Weirdos – Teil 2

Kapitel 8 – Abschied?

Als ich am Montagmorgen aufwachte, hatte ich rasende Kopfschmerzen. War daran der Alkohol von letzter Nacht schuld? Wir hatten den Abend bis kurz nach Mitternacht in einer mehr oder weniger gemütlichen Gastwirtschaft in einem Nachbarort verbracht. Die komplette Gruppe inklusive Thomas war mitgekommen. Es schien die Stammkneipe der Klinikpatienten zu sein. Der Wirt betrieb sogar einen Abhol- und Bringservice. Mit einem uralten VW LT kutschierte er höchstpersönlich die Patienten zwischen der Klinik und seiner Kneipe in dem etwa drei Kilometer entfernten Dorf hin und her.

Als ich mich im Bett aufsetzte, klopfte mein Gehirn wie wild gegen die Schädeldecke. Nein, die paar Gläser konnten unmöglich an diesen Schmerzen schuld sein. Ich war zwar eigentlich keinen Alkohol gewöhnt, aber so einen Effekt konnten die paar Promille in meinem Blut trotzdem nicht gehabt haben.

Ich sah zu Kevin hinüber, der auf der Matratze neben mir immer noch schlummerte. Die Matratzenanordnung auf dem Boden hatten wir seit Freitag beibehalten. Es war wohl etwas naiv von mir gewesen, zu glauben, dass Kevins Albträume sofort aufhören würden, nur weil er ein- oder zweimal über seine Erlebnisse gesprochen hatte. Dunkel konnte ich mich erinnern, dass auch heute Nacht irgendwas gewesen war. Da hatten mich aber noch keine Kopfschmerzen gequält.

Mühsam stand ich auf und schlich in die Dusche. Vielleicht wurde es ja besser, wenn ich ein paar Kubikmeter heißes Wasser über meinen Körper plätschern ließ. Als ich so unter dem Wasserstrahl stand, ließ ich mir noch einmal die Ereignisse des letzten Abends durch den Kopf gehen. Thomas hatte den Mädchen noch nicht viel über sich erzählt. Bei der lauten Musik in der Kneipe war eine vernünftige Unterhaltung ohnehin kaum möglich gewesen. Das Einzige, was die Mädchen inzwischen wirklich mitbekommen hatten, war die Sache mit seinem halbherzigen Suizidversuch. Der Verband um sein Handgelenk ließ sich eben schlecht verbergen. Thomas versuchte das auch gar nicht erst. Die Mädchen wussten wohl inzwischen auch, dass er aus einer ziemlich problematischen Familie kam und von seinem Vater häufig verprügelt worden war.

Da er den Dreien aber bisher noch nichts von seiner Homosexualität erzählt hatte, blieb mir auch noch etwas Zeit für mein Coming-Out vor den Mädchen. Wenn diese erst einmal wussten, dass Thomas schwul war, konnte ich schließlich mein eigenes Schwulsein unmöglich noch länger vor ihnen verbergen. Ansonsten wäre ich mir wohl ziemlich mies vorgekommen. Oder ich würde Gefahr laufen, dass es dann doch irgendwann unbeabsichtigt herauskam. Und das wäre dann richtig peinlich. Eigentlich fürchtete ich mich vor diesem Outing auch nicht besonders, aber irgendwie musste sich schon die richtige Situation dazu ergeben. Natürlich hätte ich es dem Rest der Gruppe längst erzählen können. Es hatte schon einige Gelegenheiten dazu gegeben, die ganz gut gepasst hätten. Aber irgendwie war es mir bisher nie besonders wichtig erschienen. Mir hatte es völlig genügt, dass Kevin Bescheid wusste.

Als ich schließlich das Wasser abstellte, hatte das Hämmern in meinem Kopf tatsächlich nachgelassen, trotzdem fühlte ich mich irgendwie krank.

Kevin hatte die Matratzen bereits zurück auf die Betten gepackt und auch ansonsten etwas Ordnung gemacht, als ich zurück ins Zimmer kam. Ich musste im Bad wohl ewig gebraucht haben.

»Wie siehst du denn aus?«, platzte es aus ihm heraus, als er mich sah. »Geht’s dir nicht gut?«

»Weiß nicht, irgendwie fühl ich mich nicht so besonders.«

»Hast wohl ‘nen Kater?«, meinte er grinsend.

»Ach komm, doch nicht wegen der paar Gläser.«

Ich schlüpfte in meine Klamotten und legte mich danach angezogen auf mein Bett, während Kevin sich im Bad fertig machte.

»Kommst du mit zum Frühstück?«, hörte ich irgendwann seine Stimme.

»Ja«, antwortete ich gähnend. Irgendwie musste ich schon wieder leicht eingedöst gewesen sein.

Ich rappelte mich auf und trottete mit Kevin nach unten in den Speisesaal. Ich fühlte mich richtig schwach und gebrechlich. War ich wirklich erst 19? Heute fühlte ich mich eher wie 90.

Bis auf eine Tasse Tee brachte ich dann auch beim besten Willen nichts hinunter. Die anderen sprachen mich wiederholt darauf an, dass ich doch ziemlich blass aussehe, und Gudrun empfahl mir eindringlich, mich in der medizinischen Zentrale untersuchen zu lassen. Als ich mich nach dem flüssigen Frühstück dann aber etwas besser fühlte, hielt ich das doch für etwas übertrieben und ignorierte ihren Rat einfach.

Hinter der Rezeption, an der Wand gegenüber dem Eingang zum Speisesaal und der Cafeteria, befanden sich Schließfächer. Jeder Patient hatte ein eigenes. Hier erhielt man neben der Post auch Mitteilungen von den Psychologen oder der medizinischen Zentrale. Als wir aus dem Speisesaal kamen und Kevin in sein Fach sah, fand er dort einen Zettel von Frau Fröschl. Er sollte um 10.30 Uhr in ihr Zimmer kommen.

»Hast du ‘ne Ahnung, was die von dir will?«, fragte ich verwundert.

Kevin zuckte mit den Schultern.

»Nö.«

»Komisch.«

Noch ehe wir weiter über das Thema diskutieren konnten, hörte ich Christinas Stimme hinter mir.

»David?«

Ich drehte mich zu ihr um. Sofort wurde mir schwindlig. Abrupte Drehbewegungen hätte ich an diesem Morgen wohl besser vermeiden sollen.

»Holst du mich dann nachher in unserem Zimmer ab?«, hörte ich die Kleine sagen.

Um zehn Uhr würde sich die Gruppe zur Angstbewältigung zum ersten Mal treffen. Da Nadine und die anderen so etwas wie Angstbewältigung nicht nötig hatten, war ich der Einzige, den sie kannte, der mit ihr zusammen dort hingehen würde. Eigentlich wollte ich nur wieder in mein Bett und hätte diese Therapiestunde am liebsten ausfallen lassen. Das konnte ich Christina aber unmöglich antun. Alleine würde sie sich niemals unter lauter wildfremde Menschen trauen.

»Ja, klar. Mach ich doch gerne«, antwortete ich deshalb, nachdem mein Gehirn endlich aufgehört hatte, Loopings in meinem Kopf zu drehen.

Sie lächelte mich schüchtern an und verabschiedete sich mit einem leisen »Bis dann.«

Wenn ich bisher nicht voll damit ausgelastet gewesen wäre, mich um Kevin zu kümmern, hätte ich bei ihr mit Sicherheit schon die Rolle eines großen Bruders übernommen. Gut, dass Nadine sonst immer für sie da war. Ich sah den beiden nach, wie sie gemeinsam im Treppenhaus verschwanden.

Kevin hatte die ganze Zeit die Nachricht unserer Psychologin auf dem kleinen roten Zettel angestarrt. Erst jetzt steckte er diesen in die Hosentasche und machte sich mit mir auf den Weg nach oben in unser Zimmer. Heute bevorzugte ich ausnahmsweise den Aufzug.

Ich legte mich noch einmal auf mein Bett und befahl Kevin, mich kurz vor zehn aufzuwecken, falls ich wieder einschlafen sollte. Das war dann aber doch nicht nötig. So stand ich pünktlich um 9.55 Uhr vor Nadines und Christinas Zimmer und klopfte an die Tür.

»Na, bist du bereit?«, fragte ich Christina, als sie die Türe öffnete.

Sie nickte.

Zusammen fuhren wir mit dem zweiten Aufzug hinunter in den Keller. In einem fensterlosen, mit hellen Neonröhren erleuchteten Raum warteten bereits fünf andere Patienten auf uns. Hoffentlich fiel jetzt nicht der Strom aus. Sicher war der eine oder andere dabei, der sich im Dunkeln fürchtete. Aber vielleicht war es ja gar kein Zufall, dass sich die Angstpatienten ausgerechnet in diesem Zimmer trafen? Ich fragte mich, welche Experimente man hier mit uns anstellen würde.

Der Psychologe, der die Gruppe leitete, stellte sich als Herr Kronmüller vor. Er hatte einen unverkennbar fränkischen Akzent. Obwohl er sich bemühte, Hochdeutsch zu sprechen, schien er harte Konsonanten nicht zu kennen. Das Wort ‘Panikattacke’ klang bei ihm eher wie ‘Banigaddagge’. Naja, da die Patienten aus ganz Deutschland kamen, fühlte sich dadurch vielleicht jemand an seine Heimat erinnert.

Dann begann die übliche Prozedur. Jeder musste sich vorstellen und von seinen Ängsten berichten. Mittlerweile fühlte ich mich wieder schlechter. Abwechselnd begann ich zu schwitzen und wieder zu frösteln. Manipulierte hier jemand ständig die Heizung? Von dem, was in der Gruppe so gesprochen wurde, bekam ich ab einem gewissen Zeitpunkt kaum noch etwas mit.

Als ich um 11.30 Uhr zurück auf unser Zimmer kam, fühlte ich mich derart schlapp und schwächlich, dass ich mich nur noch nach meinem Bett sehnte und beinahe über den geöffneten Koffer stolperte, der mitten im Raum lag. Verwirrt sah ich mich im Zimmer um. Kevin saß mit angezogenen Beinen im Bett und lehnte mit dem Rücken an der Wand. Irgendwie sah er nicht besonders glücklich aus.

»Was ist denn hier los?«, wollte ich völlig verdattert wissen.

»Jetzt isses so weit«, hörte ich als Antwort. Kevins Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen.

»Was?«, fragte ich zurück.

»Ich muss zurück in die Psychiatrie.«

Einen Moment blieb ich stumm stehen. Was ging hier ab? Träumte ich das hier nur? Irgendwie fühlte ich mich wirklich fast so wie in einem Traum. Das lag aber wohl eher an meinem Gesundheitszustand. Inzwischen war mir klar, dass ich wohl Fieber haben musste.

»Warum denn das?«

»Naja, kannst du dir doch denken. Weil ich in der Gruppe bisher noch nichts gesagt habe und so.«

»Ja und? Hab ich vielleicht schon viel gesagt? Oder Christina?«

Langsam wurde ich wieder etwas munterer. Adrenalin war schon eine gute Erfindung.

»Da sind noch so ein paar Sachen«, sagte Kevin leise.

»Was denn?«

»Erinnerst du dich an Donnerstagvormittag?«

»Ja, der Arzt unten in der medizinischen Zentrale. Nach deinem Albtraum. War was mit dem?«

Kevin schüttelte den Kopf.

»Naja, das kam vielleicht auch noch dazu. Aber eigentlich hätte ich vormittags um neun bei der Fröschl sein sollen. Zum zweiten Einzelgespräch. Weil ich ihr beim ersten Mal kaum was erzählt habe.«

Kevin hörte sich ziemlich kleinlaut an. Fast so, als ob er erwartete, dass ich ihm jetzt Vorwürfe machen würde. Dazu war ich aber im Moment schon körperlich nicht in der Lage. Irgendeine unsichtbare Kraft versuchte mich die ganze Zeit über auf mein Bett zu ziehen.

»Und um zehn hätte ich eigentlich Maltherapie gehabt«, sagte Kevin noch leiser.

»Oh Mann«, brachte ich schließlich hervor. »Warum bist du denn da auch nicht hin?«

Nun war es also doch so weit. Ich machte ihm tatsächlich Vorwürfe.

»Du weißt doch, wie ich Donnerstagvormittag drauf war.«

Ja, ich erinnerte mich noch lebhaft an seine niedergeschlagene Stimmung und seine miese Laune.

»Mann, du hast uns doch am Freitagnachmittag dann deine Geschichte erzählt. War doch genauso gut, als wenn du’s in der Therapiegruppe gemacht hättest. Nur dass eben keine Psychologin dabei war. Und Thomas hast du’s am Sonntag noch mal erzählt. Verdammt, dir ging’s doch so gut über’s Wochenende. Hast du der Fröschl das nicht gesagt?«

Kevin schüttelte den Kopf.

»Die Entscheidung ist glaub ich sowieso schon am Donnerstag gefallen. Da war wohl irgend ‘ne Besprechung oder so was. Als ich dann am Freitag während der Gruppenstunde auch wieder nichts gesagt habe, war’s wohl endgültig so weit. Vielleicht hätte ich mich bei der Fröschl entschuldigen sollen, dass ich nicht zum Einzelgespräch und zur Maltherapie gekommen bin, aber irgendwie hab ich mich nicht getraut. Sie hätte ja auch selber was sagen können.«

»War die Fröschl deswegen am Freitag so schlecht gelaunt?«

Kevin zuckte mit den Schultern.

»Kann schon sein«, sagte er leise.

»Oh Mann, das darf ja wohl nicht wahr sein. Dann hätte sie extra freundlich sein müssen, wenn’s so wichtig ist, dass du in der Therapiestunde was sagst.«

Jetzt war ich richtig wütend. Aber nicht auf Kevin. Da war so eine gewisse Psychologin, die ich immer weniger mochte.

»Hey, Kevin. Die können dich hier nicht so einfach wegschicken. Das lass ich nicht zu. Auf keinen Fall!«

»Was willst du denn dagegen machen?«, fragte er resigniert.

Ich überlegte einen Moment. Ja, was um alles in der Welt konnte ich dagegen unternehmen? Ich hatte nicht die geringste Ahnung.

»Warte mal«, sagte ich nach einer Weile.

Ich drehte mich um und stürmte wie ein geölter Blitz aus dem Zimmer. Ich kam gar nicht dazu, mich darüber zu wundern, dass ich in meinem Zustand zu einem solchen Kraftakt überhaupt fähig war. Vor Gudruns Zimmer machte ich halt. Ich klopfte an, vielmehr pochte ich wie wild mit meiner Faust gegen die Türe. Hoffentlich war Gudrun in ihrem Zimmer. Als sich ein paar Sekunden später die Türe öffnete und ich in Gudruns ärgerliches Gesicht blickte, war ich richtig erleichtert.

»Ach! Du bist das, der hier so einen Krawall macht.«

»Es geht um Kevin«, stammelte ich völlig außer Atem. »Die schicken ihn wieder zurück in die Psychiatrie.«

»Was?«, rief Gudrun erschrocken. »Warum das denn?«

Ich schilderte ihr kurz, was Kevin mir soeben erzählt hatte.

»Das darf ja wohl nicht wahr sein. Er fühlt sich doch inzwischen hier richtig wohl, oder? Außerdem geht’s ihm doch auch schon besser.«

»Ja, das wissen die aber nicht. Kevin hat der Fröschl nichts davon gesagt.«

»Komm, wir gehen zum Chefarzt.«

Gudrun ergriff mal wieder die Initiative.

»Was? Meinst du, das hilft was?«, fragte ich erstaunt.

»Auf jeden Fall müssen wir’s probieren. Los, wir nehmen Nadine und Christina mit, dann sind wir zu viert. Zumindest muss uns dieser Dr. Höfling dann anhören.«

Die nächste Türe, die von mir malträtiert wurde, war die Zimmertüre der beiden anderen Mädchen. Es dauerte eine Weile, bis Nadine öffnete. Ich hatte schon befürchtet, die beiden wären nicht auf dem Zimmer. Gudrun erklärte den beiden kurz die Lage und unser Vorhaben, dann waren wir auch schon im Aufzug zum Erdgeschoss, wo sich das Büro des Klinikchefs befand. Im Vorzimmer empfing uns eine elegant gekleidete Mittvierzigerin, die auf den plötzlichen Ansturm von vier jungen Patienten offensichtlich nicht vorbereitet gewesen war. Sie griff nach ihrer Brille, die ihr an einer Kette um den Hals baumelte, und starrte uns mit offenem Mund an.

»Moment, so geht das aber nicht«, sagte sie. »Haben Sie überhaupt einen Termin?«

»Äh, … ‘tschuldigung«, stammelte ich und drehte mich schnell um, um die Türe hinter uns zu schließen. Sofort begann der Raum sich um mich zu drehen. Nur mit Mühe konnte ich mich auf den Beinen halten. Mittlerweile war Gudrun auf die Sekretärin des Chefarztes zugegangen.

»Wir müssten dringend mit Herrn Dr. Höfling sprechen. Es geht um Kevin Winter. Er ist mit uns in einer Gruppe«, sagte sie mit freundlicher aber bestimmter Stimme.

»Sie haben aber keinen Termin, oder?«, fragte die Sekretärin zurück.

»Nein, aber es ist wirklich wichtig. Könnten Sie da irgendetwas für uns machen?«

»Na, ich will mal sehen. Wenn das so wichtig ist.«

»Ja, es ist wirklich ganz, ganz dringend. Wir wären Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie uns zu Herrn Dr. Höfling vorlassen könnten.«

»Moment, so einfach ist das leider nicht, der Chef ist im Moment beschäftigt. Ich kann Sie höchstens irgendwann heute Nachmittag einschieben.«

»Bis heute Nachmittag können wir aber nicht warten. Bitte, irgendwas muss sich da doch machen lassen.«

Die Vorzimmerdame seufzte tief durch und nahm ihre Brille wieder ab. Trug sie das Ding nur als Dekorationsobjekt oder half ihr das Teil wirklich beim Sehen? Sie erhob sich kopfschüttelnd von ihrem Drehstuhl und ging zu der großen, von außen gut gepolsterten Türe hinüber, die das Büro des Chefarztes von allen Geräuschen aus dem Vorzimmer abschirmte. Vorsichtig klopfte sie an, öffnete dann leise die Türe und steckte ihren Kopf durch den Spalt.

»Chef?«, flüsterte sie leise.

Es schien keine Reaktion zu kommen.

»Chef?«, flüsterte sie nochmals, diesmal etwas lauter.

Jetzt waren irgendwelche undefinierbaren Geräusche aus dem angrenzenden Zimmer zu hören. Eine Stimme brabbelte etwas, was ich nicht verstehen konnte. Irgendwie hörte sich die Stimme aber etwas ärgerlich an. Hoffentlich war das kein schlechtes Zeichen.

»Tut mir leid Chef, aber da sind vier junge Patienten, die dringend etwas mit Ihnen besprechen möchten. Sie wollen unbedingt sofort zu Ihnen.«

»Ist schon gut Frau Fricke, lassen Sie sie nur rein.«

Diesmal waren die Worte besser zu verstehen. Es war unverkennbar die sonore Stimme von Dr. Höfling, die mir vom Anreisetag noch bestens in Erinnerung war. Frau Fricke öffnete die Türe nun ganz und forderte uns auf einzutreten. Als wir ins Zimmer kamen, nahm der Chefarzt gerade auf dem Ledersessel hinter dem wuchtigen Schreibtisch Platz. Er sah etwas zerzaust aus. Man konnte fast meinen, er hätte gerade auf der Liege, die in einer Zimmerecke stand, ein kleines Nickerchen gemacht.

»Treten Sie ein und nehmen Sie Platz«, forderte er uns auf. Die Stühle vor dem ausladenden Schreibtisch reichten gerade so eben für uns aus. Einen Stuhl hatte ich jetzt auch dringend nötig, irgendwie schwankte immer noch alles um mich herum.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte uns Dr. Höfling, als wir schließlich alle saßen.

»Wir haben gerade erfahren, dass unser Gruppenmitglied Kevin Winter wieder zurück in die Psychiatrie soll«, begann Gudrun unser plötzliches Hereinplatzen zu erklären. »Wir glauben aber alle, dass er hier ganz gut aufgehoben ist.«

»Ja, er fühlt sich hier inzwischen richtig wohl«, fügte ich eindringlich hinzu. »Sie dürfen ihn jetzt auf keinen Fall wegschicken. Es geht ihm schon viel besser. Ich bin bei ihm im Zimmer, ich kann das echt beurteilen.«

Ob das die richtigen Worte waren, um Dr. Höfling zu überzeugen? Naja, mir fiel eben gerade nichts Besseres ein.

Herr Dr. Höfling sah uns eine Weile an, dann fragte er: »Was sagt denn Herr Winter selbst dazu, warum ist er denn nicht mitgekommen?«

»Oh, ähm, ähhh …«, fing ich an. Erst jetzt fiel mir auf, dass wir Kevin überhaupt nicht darüber informiert hatten, was wir hier gerade machten.

»Naja, er weiß überhaupt nicht, dass wir hier sind«, sagte Gudrun leise.

»Dann sollten Sie ihn vielleicht erst einmal holen. Wir können ja hier nicht hinter seinem Rücken über etwas entscheiden, ohne dass er sich selbst dazu äußern kann. Oder meinen Sie nicht?«

»Ja, gut, ich geh ihn schnell holen«, stammelte ich und erhob mich mühsam von meinem Stuhl. Als ich aufstand wurde mir wieder schwindlig. Dr. Höfling sah mich mit gerunzelter Stirn an.

»Sie sehen aber recht blass aus«, meinte er. »Geht’s Ihnen nicht gut?«

»Geht schon«, sagte ich und machte ich mich schnell auf den Weg, um meinen Körper daran zu hindern, auf dumme Gedanken zu kommen. Zusammenbrechen konnte ich auch später noch. Im Moment war Kevin wichtiger.

»Bin gleich wieder da«, rief ich einer verwunderten Frau Fricke zu, als ich an ihr vorbeistürmte und sämtliche Türen hinter mir offen stehen ließ. Ich wollte auf keinen Fall durch irgendwelche unnötigen Aktionen einen weiteren Schwindelanfall riskieren.

Als ich im Zimmer ankam, kniete Kevin gerade auf dem Boden und packte einige seiner Klamotten in den Koffer.

»Los, komm mit«, forderte ich ihn auf.

»Wohin?«, fragte er verdattert. »Was ist denn los? Wo bist du eben so schnell hin?«

»Frag nicht lange, komm einfach.«

»Was soll das denn?«

Für lange Diskussionen hatte ich jetzt keine Zeit und um Kevin einfach am Arm zu packen und hinter mir herzuschleifen fehlte mir die Kraft.

»Bitte Kevin, wenn du hier in der Klinik bleiben willst, dann komm jetzt einfach mit mir mit.«

Ich flehte ihn regelrecht an. Erleichtert stellte ich fest, dass meine Worte Wirkung zeigten. Mit Kevin im Schlepptau lief ich zurück zum Fahrstuhl.

»Da rein«, sagte ich zu ihm, als wir im Erdgeschoss vor der Türe des Chefarztvorzimmers angekommen waren. Diese stand immer noch offen und eine kopfschüttelnde Frau Fricke blickte uns von ihrem Schreibtisch aus ärgerlich entgegen.

»Würden Sie diesmal wenigstens die Türen hinter sich schließen?«

»Ja sicher, gerne«, antwortete ich und gab der Vorzimmertüre einen leichten Schubs, so dass sie einigermaßen leise ins Schloss fiel. Wieder erntete ich ein vorwurfsvolles Kopfschütteln, als ich Kevin vor mir her an ihr vorbei ins Büro von Dr. Höfling schob. Kevin betrat zögerlich das Zimmer und der Chefarzt winkte ihn auf den noch freien Stuhl vor dem Schreibtisch, während ich die zweite Türe diesmal leise und vorsichtig zumachte.

»Kommen Sie nur, Herr Winter. Setzen Sie sich. Wir warten schon auf Sie.«

Kevin blickte sich verwundert um und folgte dann der Anweisung.

»Was ist hier eigentlich los?«, wollte er wissen.

Als ich schließlich in Ermangelung einer Sitzgelegenheit hinter den Stühlen der anderen stehen blieb, erntete ich wieder ein Stirnrunzeln von Seiten des Chefarztes.

»Junger Mann, Sie sind ja leichenblass. So wie Sie aussehen, haben Sie Fieber, oder täusche ich mich da?«

»Kann schon sein«, antwortete ich. »Hab mir wohl ‘ne Erkältung oder so was eingefangen.«

Wieder wurde mir schwindlig und ich musste mich an der Stuhllehne vor mir festhalten, um nicht umzukippen.

»Waren Sie schon in der medizinischen Zentrale deswegen?«

Ich schüttelte den Kopf, was keine gute Entscheidung war, da sich nun wirklich alles um mich drehte. Inzwischen hatten auch die Kopfschmerzen wieder zu ihrer alten Stärke zurückgefunden.

Dr. Höfling drückte auf einen Knopf an seinem Telefon.

»Frau Fricke, kommen Sie bitte mal kurz rein?«

Einige Sekunden später stand die Sekretärin in der Türe.

»Bringen Sie doch den jungen Mann hier hinüber in die Zentrale, sonst klappt er uns hier noch zusammen.«

»Ja, gerne«, hörte ich von hinten.

»Aber ich muss doch …«, setzte ich an, wurde aber sofort vom Chefarzt unterbrochen.

»Sie müssen sich jetzt erst einmal um Ihre eigene Gesundheit kümmern. Wir regeln das hier schon. Herr Winter hat ja immer noch genügend Beistand.«

Widerwillig folgte ich Frau Fricke aus dem Zimmer. In meinem Zustand war ich Kevin ohnehin keine große Hilfe mehr.

Ein Arzt in der Zentrale diagnostizierte bei mir einen grippalen Infekt, drückte mir ein paar bunte Pillen in die Hand und verordnete mir Bettruhe. Kaum hatte ich mich nach oben auf unser Zimmer geschleppt und auf mein Bett gelegt, war ich auch schon eingeschlafen.

Als ich wieder wach wurde und auf meinen Wecker sah, war es 16.10 Uhr. Das autogene Training um 13.30 Uhr und unsere Gruppensitzung hatte ich damit wohl verpasst. Wenigstens fühlte ich mich jetzt etwas besser. Die Kopfschmerzen waren verschwunden. Als ich mich im Zimmer umsah, entdeckte ich Kevins Koffer, der vorhin geöffnet auf dem Boden gelegen hatte. Jetzt stand er geschlossen an der Wand neben dem Kleiderschrank. Zumindest war Kevin also noch nicht abgereist. Erleichtert drehte ich mich auf die andere Seite und schlief wieder ein.

Irgendwann hörte ich dann Stimmen neben mir, die irgendetwas flüsterten.

»… ihn lieber schlafen … ihm noch später beichten …«

»Wasislos?«, nuschelte ich im Halbschlaf.

»Schlaf weiter, David, ist alles okay. Ich kann hier bleiben.«

»Echt?«

»Ja.«

Ich öffnete mein rechtes Auge einen kleinen Spalt. Eine verschwommene Gestalt blickte auf mich herab. Die dunklen Locken gehörten eindeutig zu Kevin.

»Komm Thomas, wir lassen ihn noch ‘ne Weile in Ruhe«, flüsterte er einer zweiten Person zu, die neben ihm stand. »Du kannst ihm das alles später erklären, wenn er wieder munter ist.«

»Was?«, fragte ich noch, döste aber gleich wieder ein. Kevin konnte also hier bei mir in der Klinik bleiben. Mehr musste ich im Moment gar nicht wissen, um beruhigt weiterschlafen zu können.

Als ich wieder wach wurde, war es dunkel im Zimmer. Mein Wecker zeigte 18.25 Uhr an. Ich hatte das Gefühl, fürs erste genügend Schlaf bekommen zu haben. Mir knurrte der Magen. Kein Wunder, ich hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Ich setzte mich auf. Eigentlich fühlte ich mich ganz gut. Wenn ich in der kommenden Nacht noch einmal genügend Schlaf bekam, würde ich morgen wohl wieder einigermaßen fit sein. Ich schaltete das Licht ein. Kevin und die anderen waren um diese Zeit wohl unten beim Essen. Mein Magen signalisierte, dass es wohl eine ganz gute Idee wäre, den anderen im Speisesaal Gesellschaft zu leisten. Ich ging also kurz ins Bad, um mich frisch zu machen. Während ich mir gerade das Gesicht wusch, hörte ich eine Stimme vor der Badtüre.

»Bist du da drinnen, David?«

»Ja. Moment. Komme gleich.«

»Lass dir Zeit.«

Als ich zurück ins Zimmer kam, stand ein gut gefülltes Tablett auf dem Tisch. Ich entdeckte ein paar Scheiben Toast mit Butter. Kevin goss gerade Tee aus einer großen Kanne in die Tasse auf dem Tablett.

»Da kommen wir ja gerade rechtzeitig«, sagte er und grinste mich an, als ich immer noch etwas schwächlich zum Tisch tappte.

Erst jetzt entdeckte ich Thomas, der vor dem Fenster stand und mich irgendwie ängstlich ansah.

»Du, David«, fing er an, aber Kevin fiel ihm ins Wort.

»Jetzt lass ihn erst mal in Ruhe essen.«

»Was ist denn los?«, wollte ich wissen.

»Iss erstmal was. Thomas muss dir was beichten, das hat aber Zeit.«

Ich setzte mich an den Tisch. Im Moment hatte mein Magen oberste Priorität. Nachdem ich die ersten Bissen Toast hinuntergeschluckt hatte, drehte ich mich zu Kevin um, der neben Thomas auf dem Bett saß.

»Jetzt erzähl erst mal, was beim Chefarzt so abgelaufen ist.«

»Ach, war keine große Sache. Ich hab einfach ‘ne Weile mit ihm geredet. Gudrun und die anderen hat er vorher auch noch rausgeschickt, du hast also nichts verpasst.«

»Und, was hast du ihm so erzählt?«

»Naja, eben dass es mir am Anfang halt schwer gefallen ist, hier klarzukommen. Und dass ich mich hier inzwischen eben schon wohler fühle und dass es mir besser geht und so. Ich sag doch, war keine große Sache.«

»Hey, Mann, ich bin echt froh, dass du hier bleiben kannst. Ich hätte dich echt vermisst.«

Kevin grinste mich an.

»Weiß ich doch«, sagte er.

Ich grinste etwas verlegen zurück.

Nachdem ich zwei Scheiben Toast verspeist und die erste Tasse Tee geleert hatte, drehte ich mich schließlich zu Thomas um.

»Und, was wolltest du mir erzählen?«

»Naja, mir is da was passiert. Ich meine, ich wusste ja nicht …«, stammelte er hilflos.

»Hey, am besten du fängst ganz von vorne an, okay? Also, was ist passiert?«

»Ich hab den anderen verraten, dass du schwul bist«, sagte er leise. »Ich wusste ja nicht, dass die das noch nicht wissen«, fügte er schnell hinzu.

»Thomas kann nichts dafür, er hat sich halt ein bissel blöd angestellt«, schaltete Kevin sich ein.

»Ich hab auch nur verraten, dass du schwul bist, nichts von der anderen Sache, du weißt schon«, sagte Thomas kleinlaut.

»Die Fröschl hat zu ihm gesagt, dass er was von sich erzählen soll, und da hat er eben gesagt, dass er auch schwul ist. Wenn er das ‘auch’ weggelassen hätte, wäre überhaupt nichts passiert. So haben die Mädchen eben dumm geschaut«, erklärte Kevin.

»Naja, zuerst haben sie mich angesehen«, fügte er grinsend hinzu. »Und als Thomas das bemerkt hat, hat er erschrocken geguckt und ‘Nicht Kevin, David ist schwul’ oder so was ähnliches gestammelt.«

»Sorry, ist mir irgendwie rausgerutscht.«

Thomas starrte betreten auf den Fußboden.

Nach dieser Geschichte konnte ich nicht anders, ich musste einfach lachen. Als ich dann auch noch Thomas’ unterwürfigen Dackelblick sah, prustete ich laut los. Thomas sah mich fassungslos an.

»Bist du mir gar nicht böse?«, fragte er ängstlich, als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

Ich schüttelte den Kopf.

»Hey, ich bin doch auch selber schuld. Ich hätte dir sagen müssen, dass die Mädchen noch nicht Bescheid wissen. Außerdem hatte ich lange genug Zeit, um es ihnen selbst zu erzählen, und hab’s nicht gemacht.«

»Du bist echt nicht sauer?«, fragte Thomas noch einmal.

»Naja, ich hab mir das Ganze schon etwas anders vorgestellt, aber jetzt ist es wenigstens raus. Wie haben die Mädchen denn reagiert?«

»Och, ganz normal«, antwortete Kevin. »War keine große Sache.«

War keine große Sache? Das war wohl heute Kevins Lieblingssatz.

»Ich glaub, die waren höchstens ein bissel sauer, weil Thomas und ich schon Bescheid wussten und sie noch nicht.«

Na toll! Dann war wohl jetzt zumindest eine Entschuldigung bei den drei Mädchen fällig.

»Sind die drei noch unten?«, wollte ich wissen.

Kevin grinste.

»Nee, die warten auf Nadines und Christinas Zimmer, dass ich sie holen komme. Die wollten dir eh ‘nen Krankenbesuch abstatten.«

Wunderbar! Das hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. Ich seufzte tief durch.

»Na los, dann geh sie holen«, forderte ich Kevin auf.

Eine Minute später kam er zusammen mit den Dreien zurück ins Zimmer.

»Und? Wie geht’s dir?«, wollte Gudrun wissen.

Wenigstens kam sie zuerst auf meine Gesundheit und nicht auf meine Homosexualität zu sprechen.

»Ach, geht schon besser. Kopfschmerzen sind weg. Fieber auch.«

»Prima! Vielleicht bist du morgen ja schon wieder fit.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Ähm, tut mir echt leid, dass ich euch nicht selbst erzählt habe, dass ich schwul bin«, sagte ich nach einer Weile mit gesenktem Kopf.

»Naja, so was erzählt man ja auch nicht gleich jedem«, erwiderte Gudrun.

»Ja, aber euch hätte ich’s wirklich inzwischen erzählen sollen, weiß auch nicht, warum ich das nicht gemacht habe.«

Bei diesem Satz muss ich wohl ziemlich mitleiderregend ausgesehen haben. Zumindest schienen es die Mädchen für nötig zu halten, mich erstmal zu umarmen. War so ein grippaler Infekt eigentlich ansteckend? Ich hielt besser mal den Atem an, um keine Bakterien oder ähnliches Zeugs freizusetzen, während ich von den Dreien beinahe zerquetscht wurde. Hey, nicht alle auf einmal! Und nicht so fest!

Kapitel 9 – Fetish Fun

Als ich am Dienstagmorgen aufwachte, war es bereits kurz vor neun. Ich hatte noch einmal fast zwölf Stunden durchgeschlafen. Kevin saß bereits fertig angezogen auf seinem Bett und las ein Buch.

»Morgen, David«, sagte er, als er bemerkte hatte, dass ich aufgewacht war.

»Morgen«, nuschelte ich schlaftrunken.

»Und, wie fühlst du dich?«

»Weiß noch nicht. Jetzt lass mich doch erst mal richtig wach werden!«

Ich fühlte mich tatsächlich ziemlich gut. Bei so viel Schlaf war das aber auch kein Wunder. Erst jetzt realisierte ich richtig, dass wir in dieser Nacht wieder einmal in unseren richtigen Betten geschlafen hatten, nicht mit den Matratzen auf dem Boden.

»Und wie war deine Nacht?«, fragte ich Kevin deshalb.

»Naja, ging so.«

Aha, das bedeutete wohl, dass er immer noch lieber neben mir auf dem Boden schlief. Naja, vielleicht nächste Nacht wieder …

Ich nahm mir wieder viel Zeit für die Dusche. Um im Speisesaal noch ein Frühstück zu bekommen, war es ohnehin schon zu spät. Und richtigen Appetit hatte ich auch noch nicht. Als ich nach einer knappen halben Stunde in T-Shirt und Shorts zurück ins Zimmer kam und meinen Kleiderschrank öffnete, um frische Klamotten herauszunehmen, stellte sich Kevin neben mich.

»Darf ich da mal ‘nen Blick reinwerfen?«, wollte er wissen.

»Warum?«

»Naja, ich will eben mal sehen, was du so alles dabei hast. So Kapuzensachen halt.«

Musste er jetzt unbedingt wieder dieses Thema zur Sprache bringen? Mir war die Sache von Sonntagnachmittag immer noch peinlich in Erinnerung.

»Wenn du unbedingt willst«, antwortete ich widerwillig.

Ich nahm eine schwarze Jeans aus dem Schrank und trat dann zur Seite, so dass Kevin ungestört meine Klamotten durchwühlen konnte. Er entdeckte sofort den Stapel mit den Kapuzensweatshirts.

»Eins … zwei … drei … vier …«

Oh Mann, jetzt begann er auch noch die Dinger zu zählen.

»Wow, fünf Stück. Wird Zeit, dass du mal wieder eins davon anziehst.«

»Kevin, lass das doch.«

»Hey, kann’s sein, dass du in der Hinsicht ziemlich verklemmt bist?«

Ich blickte verschämt zu Boden.

»Naja, seitdem ihr beide Bescheid wisst, Thomas und du, ist mir das eben irgendwie unangenehm, die Teile anzuziehen. Ich meine, ihr wisst ja jetzt, was ich dabei so empfinde.«

Kevin nahm eines der Kapuzenshirts aus dem Stapel.

»Der rote Pulli hier passt doch gut zu der schwarzen Hose. Warum ziehst du den heute nicht an?«

Widerstrebend nahm ich den Kapuzenpulli entgegen und setzte mich auf mein Bett, um in meine Jeans zu schlüpfen. Wurde auch Zeit, denn die Beule in meiner Unterhose war langsam nicht mehr zu übersehen. Irgendwie fand ich es ziemlich erregend, was sich hier gerade abspielte. Kevin durchstöberte währenddessen weiter meinen Kleiderschrank.

»Hey, ‘ne zweite Jacke hast du ja auch noch dabei. Ah, auch mit ‘ner Kapuze im Kragen.«

»Jetzt mach endlich den Schrank zu, Kevin!«

»Is ja gut, bin ja schon fertig.«

Nachdem er die Schranktüre geschlossen hatte, blickte Kevin zu mir herüber. Ich hatte inzwischen das Sweatshirt angezogen. Die Kapuze war beim Anziehen wie üblich auf meinem Kopf gelandet. Also entschloss ich mich, sie einfach mal aufzubehalten. Ich zog ein wenig die Kordel fest und blieb so auf meinem Bett sitzen.

»Na, haste jetzt ‘ne Latte?«, fragte Kevin grinsend.

»Kevin!«

»Hey, muss dir doch nicht peinlich sein.«

War es aber! Es war schließlich nicht normal, schon beim Gedanken daran, gleich in ein Kapuzensweatshirt zu schlüpfen, eine Erektion zu bekommen.

»Ich lass dich mal ‘ne Weile alleine, okay? Bin unten in der Halle.«

Am Grinsen in Kevins Gesicht war deutlich zu erkennen, wofür er mir ein wenig Privatsphäre gönnen wollte. Trotzdem wäre ich ihm dankbar gewesen, wenn er sich eben dieses Grinsen gespart hätte. Aber ein wenig Zeit für mich alleine war jetzt tatsächlich genau das, was ich dringend benötigte. War es eigentlich normal, wenn man sich in seiner Fantasie einen hübschen Jungen vorstellte, der sich gerade die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf zog und sich diese dann ganz fest zuband, während man sich selbst einen runterholte? Oder war das total verrückt? Oder irgendwie pervers?

Als ich eine gute halbe Stunde später unten in der Halle auftauchte, grinste mich Kevin schon von weitem an. Allerdings war das schon irgendwie ein recht verständnisvolles Grinsen, das er da aufgesetzt hatte. Nadine und Christina waren ebenfalls unten und leisteten Kevin Gesellschaft. Ach ja, es war ja Dienstag. Anreisetag. Kein Wunder, dass Nadine sich hier unten aufhielt.

»Na David, geht’s dir besser heute?«, begrüßte sie mich.

»Ja, fühl mich wieder ziemlich gesund.«

»Prima.«

Sie musterte mich von oben bis unten. Ich nahm an, sie wollte feststellen, ob ich nicht doch vielleicht noch etwas kränklich aussah.

»Schicken Pulli hast du da an«, sagte sie nach einer Weile.

Ich erstarrte. Sofort blickte ich hinüber zu Kevin. Hatte er ihr etwas erzählt? Kevin schien meine Gedanken erraten zu haben, denn er hob sofort abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. Naja, mit den gelb-schwarzen Logoprints auf der Vorderseite und entlang der Ärmel sah das rote Shirt ja auch wirklich nicht schlecht aus. Ihre Bemerkung war also wohl nur Zufall gewesen.

»Ähm, ja, danke. Mir gefällt er auch ganz gut«, stammelte ich deshalb und hoffte, dass ich gerade nicht allzu dumm aus der Wäsche geguckt hatte.

»Wo sind eigentlich Gudrun und Thomas?«, wollte ich dann wissen.

»Gudrun ist den ganzen Vormittag über in irgend so ‘ner Veranstaltung. ‘Kalorienarmes Kochen’ oder so ähnlich. Und Thomas hat sein Einzelgespräch bei der Fröschl.«

»Ah so.«

Ich setzte mich zu den anderen und wir machten es uns gemütlich. Eine Stunde verbrachten wir mit belanglosen Gesprächen und dem Durchblättern von Zeitschriften mit noch belangloseren Inhalten. Irgendwann tauchte dann Thomas in der Halle auf.

»Und? Wie war’s bei der Fröschl?«, fragte ich ihn.

»Na ja, ging so. Was die alles wissen will! Echt der Hammer! Ich brauch jetzt jedenfalls ‘ne Kippe. Kommt ihr mit raus?«

»Weiß nicht, ob das so gut ist. Ganz gesund bin ich ja noch nicht.«

Andererseits schien heute ausnahmsweise mal die Sonne. Und ich hatte ja dieses warme Sweatshirt an. Also folgte ich den anderen nach draußen. Kapuze auf. Zuziehen. Schleife binden. Hände in der Känguruh-Tasche vergraben. So würde ich garantiert nicht frieren.

Während Thomas wieder ein paar Zigaretten hintereinander wegqualmte, schlenderten wir gemächlich über den Klinikparkplatz.

»Wie ist’s eigentlich gestern in der Gruppe gelaufen?«, wollte ich von Kevin wissen. Bisher hatte ich noch gar nicht daran gedacht, ihn danach zu fragen. Es waren einfach zu viele andere Dinge passiert.

»Ach, ich hab schon so einiges gesagt diesmal. Und die Fröschl war auch ganz nett.«

»Hast du jetzt eigentlich noch mal ein Einzelgespräch bei ihr?«

»Ja, aber erst Donnerstag früh«, antwortete er. »Keine Sorge, diesmal geh ich wirklich hin«, fügte er grinsend hinzu.

»Das will ich dir auch geraten haben, sonst bekommst du gewaltigen Ärger mit mir.«

Wir mussten beide lachen.

Als wir uns der Einmündung zur Straße näherten, bog gerade der weiße VW-Bus der Klinik in die Einfahrt ein. »Hey, da kommen ein paar Neue«, schrie Nadine sofort auf.

Ludwig saß am Steuer. Er entdeckte uns und wir winkten ihm zu. Hoffentlich hatte er ein paar hübsche Jungs mitgebracht. Wir liefen hinter dem VW-Bus her zurück zum Klinikeingang. Ein paar ältere Herrschaften stiegen aus dem Fahrzeug. Keiner der Neuankömmlinge schien unter 50 zu sein. Diesmal musste wohl die ältere Generation an der Reihe sein. Ich war etwas enttäuscht. Wir würden wohl vorerst die einzige Gruppe mit Leuten in unserem Alter bleiben.

Nachdem wir noch eine Zeitlang in der Halle herumgehangen hatten, war es auch schon Zeit für das Mittagessen. Der Rest des Tages wurde dann richtig stressig. Zuerst autogenes Training, dann die Gruppensitzung. Kevin redete dort tatsächlich und auch Thomas erzählte ein paar Dinge über sich. Langsam schien das ja doch ganz gut zu laufen.

So ging wieder ein Tag zu Ende. Die erste Woche hatten wir nun hinter uns. Eigentlich fühlte ich mich in der Klinik inzwischen schon richtig heimisch. Und die schlimmsten Turbulenzen sollten wir wohl auch überstanden haben. Das hoffte ich zumindest.

Kapitel 10 – Turbulenzen

Bereits am nächsten Tag wurde ich eines besseren belehrt. Nach der Gruppensitzung wollten wir sechs einen kurzen Spaziergang machen. Thomas musste schließlich ab und zu ohnehin mal raus, um eine zu rauchen. Die Aufenthaltsräume für Nikotinabhängige waren nicht sonderlich gemütlich, schon gar nicht für Nichtraucher. Wir holten also nur schnell unsere Jacken aus den Zimmern und verließen das Gebäude dann durch den Haupteingang, um mal die Gegend auf dieser Seite der Klinik genauer zu erkunden. Als wir so über den Parkplatz schlenderten, blieb Thomas plötzlich stehen.

»Wartet mal kurz!«, forderte er uns auf.

Er blickte angestrengt hinüber zu den Parkbuchten, die eine oder zwei Reihen weiter zu unserer Rechten lagen. Ich konnte nicht genau abschätzen, was er da genau begutachtete, aber irgendetwas Interessantes musste er wohl entdeckt haben. Er lief langsam an den geparkten Autos entlang und blieb schließlich vor einem davon wie angewurzelt stehen.

»Scheiße!«, schrie er plötzlich laut. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«

»Was hat er denn?«, wollte Gudrun wissen.

»Keine Ahnung, besser wir gehen mal zu ihm rüber«, antwortete ich.

Als wir uns Thomas näherten, blickte er uns an. Auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Entsetzen und Angst.

»Was ist los, Thomas?«, fragte Kevin.

»Das Auto da! Das gehört meinem Vater!«

Er deutete auf einen alten, schon etwas verrosteten Opel.

»Bist du sicher?«

»Ja klar, ich werd ja wohl noch unser Auto kennen.«

»Naja, vielleicht ist ja deine Mutter mit deiner Schwester hier. Kann ja sein, dass die beiden dich besuchen wollen, oder?«

»Meine Mutter? Die hat noch nicht mal ‘nen Führerschein!«

Thomas war nun völlig außer sich.

»Das kann nur mein Vater sein! Was will der hier? Kann der mich nicht endlich in Ruhe lassen?«

Wir blickten uns um. Außer uns war niemand auf dem Parkplatz zu sehen, und der Opel war leer und verschlossen.

»Verdammt, was will der hier?«, wiederholte Thomas noch einmal. »Und wo ist der jetzt?«

Er drehte sich im Kreis und schaute in alle Richtungen, fast so, als ob er erwartete, dass sein Vater plötzlich hinter ihm aus dem Nichts auftauchen würde. Kevin legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Hey, ganz ruhig! Dir passiert schon nichts. Wir sind auch noch da.«

»Und wenn er gerade beim Chefarzt ist, um mich hier wieder … abzumelden?«

»Ich schätze mal, da wird er keinen Erfolg haben, schließlich bist du ja sowieso gegen seinen Willen hier, oder?«

»Keine Ahnung! Ich bin schließlich noch keine 18. Und er ist immer noch mein Erziehungsberechtigter!«

»Ach, ich glaub nicht, dass die dich so einfach mit ihm mitgehen lassen. Schließlich wissen die doch, was er mit dir angestellt hat«, versuchte ich Thomas zu beruhigen.

»Eigentlich dürfte der Typ gar nicht mehr das Sorgerecht für dich haben, so wie der dich verprügelt hat«, schaltete sich Gudrun ein. »Hast du überhaupt keine Ahnung, ob da nicht doch irgendwas mit dem Jugendamt gelaufen ist, oder so?«

Thomas schüttelte den Kopf. Langsam schien er sich wieder etwas zu beruhigen.

»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte er mit verzweifelter Stimme.

»Weiß ich auch nicht so genau. Auf jeden Fall bleiben wir jetzt alle bei dir. Gemeinsam schaffen wir das schon«, antwortete Kevin. So richtig wussten wir wohl alle nicht, was nun als Nächstes passieren sollte.

»Gehen wir erst mal wieder rein«, schlug ich vor.

Als wir uns umdrehten und gerade zurück laufen wollten, fiel mein Blick auf den Klinikeingang. Wir waren zwar mindestens 50 Meter davon entfernt, aber wir standen momentan an einer Position, an der keine Bäume oder Büsche den Blick auf den Eingangsbereich versperrten.

Gerade öffnete sich die Schwingtüre und ein kräftiger Mann mit breiten Schultern und einem Stiernacken trat ins Freie. Nach Thomas’ Beschreibung konnte das eigentlich nur Gunther Hübner sein, der uns da entgegenkam.

»Scheiße!«, schrie Thomas auch gleich auf. »Das ist er!«

»Bleib ganz dicht bei uns, Thomas! Gegen uns sechs kann er nichts ausrichten.«

Ich hoffte, dass ich damit Recht hatte. So wie dieser Typ aussah, konnte ich es mir durchaus vorstellen, dass er es auch mit uns allen aufnehmen würde. Und ob die Mädchen wirklich helfen konnten, falls es wirklich zum Äußersten kam, wagte ich zu bezweifeln. Naja, wenn man einmal von Gudrun absah. Der traute ich in dieser Hinsicht eigentlich schon was zu. Sie konnte ja ziemlich resolut sein.

»Scheiße, das ist wieder genau so, wie vor ein paar Wochen bei Stefan vorm Wohnheim. Da stand er auch auf einmal vor uns!«

Thomas war wieder richtig in Panik.

»Hey, diesmal kommt er damit nicht so einfach durch.«

Wenn ich mir da doch nur etwas sicherer gewesen wäre! Während wir wie angewurzelt stehen blieben, kam Thomas’ Vater immer näher auf uns zu. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, schien er sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein.

»Da renn ich doch eine halbe Stunde durch das ganze Gebäude hier und suche dich überall …«, fing er an zu sprechen, als er sich uns so weit genähert hatte, dass wir ihn verstehen konnten.

»… und dann seh ich da oben aus dem Fenster …«

Er drehte sich ganz gelassen um und deutete auf die Fenster des Treppenhauses am Übergang zwischen den beiden Gebäudeflügeln.

»… und was seh ich da? Meinen Herrn Sohn, wie er gemütlich über den Parkplatz spaziert.«

Gunther Hübners Stimme war ruhig, fast freundlich. Wenn Thomas uns nicht schon längst erzählt hätte, was für ein Mistkerl das in Wirklichkeit war, hätte ich geglaubt, dass er einfach nur seinen Sohn besuchen wollte, um mal ein paar nette Worte mit ihm zu reden. Ein paar Meter vor uns blieb er stehen und musterte uns der Reihe nach. Ich sah ihn mir ebenfalls etwas genauer an, natürlich ganz vorsichtig, ohne ihn offen anzustarren. Schließlich wollte ich ihn nicht ausgerechnet auf mich aufmerksam machen. Thomas hatte so gar keine Ähnlichkeit mit diesem Typen. Ich konnte es kaum glauben, dass dieser Ochse von einem Mann Thomas’ Vater sein sollte. Anscheinend hatte Thomas den Großteil seiner Erbanlagen von seiner Mutter abbekommen. War wohl auch besser so!

»Na, da hast du ja schon ein paar feine neue Freunde gefunden!«, sagte der Metzgermeister nach einer Weile und sah dabei vor allem Nadine ausgesprochen geringschätzig an.

Dann betrachtete er Kevin und mich.

»Und ihr zwei? Seid ihr auch solche jämmerliche Schwuchteln wie mein missratener Sohnemann? Oder wisst ihr vielleicht gar nicht, dass ihr euch da mit einem armseligen Schwanzlutscher eingelassen habt, der nichts Besseres zu tun hat, als seine eigene Familie in den Dreck zu ziehen?«

Inzwischen war Herrn Hübner die Zornesröte ins Gesicht gestiegen. Noch ehe einer von uns etwas antworten konnte, polterte er weiter: »Wegen dir habe ich jetzt eine Anzeige wegen Körperverletzung am Hals! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mir das einfach so von dir gefallen lasse?«

»Hau ab! Verschwinde!«, platzte es schließlich aus Thomas heraus. »Was willst du hier? Ich hab dich nicht angezeigt!«

»Aber du hast mit den Bullen geredet und denen vorgelogen, dass ich dich angeblich halb totgeschlagen habe!«

»Ich hab denen nur die Wahrheit erzählt!«

»Ach, ein paar Schläge haben noch niemandem geschadet! Und du hast eine Tracht Prügel ja wohl dringend nötig! Reicht es denn noch nicht, dass du so ein kümmerlicher Schwächling bist? Muss ich mich wegen dir jetzt auch noch überall verspotten lassen? Dass mein Sohn so ein Perversling ist, der’s lieber mit jungen Burschen treibt, weil er sich an die Weiber nicht ran traut?«

Ich fühlte mich ziemlich hilflos. Den anderen schien es ähnlich zu gehen. Keiner von uns brachte ein Wort heraus. Irgendwelche Diskussionsversuche mit diesem Mann waren wohl ohnehin zwecklos. So starrten wir Herrn Hübner einfach nur entsetzt an.

»Was willst du von mir? Warum bist du hier?«, schrie Thomas seinen Vater an.

»Du kommst jetzt erst mal mit mir nach Hause, und dann zieh ich andere Saiten auf! Das wär ja noch schöner, wenn du auch hier noch lauter Lügen über deine Familie verbreitest.«

Gudrun war die Erste, die zumindest eine Idee zu haben schien, wie wir mit der Situation umgehen konnten.

»Nadine!«, flüsterte sie. »Nimm Christina mit und lauf da außen rum zum Eingang zurück. Da kann er euch nicht aufhalten, ohne dass wir selbst an ihm vorbeikommen. Sagt drinnen Bescheid, dass wir hier ein Problem haben. Die sollen die Polizei rufen!«

Das mit der Polizei schien Herr Hübner mitbekommen zu haben.

»Polizei?«, schrie er plötzlich. »Ihr wollt die Polizei holen? Na dann geht mal! Ich werd ja wohl noch meinen eigenen Sohn mitnehmen können, wann’s mir passt. Da wird mich auch die Polizei nicht dran hindern!«

»Lauft los!«, forderte Gudrun die beiden anderen Mädchen nochmals auf.

Diese gehorchten und liefen die Parkreihe zurück, aus der wir gerade gekommen waren, um dann über den Parallelweg zum Klinikeingang zu gelangen. Währenddessen hielt uns Thomas’ Vater weiter in Schach. Irgendwie schien ihn unser Vorgehen aber doch ein wenig verunsichert zu haben. Anscheinend hatte er erwartet, dass er mit uns leichtes Spiel haben würde und dass wir ihm Thomas mehr oder weniger widerstandslos überlassen würden. Dass er hier auf Leute traf, die sich für seinen Sohn einsetzten, schien ihn zu überraschen.

»Los! Du kommst jetzt sofort mit mir mit, sonst gibt’s Ärger«, rief er seinem Sohn noch einmal zu. Seine Stimme klang jetzt nicht mehr ganz so selbstsicher. Näher an uns heran schien er sich auch nicht zu trauen. Schließlich waren wir ja immer noch zu viert.

Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und rief ihm zu: »Sie müssen schon uns alle fertigmachen, wenn Sie Thomas mitnehmen wollen!«

Gunther Hübner runzelte die Stirn.

»Was wollt ihr denn mit diesem nichtsnutzigen Schwächling? Was hat der euch für Lügen erzählt? Der lügt doch, wenn er nur sein Maul aufmacht. Glaubt dem bloß kein Wort!«

»Wir wissen, dass Sie ihn ständig verprügelt haben!«, erwiderte Kevin wütend.

»Ach, die paar Ohrfeigen! Der hat’s doch nicht anders verdient. Schaut ihn euch doch an, diesen jämmerlichen Schwanzlutscher!«

»Sie sollten besser Ihr Maul halten!«, schrie ich zurück. »Ich bin auch einer von diesen …, diesen … Schwanzlutschern!«

Puh, dieses Wort kam aber schwer über meine Lippen. Naja, so was gehörte eigentlich auch nicht zu meinem Wortschatz. Und streng genommen war das ja auch nicht unbedingt die Wahrheit, schließlich hatte ich bisher noch nie das Vergnügen gehabt, an einem Schwanz lutschen zu dürfen. Ich war mir noch nicht mal sicher, ob das überhaupt so ein Vergnügen für mich wäre. Noch ehe ich diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, polterte Thomas’ Vater wieder los.

»Ach! Deswegen setzt du dich so für ihn ein!«, rief er mir zu. »Na, wenn die Klinikleitung erst einmal erfährt, welche perversen Spielchen ihr hier treibt, wirst du auch noch ganz schön Ärger bekommen. Oder was ist das hier für ‘ne Scheißklinik?«

Inzwischen war am Haupteingang so einiges los. Ein paar Personen blickten zu uns herüber. Die nette Dame, die hinter der Rezeption arbeitete, kam auf uns zu. Nadine und Christina folgten ihr in ein paar Metern Abstand. Und dann war da auf einmal auch Frau Fröschl, die zu uns herüber eilte. Sie hatte ihren Mantel an und trug eine Tasche über der Schulter. Anscheinend hatten Nadine und Christina sie gerade abgepasst, als sie Feierabend machen wollte.

»Was ist los?«, rief sie uns bereits aus einiger Entfernung zu.

»Das ist Thomas’ Vater. Der will Thomas mitnehmen!«, schrie ich zu ihr hinüber.

Herr Hübner blickte nach hinten über die Schulter, um zu sehen, wer da auf einmal auf ihn zukam. Seine Selbstsicherheit schien einen weiteren Knacks bekommen zu haben. So langsam bekam ich den Eindruck, der Typ fühlte sich nur aufgrund seines Körperbaus so stark und war in Wirklichkeit ein jämmerlicher Feigling.

»Sie sind Herr Hübner?«, fragte Frau Fröschl ganz ruhig und gelassen.

»Ja, der bin ich. Ich bin gekommen, um meinen Sohn abzuholen. Das hier ist nichts für ihn. Der braucht eine harte Hand, hier wird er ja noch völlig verweichlicht.«

»So einfach geht das nicht«, erwiderte unsere Psychologin immer noch in ruhigem Ton. »Im Moment hat das Jugendamt für Thomas das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Das sollten Sie eigentlich wissen! Bevor Sie Thomas hier herausholen können, müssen Sie sich zuerst an das Jugendamt wenden. Und die werden Ihnen kaum behilflich sein. Schon gar nicht nach dieser Aktion hier!«

Inzwischen waren auch der Chefarzt und zwei andere Männer zu uns herübergekommen. Einer davon war dieser Dr. Friedrichs.

»Was geht hier vor?«, wollte Dr. Höfling wissen.

Frau Fröschl erklärte ihm kurz die Lage.

»Verlassen Sie bitte sofort das Grundstück«, forderte der Chefarzt schließlich Thomas’ Vater auf. »Wenn Sie nicht sofort von hier verschwinden, lasse ich die Polizei rufen!«

»Was?«, entfuhr es Herrn Hübner. »Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst!«

Dass sich die Situation so entwickelte, schien er nicht erwartet zu haben. Mit einem nervös zitternden Finger deutete er auf Thomas und mich.

»Wissen Sie eigentlich, was diese beiden Schwulen hier in Ihrer Klinik so alles treiben?«

Dr. Höfling schien keinen Moment beeindruckt zu sein.

»Sie sollten jetzt wirklich besser verschwinden«, sagte er noch einmal.

Herr Hübner schien einzusehen, dass er verloren hatte. Nicht ohne Thomas noch einmal grimmig mit der Faust zu drohen, lief er zurück zu seinem Auto. Eine Minute später war er verschwunden.

Thomas war völlig durch den Wind. Verstört und zitternd stand er herum. Kevin und ich versuchten ihn zu beruhigen, indem wir ihm gut zuredeten. Gudrun versuchte es mit einer Umarmung, aber im Moment schien ihm das alles nicht zu helfen.

»Kommen Sie erst mal mit mir mit«, sagte schließlich Frau Fröschl mitfühlend zu ihm. »Wir reden eine Weile miteinander, okay?«

Thomas nickte. Wir liefen jetzt alle zurück in die Klinik. Während Frau Fröschl mit Thomas verschwand, stellte der Chef höchstpersönlich sicher, dass mit uns anderen alles in Ordnung war. Nachdem wir uns noch eine Weile in der Halle über den Vorfall unterhalten hatten, verschwanden wir auf unseren Zimmern. Bis zum Abendessen war noch eine knappe Stunde Zeit.

Als wir so auf unseren Betten lagen und noch einmal über das Geschehen auf dem Parkplatz redeten, kam Kevin plötzlich auf meinen Wutausbruch zu sprechen.

»Als du dem Typen zugerufen hast, dass du auch so ein Schwanzlutscher bist, … naja, da bist du ganz schön rot dabei geworden.«

Ich druckste ein wenig herum.

»Naja, … äh … eigentlich, also eigentlich … äh … hab ich ja auch noch … noch nie, naja, du weißt schon.«

»Ja, ist mir schon klar, dass du noch nie Sex mit ‘nem Kerl hattest.«

»Hab ich dir aber bisher noch nie so direkt erzählt«, antwortete ich kleinlaut.

»Hey, ich kenn dich doch inzwischen gut genug, um das zu wissen!«

Ich zuckte hilflos mit den Schultern.

»Hey, schämst du dich eigentlich wegen allem, was mit deiner Sexualität zusammenhängt?«, fragte Kevin mich nach einer Weile.

Musste er immer solche Fragen stellen? Wieder erntete er als Antwort nur ein Schulterzucken.

»Mann, ist doch nichts dabei, dass du noch Jungfrau bist!«

»Wenn du das sagst.«

»Ja, ist doch auch so!«

»Und, wie ist das bei dir?«, wollte ich schließlich zögerlich wissen.

»Naja, bis vor ‘nem halben Jahr hatte ich ‘ne Freundin. Ist dann irgendwie wieder zu Ende gegangen. Noch bevor Marco den Unfall hatte.«

»Und, hattet ihr Sex miteinander?«

»Ja.«

»Siehst du? Und ich hab noch nicht mal ‘nen anderen Jungen geküsst. Bei mir war da bisher noch gar nichts!«

»Na und? Ist doch auch nicht schlimm, irgendwann findest du schon den Richtigen. Für Schwule ist das halt nicht so einfach, jemanden zu finden, wie bei uns Heteros. Das wird schon. Du bist ja schließlich nicht gerade hässlich, oder? Und ansonsten kann man’s echt mit dir aushalten!«

Der letzte Satz war wohl als Kompliment gemeint. So fasste ich das auf jeden Fall auf.

»Ja, das isses eigentlich auch gar nicht. Aber irgendwie, … also irgendwie …«

Ich machte eine Pause.

»Los, sag schon«, forderte mich Kevin auf. Seine Stimme klang ziemlich einfühlsam. So, als ob er genau wusste, dass es mir besser gehen würde, wenn ich das alles erst mal ausgesprochen hatte.

Ich drehte mich auf die Seite, so dass ich Kevins Reaktion nicht sehen musste, während ich ihm mein Gefühlsleben beichtete. Dann redete ich weiter.

»Ich weiß noch nicht mal, ob ich mit ‘nem Jungen überhaupt so richtig Sex haben will! Du weißt schon, dass was Schwule eben normalerweise so machen … dem anderen einen blasen … und Analverkehr und so.«

Ich machte eine kurze Pause, bevor ich weiterredete, diesmal leiser. Gerade so laut, dass Kevin es hören konnte.

»Eigentlich brauch ich nur jemanden, der mich liebt, der mich in den Arm nimmt und mit dem ich kuscheln kann und so.«

Ich hatte mal wieder Tränen in den Augen. Eigentlich hatte ich ja gedacht, dass ich hier inzwischen genug geheult hatte. Scheinbar hatte ich mich da mal wieder geirrt.

»Hey, ist doch in Ordnung!«, hörte ich Kevins Stimme plötzlich dicht hinter mir. Seine Hand berührte meine Schulter. Ich schluchzte.

»Verdammt, muss denn bei mir alles anders sein? Kann ich noch nicht mal normal schwul sein?«

Kevins Hand streichelte meine Schulter, während ich das Kopfkissen durchnässte.

»Du bist eben so wie du bist«, sagte Kevin leise hinter mir. Eine dümmere Antwort war ihm wohl nicht eingefallen! Aber was sollte er auch sonst sagen?

»Schäm dich deswegen doch nicht!«

Naja, das hörte sich schon besser an. Trotzdem schluchzte ich unkontrolliert weiter.

»Warum stehst du nicht einfach dazu?«

»Da bin ich ja wohl grade dabei, oder warum erzähl ich dir das wohl alles?«, brachte ich mühsam heraus. Ein wenig Sarkasmus meinerseits tat jetzt ganz gut, sonst wäre ich Kevin wohl noch heulend um die Arme gefallen. Und das wäre jetzt einfach das falsche Signal von mir gewesen. Schließlich wusste ich ganz genau, dass er nicht das für mich empfand, was ich immer noch für ihn fühlte. Ich wollte ihm auf keinen Fall das Gefühl geben, dass ich ihn als meinen Boyfriend haben wollte. Damit würde er wohl kaum umgehen können. Ich fragte mich sowieso, warum er hier den Psychologen für mich spielte. Außerdem hatte ich mich inzwischen ja tatsächlich längst damit abgefunden, dass wir beide niemals mehr als brüderliche Freunde sein würden.

So blieb ich einfach noch eine Weile liegen und durchnässte weiter mein Kopfkissen, während mir Kevin sanft durchs Haar strich und mich zu beruhigen versuchte.

»Hey, du findest schon noch den passenden Freund. Dann könnt ihr das Ganze zusammen ganz behutsam angehen. Es soll schließlich auch noch andere Typen geben, die nicht nur auf Sex aus sind.«

Irgendwann hatte ich mich dann wieder unter Kontrolle und wischte mir die Tränen ab.

»Scheiße! Tut mir echt leid, dass ich hier so rum heule«, sagte ich, als ich mich aufrichtete und mich dann neben Kevin auf die Bettkante setzte. Der hatte wohl schon vor einer ganzen Weile hinter meinem Rücken Platz genommen.

»Hey, das musste eben mal aus dir raus.«

»Naja, ich will aber nicht, dass du jetzt denkst, dass ich … mit dir …, naja, du weißt schon.«

Das musste ich jetzt endlich mal klarstellen.

Es dauerte eine Weile, bis Kevin reagierte.

»David, sorry, ich bin echt immer für dich da … auch wenn wir hier wieder raus sind … aber mehr, … mehr darfst du von mir …«

Ich nickte, so dass er das ‘nicht erwarten’ erst gar nicht mehr aussprechen musste. Ich sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, mir das jetzt mitzuteilen. Obwohl es weh tat, war ich froh, dass diese Sache zwischen uns nun ein für alle Mal klar war.

Kevin klopfte mir noch einmal auf die Schulter und stand dann auf.

»Ist langsam Zeit für’s Abendessen«, meinte er.

»Oh Mann, ich seh sicher ziemlich verheult aus.«

Ich sah im Bad in den Spiegel. Meine Augen waren ganz schön rot.

»Wir können auch erst später runter gehen«, schlug Kevin vor.

In diesem Moment klopfte es an der Zimmertür. Wer auch immer das war, ich wollte nicht, dass mich jemand so sah. Auf neugierige Fragen hatte ich jetzt wirklich keine Lust.

Während ich mich wieder auf mein Bett verzog, öffnete Kevin die Türe. Es war Thomas.

»Geht’s dir wieder einigermaßen?«, wollte Kevin sofort von ihm wissen.

Naja, Thomas hatte heute weit schlimmeres durchgemacht als ich. Was kümmerte es mich also, ob er mich jetzt so verheult sah oder nicht?

»Bring ihn mit rein, Kevin!«, rief ich deshalb um die Ecke zur Tür.

Sofort als er eintrat, stellte ich fest, dass Thomas auch nicht besser aussah als ich selbst. Er schien auch überhaupt nicht zu bemerken, dass ich ebenfalls geweint hatte.

»Ich war so lange bei der Fröschl«, berichtete er uns. »Die is echt gut! Auch wenn ich fast die ganze Zeit über geheult hab und deswegen nicht alles mitbekommen hab, was sie so gesagt hat.«

Ja, unsere Psychologin hatte heute auch bei mir sämtliche Sympathiepunkte, die sie in der Zwischenzeit einmal verloren hatte, wieder mehr als gutgemacht. Ihre Aktion da draußen hatte mich ganz schön beeindruckt. So ruhig, wie die geblieben war, während mir gewaltig die Knie geschlottert hatten!

Thomas erzählte ein wenig von dem, was im Zimmer von Frau Fröschl abgelaufen war. Sie hatte ihm klargemacht, dass sein Vater im Moment nicht über seinen Aufenthaltsort bestimmen durfte und dass auch keine Aussicht darauf bestand, dass dies noch einmal der Fall sein würde. Schließlich würde Thomas ja ohnehin bald 18 werden. Sie hatte für ihn einen ersten Gesprächstermin mit der Sozialarbeiterin der Klinik vereinbart. Die würde dann regeln, wie es für Thomas nach dem Klinikaufenthalt weitergehen sollte.

»Hat sie was gesagt wegen …, naja, wegen den Sexorgien, die ihr beide hier angeblich veranstaltet?«, wollte Kevin irgendwann wissen.

An diese Anschuldigung von Thomas’ Vater hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht.

Thomas nickte.

»Sie hat gesagt, ich soll das ganz schnell wieder vergessen.«

»Die hat eben inzwischen auch schon gemerkt, was für ein verklemmter Typ ich bin«, sagte ich mit einem gequälten Lächeln.

Die Bemerkung konnte ich mir einfach nicht verkneifen, auch wenn ich von Thomas irritierte Blicke erntete.

Kevin grinste mich an. Dadurch guckte Thomas noch verwirrter. Jetzt konnte ich das Lachen nicht mehr zurückhalten und prustete los. Wenn wir drei hier zusammen im Zimmer waren, schien es immer was zum Lachen zu geben. Sollten wir vielleicht öfters machen?

Kapitel 11 – Nachwehen

Gunther Hübner stand direkt vor mir. Er blickte mich grimmig an. Dann ballte er seine rechte Hand zur Faust und holte aus. Ich konnte mich nicht bewegen und stand wie angewurzelt vor ihm. Seine Faust schnellte nach vorn. Irgendwie schaffte ich es, mit dem Kopf auszuweichen. Meine Füße schienen im Boden einbetoniert zu sein. Die Faust verfehlte mich nur um Haaresbreite. Von irgendwoher hörte ich ein Klopfen.

»David?«, rief jemand leise. »David?«

Das hörte sich fast so an wie die Stimme von Thomas. Nur irgendwie gedämpft, wie aus weiter Ferne. Noch einmal klopfte es. Hatte Gunther Hübner seinen Sohn wieder irgendwo eingesperrt?

Irgendetwas rüttelte an meiner Schulter.

»David!«, sagte eine Stimme direkt neben mir.

Was war jetzt los? War das nicht die Stimme von Kevin?

»David, wach auf!«

Ich öffnete die Augen. Es war dunkel. Wieder klopfte es.

»David? Kevin?«, hörte ich Thomas leise rufen. Das klang immer noch merkwürdig dumpf.

»Bist du wach?«, wollte Kevins Stimme neben meinem Ohr wissen.

»Ja, was’n los?«, antwortete ich schlaftrunken.

»Thomas ist draußen vor der Tür! Machst du auf oder soll ich gehen?«

»Ich geh schon.«

Ich stand auf und rieb mir die Augen. Als Nächstes schaltete ich das Licht ein. Mann, das blendete! Ich blickte noch schnell auf meinen Wecker. 1:47 Uhr. Dann tappte ich zur Zimmertüre und sperrte leise auf. Es war natürlich völlig unnötig, die Türe so sachte aufzuschließen. Wenn die Bewohner der Nachbarzimmer noch nicht durch Thomas’ Klopfen und Rufen geweckt worden waren, dann würde sie wohl kaum das Geräusch einer sich öffnenden Zimmertüre stören.

Thomas schlich draußen im Flur nervös auf und ab, nur mit einem hautengen schwarzen T-Shirt und Shorts bekleidet. Wenn ich nicht schon vorher gewusst hätte, dass er das war, hätte ich ihn im ersten Moment gar nicht erkannt. Aber das lag wohl vor allem an der spärlichen Notbeleuchtung im Gang.

Als er endlich bemerkte, dass ich inzwischen die Türe geöffnet hatte, sah er mich mit seinem Dackelblick an, der mir inzwischen schon mehrmals an ihm aufgefallen war. Eigentlich fand ich ihn so ja ganz süß. Wenn er nur nicht gleichzeitig so einen mitleiderregenden Eindruck gemacht hätte!

»Hey, Thomas, was ist los?«, wollte ich wissen.

Er zuckte mit den Schultern.

»Ich kann einfach nicht schlafen«, sagte er leise.

»Komm erst mal rein, okay?«

»Danke.«

Ich schloss die Türe hinter ihm und führte ihn ins Zimmer.

»Sorry, aber ich halt’s so allein in meinem Zimmer heut einfach nicht aus«, entschuldigte er sich.

Dann entdeckte er die beiden Matratzen, die auf dem Zimmerboden nebeneinanderlagen, und riss den Mund groß auf.

»Ich dachte, ihr …«, stammelte er.

Kevin hatte sich aufgesetzt und grinste ihm entgegen.

»Was du schon wieder denkst …«, entgegnete er kopfschüttelnd.

»Willst du die Nacht über bei uns bleiben?«, fragte ich schnell, damit erst gar keine längeren Diskussionen um die Matratzenanordnung aufkommen konnten.

Thomas nickte.

»Wenn ihr nichts dagegen habt?«

»Ach wo! Klar kannst du hier bleiben«, antwortete Kevin sofort. »Du darfst dich nur nicht dran stören, dass ich ab und zu mal schreiend aufwache, wenn ich gerade wieder ‘nen Albtraum hatte.«

»Oh!«, erwiderte Thomas hilflos. Ihm war deutlich anzusehen, dass er nicht wusste, wie er auf Kevins Aussage reagieren sollte.

»Naja, inzwischen hab ich die ja nicht mehr so oft«, sagte Kevin dann auch sofort und fügte mit einem breiten Grinsen noch hinzu: »Außerdem liegt David ja gleich neben mir und kann mich dann immer trösten.«

Diese Bemerkung war mal wieder typisch für Kevin. Irgendwie neigte er dazu, ernste Situationen ins Lächerliche zu ziehen, seitdem es ihm besser ging. Immerhin schaffte er es damit, die angespannte Situation etwas aufzulockern.

Thomas schien derweil nicht so recht zu wissen, ob Kevins letzter Satz auch wirklich ernst gemeint war.

»Liegt ihr deswegen so nebeneinander?«, fragte er deshalb.

»Mmh«, antwortete ich etwas verlegen. Ich war mir eigentlich schon längst nicht mehr sicher, ob Kevin hier mit mir auf dem Boden schlief, weil er ab und zu immer noch meinen Trost brauchte, oder ob er das inzwischen nur noch mir zuliebe tat, weil er genau wusste, dass ich es mochte, ihm so nahe zu sein. Vielleicht sollten wir das in Zukunft deshalb lieber wieder sein lassen. Ich beschloss, die nächste Nacht wieder in meinem richtigen Bett zu verbringen. Wahrscheinlich wartete Kevin nur darauf, dass ich das tat.

Seine Stimme unterbrach abrupt meine Gedanken.

»Gehst du noch deine Bettdecke und dein Kopfkissen holen, oder willst du zu David unter die Decke?«, fragte er Thomas.

Auch bei diesem Satz hatte Kevin wieder ein breites Grinsen im Gesicht, doch diesmal wäre ich ihm dafür am liebsten an die Gurgel gesprungen.

Was sollte das jetzt wieder? Wollte er mich mit Thomas verkuppeln? Oder war das wieder nur einer seiner Scherze, die er ab und zu machte, ohne vorher großartig darüber nachzudenken?

»Ähm, ja, ich geh schnell«, stammelte Thomas sofort und war in Windeseile durch die Tür verschwunden.

»Musste das jetzt sein?«, fragte ich Kevin ärgerlich, nachdem wir wieder unter uns waren.

»Also ich fand’s witzig!«

»Ich nicht! Musst du ständig solche Bemerkungen machen?«

Dann war Thomas mit seinem Kopfkissen unter dem Arm auch schon wieder zurück. Ein Ende der Bettdecke hatte er über der Schulter, das andere Ende schleifte hinter ihm über den Boden. Irgendwie erinnerte er mich so an Linus von den Peanuts, der immer seine Schmusedecke hinter sich herzog. Es schien Thomas auch nicht weiter zu stören, dass er so den ganzen Dreck vom Boden aufsammelte. Naja, hier wurde ohnehin jeden Tag vom Reinigungspersonal gründlich gesaugt. Allzu viel Schmutz konnte also gar nicht herumliegen.

Während Thomas sein Bettzeug auf die Matratzen warf, schloss ich noch schnell die Zimmertüre ab.

»Willst du in die Mitte?«, hörte ich Kevin fragen.

Als ich zurück ins Zimmer kam, sah mich Thomas unschlüssig an. Ich zuckte mit den Schultern.

»Ja, du kannst ruhig zwischen uns beide.«

So musste ich wenigstens nicht dicht neben Kevin liegen. Irgendwie wäre mir das jetzt unangenehm gewesen, wo ich mich doch gerade dazu durchgerungen hatte, in Zukunft nicht mehr neben ihm auf dem Boden zu schlafen.

»Oh Mann, ich glaub allein in meinem Zimmer wär ich noch durchgedreht. Ich hatte die ganze Zeit über Angst, dass mein Vater durch die Tür kommt.«

Thomas’ Bemerkung erinnerte mich an meinen Traum von vorhin.

»Hey, das kann ich verstehen. Ich hab vorhin von ihm geträumt. Der wollte mir grade eine reinhauen, als du geklopft hast. Gut, dass ich da aufgewacht bin! Wer weiß, wie der Traum sonst weitergegangen wäre?«

Thomas’ Vater hatte bei mir wohl einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Solche Begegnungen wie heute wünschte ich mir wirklich nicht alle Tage!

Thomas hatte sich bereits neben Kevin gelegt und sich zugedeckt. Es schien ihm immer noch etwas unangenehm zu sein, dass er mitten in der Nacht einfach hereingeplatzt war, denn er sah mich wieder mit seinem Dackelblick an.

Bevor ich das Licht ausschaltete, lächelte ich ihm deswegen noch einmal zu. Dann legte ich mich neben ihn und schlüpfte unter meine Bettdecke.

Da lag ich also nun, nur ein paar Zentimeter entfernt von einem anderen schwulen Jungen, gemeinsam in einem Bett. Naja, sofern man diese zwei Matratzen überhaupt als Bett bezeichnen konnte. Aber das war nun wirklich nicht das Entscheidende. Viel wichtiger war die Frage, was nun passieren würde. Würden wir einfach so einschlafen oder würde sich in dieser Nacht auch noch etwas anderes zwischen uns beiden abspielen? Irgendwas im sexuellen Bereich? Immerhin hatte Thomas da schon wesentlich mehr Erfahrung als ich, obwohl er zwei Jahre jünger war. Mit Stefan hatte er sicher schon so einiges ausprobiert. Aber das war jetzt bereits einige Wochen her. Vielleicht fehlte ihm das ja inzwischen? War er vielleicht deswegen zu uns ins Zimmer gekommen?

Was machte ich mir da nur für Gedanken? Thomas war einfach nur verängstigt und wollte die Nacht nicht alleine in seinem Zimmer verbringen. Das war alles. Außerdem lag da ja auch noch Kevin neben uns. Wir würden also wirklich nur nebeneinander nächtigen.

Im Moment war Thomas allerdings noch viel zu aufgewühlt, um einschlafen zu können. Deshalb unterhielten wir uns noch eine Zeitlang im Dunkeln. Zuerst redeten wir wieder über die Ereignisse vom Nachmittag. Dann schilderte uns Thomas noch einmal in allen Einzelheiten den Vorfall vor dem Personalwohnheim, wo sein Vater ihm und Stefan vor einigen Wochen aufgelauert hatte. Es schien ihm gut zu tun, mit uns noch mal darüber sprechen zu können.

»Und du hattest mit Stefan seitdem echt keinen Kontakt mehr?«, wollte ich irgendwann wissen.

»Nein«, antwortete Thomas kleinlaut.

»Warum bist du nie zu ihm hin? Ich meine, in der Zeit, als du bei deiner Oma gewohnt hast.«

»Mann, ich bin in der Zeit kaum aus dem Haus! Denkst du, ich wollte irgendwo meinem Vater über den Weg laufen?«

Dieser Mistkerl hatte der Psyche seines Sohnes offensichtlich mehr Schaden zugefügt, als ich bisher gedacht hatte. Thomas schien wahnsinnige Angst vor ihm zu haben. Kein Wunder, dass er an diesem Nachmittag nach den Ereignissen auf dem Parkplatz kaum zu beruhigen gewesen war.

»Und warum hast du nie versucht, Stefan anzurufen?«

»Naja, in seinem Zimmer im Wohnheim hat er kein Telefon.«

»Hey, du hättest ihn sicher irgendwie erreichen können. Während der Arbeitszeit auf seiner Station oder so.«

Thomas druckste eine Weile herum.

»Ich hatte halt Angst, dass er einfach auflegt. Dass er nichts mehr von mir wissen will. Oder sagt, dass er mich jetzt hasst oder so.«

»Warum sollte er dich denn hassen?«

»Naja, nach dem, was mein Vater da veranstaltet hat …«

»Das war doch nicht deine Schuld! Und wenn Stefan dich wirklich geliebt hat, dann hasst er dich nicht von einem Moment auf den anderen.«

Als Thomas daraufhin nichts sagte, fragte ich: »Ihr wart doch richtig ineinander verliebt, oder?«

»Ja«, erwiderte Thomas nach einer Weile mit tränenerstickter Stimme.

»Oh Mann, du vermisst ihn ganz schön, oder?«

Thomas brachte kein Wort mehr heraus und schluchzte unkontrolliert. Mussten sich hier denn ständig solche Dramen abspielen?

Als ich im Dunkeln meinen Arm um ihn legen wollte, war da schon Kevins Hand. Im Trösten hatten wir inzwischen wohl beide Übung.

»Hey, du solltest Stefan einfach mal anrufen. Wer weiß, was der sich für Sorgen um dich macht?«

»Meinst du?«, fragte Thomas, als er sich wieder einigermaßen im Griff hatte.

»Ja, stell dir nur mal vor! Der hat seit Wochen nichts mehr von dir gehört und hat keine Ahnung, wie’s dir so geht. Er konnte dich ja die ganze Zeit über nicht erreichen. Er wusste ja nicht mal, wo du überhaupt bist. Zumindest, wenn er nicht mitbekommen hat, dass du im Krankenhaus warst. Dass du dann ‘ne Weile bei deiner Oma rumgehockt bist, konnte er ja schließlich nicht ahnen, oder? Von der Klinik hier weiß er auch nichts. Und dass er sich nicht traut, bei deinen Eltern anzurufen und dort nach dir zu fragen, ist ja wohl klar nach dem Vorfall vor dem Wohnheim.«

»Und wenn er doch nichts mehr von mir will? Vielleicht hat er ja schon ‘nen Neuen?«

Ich schien Thomas noch nicht ganz überzeugt zu haben.

»Hey, das glaub ich nicht! Naja, und wenn, dann musst du damit eben irgendwie klarkommen. Aber dann hast du wenigstens Gewissheit.«

»David ist ja da, der kann dich dann trösten«, schaltete sich Kevin ein. »Der kann das nämlich ganz gut!«

»Kevin! Lass die dummen Bemerkungen!«

»Okay, okay! Du kannst dich dann bei uns beiden ausheulen, wenn’s dir danach ist.«

Manchmal hätte Kevin ruhig etwas mehr Taktgefühl haben können. Aber bei Thomas schienen seine Worte die richtige Wirkung zu haben.

»Hey, ich hatte noch nie solche Freunde wie euch! Wir sind doch Freunde, oder?«

»Na klar!«

»Ja, sind wir!«

Nachdem wir das geklärt hatten, konnten wir dann doch alle einschlafen.

Kapitel 12 – Kontaktaufnahme

Am nächsten Morgen war ich der Erste, der aufwachte. Leise rollte ich mich aus dem Bett, um Thomas und Kevin nicht zu wecken. Die beiden sahen richtig süß aus, wenn sie so nebeneinanderlagen und schliefen. Ich ließ die beiden allein und schlich in die Dusche.

Als ich zurückkam, war nur noch Kevin im Raum.

»Morgen, David! Thomas ist wieder zurück in sein Zimmer. Ich glaub, der musste erst mal was gegen seine Morgenlatte unternehmen. Scheint ihm hier gut gefallen zu haben, so zwischen uns.«

Kevin grinste wieder bis über beide Ohren. Ich lächelte gequält zurück.

»Fragt sich nur, ob’s ihm wegen mir oder wegen dir so gut gefallen hat«, antwortete ich schließlich.

»Na wegen dir natürlich!«

»Sei dir da mal nicht so sicher! Außerdem isses ja wohl ganz normal, dass man morgens ‘ne Erektion hat, oder?«

Auch wenn ich mich diesmal bemühte, beim Thema Sexualität etwas mehr Humor zu zeigen, wollte ich diese Diskussion doch schnellstmöglich wieder beenden.

»Außerdem hat er heute Nacht sicher von Stefan geträumt. Bin ja gespannt, ob er ihn wirklich anruft.«

»Naja, dann wird das wohl nichts mit euch beiden!«

»Ich glaub, da würde auch ohne Stefan nichts daraus werden.«

»Thomas ist nicht gerade dein Typ, oder?«

»Naja, nicht so ganz. Mit diesem Dackelblick find ich ihn immer ganz süß, aber sonst … Fängt schon damit an, dass er raucht.«

»Hey, wart’s erst mal ab! Man kann nie wissen, wie sich das so entwickelt. Wenn Stefan ihm ‘ne Abfuhr erteilt, dann braucht er jemanden wie dich!«

»Ach, das wird schon wieder zwischen den beiden!«

Damit war das Thema dann endlich erledigt.

Als ich mit Kevin zum Frühstück hinunter in den Speisesaal ging, trafen wir Thomas vor dem Aufzug.

»Und? Alles klar bei dir?«, fragte ich ihn.

»Ja. Danke, dass ich bei euch schlafen konnte.«

»Schon okay!«

Die Fahrstuhltüre öffnete sich und wir traten hinein. In der Kabine sprach ich Thomas dann auf Stefan an. Ich hatte das Gefühl, dass diese Sache nun schnellstmöglich in Gang gebracht werden musste.

»Wann willst du jetzt Stefan anrufen?«

Thomas sah mich unsicher an.

»Du wirst ihn doch anrufen?«, fragte ich noch einmal.

Thomas zuckte mit den Schultern. Anscheinend hatte er inzwischen schon wieder den Mut verloren.

»Hey, ich dachte wir hätten das geklärt?«

»Ich hab ja nicht mal die Nummer vom Krankenhaus, wo er arbeitet.«

»Dafür gibt’s die Auskunft!«

Jetzt schien Thomas keine Ausrede mehr einzufallen.

»Naja, mal sehen.«

»Du rufst ihn also an?«

Thomas nickte.

»Dann machst du das am besten gleich nach dem Frühstück, okay?«

Richtig begeistert schien er immer noch nicht zu sein.

»Kann wenigstens einer von euch bei der Auskunft anrufen? Ich bin da nicht so gut drin, mich am Telefon durchzufragen.«

Ich willigte ein, das für ihn zu erledigen. Für den Vormittag hatte ich ohnehin nichts anderes vor und Kevin musste später ja zu dieser komischen Maltherapie und zu Frau Fröschl.

Nach dem Frühstück ging ich deshalb gleich mit zu Thomas aufs Zimmer. Das Reinigungspersonal war dort gerade fertig geworden. Wir konnten also ungestört am Telefon nach Stefan fahnden.

Als Erstes war die Auskunft an der Reihe. All die lustigen Werbespots, in denen sie einem die verschiedensten Eselsbrücken anboten, mit deren Hilfe man sich angeblich ganz einfach ihre Nummer merken konnte, hatten bei mir offensichtlich ihre Wirkung verfehlt. Die Werbemacher hatten wohl nicht damit gerechnet, dass es Leute wie mich gab, die an Verona Feldbusch rein gar nichts erotisch fanden. Ich konnte mich zwar an irgendwas mit 11 und 88 erinnern, aber da kam sicher auch noch die eine oder andere weitere Ziffer vor, die mir inzwischen wieder entfallen war. Alles auch noch in die richtige Reihenfolge zu bringen, war dann noch ein ganz anderes Problem.

Zum Glück konnte mir Thomas da weiterhelfen. Bei ihm war die Nummer wohl hängen geblieben.

»Naja, ich hatte bei meiner Oma halt nichts zu tun. Was soll man da außer Fernsehen sonst machen?«

Schnell hatte ich eine nette Dame am Hörer, die mir bereitwillig ihre Dienste anbot. Dabei ging es natürlich nur um das Heraussuchen der einen oder anderen Telefonnummer. Ich erkundigte mich nach der Cityklinik in Langenbergen.

Cityklinik. Das war auch so ein neudeutscher Name. Thomas hatte mir erzählt, dass es sich dabei eigentlich um ein ziemlich altes Gemäuer handelte. Der Name passte also wie die Faust aufs Auge. Bis vor kurzem hatte das Krankenhaus auch einfach nur ‘Krankenhaus’ geheißen, aber scheinbar war der Name dann irgendwann nicht mehr gut genug gewesen. So eine Umbenennung war wohl eben einfach billiger als eine gründliche Renovierung. Jedenfalls sorgte der neue Name beim Klinikpersonal seitdem für Erheiterung. Das hatte Thomas zumindest von Stefan gehört.

Die Telefonnummer zu erhalten war jedenfalls kein Problem. Die Auskunft kannte wohl bereits die neue Bezeichnung. Nach einer halben Minute hatte ich ein paar unleserliche Ziffern auf einen Zettel gekritzelt.

»Kannst du da auch anrufen und dich nach Stefan durchfragen?«, wollte Thomas kleinlaut wissen, als ich wieder aufgelegt hatte.

»Ja, kann ich machen«, willigte ich ein. »Aber du solltest mir vorher besser sagen, wie Stefan mit Nachnamen heißt.«

»Kunze«, antwortete Thomas verlegen.

Ich wählte die Nummer der Cityklinik. Damit Thomas mithören konnte, schaltete ich den Lautsprecher ein. Nach einer Weile meldete sich eine männliche Stimme am anderen Ende.

»Krankenhaus … äh … Cityklinik Langenbergen. Guten Tag.«

»Guten Tag. Wir suchen nach einem Stefan Kunze, der bei Ihnen als Krankenpflegeschüler arbeitet. Können Sie uns da weiterhelfen?«

»Wohnt er hier im Wohnheim?«

»Ja.«

»Moment, dann hab ich ihn hier auf meiner Liste.«

Für einen Moment setzte Stille ein. Dann hörte ich irgendetwas klappern. Schließlich meldete sich die Stimme wieder.

»Einen Moment noch bitte! Ich versuche, ihn über die Sprechanlage im Wohnheim zu erreichen.«

Dann hörte ich eine nervtötende Warteschleifenmelodie. Eine Frauenstimme hauchte immer wieder »Bitte warten!«

»Hören Sie?«, meldete sich nach einer knappen Minute die Stimme wieder.

»Ja.«

»Er scheint nicht in seinem Zimmer zu sein. Sonst hätte ich sie mit dem Telefon auf seiner Etage verbinden können.«

»Können wir ihn vielleicht auf seiner Station erreichen?«

»Dann müsste ich wissen, auf welcher Station er arbeitet.«

Ich sah Thomas fragend an. Der zuckte nur mit den Schultern.

»Keine Ahnung«, sagte ich in den Hörer. »Können Sie das nicht herausfinden?«

»Ich kann Sie höchstens mit der Personalabteilung verbinden.«

»Ja, bitte.«

Wieder wurde ich in die Warteschleife gelegt. Dann meldete sich eine Frauenstimme.

»Personalabteilung. Wolters.«

»Guten Tag, könnten Sie mir bitte sagen, auf welcher Station Stefan Kunze arbeitet?«

»Einen Moment bitte.«

Wieder hörte ich Geräusche im Hintergrund. Frau Wolters tippte wohl auf einer Computertastatur herum.

»Herr Kunze arbeitet auf Station C3«, sagte sie nach einer Weile. »Aber zurzeit hat er Urlaub.«

»Urlaub?«, fragte ich zurück. Das hatte uns gerade noch gefehlt.

»Ja.«

»Haben Sie irgendeine Adresse oder Telefonnummer, wo ich ihn vielleicht erreichen kann?«

»Da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Die persönlichen Daten unseres Personals darf ich nicht herausgeben.«

»Und Sie können da nicht mal ‘ne Ausnahme machen? Es ist wirklich wichtig!«

»Tut mir leid.«

Ohne mich zu verabschieden, legte ich den Hörer auf. So schwierig hatte ich mir das nicht vorgestellt. Das artete ja richtig in Detektivarbeit aus.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Thomas. Er sah ziemlich verzweifelt aus.

»Weißt du vielleicht, wo Stefan sein könnte?«, wollte ich von ihm wissen. »Oder kennst du irgendjemanden von seinen sonstigen Bekannten?«

Thomas schüttelte den Kopf.

»Und seine Eltern? Die sollten doch wohl wissen, wo er steckt?«

»Die wohnen in irgend ‘nem kleinen Kaff. Ich weiß noch nicht mal, wie der Ort heißt. Ich glaub die haben ‘nen Bauernhof oder so was.«

Eigentlich hatte ich angenommen, dass Thomas etwas mehr über Stefan wusste. Aber vielleicht hatte der ja auch Probleme mit seinen Eltern und hatte dieses Thema deshalb nie so genau angesprochen. Oder Thomas hatte einfach nicht richtig zugehört. Eine Familie Kunze ausfindig zu machen, würde auf jeden Fall ziemlich schwierig werden. Kunzes gab es schließlich wie Sand am Meer. Naja, wenigstens hieß Stefan nicht Meier, Müller oder Schmidt.

»Warte mal, ich hab da ‘ne Idee«, sagte ich, nachdem ich eine Weile überlegt hatte.

Noch einmal wählte ich die Nummer der Cityklinik. Es meldete sich wieder die männliche Stimme von vorhin. Ich bat darum, mit Station C3 verbunden zu werden. Nach einer Weile meldete sich die Stimme einer jungen Frau.

»C3, Lernschwester Melanie.«

»Äh, hallo, ist Stefan da?«, fragte ich. Vielleicht bekam ich auf diese Weise eher eine Auskunft.

»Meinst du Stefan Kunze?«

Das hier schien tatsächlich einfacher zu werden.

»Ja, genau. Ist er da?«

»Nee, der hat Urlaub.«

»Weißt du, wie ich ihn erreichen kann?«

»Ich glaub der ist zu seinen Eltern. Der war so komisch drauf in letzter Zeit, richtig fertig mit den Nerven. Dann hat er sich krankgemeldet und danach gleich Urlaub genommen. Keine Ahnung, was mit dem passiert ist.«

»Hast du die Telefonnummer oder die Adresse seiner Eltern?«

»Moment, die Telefonnummer muss hier eigentlich irgendwo sein.«

Es klapperte, als Melanie den Hörer zur Seite legte.

Ich sah Thomas an. Der saß mir mit offenem Mund gegenüber. Ich fragte mich, was Stefan in den letzten Wochen so alles durchgemacht hatte. Thomas schienen ähnliche Gedanken durch den Kopf zu gehen.

»Hey, ich hab die Nummer hier«, hörte ich plötzlich Melanies Stimme wieder.

»Wow, gut. Schieß los!«

Ich notierte die Nummer auf dem Zettel unterhalb der Klinikrufnummer. Diesmal bemühte ich mich, etwas leserlicher zu schreiben. Ich wollte nicht noch einmal auf der Station anrufen müssen, nur weil ich mein Gekrakel nicht mehr entziffern konnte. Schließlich konnte ich nicht wissen, ob dann wieder jemand abnehmen würde, der so auskunftsfreudig wie diese Melanie war.

»Danke, du hast mir echt weitergeholfen«, sagte ich schließlich.

»Bist du ein Freund von Stefan?«

»Ja, könnte man so sagen«, log ich.

»Du weißt auch nicht, was ihm fehlt, oder?«, wollte Melanie mit besorgter Stimme wissen.

Natürlich konnte ich ihr jetzt nicht die ganze Geschichte erzählen.

»Ich schätze mal, dem wird’s bald wieder besser gehen«, sagte ich deshalb nur.

Dann verabschiedete ich mich von der jungen Lernschwester. Hatte ihr Stefan nie etwas von Thomas erzählt? Sie schien Stefan ja eigentlich ganz gut zu kennen. Zumindest machte sie sich Sorgen um ihn.

»So, das ist jetzt deine Sache«, sagte ich zu Thomas und drückte ihm den Hörer in die eine und den Zettel mit der Telefonnummer in die andere Hand. Dann stand ich auf. Für das, was jetzt kam, wollte ich ihn lieber alleine lassen.

»Meinst du, Stefan ist wegen mir so fertig?«, wollte er von mir wissen.

»Weswegen sonst?«

»Oh Scheiße! Das hab ich echt nicht gewollt.«

»Hey, das wird schon wieder, wenn du dich erst mal bei ihm gemeldet hast.«

»Mann, warum hab ich das nur nicht früher gemacht?«

Das fragte ich mich auch. Dann wäre wohl beiden einiger Kummer erspart geblieben.

»Jetzt wähl endlich!«, forderte ich ihn auf und wollte schon das Zimmer verlassen.

»Was soll ich da denn sagen?«, hielt er mich zurück. »Seine Eltern wissen doch überhaupt nichts von mir. Die wissen ja nicht mal, dass Stefan schwul ist.«

»Frag einfach nach ihm. Die werden dir dann schon irgendwas sagen. Wenn Melanie Recht hat, und er wirklich bei seinen Eltern ist, dann geht er ja vielleicht sogar selber ans Telefon.«

Thomas’ Finger zitterten vor Aufregung, als er endlich die Nummer eintippte. Der Lautsprecher des Apparats war immer noch eingeschaltet. Am anderen Ende der Leitung klingelte es mehrmals.

»Kunze«, meldete sich dann eine Frauenstimme. Wahrscheinlich war das Stefans Mutter.

»Äh … hallo … ist Stefan da?«, fragte Thomas zögerlich.

»Ja, der ist in seinem Zimmer. Wer ist denn da?«

»Äh, ich bin … Thomas.«

»Thomas? Du bist der … Freund … von Stefan?«

Thomas sah mich verwundert an. Zumindest Stefans Mutter schien inzwischen etwas von der Homosexualität ihres Sohnes erfahren zu haben. Sogar über Thomas wusste sie Bescheid.

»Ja«, sprach dieser ängstlich in den Hörer.

Er schien sich bereits auf ein Donnerwetter oder so etwas Ähnliches einzustellen. Was stattdessen aus dem Lautsprecher kam, hatte er so wohl nicht erwartet.

»Thomas! Gott sei Dank! Endlich meldest du dich! Der Stefan hat sich ja solche Sorgen um dich gemacht. Der kann gar nimmer auf die Arbeit deswegen. Warte! Ich hol ihn schnell!«

Die Frauenstimme klang ganz aufgeregt. Thomas sah mich an. Tränen schossen ihm in die Augen. Seine Unterlippe bebte.

Es klapperte aus dem Lautsprecher, als Frau Kunze den Hörer neben das Telefon legte. Dann hörte man sie laut »Stefan! Stefan! Komm schnell runter! Der Thomas ist am Telefon!«, schreien.

Ich streichelte Thomas durchs Haar. Die Tränen liefen ihm über die Wangen. Ich beugte mich zu ihm hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Hey, jetzt wird alles gut«, sagte ich leise.

Nun hörte man, wie jemand schnell eine Treppe herunter lief. Ich schaltete den Lautsprecher ab.

»Stefan?«, sagte Thomas im nächsten Moment mit tränenerstickter Stimme. Dann begann er unkontrolliert zu schluchzen. Am anderen Ende der Leitung schien es jemandem ähnlich zu gehen.

Ich wischte mir ebenfalls die Tränen aus den Augen. Mann, das war mal wieder eine ergreifende Situation.

Es dauerte bestimmt eine Minute, bis Thomas sich wieder einigermaßen im Griff hatte.

»Ach, mir geht’s ganz gut«, sprach er schließlich in den Hörer.

Es folgte eine Pause.

»Ich bin hier in so ‘ner komischen Klinik. Bad Neuheim oder so.«

Jetzt war es aber wirklich an der Zeit, dass ich die beiden alleine ließ. Ich deutete mit dem Zeigefinger an die Zimmerdecke.

Thomas nickte. Er hatte verstanden. Ich würde oben auf dem Dach auf ihn warten. Wenn er dieses Gespräch erst einmal beendet hatte, würden zwei oder drei Zigaretten wohl nicht reichen.

Ich verließ das Zimmer, holte mir schnell einen meiner Romane und meine Daunenjacke und fuhr dann in den obersten Stock. Wieder hatte sich keine Menschenseele hierher verirrt. Ich blickte durch die breite Glasfront nach draußen. Es regnete. Ich hatte vorhin in Thomas’ Zimmer gar nicht bemerkt, dass es damit angefangen hatte. Die Detektivarbeit am Telefon hatte mich wohl so sehr in Anspruch genommen, dass ich kein einziges Mal aus dem Fenster gesehen hatte.

Ich setzte mich auf eines der Sofas und schlug mein Buch auf. Natürlich war ich wieder viel zu aufgewühlt, um auch nur einen einzigen Satz bewusst aufzunehmen. Naja, Andreas Steinhöfel würde es mir wohl nicht weiter übel nehmen, wenn ich seinen Roman ‘Die Mitte der Welt’ erst dann las, wenn ich wieder zu Hause war. Was ich hier in der Klinik so alles erlebte, war ohnehin aufregender als jede erfundene Geschichte. Ich legte das Buch zur Seite und schlüpfte in meine Daunenjacke. Wenn es schon mal regnete, musste ich das schließlich ausnützen. Ich schloss den Reißverschluss bis zum Kinn, holte die dünne Kapuze aus dem Jackenkragen und zog sie mir über den Kopf. So verpackt trat ich hinaus auf die Terrasse.

Ich stellte mich ganz nach vorne an das Geländer, ließ den Regen auf mich herabtropfen und blickte in die Ferne. Nicht, dass man von hier aus besonders weit sehen konnte. Hinter den Baumskeletten entlang der Straße waren gerade noch die Häuser eines Nachbarortes zu erkennen, der höchstens zwei Kilometer entfernt lag. Ich zog die Kapuze noch etwas fester zu und vergrub meine Hände dann in den Jackentaschen. Der Wind kam von hinten und blies mir die Regentropfen so wenigstens nicht ins Gesicht. Ich ließ meinen Blick schweifen und fragte mich, ob es irgendwo da draußen einen netten, einfühlsamen schwulen Jungen gab, für den Sex nicht unbedingt an erster Stelle stand und der es vielleicht stattdessen genauso genoss wie ich, mit einer Kapuze auf dem Kopf im Regen zu stehen und den Regentropfen zuzuhören, wie sie auf die Kapuze niederprasselten. Oder war ich da vielleicht doch der Einzige auf diesem Planeten, der so etwas mochte? Und wie sollte ich diesen anderen Jungen, falls er denn wirklich existierte, jemals finden?

‘I’m a creep. I’m a weirdo. What the hell am I doing here? I don’t belong here.’

Der Text eines Songs von Radiohead ging mir durch den Kopf. Eigentlich wusste ich gar nicht so genau, ob der überhaupt zu meiner Situation passte. Vielleicht sollte ich endlich mal genauer hinhören, wenn das Lied wieder einmal im Radio gespielt wurde. Zumindest gefiel mir dieser Refrain irgendwie.

Nach einer Viertelstunde wurde es mir dann doch zu nass. Irgendwie war die dünne Kapuze nicht besonders wasserdicht. Ich ging wieder nach drinnen und entledigte mich meiner inzwischen patschnassen Daunenjacke. Eigentlich hatte ich gedacht, dass Thomas jetzt bald kommen würde. Er war einfach nicht der Typ, bei dem ich mir vorstellen konnte, dass er stundenlange Telefongespräche führte, auch wenn am anderen Ende der Leitung sein Boyfriend war, den er seit Wochen nicht mehr gesehen hatte. Aber vielleicht war Stefan ja gesprächiger. Und der würde wohl auch genug zu erzählen haben. Zum Beispiel von seinem Coming-Out bei seiner Familie.

Nervös lief ich eine Weile hin und her und hörte zu, wie der Aufzug mal nach oben, mal nach unten fuhr. Bis hier herauf kam er die ganze Zeit über nicht. Irgendwann setzte ich mich dann wieder auf die Couch.

Als nach über einer Stunde doch endlich die Fahrstuhltüre aufging, hatte ich schon fast nicht mehr damit gerechnet, dass Thomas überhaupt noch kommen würde. Eigentlich hatte ich ja auch erwartet, dass er dann zumindest über das ganze Gesicht strahlen würde, aber als er jetzt tatsächlich hier auftauchte, wirkte er eher deprimiert.

»Oh Mann, ich hab da wohl echt ganz schön Scheiße gebaut«, war das Erste, was er sagte. »Stefan ging’s ganz schön dreckig in letzter Zeit. Und ich bin schuld dran, weil ich mich nicht bei ihm gemeldet hab!«

»Und sonst? Was ist jetzt mit euch beiden?«, wollte ich neugierig wissen.

Endlich lächelte er mich an.

»Er will herkommen, gleich morgen!«

»Hey, dann ist also zwischen euch alles in Ordnung?«

»Ich glaub schon.«

Na also, jetzt strahlte er doch noch.

»Meinst du, er kann hier über Nacht bleiben, so über’s Wochenende?«, wollte Thomas von mir wissen. Er schien bei diesem Gedanken ganz aufgeregt zu sein.

»Wer sollte was dagegen haben? Außer den Putzfrauen kommt ja niemand in die Zimmer. Und am Wochenende kümmert sich kein Schwein darum, wer alles in der Klinik rumläuft.«

»Nicht, dass wir Ärger bekommen.«

»Die werden uns schon nicht gleich rauswerfen.«

Hoffentlich stimmte das auch. So ganz sicher war ich mir da dann doch nicht. Während ich noch darüber nachdachte, holte Thomas seine Zigaretten und sein Feuerzeug aus einer der Taschen seiner Cargopants. Darauf hatte ich ja schon gewartet.

»Scheiße, jetzt hab ich nicht mal meine Jacke mitgebracht«, fluchte er, als er draußen den Regen sah.

»Deine hat ja sowieso keine Kapuze, oder?«

»Nö.«

»Du kannst ja meine nehmen.«

»Und du?«

»Naja, ich bleib halt in der Tür stehen. Außerdem war ich grad schon draußen. Ich muss da jetzt nicht noch mal raus.«

Eigentlich hatte ich ja jetzt mit irgendeiner Reaktion von ihm gerechnet. Dass er mir die Frage stellen würde, warum ich denn bei diesem Wetter überhaupt draußen gewesen war. Oder dass er vielleicht gleich irgendeine Bemerkung über meine Leidenschaft für Kapuzen machen würde. Aber ich hatte wohl vergessen, dass ich es hier mit Thomas zu tun hatte. Und der hatte eben irgendwie kein so rechtes Gespür dafür, was andere Leute so fühlten. Wie anders war es zu erklären, dass er bis gestern anscheinend nicht einen Moment daran gedacht hatte, dass Stefan sich vielleicht wahnsinnige Sorgen um ihn machen könnte?

So reichte ich ihm einfach meine Daunenjacke. Die war inzwischen wieder ziemlich trocken. Er schlüpfte hinein und schloss den Reißverschluss. Während er sich die erste Zigarette anzündete, öffnete ich ihm die Türe und er trat hinaus ins Freie. Mein Blick fiel auf die Kapuze, die lose an seinem Rücken herabhing. Eigentlich hätte ich ihn ja gerne mal mit dieser Kapuze auf dem Kopf gesehen, aber da er sie nicht von selbst aufsetzte, wollte ich ihn auch nicht darauf ansprechen. Er lehnte sich mit der Schulter gegen die Glasfront. So dicht an der Wand war er sowieso ganz gut vor dem Regen geschützt. Ich stellte einen Fuß in die Tür und sah durch den offenen Spalt zu ihm hinaus.

Schweigend rauchte er die erste Zigarette. Seine kurze Euphorie war bereits wieder verflogen und hatte einer eher nachdenklichen Stimmung Platz gemacht. Im Moment schien ihm nicht nach Reden zumute zu sein. Als er sich den zweiten Glimmstängel angesteckt hatte, sah er mich an.

»Mann, wenn du nicht gewesen wärst …«, sagte er leise. »Ich glaub, von alleine hätte ich da nie angerufen.«

Naja, damit hatte er wahrscheinlich Recht.

»Stefan hat die erste Woche jeden Morgen vor der Schule auf mich gewartet. Der hat extra die Schicht getauscht deswegen. Mann, dabei war ich die ganze Zeit bei ihm im Krankenhaus! Und er läuft währenddessen in der ganzen Stadt rum und sucht nach mir!«

Thomas schüttelte fassungslos den Kopf.

»Warum hab ich Idiot mich nie bei ihm gemeldet? Ich hätte ja im Krankenhaus nur irgendwen nach ihm fragen müssen. Es hätte ihm ja nur irgendjemand Bescheid sagen müssen, dass ich da rumlieg!«

»Hey, du hast halt vorher nie die Erfahrung gemacht, dass sich jemand so richtig Sorgen um dich macht.«

Die Erklärung schien Thomas nicht ganz zufrieden zu stellen. Wieder setzte Schweigen ein. Während er darüber nachbrütete, was er in den letzten Wochen alles hätte anders machen können, fragte ich mich, was Stefan ihm in der letzten Stunde wohl noch so alles erzählt hatte.

»Kannst du dich mal schlaumachen, wie Stefan am besten vom Bahnhof hierher kommen kann?«, fragte mich Thomas dann, als er die zweite Zigarette ausdrückte.

Schon wieder sorgte er dafür, dass ich auch wirklich immer gut beschäftigt war.

»Vielleicht kann Ludwig ihn ja …«, setzte ich an.

Ich brach den Satz ab. Das war keine gute Idee. Zumindest dann nicht, wenn wir Stefan hier so einfach ohne Absprache mit Frau Fröschl oder der Klinikleitung hereinschmuggeln wollten.

»Naja, sicher gibt’s irgend ‘ne Busverbindung«, sagte ich stattdessen. »Ich kann ja mal ganz unauffällig an der Rezeption nachfragen.«

»Hey, gut!«

»Vom Ort aus muss er dann eben laufen. Oder wir holen ihn da ab.«

Ich hatte keine Ahnung, wo es in Bad Neuheim überall Bushaltestellen gab. Danach würde ich mich wohl auch erkundigen müssen.

»Kannst du gleich mal gehen? Dann kann ich Stefan nachher noch mal anrufen.«

Eigentlich hatte ich ja gehofft, zuerst einmal noch mehr über das erste Telefonat zu erfahren.

»Ich wart solange hier«, fügte Thomas noch hinzu.

Wenn er mich so drängte, dann blieb mir wohl nichts anderes übrig. Ich ließ ihn also mit meiner Daunenjacke alleine da draußen stehen, gab die Hoffnung endgültig auf, ihn doch noch mit der Kapuze auf dem Kopf sehen zu dürfen, und fuhr hinunter ins Erdgeschoss.

In der Cafeteria traf ich auf die drei Mädchen. Ich erzählte ihnen kurz von den neuesten Ereignissen und von unserem Plan mit Stefan. Sofort sagten sie mir ihre Unterstützung zu. Naja, auf die Drei war eben Verlass.

Dann fragte ich an der Rezeption nach den Busverbindungen zwischen der Stadt und Bad Neuheim. Ohne irgendwelche lästigen Nachfragen erhielt ich eine Kopie des kompletten Fahrplans. Sogar eine kleine Karte von Bad Neuheim war darauf zu sehen, auf der die Haltestellen markiert waren.

Als ich wieder zurück nach oben kam, saß Thomas bereits drinnen auf dem Sofa. Meine Jacke lag auf einem der Sessel.

»Und? Fährt ein Bus?«, wollte er sofort wissen.

»Naja, die Busverbindung hierher ist nicht so besonders. Aber um 17.25 Uhr geht ein Bus. Wenn Stefan den nimmt, dann ist er kurz vor sechs in Bad Neuheim. Dann hätten wir immerhin mehr als genug Zeit, um nach der Gruppensitzung in den Ort zu laufen und ihn an der Haltestelle am Ortsplatz abzuholen. Passt doch ganz gut, oder?«

Thomas war richtig begeistert. Naja, dann hatte sich meine Recherche wenigstens gelohnt.

Ich ging mit ihm hinunter in sein Zimmer. Er wollte Stefan gleich von den Neuigkeiten berichten. Diesmal hatte er ihn auch sofort am Telefon und erzählte ihm, dass er kommen und über das Wochenende hier bleiben konnte.

Dann reichte er mir den Hörer, damit ich kurz mit Stefan die Einzelheiten besprechen konnte. Naja, Thomas hatte eben kein großes Organisationstalent. Auf diese Weise lernte ich Stefan zumindest schon mal am Telefon kennen.

»Hi Stefan, ich bin David«, sprach ich in den Hörer.

»Hallo! Thomas hat mir schon ein bisschen was von dir erzählt.«

»Aha«, antwortete ich kurz.

Was genau hatte Thomas da wohl über mich gesagt?

»Du warst es also, der Thomas endlich dazu gebracht hat, mich anzurufen.«

»Ja, sieht so aus.«

»Hey, da muss ich mich dann wohl echt bei dir bedanken.«

»Schon okay.«

Am anderen Ende der Leitung hörte ich Stefan seufzen.

»Warum hat er sich denn nicht früher gemeldet? Er weiß doch, wie viel er mir bedeutet.«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.

»Naja, es war gar nicht so einfach, dich ausfindig zu machen«, stammelte ich in den Hörer.

Noch einmal hörte ich Stefan seufzen. Er schien immer noch ziemlich mitgenommen zu sein.

Dann erklärte ich ihm das mit der Busverbindung. Es stellte sich heraus, dass er sich inzwischen bereits selbst nach den Zugfahrplänen erkundigt hatte. Er hatte einfach nicht still herumsitzen und darauf warten können, bis Thomas sich wieder bei ihm meldete. Dabei hatte man ihm auch gleich mitgeteilt, mit welchem Bus er weiterfahren musste, um nach Bad Neuheim zu gelangen. Eigentlich brauchte ich ihm nur noch zu erklären, an welcher Haltestelle wir auf ihn warten würden. Er schien ein recht cleveres Kerlchen zu sein. Außerdem erschien er mir sofort sympathisch.

Als ich alles Notwendige mit ihm geklärt hatte, überließ ich Thomas wieder den Hörer. Jetzt würden die beiden ja hoffentlich ohne mich klarkommen. Inzwischen war Kevin auch sicher vom Gespräch mit Frau Fröschl und von der Maltherapie zurück. Mal sehen, was der so zu erzählen hatte. Außerdem wollte Kevin jetzt sicher auch wissen, was sich inzwischen bei Thomas und Stefan ergeben hatte. Und das berichtete ich ihm dann auch.

Kapitel 13 – Das Wiedersehen

Die nächsten 24 Stunden mussten für Thomas dann wie eine halbe Ewigkeit erschienen sein. Sein Zigarettenkonsum war jedenfalls dramatisch angestiegen. Die ganze Zeit über war er gespannt vor Erwartung auf das Wiedersehen mit Stefan und auch während der Gruppentherapie am Freitagnachmittag rutschte er ständig nervös auf seinem Stuhl hin und her. Als uns Frau Fröschl dann endlich ins Wochenende entließ, wäre er am liebsten sofort in den Ort zur Bushaltestelle gelaufen. Dann hätten wir dort allerdings wirklich eine halbe Ewigkeit auf die Ankunft des Busses warten müssen.

So machten wir uns dann doch erst kurz nach fünf auf den Weg. Kevin und ich begleiteten ihn. Die Mädchen hatten derweil den Auftrag, uns beim Abendessen einen großen Stapel Brote zu schmieren. Schließlich würden wir nicht vor halb sieben mit Stefan in der Klinik zurück sein. Außerdem konnten wir unseren heimlichen Gast schlecht mit in den Speisesaal nehmen. Ihn in den nächsten Tagen mit Essen zu versorgen, würde wohl ohnehin nicht ganz problemlos werden.

Es dämmerte bereits, als wir losliefen. Das Wetter war an diesem Tag schon wieder besser und wir wurden unterwegs nicht von Regen oder Schnee durchnässt. Natürlich hätte ich gegen etwas Schmuddelwetter nichts einzuwenden gehabt. Ich hatte mir an diesem Tag sogar extra wieder einen Kapuzenpulli angezogen in der Hoffnung, dass es regnen oder schneien würde, wenn wir Stefan abholten. Der Wettergott schien mir diesen Gefallen allerdings nicht zu tun. Die Sweatshirtkapuze konnte ich aber auch so als Schutz gegen die Kälte aufsetzen. Dagegen blieb die dünne Kapuze meiner Daunenjacke eben diesmal im Kragen verpackt. Kevin und Thomas schienen es derweil vorzuziehen, kalte Ohren zu bekommen. Naja, besonders frostig war es eigentlich auch nicht.

»Ich kann’s noch gar nicht glauben, dass Stefan gleich hier sein wird«, sagte Thomas, als wir nach einer guten halben Stunde Fußmarsch die Bushaltestelle erreicht hatten.

»Wie lange hast du ihn jetzt nicht gesehen?«

»Fünf Wochen oder so«, antwortete er schulterzuckend.

»Naja, noch ein paar Minuten, dann hast du ihn wieder.«

Inzwischen war es richtig dunkel geworden. Der gepflasterte Ortsplatz bildete einen großen Halbkreis, der von nostalgisch anmutenden Lampen in ein angenehmes Licht getaucht wurde. An der geraden Seite des Platzes führte die Hauptstraße vorbei. Hier befand sich auch das Buswartehäuschen. Um den Halbkreis herum lagen neben dem Rathaus und einem griechischen Restaurant auch ein paar Geschäfte. Jetzt am Freitagabend konnte man gut die letzten Kunden in den erleuchteten Läden beim Einkaufen beobachten.

Ich sah auf meine Uhr. Wir waren immer noch über eine Viertelstunde zu früh. Damit Thomas nicht ständig unruhig von einem Fuß auf den anderen trat und uns mit seiner Nervosität noch ansteckte, schlenderten wir lieber noch etwas über den Platz. Wir inspizierten den Brunnen in der Mitte, der um diese Jahreszeit natürlich nicht in Betrieb war, und beobachteten die Passanten. Ich hielt Ausschau nach hübschen Jungs in mit Kapuzen ausgestatteten Winterjacken, aber das Schicksal meinte es auch in dieser Hinsicht nicht gut mit mir. Wurden Kurorte eigentlich grundsätzlich nur von Leuten über 50 bevölkert?

Fünf Minuten vor der planmäßigen Ankunftszeit setzten wir uns dann auf die Bank des Wartehäuschens. Thomas sah inzwischen alle paar Sekunden auf die Uhr. Immer wieder sprang er auf, um auf der Straße Ausschau nach dem Bus zu halten.

»Hey, das isser, oder?«, rief er uns irgendwann zu.

Hinter den näher kommenden Autos waren jetzt auch die Scheinwerfer eines größeren Fahrzeugs aufgetaucht. Durch die beleuchtete Fahrziel-Anzeige hinter der Windschutzscheibe konnte man es bald eindeutig als Linienbus identifizieren. Es war einer dieser überlangen Dreiachser, bei denen ich mich immer fragte, wie die überhaupt um die Kurven kamen. Der Fahrer setzte den Blinker und bog langsam in die Haltebucht ein. Nun sprangen auch Kevin und ich auf. Eigentlich hatten wir ja geplant, uns erst einmal im Hintergrund zu halten, damit sich Thomas und Stefan in Ruhe begrüßen konnten, aber nun hielt uns auch nichts mehr auf unseren Sitzen. Ich streifte mir die Kapuze vom Kopf. Schließlich wollte ich Stefan zur Begrüßung nicht so vermummt gegenübertreten.

Noch bevor der Omnibus zum Stillstand gekommen war, blickte Thomas auch schon durch die Seitenscheiben in das Fahrzeug hinein. Da die Innenbeleuchtung bereits eingeschaltet war, konnte man gut die Gesichter der Fahrgäste erkennen. Einige standen bereits im Mittelgang und machten sich zum Ausstieg bereit. Schließlich öffnete der Fahrer die beiden Türen und die ersten Passagiere strömten die Stufen herab ins Freie.

»Scheiße! Ich glaub, er ist nicht dabei!«, schrie Thomas plötzlich auf, nachdem ein halbes Dutzend Fahrgäste aus dem Bus gekommen waren und kaum noch weitere zu den Türen drängten.

»Bist du sicher?«, fragte ich zurück.

»Ja, verdammt!«

Inzwischen kamen schon die beiden letzten ausstiegswilligen Passagiere durch die breite Mitteltüre heraus. Schnell lief ich nach vorne zum Fahrer.

»Warten Sie bitte einen Moment!«, rief ich ihm durch die zum Glück noch geöffnete vordere Türe zu.

Er sah mich verwundert an. Ich winkte Thomas zu und deutete ihm an, dass er nachsehen solle, ob Stefan vielleicht noch im Bus saß. Sofort stieg er durch die Mitteltür ins Fahrzeug. Während er durch den Gang lief und die noch im Bus sitzenden Passagiere der Reihe nach musterte, fragte ich den Fahrer, ob er einen Jungen in unserem Alter bemerkt hatte, der vielleicht schon an einer der anderen Haltestellen ausgestiegen war.

»Weißt du eigentlich, wie viel junge Leute hier mitfahren?«, bekam ich etwas schroff als Antwort. »Und an jeder Haltestelle steigen ein paar davon aus.«

Naja, auf dumme Fragen bekam man eben manchmal auch dumme Antworten. Wie sollte der Fahrer mir auch weiterhelfen können, wenn ich nicht einmal wusste, wie Stefan überhaupt aussah?

Thomas war inzwischen durch den Mittelgang nach vorne gekommen. Er schüttelte enttäuscht den Kopf, als ich ihn fragend anblickte. Ich dankte noch kurz dem Busfahrer, der schon ungeduldig darauf wartete, dass wir endlich wieder verschwanden. Dann verließen wir das Fahrzeug wieder. Der Fahrer schloss die Türen und der Bus setzte sich hinter uns in Bewegung. Nun standen wir wieder alleine vor dem gläsernen Wartehäuschen.

»Verdammte Scheiße!«, entfuhr es Thomas.

Er wirkte richtig verzweifelt.

»Er wollte doch kommen! Warum ist er jetzt nicht da?«, jammerte er.

Kevin und ich sahen ihn hilflos an.

»Vielleicht ist er ja wirklich nur an der falschen Haltestelle ausgestiegen«, versuchte ich ihn schließlich zu beruhigen.

»Ach wo! Du hast ihm doch ganz genau beschrieben, wo er aussteigen muss.«

Das stimmte. Der Ortsplatz war aber trotzdem bereits die zweite Haltestelle in Bad Neuheim, die der Bus angefahren hatte. Vorher hatte er schon an der Kirche angehalten. Wenn man von unserer jetzigen Position aus die Straße entlang sah, konnte man hinter den Dächern der Häuser gerade noch die beleuchtete Kirchturmuhr erkennen. Die Distanz war aber zu groß, um auch noch die Uhrzeit ablesen zu können. Ein halber Kilometer lag wohl schon dazwischen.

»Und wenn er doch an der Kirche ausgestiegen ist?«, schaltete sich Kevin ein. »Wir müssen auf jeden Fall mal nachsehen gehen.«

»Hey, Kevin hat Recht. Vielleicht steht er ja dort jetzt ganz verzweifelt herum und wundert sich, warum wir nicht da sind.«

Thomas schien die Hoffnung aber bereits aufgegeben zu haben. Nur widerwillig folgte er uns, als wir die Hauptstraße entlang in Richtung Kirche liefen. Damit Stefan auf keinen Fall unbemerkt an uns vorbeilaufen konnte, beäugten Kevin und ich alle Passanten auf beiden Gehsteigen. Das war keine besonders schwierige Aufgabe, da in dem verschlafenen Örtchen um diese Uhrzeit kaum noch etwas los war. Thomas trottete derweil missmutig mit gesenktem Kopf hinter uns her.

»Hey, Thomas!«, rief Kevin plötzlich. »Isses vielleicht der da vorne?«

Er deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite. Sechs oder sieben Häuser weiter näherte sich uns dort ein Junge, der eine große Tasche geschultert hatte.

Thomas blickte auf. Im nächsten Moment rannte er auch schon los.

»Stefan! Stefan!«, schrie er und fuchtelte dabei wild mit den Armen in der Luft herum, um seinen Freund auf sich aufmerksam zu machen. Zwei vorbeifahrende LKWs, die einerseits einen Heidenlärm machten und andererseits auch noch die Sicht auf die andere Straßenseite versperrten, ließen mich im ersten Moment daran zweifeln, ob diese Aktion besonders sinnvoll war. Stefan schien uns aber bereits von selbst entdeckt zu haben.

Dann standen sich die beiden gegenüber. Stefan auf der rechten, Thomas auf der linken Straßenseite. Thomas nutzte dann auch die nächste Lücke im Verkehr und rannte zu Stefan hinüber, der inzwischen seine Tasche abgestellt hatte. Es folgten eine lange Umarmung und ein inniger Kuss.

Kevin und ich waren unterdessen stehen geblieben und beobachteten die beiden aus einiger Entfernung, wie sie ihr Wiedersehen genossen.

Es dauerte wohl ein paar Minuten, bis sich die beiden wieder voneinander lösten. Dann mussten sie sich erst einmal ein paar Tränen aus den Augen wischen. Schließlich griff Stefan wieder nach seiner Tasche und kam mit Thomas zu uns herüber. Kevin und ich begrüßten den Neuankömmling.

»Hallo, ich bin David. Wir haben schon mal am Telefon miteinander gesprochen«, sagte ich, als ich Stefan die Hand schüttelte.

»Hallo, schön dich jetzt auch richtig kennen zu lernen.«

»Und das da ist Kevin.«

Jetzt war Kevin mit dem Händeschütteln an der Reihe.

»Hey, jetzt bin ich doch tatsächlich an der falschen Haltestelle ausgestiegen«, meinte Stefan, nachdem wir die Begrüßungszeremonie hinter uns gebracht hatten.

»Naja, wir haben dich ja trotzdem noch gefunden.«

»Ich hab noch extra den Mann gefragt, der neben mir im Bus gesessen ist. Ich dachte halt, der kennt sich hier aus. Und der hat gemeint, dass der Platz vor der Kirche der Ortsplatz ist. Naja, ein Platz war da ja auch, nur eben kein halbrunder, wie du extra noch gesagt hast. Aber bevor ich hier in dem Ort überhaupt nicht mehr aus dem Bus rauskomme, bin ich halt sicherheitshalber dort ausgestiegen.«

»Thomas hatte schon Angst, dass du überhaupt nicht kommst.«

»Und ich hatte Angst, dass ihr vielleicht schon wieder zurück zu dieser Klinik gelaufen seid. Aber ich hätte mich schon durchgefragt.«

Erst jetzt kam ich dazu, Stefan genauer zu betrachten. Er war ziemlich schlank, etwa so groß wie Thomas und sah mit seinem dunkelblonden Wuschelkopf eigentlich ganz gut aus, auch wenn er nicht unbedingt das Zeug zum Model hatte. Er trug eine Brille, die gut zu seinem Typ passte, und hatte in einem Ohr einen relativ unauffälligen Ohrstecker. Sein Oberkörper steckte in einem dicken schwarzen Lederblouson mit Fellkragen. Stefan schien also auch einer der Menschen zu sein, die ganz gut ohne Kapuzen auskamen. Konnte ich gar nicht verstehen. Obwohl er mir ganz gut gefiel, fand ich ihn auch wieder nicht so umwerfend, dass Thomas sich jetzt Sorgen machen musste, dass ich ihm seinen Freund ausspannen würde. Nicht, dass ich an so etwas auch nur im Traum gedacht hätte.

Wir machten uns auf den Rückweg. Unterwegs erfuhren Kevin und ich dann endlich, was Stefan in den letzten Wochen alles durchgemacht hatte. Thomas war in dieser Hinsicht bisher recht schweigsam gewesen und hatte uns nur wenig von dem erzählt, was er von Stefan am Telefon erfahren hatte. Bisher hatten wir uns deswegen noch vieles selbst zusammenreimen müssen. Jetzt beseitigte Stefan die noch vorhandenen Unklarheiten.

In den Tagen nach dem Vorfall vor dem Wohnheim hatte Stefan tatsächlich jeden Vormittag vor der Realschule auf Thomas gewartet und dazu extra mit dieser Lernschwester Melanie die Schicht getauscht. Vor dem Unterricht, während der Pause, immer war er dort gewesen, meistens gut versteckt, damit er nicht aus Versehen Thomas’ Vater in die Arme laufen konnte. Er hatte schließlich nicht ausschließen können, dass der jetzt seinen Sohn höchstpersönlich zur Schule brachte und wieder abholte. Thomas war aber nie aufgetaucht. Seine Mitschüler hatten auch nichts von ihm gehört. Um 13 Uhr hatte Stefan dann immer im Krankenhaus seine Schicht antreten müssen. Nie hatte er etwas davon mitbekommen, dass Thomas während dieser Zeit nur ein paar Meter weiter in einem anderen Stockwerk auf einer anderen Station in einem der Krankenzimmer gelegen hatte. Stattdessen hatte er sich die ganze Zeit über kaum auf seine Arbeit konzentrieren können und wäre am liebsten den ganzen Tag über durch die Stadt gestreift, um dort nach Thomas zu suchen. Fast jede Nacht hatte er sich in seinem Wohnheimzimmer in den Schlaf geweint und darauf gehofft, dass Thomas inzwischen wieder von zu Hause ausgerissen war und im nächsten Moment an der Tür klingeln würde. Jeden Tag hatte er daran gedacht, bei Thomas zu Hause anzurufen. Ein paar Mal hatte er das sogar gemacht. Da Thomas nie selbst am Telefon war, hatte er immer sofort wieder aufgelegt. Wie hätte er auch nach Thomas fragen sollen? Schließlich wollte er nicht, dass Thomas wegen seines Anrufs noch mehr Ärger bekam.

Nach anderthalb Wochen war Stefan dann krank geworden. Irgendeine Magen-Darm-Geschichte. Ob ihm die nervliche Belastung so zugesetzt hatte oder ob er sich irgendeinen Virus eingefangen hatte, konnte er nicht sagen. Auf jeden Fall hatte er sich krankschreiben lassen und war mit dem Bus nach Hause zu seinen Eltern gefahren, die 30 Kilometer entfernt in einem kleinen Ort mit ein paar Hundert Einwohnern lebten. Dort hatte die Familie tatsächlich einen Bauernhof, allerdings nur einen relativ kleinen Nebenerwerbsbetrieb. Stefans Vater arbeitete eigentlich in einer Fabrik.

Seine Mutter hatte bald bemerkt, dass Stefan nicht nur unter einer Darmgrippe litt, sondern dass auch etwas anderes mit ihm nicht stimmte. Nach ein paar Tagen hatte er sich ihr dann anvertraut. Er hatte ihr offenbart, dass er schwul war und dann die ganze Geschichte mit Thomas erzählt. Der Druck, der auf ihm lastete, war zu diesem Zeitpunkt einfach zu groß geworden. Er hatte das alles einfach nicht mehr für sich behalten können. Zu Stefans Erleichterung hatte seine Mutter recht positiv reagiert. Sie war wohl einfach erleichtert gewesen, endlich zu erfahren, worunter ihr Sohn so litt. Bei Stefans Vater war das schon komplizierter gewesen. Der war ziemlich konservativ und Stefan hätte sich niemals getraut, ihm selbst zu erzählen, dass er schwul war. Diese Aufgabe hatte dann seine Mutter übernommen. Sie hatte es ihm wohl auch ziemlich schonend beibringen müssen, damit er nicht unüberlegt darauf reagierte. Stefan hatte jedenfalls keinen Ärger mit seinem Vater bekommen. Allerdings schien dieser es vorzuziehen, das Thema totzuschweigen und seinem schwulen Sohn so weit es möglich war aus dem Weg zu gehen. Stefan hoffte aber, dass sich das Verhältnis zwischen den beiden bald wieder verbessern würde.

Als es Stefan nach knapp zwei Wochen körperlich wieder so gut gegangen war, dass ihn der Arzt unmöglich noch länger krankschreiben konnte, hatte seine Mutter dafür gesorgt, dass er noch zwei Wochen Urlaub bekam.

Während all der Wochen hatte sie ihn häufig in die Stadt gefahren, damit er weiter nach Thomas suchen konnte. Die Suche war natürlich erfolglos geblieben. Zu dieser Zeit war Thomas ja auch bei seiner Oma oder bereits bei uns in der Klinik gewesen. Irgendwann hatte Stefan die Suche dann fast ganz aufgegeben. Diese Woche war er nur noch ein einziges Mal in der Stadt gewesen. Dann war der Anruf gekommen.

»Hey, ihr könnt euch echt nicht vorstellen, wie erleichtert ich war!«, beendete Stefan seinen Bericht. »Ich hab mich immer gefragt, warum er nicht mehr in die Schule kommt. Ich hab mir die schlimmsten Dinge vorgestellt, die sein Vater mit ihm angestellt haben könnte. Man kommt da echt auf verrückte Ideen. Manchmal hab ich mich sogar gefragt, ob er überhaupt noch lebt!«

Thomas sah ihn mit seinem Dackelblick an, als er den letzten Satz ausgesprochen hatte.

»Hey, jetzt hab ich dich ja wieder!«, reagierte Stefan sofort.

Die beiden blieben stehen, umarmten sich und gaben sich einen Kuss. Eng umschlungen standen sie eine Weile da, direkt neben dem kleinen zugefrorenen See, auf dessen Eis sich die Lichter der Klinik spiegelten, die zwei- oder dreihundert Meter vor uns lag.

Als sich die beiden wieder voneinander lösten, erzählte Stefan weiter.

»Naja, als Thomas mir dann am Telefon gesagt hat, dass er versucht hat, sich umzubringen, hab ich noch mal ‘nen ganz schönen Schreck bekommen. Und dann noch die Sache mit dem Krankenhaus! Mann! Da liegt er nur ‘n paar Meter weiter und ich lauf durch die ganze Stadt und such ihn dort.«

Stefan schüttelte fassungslos den Kopf.

Inzwischen hatten wir den See hinter uns gelassen. Die Klinik lag nun direkt vor uns. Die Gefahr, dass Stefan mit seiner Tasche irgendeinem Mitglied des Klinikpersonals auffiel, war zwar gering. Trotzdem war ich nervös, als wir die Klinik durch den Kellereingang betraten. Glücklicherweise war der Eingangsbereich menschenleer. Der Fahrstuhl war auch schon nach wenigen Sekunden da. Wir fuhren hinauf zu unseren Zimmern. Auch durch den langen Gang kamen wir, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Dann verschwand Stefan mit Thomas im Zimmer.

Wir versorgten die beiden noch mit einem großen Essenstablett, das die Mädchen vorbereitet hatten. Dann ließen wir sie für den Rest des Abends allein. Es war nur zu verständlich, dass Thomas und Stefan erst einmal unter sich sein wollten. Natürlich fragte ich mich, was die beiden im Zimmer so alles anstellten. Hoffentlich waren sie nicht zu laut. Die Wände waren hier nicht besonders dick. Laute Geräusche waren da schon mal bis auf den Gang oder bis ins Nachbarzimmer zu hören.

Auch den nächsten Tag verbrachten die beiden zum größten Teil alleine. Gleich nachdem sie in Thomas’ Zimmer gefrühstückt hatten, gingen sie in den Ort und kamen erst am späten Nachmittag zurück. Dann setzten wir uns zusammen in den Raum oben auf dem Klinikdach. Nur wir Jungs, damit Stefan sich nicht so vorkam, als säße er auf dem Präsentierteller.

Stefan erzählte uns bei dieser Gelegenheit dann noch etwas mehr über sich. Vor einem halben Jahr hatte er die Ausbildung zum Krankenpfleger begonnen. Ein wichtiger Grund für seine Berufswahl war gewesen, dass er dadurch im Personalwohnheim unterkommen konnte und endlich nicht nur stundenweise aus seinem kleinen Kaff herauskam. Langenbergen war zwar auch nicht gerade eine Großstadt und so etwas wie eine Gruppe für schwule Jugendliche gab es dort ebenfalls nicht, trotzdem hatte er sich von Anfang an die Hoffnung gemacht, in der Stadt irgendwie einen Boyfriend zu finden. In seiner Freizeit war er dann auch häufig stundenlang durch die Stadt gestreift. Dass sich Stefan und Thomas dann irgendwann in einem Kaufhaus kennen gelernt hatten, war wohl ein glücklicher Zufall gewesen. Thomas hatte sich an einem Nachmittag wie so häufig gelangweilt und in Ermangelung anderer Beschäftigungsmöglichkeiten die Musikabteilung durchstöbert. Stefan war dort auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihn dann einfach angesprochen, nachdem sich die beiden eine Weile gegenseitig beäugt hatten. Für den nächsten Tag hatten sich die beiden dann wieder verabredet. Sie waren zu Stefan ins Wohnheim gegangen und hatten sich dort dann zum ersten Mal geküsst. Damit war für beide ein Traum in Erfüllung gegangen und Thomas hatte außerdem jemanden gefunden, der ihn den Stress mit seinem Vater zumindest für eine Weile vergessen ließ. Die beiden hatten daraufhin drei schöne Monate verlebt, bis dann der Tag gekommen war, an dem der Stammtischbruder von Thomas’ Vater die beiden händchenhaltend in der Stadt gesehen hatte.

»Und dann hat Thomas irgendwann mittags vor meinem Zimmer auf mich gewartet«, beendete Stefan seinen Bericht. »Der hat da schon Stunden gesessen, bis ich endlich von der Frühschicht gekommen bin. Oh Mann, der hat ganz schön schlimm ausgesehen. Sein Vater hat ihn ziemlich zugerichtet.«

»Naja, gegen das, was er dann ein paar Tage später mit mir angestellt hat, war das eigentlich noch harmlos«, warf Thomas ein. Dann atmete er tief durch und stand auf.

»So, ich brauch jetzt erst mal wieder ‘ne Kippe. Kommt wer mit raus?«

Stefan sah mich flehentlich an und schüttelte dabei leicht mit dem Kopf. Ich wusste nicht genau, was er mir damit mitteilen wollte. Die Stimmung zwischen ihm und Thomas schien etwas angespannt zu sein, seit sie aus dem Ort zurückgekommen waren. Während Stefan erzählt hatte, war Thomas nur kleinlaut herumgesessen und hatte kaum ein Wort gesagt.

»Hey, geh mal alleine«, forderte ich Thomas deshalb auf. »Oder brauchst du jedes Mal Gesellschaft, da draußen in der Kälte?«

»Okay, wenn’s euch zu kalt ist, dann bleibt ihr halt hier drinnen.«

Als Thomas sich dann draußen auf der Terrasse die erste Zigarette anzündete, nickte mir Stefan dankbar zu.

»Ich wollte mal mit euch beiden alleine reden«, sagte er leise und blickte dabei durch die Scheiben nach draußen, um sicherzustellen, dass Thomas sich nicht weiter um uns kümmerte, während wir uns unter sechs Augen unterhielten.

»Wisst ihr, als Thomas sich endlich bei mir gemeldet hat, da war ich zuerst mal nur froh und erleichtert. Aber inzwischen stell ich mir halt die Frage, warum er nicht schon früher angerufen hat, viel früher. Er hätte doch schon im Krankenhaus einfach nur nach mir fragen brauchen. Und als er dann bei seiner Oma war, da hätte er mich doch auch anrufen können. Sein Vater hätte doch nichts davon mitbekommen, oder? Warum hat er das nicht gemacht? Ich versteh das einfach nicht! Und er will auch nicht mit mir drüber reden. Er sagt immer nur, dass es ihm leidtut, dass er sich nicht früher gemeldet hat.«

Ich wusste nicht so recht, was ich antworten sollte. Kevin zuckte auch nur hilflos mit den Schultern.

»Da solltest du vielleicht besser unsere Psychologin fragen«, antwortete ich deshalb nach einigem Zögern. »Mir ist auch nicht ganz klar, was so in ihm vorgeht. Aber wenn du mich fragst, dann hatte er wohl einfach Angst, dass dich die Begegnung mit seinem Vater so geschockt hat, dass du deswegen nichts mehr mit ihm zu tun haben wolltest.«

»Aber mir war doch auch schon vorher klar, was für ein Arschloch sein Vater ist. Schließlich hab ich bei Thomas die ganzen Wunden und blauen Flecken versorgt, als er von zu Hause ausgerissen war. Klar, ich hab ziemlich Schiss gehabt, als dieser Typ dann unten vor dem Wohnheim stand. Vielleicht hätte ich da nicht einfach abhauen sollen, aber ich hatte halt eine Scheißangst vor diesem Kerl! Was hätte ich denn sonst machen sollen?«

Stefan blickte uns verzweifelt an.

»Hey, du hättest gar nichts machen können. Als sein Vater vor ein paar Tagen hier aufgekreuzt ist, waren wir zu sechst und hatten trotzdem total Schiss!«

»Ja, das hat Thomas mir erzählt. Ich frag mich trotzdem, ob er’s mir vielleicht doch übel genommen hat, dass ich da einfach so verschwunden bin, anstatt ihm beizustehen. Kann’s sein, dass er sauer auf mich war und sich deswegen nie gemeldet hat?«

»Nein, das glaub ich nicht«, antwortete Kevin. »Das hätte er uns bestimmt gesagt.«

»Das seh ich auch so«, fügte ich hinzu. »Daran lag’s ganz bestimmt nicht. Mach dir bloß keine Vorwürfe. Du bist ganz sicher nicht schuld dran, dass sich Thomas nicht bei dir gemeldet hat.«

»Ihr glaubt echt, er hatte nur Angst, dass ich wegen seines Vaters nichts mehr von ihm wissen will? Aber er weiß doch, dass ich ihn liebe, oder nicht?«

»Naja, Thomas hatte halt vorher nie jemanden, der so richtig für ihn da war. Der kennt das eben nicht, dass jemand zu ihm steht, auch wenn’s mal Probleme gibt.«

»Auf jeden Fall hat er dich verdammt vermisst die ganze Zeit über«, fügte Kevin hinzu. »Jedes Mal, wenn wir auf dich zu sprechen gekommen sind, hat er angefangen zu heulen.«

»Echt?«

»Ja, du hast ihm total gefehlt in den letzten Wochen. Er braucht dich!«

Stefan schien jetzt ziemlich erleichtert zu sein.

»Hoffentlich habt ihr Recht! Mir hat das echt zu schaffen gemacht. Ich geh mal zu ihm raus, okay?«

Dann stand er auf und ging nach draußen zu Thomas.

Wir beobachteten die beiden, wie sie auf der Terrasse ein paar Worte wechselten. Ihre Stimmen drangen zwar nicht durch die Scheiben, aber da beide Tränen in den Augen hatten, schien es irgendetwas sehr emotionales zu sein, was sie besprachen. Die Spannung zwischen den beiden schien dadurch auch zu verfliegen, denn Thomas ließ seine Zigarette fallen und die beiden fielen sich in die Arme.

Kevin und ich lächelten uns zu.

»Ich glaub, wir lassen die beiden wieder alleine, oder?«, schlug ich vor.

»Ja, ist wohl besser. Scheint ja wieder alles in Ordnung zu sein zwischen denen.«

Wir standen auf und verschwanden im Aufzug.

Am nächsten Tag hieß es dann schon vormittags Abschied von Stefan zu nehmen. Die Busverbindung am Sonntag war noch schlechter als unter der Woche. Der einzige Bus in die Stadt fuhr kurz nach zwölf am Ortsplatz ab. Außerdem hatte Stefan ja noch eine längere Zugfahrt vor sich. Montags wollte er dann auch endlich wieder seinen Dienst im Krankenhaus antreten. Sein Urlaub war nämlich zu Ende. Und jetzt, wo er Thomas wiederhatte, fühlte er sich auch wieder dazu in der Lage zu arbeiten.

Thomas brachte seinen Freund alleine zurück zum Bus. Die beiden wollten die letzten Minuten wohl noch zu zweit verbringen. Der Abschied schien ihnen ohnehin ziemlich schwer zu fallen.

Als Thomas dann alleine aus dem Ort zurückkam, mussten wir ihn erst einmal etwas aufmuntern. Da Stefan in der nächsten Woche Spätschicht hatte, würde er am nächsten Wochenende nicht kommen können. Die beiden hatten aber vereinbart, dass Thomas stattdessen ihn besuchen sollte. Irgendwie schien Thomas das aber nicht so sehr zu gefallen. Naja, Stefans Mutter wollte ihn kennen lernen und sich dazu am Samstagnachmittag mit den beiden in Langenbergen in einem Café treffen. Darüber war Thomas eben nicht so begeistert. Bei den Erfahrungen mit seinen eigenen Eltern war das auch nur zu verständlich. Außerdem hatte er wohl Angst, in die heimatliche Umgebung zurückzukehren. Schließlich trieb sich da in ein paar Kilometern Entfernung auch sein Vater herum. Und dem wollte er keinesfalls begegnen.

Damit Thomas auf andere Gedanken kam, sorgten wir nachmittags und abends für etwas Abwechslung. In der Klinik gab es auch einen Billardtisch und zwei Tischtennisplatten. Wurde langsam Zeit, dass wir die auch mal nutzten. So ging dann auch noch der Rest des Wochenendes vorüber.

Kapitel 14 – Neue Gesichter

Am Montag hatte uns dann der Klinikalltag wieder. Thomas hatte den Abschied von Stefan doch noch einigermaßen verkraftet. Die beiden würden sich ja bald wieder sehen. Und miteinander telefonieren konnten sie in der Zwischenzeit auch so oft sie wollten. Irgendjemand würde schon für die Telefongebühren geradestehen. Mein Tag war mit der Angstgruppe, dem autogenen Training und der obligatorischen Gruppentherapie jedenfalls gut ausgefüllt. Danach blieb für Kevin und mich gerade noch Zeit, um zum Einkaufen in den Ort zu laufen. Es wurde langsam Zeit, dass wir begannen, für Nadine ein Geschenk zu suchen. Ihr 18. Geburtstag rückte immer näher.

Am Dienstag hatten wir dann alle wieder einen freien Vormittag. Zwei Wochen waren wir nun hier in der Klinik. Das war aber nicht das einzige besondere an diesem Tag. Heute würden auch wieder neue Patienten ankommen. Diesmal hatte sich Nadine genau informiert. Sie hatte die nette Dame hinter der Rezeption ganz schön nerven müssen, bis diese endlich mit der Sprache herausgerückt war und ihr mitgeteilt hatte, dass heute tatsächlich mal wieder eine Gruppe mit Leuten unseres Alters dabei war. Wir erfuhren sogar, dass diese Gruppe aus sechs Mädels und zwei Jungs bestand. Ich konnte also darauf hoffen, dass auch etwas Schnuckeliges für mich dabei war. Naja, meine Hoffnung, dass sich einer der beiden Neuen vielleicht tatsächlich als mein Traumprinz entpuppen würde, war wohl ziemlich naiv. Das war mir auch klar. Aber Träume durfte man ja wohl noch haben, oder? Die Wahrscheinlichkeit, dass auch nur einer der beiden schwul war, war ohnehin denkbar gering. Schließlich war die Schwulenquote unter den jungen männlichen Patienten bereits weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Es wäre schon ein gigantischer Zufall, wenn da jetzt noch einer dazu käme. Und ob der dann wirklich Interesse an mir hätte?

Gespannt auf die Neuen waren wir aber alle. Wir fragten uns, wie die wohl aussahen und warum sie hier waren. Außerdem konnten wir denen dann erst einmal von unseren eigenen Erfahrungen in der Klinik berichten und alle möglichen klugen Ratschläge geben.

Also verbrachten wir den ganzen Vormittag gemeinsam in der Eingangshalle. Und da mussten wir zuerst einmal eine ganze Weile warten. Nadine hatte wohl Recht mit dem, was sie mir bereits an unserem eigenen Anreisetag mitgeteilt hatte. Die meisten neuen Patienten kamen nicht früher, als unbedingt nötig. Das bedeutete, dass viele erst gegen 14 Uhr eintrudeln würden. Aber was hatten wir schon besseres zu tun? Wir verpassten ja nichts, wenn wir hier untätig in der Halle herumhockten.

Kurz vor elf war es dann soweit. Der VW-Bus brachte die ersten Neuankömmlinge. Tatsächlich waren darunter zwei recht junge Mädchen, beide so um die 18 Jahre alt. Eine davon sah ganz gut aus. Das fand zumindest Kevin. Ich konnte ihm da auch nicht widersprechen. Mir wäre aber ein süßer Junge lieber gewesen.

Die neuen wurden an der Rezeption mit der üblichen Prozedur abgefertigt. Ohne groß Notiz von uns zu nehmen, verschwanden sie mit ihren Koffern und Taschen im Fahrstuhl.

Dann wurde es wieder eine Weile ruhig. Erst gegen halb zwölf wurde es auf dem Parkplatz etwas lebendiger. Nach und nach trafen jetzt neue Patienten ein. Naja, hauptsächlich waren es Patientinnen. Die Frauenquote in solchen Kliniken war eben im Allgemeinen recht hoch. Deshalb war das auch keine Überraschung für uns. Einige kamen mit dem eigenen Auto, die meisten wurden von Angehörigen gebracht. Allerdings war zunächst einmal niemand mehr dabei, den ich unserer Altersklasse zuordnen konnte. Die meisten waren wohl Mitte 20 bis Ende 30.

Kurz nach dem Mittagessen bog dann ein kleiner, alter Peugeot in eine nahe gelegene Parklücke ein. Ein junger Mann stieg aus und blickte sich etwas unsicher um. Ich schätzte ihn auf Anfang 20. Er war wohl knapp zwei Meter groß und hatte bereits eine leichte Stirnglatze. Falls dies einer der beiden potentiellen Traumprinzen für mich sein sollte, dann konnte ich ihn als Kandidaten bereits abhaken. Der hier verursachte bei mir leider kein Herzklopfen.

»Gehen wir mal raus und bringen ihm ‘nen Wagen für’s Gepäck?«, schlug Nadine vor. »Der sieht so verloren aus.«

»Hmm, ob ihm das so recht ist, wenn wir ihn alle einfach so überfallen?«, erwiderte ich. »Also mir würde das glaub ich nicht so gefallen.«

Wenn der Typ richtig schnuckelig gewesen wäre, hätte mich natürlich nichts zurückgehalten und ich wäre nur zu bereitwillig Nadines Vorschlag gefolgt. So erinnerte ich mich aber an meine eigenen Gefühle, die ich gehabt hatte, als ich hier angekommen war. Und da war mir Nadines etwas aufdringliche Art überhaupt nicht recht gewesen.

»Ich bring dem jetzt mal ‘nen Wagen.«

Nadine schien sich durch mich von ihrem Vorhaben nicht abbringen zu lassen. So lief sie halt alleine nach draußen, schnappte sich eine der Gepäckkarren und schob diese zu dem Kleinwagen hinüber. Wir beobachteten sie, wie sie dem Neuankömmling die Hand schüttelte und ihm dann half, sein Gepäck auszuladen.

Nach ein paar Minuten betrat sie mit ihm dann die Klinik. Während der junge Mann an der Rezeption von der Klinikangestellten begrüßt wurde, teilte uns Nadine leise mit, dass er Armin hieß, 22 Jahre alt war und Physik studierte. Nachdem er seinen Zimmerschlüssel und die anderen Unterlagen erhalten hatte, winkte sie ihn zu uns herüber. Dann stellte sie uns der Reihe nach vor.

»Wie lange seid ihr schon hier?«, wollte Armin wissen.

»Zwei Wochen«, antwortete Gudrun.

»Und? Wie isses hier so?«

»Ach, ganz okay. Man gewöhnt sich schnell dran.«

»Kannst du mal nachsehen, in welcher Gruppe du bist?«, bat ich ihn neugierig.

»Wo seh ich das?«, fragte er zurück.

»Steht irgendwo auf dem Zettel, den du gerade bekommen hast.«

»Gruppe 2A steht hier«, antwortete er, nachdem er das Blatt kurz überflogen hatte.

Gruppe 2A, das war tatsächlich die Gruppe mit den ganz jungen Patienten. Damit war Kandidat eins nun tatsächlich aus dem Rennen ausgeschieden. Blieb nur noch ein potentieller Traumprinz für mich übrig.

»Warum willst du das wissen?«, fragte er mich.

»Ach, nur so«, wich ich aus.

»Sind sonst schon Leute aus meiner Gruppe da? Wisst ihr das?«

»Zwei junge Mädchen sind schon angekommen«, sprang Nadine ein. »Die müssten eigentlich auch in deiner Gruppe sein.«

»Eine davon sieht ganz gut aus«, meinte Kevin verschmitzt.

»Echt?«

Armin grinste erwartungsvoll zurück. Schwul schien er also sowieso nicht zu sein.

Dann verabschiedete er sich von uns und verschwand im Fahrstuhl.

Ich war etwas enttäuscht. Meine Hoffnungen schienen sich nicht zu erfüllen. Nur noch mit verhaltenem Interesse verfolgte ich, wie weitere Neuankömmlinge dem Klinikbus oder ihren eigenen Autos entstiegen.

Um 13.30 Uhr musste ich schließlich zum autogenen Training. Das war mir ganz recht, denn inzwischen war ich ziemlich frustriert. Etwas Entspannung würde mir also ganz gut tun. Ich lief mit Christina und Gudrun nach oben zum Gruppenraum in den zweiten Stock. Die anderen drei blieben noch eine Weile unten in der Halle.

Mich zu entspannen war diesmal nicht ganz einfach und die Dreiviertelstunde zog sich ziemlich in die Länge. Als ich danach zurück ins Zimmer laufen wollte, versperrte eine noch gut beladene Gepäckkarre den Gang. Notgedrungen blieb ich stehen. Eine Frau, die ich auf Mitte 30 schätzte, stand daneben und blickte durch eine geöffnete Türe in eines der Einzelzimmer auf der rechten Seite des Ganges. Im ersten Moment dachte ich, dass das ihr Zimmer wäre, doch dann erblickte ich einen Jungen, dessen Anblick mein Herz einen Sprung machen ließ. Er kam gerade aus dem Zimmer, um einen der Koffer vom Gepäckwagen zu nehmen. Er war ungefähr in meinem Alter, in etwa so groß wie ich, hatte schwarze, strubbelige Haare und ein ziemlich süßes Gesicht. Richtig aufregend fand ich den Strickpullover, den er anhatte. Der hatte nämlich eine Kapuze.

Kaum hatte ich einen kurzen Blick auf ihn werfen können, verschwand er auch schon wieder mit dem Koffer in seinem Zimmer.

»Ich hab dann alles«, hörte ich ihn rufen.

Dann durfte ich noch einmal kurz seinen Anblick genießen, als er die Türe schloss.

Mein Herz pochte wild. Dann holte mich die Frau, die immer noch neben mir stand, aus meinen Träumen.

»Könnten Sie mal kurz Platz machen?«, bat sie mich. »Ich muss nämlich wieder zurück.«

»Ja, klar.«

Ich quetschte mich dicht an die Wand, so dass sie mit dem Wagen an mir vorbeikam.

»Mein Zimmer ist nämlich im ersten Stock. Der junge Mann hier hatte nur dummerweise sein Gepäck ganz oben auf dem Wagen. Deswegen musste ich mit ihm hoch kommen.«

»Ach so.«

»Dass die da auch nur so wenige von diesen komischen Gepäckwagen haben. Wenn mit diesem Kleinbus da gleich sechs oder sieben Leute auf einmal ankommen, dann können die doch gar nicht ausreichen. Das müssten die Leute von der Klinik doch eigentlich wissen. Warum schaffen die nicht einfach noch ein paar von diesen Wägelchen an. So teuer können die doch nicht sein.«

Sie schien einer dieser Menschen zu sein, die einem pausenlos die Ohren vollplappern konnten, ohne dass man selbst auch nur einen Ton zu sagen brauchte. Ich nahm kaum wahr, was sie so alles von sich gab, während sie den Wagen langsam zurück zum Aufzug bugsierte. Stattdessen starrte ich wie gebannt auf die Zimmertüre, hinter der dieser Junge verschwunden war. Mindestens eine Minute blieb ich so stehen und hoffte darauf, dass er wieder herauskommen würde. Dann kam ich mir doch etwas blöd dabei vor. Was hätte ich auch zu ihm sagen sollen, falls er wirklich die Türe öffnete und mich hier stehen sah? Zwei andere Patienten, die gerade den Gang entlang kamen, sahen mich auch ganz komisch an. Oder bildete ich mir das nur ein?

Ich prägte mir genau die Zimmernummer dieses Boys ein. 228. Dann lief ich langsam den Gang entlang zurück zu meinem Zimmer. Noch ein oder zwei Mal blickte ich zurück. Vielleicht kam er ja doch wieder heraus?

Im Zimmer angekommen ließ ich mich seufzend auf meine Matratze fallen. Kevin lag auf seinem Bett und las. Er legte sein Buch zur Seite und sah zu mir herüber.

»Is was?«, wollte er wissen.

»Hier ist grad so’n junger Typ angekommen. Mann, der ist richtig süß!«

Kevin grinste mich an.

»Jetzt dreh aber nicht gleich durch, ja? Du weißt ja noch nicht mal, ob der überhaupt schwul ist.«

»Ja, das ist mir schon klar, dass der wahrscheinlich nicht schwul ist. Süß isser aber trotzdem.«

Später vor der Gruppensitzung sah ich den Jungen dann wieder, wenn auch nur ganz kurz. Das erste Treffen seiner eigenen Gruppe fand im Nachbarraum statt. Ich stand noch im Vorraum vor dem Fahrstuhl und er huschte schnell an mir vorbei, als er aus seinem Zimmer kam. Sofort war er im Gruppenraum verschwunden, wo bereits einige andere Mitglieder seiner Gruppe warteten. Natürlich hätte ich jetzt durch die geöffnete Türe hineinsehen und ihn dabei beobachten können, wie er sich dort mit den anderen bekannt machte. So neugierig wollte ich dann aber doch nicht sein. Ich würde ihn ja jetzt häufiger sehen.

Das nächste Mal war dies beim Abendessen der Fall. Die Begrüßung durch den Chefarzt dauerte heute anscheinend noch länger als bei uns vor zwei Wochen. Erst kurz nach 18.30 Uhr kamen die Neuen in den Speisesaal geströmt. Zu meinem Pech lag der Tisch dieses süßen Jungen dann auch noch ganz hinten am anderen Ende des Speisesaals. Eine Säule versperrte mir ausgerechnet die Sicht auf seinen Platz. So konnte ich auch jetzt wieder nur einen kurzen Blick auf ihn werfen, als er mit den anderen Mitgliedern seiner Gruppe den Speisesaal betrat und dabei direkt an unserem Tisch vorbeiging. Kurz darauf bediente er sich dann am Büffet. In dem Getümmel wurde er aber meistens von anderen verdeckt und sein Kopf tauchte nur ab und zu für wenige Augenblicke aus der Menge auf.

Als wir selbst mit dem Essen fertig waren, machte Nadine einen Vorschlag, der mich sofort begeisterte.

»Wollen wir die Neuen für heute Abend einladen? Wir könnten uns ja zusammensetzen. Entweder in der Cafeteria oder oben auf dem Dach, da ist’s ruhig. Wär doch schön, wenn wir die mal näher kennen lernen würden, oder?«

»Ja, das wäre toll«, antwortete ich. »Wer geht sie fragen?«

»Das kann ich ja machen«, meinte Gudrun. »Kommt noch einer von euch Jungs mit?«

»Ja, ich geh mit.«

Ich durchquerte mit Gudrun den Speisesaal. Wir blieben mit einem freundlichen Lächeln vor den anderen stehen. Der süße Junge saß neben Armin auf einem der Stühle direkt am Gang und wandte mir deshalb den Rücken zu. Wenn ich ihm schon nicht ins Gesicht sehen konnte, stellte ich mich wenigstens ganz dicht hinter ihn. Ich hätte meine Hand nur ein paar Zentimeter ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Mein Blick fiel sofort auf seine strubbeligen schwarzen Haare und auf die Kapuze seines Pullis. Er war gerade dabei, sich den Rest eines Wurstbrotes in den Mund zu schieben. Vielleicht hätten wir mit unserer Aktion doch besser warten sollen, bis alle mit dem Essen fertig waren. Irgendwie fand ich das ein wenig unhöflich, was wir da gerade machten.

Auch die sechs Mädchen, die auf den anderen Seiten des Tisches saßen, waren noch mit dem Verzehr von Broten und Salaten beschäftigt. Naja, einige von denen waren eher junge Frauen. Der Altersdurchschnitt in dieser Gruppe schien etwas höher zu sein als bei uns. Neben Armin schätzte ich auch drei der weiblichen Gruppenmitglieder auf über 20.

»Hallo, wir wollten mal fragen, ob ihr euch nachher vielleicht zu uns setzen wollt«, fragte Gudrun dann endlich in die Runde.

»Wir sind schon zwei Wochen hier, vielleicht wollt ihr ja ein paar Sachen von uns wissen«, fügte ich hinzu. »Aber wir können auch einfach nur so gemütlich zusammensitzen.«

Als erste Reaktion ernteten wir einiges Schulterzucken.

»Also ich muss jetzt erst noch meine Koffer auspacken«, antwortete eine der jungen Frauen nach einer Weile.

»Ich komm mit hoch. Ich bin auch noch nicht damit fertig.«

Das war wohl ihre Zimmergenossin.

Die anderen schienen unschlüssig zu sein. Ich hörte irgendwas von ‘lange Fahrt’, ‘müde’ und ‘früh ins Bett’. Die acht schienen kein besonders unternehmungslustiger Haufen zu sein. Naja, die waren ja auch alle nicht ohne Grund hier. Einigen war vielleicht einfach nicht nach Gesellschaft zumute. Zumindest nicht gleich am ersten Abend.

»Naja, ihr könnt euch das ja noch überlegen. Wir warten draußen in der Halle.«

Gudrun und ich kehrten etwas frustriert zu unserem Tisch zurück. Ich war ganz besonders enttäuscht über die Zurückhaltung einer ganz bestimmten Person. Von diesem niedlichen Jungen hatte ich überhaupt keine Reaktion bemerkt. Hatte er mich überhaupt wahrgenommen? Er hatte sich nur einmal ganz kurz umgedreht.

»Tja, aus dem gemütlichen Abend wird wohl nichts«, sagte ich zu den anderen, als ich wieder an unserem eigenen Tisch Platz nahm. »Ein paar haben noch nicht ausgepackt, ein paar wollen früh ins Bett. Ich hab so das Gefühl, die passen nicht so gut zusammen wie wir. Ist irgendwie ziemlich ruhig da drüben am Tisch.«

»Vielleicht kommen sie ja doch noch«, meinte Gudrun. »Zumindest ein paar von ihnen.«

Nach einer Weile standen wir auf und gingen hinaus in die Halle, wo wir erst einmal eine Sitzgruppe in Beschlag nahmen. Es dauerte etwa fünf Minuten, bis die beiden jungen Damen, die noch ihre Koffer auspacken wollten, aus dem Speisesaal kamen. Sie würdigten uns keines Blickes und verschwanden sofort im Treppenhaus.

Dann liefen auch die restlichen Mitglieder der anderen Gruppe nach und nach an uns vorbei. Naja, von denen kam dann doch das eine oder andere Lächeln oder zumindest ein entschuldigender Blick. Hey, und dieser süße Boy lächelte mich tatsächlich schüchtern an. Oder bildete ich mir das nur ein? Wahrscheinlich lächelte er ja wirklich nur uns allen zu. Dann verschwand er auch schon im Fahrstuhl.

Als Letzter kam Armin aus dem Speisesaal. Zumindest er kam zu uns herüber. Er kannte uns ja auch schon etwas besser als die anderen.

»Schade, dass die anderen alle keine Lust haben«, meinte er. »Ich glaub, manche trauen sich einfach nicht. Die wollen wohl gar nicht so genau von euch erfahren, was hier so alles auf sie zukommt.«

»Hey, es ist doch ganz nett hier, was haben die denn nur?«, meinte Nadine. »Willst wenigstens du ‘ne Weile bei uns hier bleiben?«

»Ich weiß nicht so recht. Ihr habt jetzt sicher schon was anderes vor, oder? Ich will euch wirklich nicht stören.«

»Unsinn, du störst nicht! Bleib ruhig hier. Du kannst ja immer noch aufs Zimmer gehen, wenn’s dir bei uns nicht gefällt. Wir nehmen dir das dann schon nicht übel.«

Ich wollte unbedingt, dass Armin hier blieb. Vielleicht erfuhr ich durch ihn ja schon etwas mehr über den anderen Jungen.

»Na gut«, willigte er schließlich ein und setzte sich zu uns.

Dann fragte er erst einmal uns aus. Wie denn die Therapeuten so wären und die Ärzte. Ob das Essen gut wäre und all so was. Ich kam überhaupt nicht dazu, ihm selbst irgendwelche Fragen zu stellen. Ich hätte wohl ohnehin nicht gewusst, wie ich ihn auf den anderen Jungen hätte ansprechen sollen. Schließlich konnte ich nicht einfach sagen, dass ich den ziemlich süß fand und unbedingt mehr über ihn wissen wollte. Wahrscheinlich wusste Armin ja selbst noch nicht viel über ihn.

Später erzählte er dann doch noch ein wenig von sich aus von den anderen Mitgliedern seiner Gruppe. Die erste Zusammenkunft mit dem Psychologen war wohl ziemlich unergiebig gewesen. Keiner hatte viel über sich erzählt. Armin hatte den Eindruck, dass die Problematiken der einzelnen Gruppenmitglieder nicht besonders miteinander harmonierten. Die acht würden wohl auf jeden Fall noch eine Weile brauchen, um miteinander klar zu kommen.

Von dem anderen Jungen wusste Armin eigentlich nur, dass er Daniel hieß und 18 oder 19 war. An das genaue Alter konnte er sich inzwischen schon nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich interessierte Armin sich eben mehr für die Mädchen in der Gruppe.

Daniel hieß dieser Junge also. Daniel und David. Unsere Vornamen würden schon mal ganz gut zusammenpassen.

Armin verabschiedete sich dann doch recht bald wieder und ließ uns alleine in der Halle zurück. Wir holten uns wieder irgendein Spiel von der Rezeption. Ich war den Rest des Abends aber nicht so recht bei der Sache.

Als ich später in meinem Bett lag, konnte ich nicht einschlafen. Die ganze Zeit über musste ich an diesen Daniel denken. Ich fragte mich, was er jetzt wohl gerade machte. Ob er vielleicht schon schlief? Oder konnte er nicht schlafen in seiner ersten Nacht hier in der Klinik? Was dachte er wohl gerade? Wie fühlte er sich? Fühlte er sich vielleicht einsam und alleine in seinem Einzelzimmer? Ich fragte mich, warum er hier war. Was war der Grund für seinen Aufenthalt in der Klinik? Ich hätte so gerne mehr über ihn erfahren.

Noch nicht einmal sein Gesicht hatte ich mir richtig einprägen können. Ich hatte ihn ja nur ein paar kurze Augenblicke lang gesehen. Nur mit Mühe konnte ich mir jetzt noch seine Gesichtszüge in Erinnerung rufen. Wie hatten noch mal seine Augen ausgesehen? Welche Form hatte seine Nase gehabt? Und sein Mund? Ich wusste eigentlich nur noch, dass ich ihn wahnsinnig niedlich gefunden hatte. Aber vielleicht hatte das ja nur daran gelegen, dass es hier so wenig andere süße Jungs gab? Vielleicht sah er ja doch nicht so umwerfend aus, wie ich im ersten Moment geglaubt hatte? Möglicherweise gefiel er mir morgen schon gar nicht mehr so gut. Oder war es sogar nur dieser Kapuzenpulli gewesen, der mich an ihm so fasziniert hatte?

Trotzdem wünschte ich mir im Moment nichts sehnlicher, als bei ihm zu sein und ganz dicht neben ihm zu liegen. Körper an Körper. Ich wollte ihn in meinen Armen halten, ihn ganz sanft streicheln und seinen Körper unter diesem flauschigen Pulli spüren. Und ich wollte ihm diese Kapuze über den Kopf ziehen und ihm dann ganz lange ins Gesicht sehen.

Oh Mann, ich musste schnell wieder aufhören, an solche Sachen zu denken. Sicher würde nichts von alledem jemals passieren. Ich wusste doch, wie unwahrscheinlich es war, dass Daniel tatsächlich schwul und dazu auch noch an mir interessiert war. Vielleicht hatte er ja sogar eine Freundin, die zu Hause auf ihn wartete und an die er jetzt dachte.

Tausend Fragen gingen mir durch den Kopf, während ich mich so im Bett herumwälzte. An Schlaf war überhaupt nicht zu denken. Immer wieder sah ich auf den Wecker. Die Zeiger schienen sich kaum zu bewegen. Die Nacht würde überhaupt kein Ende nehmen, wenn ich nicht bald einschlafen konnte.

Ich überlegte, wie ich am nächsten Tag mit Daniel ins Gespräch kommen konnte. Würde sich dazu überhaupt eine Gelegenheit ergeben? Was sollte ich zu ihm sagen? Wann würde ich ihn das nächste Mal sehen? Schon beim Frühstück? Oder erst beim Mittagessen? Vielleicht traf ich ihn ja auch zufällig auf dem Gang oder in der Halle.

Nachdem ich mich stundenlang mit diesen und vielen anderen Fragen herumgequält hatte, war ich schließlich doch noch irgendwann eingeschlafen, voller Erwartung auf den nächsten Tag.

 

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