Der Penner

„Seht mal diesen Penner da! Der sieht doch echt abartig aus.“

„Lasst den doch, der ist bestimmt total besoffen.“

Stimmen dringen in mein Ohr, kaum kann ich den Sinn erfassen, denn mein Bewusstsein ist noch wie gelähmt. Der Alk war wirklich gut.

„Dem verpassen wir eine tüchtige Abreibung!“

Was?! Mein Alarmsystem funktioniert trotzdem, und ich werde wach, richte mich sogar auf. Adrenalin treibt mich an, welch nützliche Erfindung der Natur. Unwillkürlich reibe ich mir mit der Hand über die Augen.

Drei Jugendliche fixieren mich, die Gesichter verraten ihre böse Absicht. Ich gehe in Abwehrhaltung. Drei etwa 16-jährige gegen einen. Einer ziemlich groß und breit, durch schwere Arbeit entwickelt, andere noch schmal in den Schultern und mit Milchgesichtern.

Ich schlage keine Kinder, war stets mein Vorsatz, den ich auch jetzt nicht brechen muss. Gebrochen ist der Kampfesmut der Jungs, sie ziehen mit ihren Fahrrädern ab. Tolle Truppe… Mein Schlaf ist gestört, der Schnaps alle, der schöne Platz hier nahe dem Baumstumpf im nahen Stadtwald kommt mir nicht mehr sicher vor. Ein Blick auf die Uhr verrät, es ist langsam Zeit, um heim zu fahren.

„Penner!“

Das Schimpfwort hallt in meinem Kopf nach und Kopfschmerz macht sich breit. Bin ich nun schon ein Penner? Ich, Jan Schimming, 43, Familienvater -immerhin habe ich neben meiner lieben Frau auch Tochter und Sohn- und erfahrener Meister auf der hiesigen Bootswerft soll ein Penner sein?

Ein übler Geschmack im Mund erinnert mich an die Pfefferminztabletten in der Hosentasche, immer parat für meine speziellen Aktionen nach Feierabend. Die brauche ich einfach, um mich zu beruhigen.

In letzter Zeit mit zunehmender Tendenz. Leicht wankend laufe ich Richtung Waldrand, wo mein Auto steht. Gut, dass es bis nach Hause nicht mehr weit ist. Kopfschüttelnd mustert mich ein Rentnerehepaar, als ich mich mühselig ins Auto schiebe.

Hinten im Auto sind meine geheimen Vorräte, genug noch für Wochen. Soll es nun immer so weiter gehen? Kann es immer so weiter gehen? Ich weiß, ich bewege mich langsam aber sicher darauf zu, ein Alkoholiker zu werden, aber dieser neue Freund meiner Tochter bringt mich ganz durcheinander.

Und immer ist der daheim, wenn ich endlich mal abends meine Beine hoch legen will. Immer muss ich den sehen, mich erinnern und mich quälen. Ich halte das einfach nicht mehr aus!

Vor einigen Wochen schon hat Marie ihn als ihren Neuen vorgestellt. Klar, er macht einen sehr guten Eindruck und sie hat sicher einen guten Geschmack für ihre Beziehungen – mir wäre aber sehr lieb, wenn sie bald wieder jemand anderen vorstellen würde.

Gleich als mir dieser Erik vorgestellt wurde, hat es mir innerlich einen Stich versetzt. Ist er IHM doch so ähnlich. Längst verdrängte Erinnerungen sind wieder präsent.

Meine mehr als freundschaftlichen Beziehungen in der Schulzeit zu einem Jungen aus meiner Schule, mein erstes Verliebtsein, die tollen Gefühle. Und dann, als wir erwischt wurden, das Gespräch mit meinem Vater, und das böse Ende.

Ich fühlte mich damals so schlecht, als hätte ich was sehr, sehr Schlimmes getan. Ich musste versprechen, so was nie wieder zu tun! Ja, und ich hielt mich dran. Nie wieder redete ich mit meinem Freund, ignorierte ihn sogar, auch wenn es mich oft sehr schmerzte.

Dann lernte ich meine zukünftige Frau kennen. Die liebte ich mindestens ebenso, durfte sie lieben, mein Vater war sehr angetan von ihr.

Der Freund wurde immer mehr Geschichte. Nie mehr habe ich mich um ihn gekümmert, weiß nicht mal, wo er jetzt wohnt und wie es ihm geht. Dieser Erik ist IHM so ähnlich, und das Schlimmste – die alten Gefühle kann ich auch noch irgendwo spüren.

Dann, als ob diese Katastrophe nicht schon allein groß genug wäre, sehe ich diesen Bengel eines morgens auf einer abgestellten Werkbank im Bürotrakt sitzen – auf der Arbeit, angemeldet zum Bewerbungsgespräch!

Vom Gespräch habe ich nur mitbekommen, dass er verdammt gut in den Leistungen ist, ich sollte da wie immer dabei sein. Kandidat Nummer Eins, ohne ernste Konkurrenz. Es gibt keine Alternative – der wird unser neuer Azubi! Ich muss, werde es ihm sagen müssen.

Und ich? Ich schiebe mich wieder aus dem Auto, nun zum pinkeln. Die ganzen Jahre war ich glücklich und zufrieden. Nie wieder seit meiner ersten und einzigen Beziehung zu einem Jungen konnte ich jemals wieder solche starken Gefühle für das männliche Geschlecht entwickeln.

Abgeschlossen, vorbei, nur eine Episode im Leben, dachte ich – falsch dachte ich. Und, ja, meine Frau liebe ich wirklich von ganzem Herzen. Es ist einfach zum verrückt werden.

Auf dem Heimweg fahre ich fast einen Betrunkenen über. Mein Reaktionsvermögen ist zum Führen eines Kfz nicht geeignet, die folgende Reaktion mir unwürdig.

„Penner! Idiot! Saufkopf!“, rufe ich wütend. Penner!, hallt es wider in meinem Schädel, Penner! „NEIN!“, schreit es in mir. „NEIN!“ Der Typ starrt mich mit glasigen Augen an.

„Ich bin… kein Penner“, lallt er.

Nun, er ist gut angezogen, so wie ich, scheint wohl auch Probleme zu haben. Mein Blick schweift über den Innenspiegel. Das bin doch nicht ich – oder? Der Typ da drin ähnelt sehr diesen Leuten vor der Kaufhalle.

Wenn ich so weiter mache, kann ich mich bald dazu setzen. So schmeißt meine Frau mich sicher bald raus. „Nein!“

Kupplung, Gang rein, Gas geben, wenden, Vollgas, Reifen quietschen. Vor dem Einkaufszentrum halte ich, springe entschlossen aus dem Auto. Den Karton aus dem Kofferraum geholt, gehe ich schnell in Richtung Springbrunnen.

„Hier, Leute, für Euch!“

Während die Gestalten sich umgehend dem Inhalt widmen, düse ich nach Hause. Mit neuem Elan nehme ich die Stufen.

„N’abend Leute, was liegt an? Hallo Erik, kommst Du bitte mal mit in die Küche und trinkst mit mir einen Kaffee, wir haben dringend was zu bereden.“

Ja, Erik erfährt so ziemlich viel. Natürlich freut er sich, dass er die Stelle bekommt. Auch, dass er einem ehemaligen Freund von mir sehr ähnelt, mit dem ich in der Vergangenheit große Probleme hatte.

Mehr muss er da nicht wissen. Während ich mit ihm rede, merke ich schon, dass seit damals sich doch einiges geändert hat – ich bin reichlich älter geworden und dieser Erik kommt mir schon noch vor wie ein großes Kind.

Nein – so richtig verlieben könnte ich mich nicht mehr in ihn. Kribbeln tut es aber schon noch etwas, wenn ich an seiner Figur lang schaue… Und ich sollte weniger essen, bei meinem Bauch, wenn ich vergleiche.

Trinken sollte ich auch nicht mehr, Eriks Reaktionen auf die sicher noch gut spürbare Fahne sind mir peinlich. Dann muss ich bald mit Eriks Vater reden. Wir kennen uns, habe ich durch einfachen Namensvergleich feststellen können… Und ich freue mich darauf schon.

Nun – so gesehen haben mir die drei Jungs im Wald ja das Leben gerettet. Wenn ich ihnen zufällig mal wieder begegne, werde ich mich bedanken. Versprochen ist versprochen.

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