicht, dass ich was von meinem Bruder gewollt hätte – nein dafür standen wir uns schon zu nah aber trotzdem – er sah einfach süß aus.

Sven setzte sich zu mir auf meine Matratze und begann wieder einmal eine seiner hochphilosophischen Reden.

„Na Stef? Das war’s dann wohl, oder?“

„Sieht ganz so aus“, antwortete ich ihm.

„Und? Gespannt?“

„Nein … eigentlich nicht“, sagte ich und versuchte möglichst neutral zu wirken aber im nächsten Moment ließ ich ihn dann auch wieder merken, wie es mir ging, „natürlich bin ich gespannt, was denkst du denn? Schließlich macht man sowas ja nicht alle Tage oder?“

„Ja, ja“, kicherte er, „da hast du wohl Recht. Ich bin richtig froh, wenn ich hier weg bin und wieder neu anfangen kann. Irgendwie war es in letzter Zeit alles nicht so, wie ich mir das gedacht hatte. Erst macht Nadine Schluss und dann die Sache mit der Schule … ich bin einfach froh, dass es jetzt alles vorbei ist. Wer weiß, vielleicht finde ich ja in Amerika endlich jemanden der mich so nimmt, wie ich bin. Schließlich kann ich mich doch nicht von heute auf Morgen in einen anderen Menschen verwandeln oder?“

Sven war wieder an einem Punkt angelangt, der ihm in letzter Zeit ziemlich zu schaffen gemacht hatte. Seine Freundin hatte ihn verlassen, weil sie meinte, dass er ihr einfach zu wild, zu Clownsmäßig und zu albern wäre.

Als ich das gehört habe hätte ich ihr auch am liebsten erst einmal kräftig die Meinung gesagt. Wie konnte sie es wagen so über meinen Bruder zu reden? Meinen Freund, mein Kumpel, mein Vorbild?

Sven war lebenslustig und hatte immer Spaß an dem, was er machte, das war gar keine Frage, aber ich hatte nie das Gefühl, dass er es übertreibt – nein das konnte einfach nicht sein und es war auch nicht so. Sollte sein Engagement, das er überall mit einbrachte wo er war ihm auf diese Weise gedankt werden?

Ich stand immer schon auf Svens Seite auch wenn er im Unrecht war aber diesmal war er bestimmt nicht im Unrecht gewesen.

„Nein Svenni du bist schon so total in Ordnung, so wie du bist“, antwortete ich ihm und das war scheinbar auch genau die Aufmunterung, die er hören wollte, denn er legte mir kurz seinen Arm um die Schulter und meinte nur, dass er sich wenigstens auf einen Menschen 101% verlassen könnte.

„Und wer weiß…“, lächelte er leicht, „vielleicht finden wir ja auch für dich noch mal jemanden. Es gibt so viele Mädels drüben, da ist doch bestimmt auch eins für meinen kleinen Bruder dabei oder meinst du nicht?“

Ich merkte, wie mich ein kleiner Blitz durchfuhr – ich mochte es nicht besonders, wenn er dieses Thema anschnitt. Ich meine ich hatte mir eigentlich noch nie große Gedanken über eine Beziehung gemacht – klar, auch ich hatte mir immer jemanden an meiner Seite gewünscht aber irgendwie war das Thema nie so ganz akut gewesen.

Jetzt wo Sven es ansprach wurde mir wieder ein kleines bisschen unwohl. Wahrscheinlich hätte ich in jeder anderen Situation irgendetwas gesagt um das ganze Thema schnellstmöglich vom Tisch zu bekommen doch an diesem Abend war es irgendwie anders. Irgendetwas hinderte mich daran sofort abzublocken und meinem Bruder etwas vorzuspielen.

Vielleicht merkte ich aber auch selber, dass einfach die Zeit reif ist um dieses dauernde Versteckspiel zu beenden. Auf jeden Fall wimmelte ich das Thema nicht ab wie gewöhnlich sondern versuchte zum ersten Mal jemandem meine Gefühle zu erklären, und wer wäre dafür besser geeignet als mein großer Bruder?

„Vielleicht will ich ja gar kein Mädchen …“

Es war raus. Aber was hatte ich da gerade eigentlich gesagt? Ich hatte den ersten Schritt getan meinem Bruder meine Gefühle offen zulegen. Ich war selber schockiert über diese Offenheit in meinem letzten Satz. Jetzt hoffte ich plötzlich wieder, dass Sven diese Bemerkung einfach überhören würde und zu etwas anderem springen würde doch diesmal machte er es mir nicht so einfach.

„Wie? Irgendwie verstehe ich das jetzt aber nicht… Was meinst du damit?“, fragte er mich.

Nun stand ich da – was würde ich ihm sagen? Welche Antwort war die Beste auf seine Frage? Gab es überhaupt eine Antwort auf diese Frage? Natürlich gab es eine Antwort und die kannte ich nur zu gut aber ich hatte Angst davor ihm diese Antwort zu geben. Doch irgendwie schien mich diese Angst im nächsten Moment auch schon wieder zu verlassen.

Ich dachte mir, wenn ich nicht mit Sven reden kann mit wem kann ich es dann? Plötzlich war ich mir so sicher wie selten zuvor gewesen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen war einmal einiges von der Offenheit an Sven zurückzugeben, das ich ihm in der letzten Zeit nicht gegeben hatte – ich wollte meinem Bruder sagen, dass ich schwul war aber ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte. ‚Irgendwas musst du ihm aber jetzt sagen‘ dachte ich mir. Ich holte einmal kurz tief Luft.

„Na ja, weißt du… ich glaube… nein also eigentlich weiß ich …“

Ich fand die richtigen Worte einfach nicht. Sven unterbrach mich als ich nicht mehr weiter wusste.

„Stef was …“

Doch ich wollte das jetzt ein für alle mal hinter mich bringen.

Ich fiel ihm ins Wort mit einem Satz, wo ich mich heute noch frage wie ich es geschafft hatte ihn auszusprechen

„Sven ich bin schwul“.

Das war’s. Das war der Moment auf den ich immer gewartet hatte und den ich gleichzeitig immer gefürchtet hatte. Ich hatte meinem Bruder meine Gefühle offen gelegt und wusste nicht, wie er regieren würde.

Ich hatte Angst unsere gute Beziehung, die wir beide hatten, zu ruinieren – Angst davor, dass er nicht so locker damit umgehen würde wie viele andere, Angst davor meinen besten und einzigen wirklich guten Freund – meinen Bruder – ein für alle Mal zu verlieren.

Eine Weile lang herrschte Stille zwischen uns beiden. Eine Stille, die ich eigentlich so noch nicht kannte. Wir hatten uns immer irgendetwas zu sagen und wenn wir uns gegenseitig anschrieen – irgendwas war immer. Nur jetzt in diesem Moment wusste scheinbar niemand so richtig, was er sagen sollte – das war zumindest mein Eindruck.

Im nächsten Moment jedoch sollte ich mal wieder eines besseren belehrt werden. Sven sah mich kurz an, stand auf, zuckte mit den Schultern und meinte nur.

„Ja und?“

Wie durfte ich das denn jetzt verstehen? Was meinte er damit?

„Wie – ja und?“, fragte ich ihn zurück.

„Na ganz einfach >Ja und<“, antwortete er, „deswegen hast du so ein Theater gemacht? Mensch Stef, was erwartest du von mir? Das ich dir jetzt an den Hals springe und nie wieder ein Wort mit dir rede oder was?“

Ich weiß nicht, ob ich das von ihm erwartet oder befürchtet hatte – ich hatte Angst davor gehabt, dass es passiert aber nun da er es so offen aussprach schämte ich mich fast schon dafür auch nur einen Moment lang daran gedacht zu haben. Wie konnte ich meinen Bruder so unterschätzen?

„Du bist mein Bruder und mein bester Freund noch dazu – meinst du vielleicht ich habe ein Problem damit? Nein wieso denn auch ? Jeder soll sein Leben so führen, wie er es will und dazu gehört auch, dass du dir aussuchen kannst, ob du nun lieber mit einem Mädchen oder einem Jungen glücklich werden willst. Solange du nicht Morgen früh über mich her fällst werde ich dir schon nichts tun mein Kleiner.“

Bei diesem letzten Satz setzte er wieder eines seiner vielen Grinsen auf uns ich glaube damit war das Eis gebrochen gewesen. Ich wusste, dass ich mich immer noch auf meinen Bruder verlassen konnte und wunderte mich, wie ich jemals daran zweifeln konnte.

„Danke“ war alles, was ich als Antwort raus bringen konnte. Sven setzte sich wieder zu mir und nahm mich in den Arm

„Ach kleiner Bruder, weißt du was? Bleib einfach so wie du bist einverstanden? Versuch gar nicht dich von irgendwem wegen irgendeiner Sache beeinflussen zu lassen. Genau so wie du jetzt bist mag ich dich.“

Dieser Satz von Sven geht mir heute noch manchmal im Kopf herum. Es war eines der schönsten Dinge, die er jemals zu mir gesagt hatte. Ich antwortete ihm mit einem kurzen „Okay“.

Wir grinsten uns gegenseitig an und Sven verschwand wieder in sein Zimmer. Ich legte mich auf meine Matratze, zog mir die Decke über den Kopf und schlief mit einem noch nie da gewesenen Gefühl der Erleichterung ein – ich konnte auf meinen Bruder zählen und das war alles, was wichtig war.

Am nächsten Morgen wurde ich mal wieder etwas unsanft von meinem Wecker geweckt, nein ich wurde aus dem Bett gejagt denn bei diesem elektronischen Peep-Peep-Peep bleibt einem wirklich nichts anderes übrig als aufzuspringen und das Ding so schnell wie möglich auszuschalten. Derjenige, der diese Wecker erfunden hat sollte wirklich eine gehörige Tracht Prügel bekommen. Na ja, nichts desto trotz ich war wach und nun wollte ich auch endlich Los, schließlich hatte ich mich lange genug auf diesen Tag gefreut.

Auf dem Weg ins Badezimmer kam mir mein – scheinbar besonders gut gelaunter – Vater entgegen und meinte nur ich solle doch etwas voran machen, damit wir pünktlich zum Flughafen fahren können.

Gesagt getan, ich beeilte mich also mit meiner täglichen Morgenroutine und als ich fertig war hatte ich das Gefühl, dass die ganze Wohnung nur noch ein Gewusel war. Meine Eltern liefen von einer Ecke in die andere um die letzten Sachen zusammenzukramen und Sven und ich standen ziemlich hilflos in der Gegend rum und wussten nicht, was wir tun sollten.

Letzten Endes fanden dann aber auch meine Eltern alles das, was sie suchten und dann war der Zeitpunkt gekommen sich von unserer Wohnung zu verabschieden. Na ja viel war eh nicht mehr über von dem man sich verabschieden konnte aber trotzdem.

Ich hatte mein Leben lang in dieser Wohnung gelebt und ein bisschen Wehmut war schon dabei, als ich alles das, was ich lieb gewonnen hatte hinter mir lassen musste. Ich würde sie vermissen die alte und lieb gewonnene Umgebung aber in Anbetracht der Tatsache, dass ein komplett neues und vor allem viel größeres Haus auf mich wartete machte mir auch das nur noch wenig aus.

Als wir so da standen, draußen vor dem Haus und einen letzten Blick drauf warfen, da kam ich mir fast vor wie der liebe nette Junge aus dem Film, der sein zuhause für immer verlassen muss.

„Tja … das war’s dann wohl … ich werds vermissen, das alte Gebäude“, sagte meine Mutter und drückte damit aus, was wir alle empfanden.

Viel Zeit über die Vergangenheit zu sinnieren blieb uns aber nicht, denn da kam auch schon das Taxi, das uns, zwei Koffer und mindestens noch mal soviel Handgepäck zum Flughafen bringen sollte.

Nach fast einer Stunde Fahrt waren wir dort auch angekommen und begannen also unseren Schalter zu suchen, wo wir einchecken sollten. Erstaunlicherweise verlief das einfacher als gedacht und so hatten wir die Formalitäten auch innerhalb von einer halben Stunde hinter uns gebracht.

Die nette Dame hinter dem Computer wünschte uns noch eine angenehme Reise und dann ging’s auch schon auf den Weg zum Flugzeug. Viel zu früh, wie mein Vater nebenbei bemerkte, und so machten Sven und ich uns also erstmal auf den Weg um ein paar Zeitungen zu besorgen. Mein Vater wollte wenigstens noch einen Focus haben bevor er ein für alle Mal auf englische Zeitungen umsteigen wollte (und wohl auch musste).

So begannen Sven und ich uns auf die Suche zu machen, was sich deutlich schwieriger gestaltete als wir dachten. Normalerweise sollte man annehmen, dass an einem Flughafen die Zeitungsläden und Kioske geradezu an jeder Ecke auf einen warten doch wie das nun mal so ist: Wenn man etwas dringen braucht findet man es meistens überhaupt nicht. Es dauert eine ganze Weile aber wir fanden tatsächlich noch einen Zeitungsladen und besorgen meinem Vater seinen Heißgeliebten Focus. Sven kaufte sich noch irgendeine Autozeitung und ich mir eine neue Computerzeitung. Wer weiß, was im Flugzeug großartig los sein würde und für den Fall, dass nichts los war wollte ich gut gerüstet sein.

Wir waren schon fast wieder aus dem Laden raus, als mir noch ein Wühltisch mit allen möglichen Büchern auffiel und ehe ich mich versah hatte ich mir auch schon einen StarTrek-Roman gekauft. „Mein letztes deutsches Buch“ meinte ich lachend zu Sven und der meinte, dass er nicht so ganz sicher wäre ob dann so ein 5-Marks Buch das richtige wäre. Ich meinte nur, dass ich jetzt garantiert nicht noch anfangen würde anspruchsvoll zu werden und dann machten wir beide uns auch wieder auf den Rückweg zu meinen Eltern.

Nun, das war jedoch gar nicht so einfach wie angenommen hatten, denn wir hatten uns nur die ungefähre Richtung gemerkt in die wir gegangen waren verloren beim Rückweg leicht die übersicht.

Aber zum Glück kamen wir dann doch wieder auf die richtige „Straße“ im Flughafen und nach einer Viertelstunde hatten wir unsere Eltern auch endlich wieder gefunden. Die hatten sich scheinbar schon gewundert wo wir blieben aber nachdem wir ihnen alles erklärt hatten konnten sie auch nur lachen und wir machten uns auf den Weg ins Flugzeug.

Nun ja der Flug über den großen Teich war nicht gerade das, was ich als einen der aufregendsten Momente meines Lebens bezeichnen würde und von daher hielt sich meine Begeisterung auch einigermaßen in Grenzen. Die ersten zwei Stunden waren für einen Flugneuling wie mich natürlich die Erfahrung schlechthin und so sah ich mir alles neugierig an und genoss meine ersten Reisestunden hunderte Meter über der Erde. Doch die anfängliche Begeisterung verflog sehr schnell und genauso

schnell wie die Begeisterung beim Start eingesetzt hatte tat dies nun die Langeweile. Eigentlich frage ich mich ja noch heute ob immer nur die anderen Erstflieger ins Cockpit dürfen – ich durfte es auf jeden Fall nicht, schade.

Während Sven schon neben mir eingeschlafen war begann ich mich in meinen erst vor kurzen erworbenen StarTrek-Roman zu vertiefen und durch lauter Captain Picard bemerkte ich gar nicht, dass wir uns schon wieder auf den ersten Zwischenstopp vorbereiten mussten. Ich beschloss also die Enterprise eine Weile ohne mich fliegen zu lassen und beschäftigte mich wieder mit meinem aktuellen Raumschiff … ehm Flugzeug. Sven war inzwischen auch wieder aus dem Reich der Träume angekommen und wirkte so frisch und ausgeschlafen wie schon länger nicht mehr.

Endlich glücklich in Chicago angekommen hatten wir wieder ein paar Stunden Zeit uns auf dem Flughafen ein bisschen umzusehen und uns die Beine zu vertreten, bis wir in unsere Maschine nach L.A. steigen konnten.

Auf dem Flughafen merkte ich dann auch zum ersten Mal ziemlich schlagartig, dass das Englisch was wir in der Schule gelernt hatten mit dem Englisch was die Leute tatsächlich sprachen nur sehr wenig bis gar nichts zu tun hatte. Dazu kam noch der Chicago-Slang, der die Sache auch nicht gerade einfacher machte. Aber trotzdem schaffte ich es die Leute noch einigermaßen zu verstehen und eine Cola zu bestellen – das klappt schließlich praktisch überall auf der mit nur einem Wort „Coke!“.

Die restliche Zeit am Flughafen verbrachte ich damit mir die Leute ein bisschen zu begucken in der Gegend rumzudösen.

Das Flugzeug nach L.A. startete schließlich auch, wir befanden uns also schon wieder über den Wolken und ich durfte immer noch nicht ins Cockpit. ‚Bei irgendjemand würde ich mich schon noch beschweren‘ dachte ich mir.

So langsam kam ich mir schon vor, als wenn ich niemals mehr etwas anderes als ein Flugzeug sehen würde aber zu guter letzt nahm auch dieser Flug ein Ende und wir kamen in L.A. am Flughafen an. Nachdem wir dort wiederum den ganzen organisatorischen Quatsch mit den Pässen und so weiter hinter uns gebracht hatten konnten wir endlich den Flughafen verlassen – halt das ‚endlich‘ sollte ich vielleicht zurücknehmen, denn als wir aus dem Flughafen herauskamen schlug uns eine Hitze entgegen, die ich selbst in meinem kühnsten Vorstellungen nicht berücksichtigt hatte – Mensch, war das warm !

„Da gewöhnt ihr euch auch noch dran“, grinste mein Vater als er sah, dass so ziemlich jeder unserer Familie außer ihm fast in Ohmacht gefallen wäre.

„Ich kann das irgendwie nicht so ganz glauben“, keuchte Sven.

Wir musste alle ein bisschen lachen und machten uns danach auf den Weg zum nächst besten Taxi. Unser Gepäck hatten wir bereits auf einen Wagen geladen und so konnten wir direkt abfahren.

Ich weiß nicht, ob es nur Zufall war oder ob das tatsächlich Realität ist in L.A. aber der Taxifahrer sah aus, als sei er aus dem erstbesten Hollywood-Film entlaufen. Es war schon komisch gewesen, diesen etwas älteren schwarzen Mann in den typischen Taxifahrer-Klamotten fahren zu sehen.

So machten wir uns also auf den Weg in den Verkehr einer amerikanischen Großstadt, mit allem was dazugehört.

USA here we are !

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1 Kommentar

  1. Huhu,

    schöne Storie, gut geschrieben, man kann die Gefühle des Steffen gradezu mitführen.

    LG Andi

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