Blau – Teil 6 – Ein Anfang

Ich mag es nicht einfach nur im Gras zu sitzen.
Das ist langweilig.
Viel lieber will ich wieder mit Papa oder Onkel Georg im Wasser spielen.
Aber das wollen die jetzt nicht.
Alleine darf ich das aber auch nicht.
Auch in die Sonne darf ich nicht. Ich soll unter dem großen gelben Schirm sitzen.
Das ist langweilig.
Christian neben mir mag das Warten aber auch nicht.
Ich guck zu ihm. Ich kenn ihn schon ganz lange und weiß, dass er gleich wieder anfängt zu quengeln.
Aber er ist ja auch ein halbes Jahr jünger wie ich.
Das ist ganz viel.

Neben uns liegt eine braune Decke im Gras.
Da sitzen Papa und Onkel Georg. Die reden wieder darüber Ökolo-Vieh zu kaufen.
Ich find das langweilig.
Ich weiß nämlich nicht was das ist.
Jetzt haben wir nur Kühe, Hühner und Ziegen. Die Kühe mag ich nicht. Die sind mir zu groß. Ob ich Ökolo-Vieh mag, weiß ich nicht. Aber Papa will unbedingt welche haben. Er sagt später will jeder so was haben.

Mama sitzt mit Franziska neben Papa und Onkel Georg.
Meine kleine Schwester ist süß. Aber oft ist die mir auch zu laut. Die schreit immer direkt, weil sie noch nicht gut sprechen kann.
Ich will wieder am Wasser spielen. Deshalb steh ich jetzt auch einfach auf. Ich mag das glitzerige blau. Aber das Wasser ist hier eigentlich eher braun.

„Alexander, lauf nicht weg. Tante Iris ist gleich mit dem Eis da!“, ruft mir mein Papa zu.

Mist.
Ich wollte grade zum Wasser laufen.
Aber Eis ist lecker.
Nur das drauf warten, ist langweilig.

„Hier ist euer Eis.“

Tante Iris ist wieder da. In beiden Händen hält sie ganz viel Schoko-Eis.
Christian bekommt als erstes eins in die Hand.
Und dann bekomm auch ich endlich ein Eis.
Ich mag Schokolade.
Und ich versuch alles zu lecken bevor es tropft.
Ich gucke zu Christian. Der tropft ganz doll. Und macht sich ganz voll.
Ich find das Lustig.
Aber der ist ja auch noch nicht so alt wie ich.
Ich versuch, dass mein Eis nicht tropft.
Ich hab nämlich eine ganz neue Badehose bekommen. Die ist toll Blau. Ich mag blau, und meine Hose soll keine Flecken bekommen.
Aber meine Haut bekleckere ich auch.
Papa kommt zu mir und setzt sich vor mir ins Gras. Er macht ein Foto von mir. Ich weiß nicht warum er das so lustig findet. Mama lacht auch.
Aber ich finde das Eis grade doof.
Das läuft überall über die Haut.
Das fühlt sich komisch an, wenn das trocknet. Und ich will nicht, dass das auf meine blaue Hose kommt. Ich musste nämlich ganz lange betteln um die zu bekommen. Ich hab die in dem großen Laden gesehen und wollte die ganz doll haben.
Mir gefällt das blau.
Und meine Mama wollte mir die erst nicht kaufen.
Weil ich noch so klein bin.
Aber das bin ich nicht. Christian ist noch klein.

Das Eis wird immer klebriger. Ich hab angst, dass es meine Hose dreckig macht.
Ich sehe mir das klebrige Eis in meiner Hand an. Und dann meine blaue Hose.
Ich lege das Eis neben mich. Das kann ich auch nachher lecken. Aber jetzt will ich nicht mehr klebrig sein.
Ich guck schnell zu meinem Papa. Und als ich sehe, dass er nicht guckt, laufe ich schnell los.
Ich will mir das klebrige Eis weg machen.
Irgendwo war auch ein Wasserhahn.
Aber ich weiß nicht mehr wo.
Ich laufe deshalb zum See.
Da kann ich mich auch sauber machen.
Ich lauf zu der Stelle wo das Gras bis zum Wasser geht. Das hab ich mir schon vorher gemerkt. Der Sand wo ich mit Papa vorher war, hat nämlich auch ganz doll an mir geklebt.
An der Wasserstelle bück ich mich runter. Mit den Händen versuch ich das Wasser überall hin zu bekommen.
Mit meinen Füßen trete ich immer weiter gegen das Gras.
Das ist nämlich richtig rutschig.
Aber das Wasser hilft.
Ich spritze mich überall voll und das klebrige Eis geht weg.
Aber dann ist das nasse Gras auf einmal richtig rutschig.
Irgendwie dreht sich auf einmal der ganze Himmel.
Ich lieg auf dem Rücken.
Und dann ist auf einmal überall Wasser.
Ich bekomm keine Luft mehr.
Ich weiß nicht wohin ich soll.
Das ist gar nicht Toll.
Aber das Wasser hier ist ja auch nicht blau.
Ich hab Angst.
Ich rudere mit meinen Armen.
Und meinen Beinen.
Und dann fasst mich etwas am Arm an.
Ganz fest.
Und zieht mich hoch.
Aus dem Wasser raus.
Ich sitze wieder auf dem Gras und muss Husten. Vor mir sitzt ein Mann in einem schwarz-weißen Gummianzug. Er hält noch immer meinen Arm fest.

„Hast du dir etwas getan?“, fragt er mich.

Aber ich achte nicht darauf.

„Geht es dir gut?“

Ich guck nur weiter in die Augen von dem Mann.
Die sind ganz toll blau.
Noch toller als meine Badehose.

„Hey, Großer!“

Ich guck den Mann komisch an. Noch nie hat jemand Großer zu mir gesagt.

„Ist auch nichts passiert?“

„Nein“, sage ich zu ihm und guck weiter in die Augen.

„Du solltest besser auf dich aufpassen.“

„Ja.“

„Und du solltest besser schwimmen lernen, damit du nicht ertrinkst. Wenn du immer vorsichtig bist, sehen wir uns bestimmt wieder. Möchtest du das?“

„Ja!“, schrie ich sofort und springe wieder auf.
Der Mann hockt noch immer im Gras.
Er guckte mich weiter an und lächelt.

„Dann solltest du jetzt aber auch wieder zu deiner Familie gehen. Und nicht wieder weglaufen“, sagt mir der Mann mit den Blauen Augen.
Und ich will machen was er sagt, damit er glücklich ist. Ich glaube, dass die Augen dann noch blauer sind.

„Okay.“ Ich laufe zurück zu meiner Familie. Auf dem Weg rufe ich ganz laut. “Papa! Kannst du mir gut schwimmen beibringen? Sonst muss ich nämlich sterben!“

Ich setz mich zu Papa und Onkel Georg auf die Decke.

„Was musst du?“, fragt mein Papa.

„Sterben. Das muss man nämlich, wenn man nicht schwimmen kann“, erkläre ich ihnen. Die beiden wissen aber auch gar nichts.

„Gut, du willst also Schwimmen lernen“, sagt Onkel Georg und piekst mit seinem Finger in meine Seite.

*-*-*

„Hey! Wo bist du denn wieder mit deinen Gedanken?“ Ein Finger mir spitzem Nagel bohrt sich in meine Seite.

Verwirrt blinzle ich ein paar Mal. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und sehe Ute neben mir. Ihren Finger hält sie noch immer drohend nach oben.

„Weit weg“, gestehe ich ihr und lächele sie schief an. Ich sehe mich wieder etwas in dem Raum um und bemerke, dass ich nicht mitbekommen habe wie das Seminar beendet wurde. Alle Studenten räumen ihre Sachen bereits zusammen. Einige scheinen das Zimmer auch schon verlassen zu haben.

„Lass uns auch gehen“, fordert Ute mich auf. Ich klemm mir meine dünne Sommerjacke unter den Arm. Nicht zum ersten mal ärger ich mich heute darüber, dass ich sie überhaupt mitgenommen habe.

„Und das war deine Lieblingsdozentin?“, frage ich meine Freundin als wir den Seminarraum verlassen haben. „Ich find sie irgendwie…eigenartig.“

„Wie kommst du denn da rauf? Du hast sie doch nur einmal gesehen.“

„Und du schwärmst von ihr, seit du das erste Mal ein Seminar bei ihr hattest.“

„Was weißt du denn schon. Dich interessieren doch eh nur noch Bäume“, erwidert Ute leicht eingeschnappt. Seit ich mich vor zwei Jahren dazu entschlossen habe in einer anderen Stadt Landschaftsökologie und Forstwirtschaft zu studieren, benimmt sich Ute häufig als hätte ich sie verraten. Doch da Onkel Georg und mein Vater den Wald auf den Ländereien endlich forstwirtschaftlich nutzen wollen, ist das für mich eine gute Gelegenheit um in den Gutshof mit einzusteigen.

„Wohin wollen wir jetzt?“, frage ich Ute um sie wieder auf andere Gedanken zu bringen.

„Zu Paolo.“

„Den gibt’s noch?“, frage ich unnötiger Weise.

„Sicher, was denkst du denn? Du bist grade mal ein Semester weg gewesen. Christian und Franco sind übrigens auch da.“

„Vertragen sich die Beiden?“

„Klar. Ich hab sie mir doch gut erzogen.“ Ute strahlt mir zum Glück wieder entgegen als die Rede von den Beiden ist. Mit Christian war Ute zwei oder drei Monate zusammen. Bis beide der Meinung waren, jeweils doch nicht der Richtige zu sein. Dass sie sich trotzdem noch mit meinem Cousin versteht, wundert mich schon ein wenig. Besonders seitdem sie mit Franco zusammen ist.

„Und wäre Franco auch was für mich?“ Franco habe ich bisher noch nicht kennengelernt. Bei meinem letzten Besuch zu Weihnachten war er mit seiner Familie in Argentinien.

Ute ignoriert meine Frage und läuft in Richtung Ausgang.

Ich folge ihr weiter durch die mir fremden Gänge. Irgendwie habe ich das Gefühl hier unter den ganzen Psychologiestudenten ständig angestarrt und analysiert zu werden. An meinem Institut geht es definitiv ungezwungener zu. Was wohl auch daran liegt, dass man immer mal wieder jemanden mit Gummistiefeln oder dreckigen Sachen herumlaufen sieht. Wenn man kurz vorher ein Seminar in dem kleinen angrenzenden Wald hatte, hat man halt nicht immer Zeit sich direkt wieder umzuziehen.

Doch hier sind dagegen viele sogar mit Sakko und polierten Schuhen zu sehen.
Kurz vor dem Ausgang kommt mir sogar ein älterer Herr mit Pfeife entgegen, der aussieht wie die Wiedergeburt Sigmund Freuds. Und bei ihm bin ich mir sicher, dass er mich anstarrt. Er wird sogar langsamer und bleibt schließlich stehen.

„Kennen wir uns?“ fragt er mit ruhiger Stimme.

„Ich glaube nicht. Ich bin nur zu Besuch hier.“

„Eigenartig. Ich hätte schwören können Sie zu kennen. Irgendwie habe ich Ihr Gesicht direkt mit einem Badeunfall als Kind in Verbindung gebracht.“ Dabei fasst er sich mit seiner Hand an die Schläfe als hätte er Kopfschmerzen und massiert sie leicht.

„Badeunfall?“

„Machen Sie sich nichts daraus. Wahrscheinlich spielt mir nur mal wieder das Gedächtnis einen Streich. Ich will Sie auch nicht länger aufhalten. Einen schönen Tag noch.“ Damit nimmt er seine Pfeife wieder in den Mund, die wie mir erst jetzt auffällt nicht einmal mit Tabak gestopft ist.

„Ähm…ja Ihnen auch“, entgegne ich verwirrt. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, woher dieser Mann von dem Unfall wissen sollte. Was heißt überhaupt Unfall? Eigentlich bin ich ja nur ins Wasser gefallen.

„Eigenartiger Typ“, dachte ich mit einem lächeln auf dem Lippen.
Ich schloss wieder zu Ute auf, die mittlerweile schon ungeduldig vor der Türe auf mich wartete.

„Was wollte denn der Bernhardt von dir?“

„Der Alte grade? Er glaubte mich zu kennen.“

„Ach?“ Ihre hochgezogene Augenbraue sagte mir schon alles. Sie schien nicht viel von diesem Bernhardt zu halten. Warum sie aber lieber eine Dozentin vorzog, die ihre Studenten dazu bringt persönliche Erinnerungen vor allen anderen auszubreiten, werde ich wohl sowieso nicht verstehen.

In der Sommersonne gehen wir nebeneinander zu unserem Lieblingsitaliener. Ein paar Straßen weiter sehe ich dann die dunkelgrünen Markisen und Sonnenschirme auf dem kleinen Platz.
An einem der schattigen Tische sehe ich Christian mit einem recht dunkelhäutigen Typen sitzen. Tief schwarze Haare hängen im ins Gesicht. In seinen Genen scheint eindeutig auch etwas der einheimischen Indios Argentiniens zu stecken.

Ich begrüße Franco und stelle mich kurz vor. Auf den ersten Blick scheint er ganz sympathisch zu sein.
Erst danach umarme ich Christian, den ich auch fast ein halbes Jahr nicht mehr gesehen habe.
Ich schiebe mir einen Stuhl zurecht und setzte mich neben ihn. Ute sitzt mir gegenüber. Genüsslich lehnt sie sich zurück und schaut in die Runde.

„Alle meine Männer um mich herum. Daran könnte ich mich gewöhnen.“

„Vergiss es“, sage ich ihr. „Du schaffst es eh nicht hier das polygame Matriarchat einzuführen.“

Während ich mir die Getränkekarte nehme um zu sehen was sich geändert hat, schiebt Ute gespielt beleidigt ihre Lippen vor. Christian und Franco freuen sich dagegen, dass noch jemand da ist der Ute kontra gibt.
Ich widme mich weiter der Karte und höre mit halbem Ohr ihrer angeregten Unterhaltung zu. Wie sich herausstellt, sind Francos Eltern zwar Diplomaten. Aber das Geld hat seine Familie mit einer großen Ranch in Argentinien gemacht. Je weiter ich mit der Karte bin desto mehr beteilige ich mich auch an ihrem Gespräch.
Ute sitzt dagegen ruhig neben uns.

„Du wolltest uns alle zusammen haben“, grinse ich ihr entgegen.

„Da konnte ich ja auch noch nicht wissen, dass ich mit drei Bauern am Tisch sitzen werde.“

„Du solltest dir überlegen was du sagst, wenn du auch weiterhin mit ökologischen Eiern versorgt werden willst“, droht Christian ihr mit einem Lehrerhaft erhobenen Zeigefinger.

Ich amüsiere mich köstlich und lasse meinen Blick über den Platz gleiten. Es stehen andere Blumenkübel um uns herum als im letzten Jahr. Diese sind etwas verspielter als die grauen Betonbecken. Auch die Bepflanzung macht mehr her. Rote Blumen über hellgrünen Bodendeckern; und über dem ganzen erhoben sich etwas größere Zypressen. Es passte zu dem Flair des Platzes mit den beiden mediterranen Cafés.

An einem Kübel bleibt mein Blick jedoch hängen.

Ein junger Mann lehnt sich lässig dagegen. Er trägt eine dunkelblaue Jeans und eine enges schwarzes T-Shirt. Silber-schwarze Turnschuhe und wirre braune Haare.
Was mich jedoch am meisten irritiert ist, dass er mich die ganze Zeit ansieht und dabei lächelt. Ich bekomme nicht einmal mit wie der Kellner an unseren Tisch kommt und Ute für mich mitbestellt, weil ich nicht reagiere.

„Alles in Ordnung?“ Höre ich von Ute.

Ich nicke nur beiläufig und sehe dann wieder zu dem Mann am Blumenkübel.

„Kennst du ihn?“

„Ich weiß nicht genau. Er kommt mir bekannt vor.“

Und dann trifft es mich wie ein Schlag. Er war es der mich als Kind aus dem Badesee gezogen hat.
Wie in Trance stehe ich auf.
Er hat die blauen Augen, die ich auch in meinen Erinnerungen an den Tag gesehen habe.
Mit langsamen Schritten gehe ich auf ihn zu. Und schon beim ersten Schritt habe ich das Gefühl als würde ich mich an vergessene Ereignisse erinnern.
Blau.
Ein leichtes Kribbeln macht sich in meinem Hinterkopf breit.
Eine Beerdigung.
Das Kribbeln steigert sich zu leichten Schmerzen.
Kleine Krater.
Ich fass mir an meinen Kopf, der anfängt mit jedem Bild mehr schmerzt.
Ein Badeunfall.

Schließlich stehen wir uns direkt gegenüber. Keinen halben Meter auseinander. Ich frage mich wie ich vergessen konnte wie blau diese Augen sind.

„Ich hab das Gefühl mein ganzes Leben auf dich gewartet zu haben“, sage ich.

„Ich weiß nicht wie lange du gewartet hast. Aber ich habe dein ganzes Leben auf dich gewartet“, sagt Glaukos während er mit seinen Lippen immer Näher zu meinen kommt.
Nur ein kleiner Teil meines Gehirns fragt sich, woher ich eigentlich seinen Namen kenne.
Doch während meine Lippen seine treffen, ist das alles nicht so wichtig.
Die Null-Linie ist perfekt.

*Ende*

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