Irgendwo mitten auf der Welt

magru 14.02.08, überarbeitet 21.06.11)

Wichtige Personen:

Peter:               Soldat aus Edinburgh und der Erzähler

Jonathan:        Soldat

Edward:          Junge, aus der Umgebung stammend

Mashari:          ein Bruder

 

Wieder ein nervöser Blick auf die Uhr. Erst 22:30. Unser Nachtdienst scheint mal wieder kein Ende nehmen zu wollen. Zwei Soldaten mitten in der Wüste in einem Schützenpanzer sitzend, ringsum nur Sand und oben die Sterne, das kann schon auf die Dauer schon sehr langweilig sein. Wir bewachen das Sperrgebiet zwischen den verfeindeten Volksgruppen, haben Schießbefehl auf alle Personen und Fahrzeuge, die sich in diesem Bereich illegal aufhalten.

Nur manchmal ist ein verdächtiges, kurzes Rascheln zu hören: Bestimmt wieder nur eine Schlange auf der Jagd oder eine Wüstenmaus auf der Flucht. Ansonsten ist hier die absolute Stille und noch nie ist während unseres Dienstes was passiert. Ich weiß bereits alles über Jonathan, er alles über Peter, also mich. Es gibt wirklich nichts mehr Interessantes zu erzählen, außer vielleicht einigen persönlichen Geheimnissen, die man nur den wirklich allerbesten Freunden erzählt. So schweigen wir viel, wie es der Dienst auch erfordert. Viel Zeit zum Nachdenken.

Die große Neuigkeit vor wenigen Tagen war, dass mein Urlaub genehmigt wurde und ich somit Ostern in Edinburgh zu hause sein kann. Endlich wieder bei Familie und Freundin! Und einige Nächte weniger, die ich wie eine Ratte im Käfig verbringen muss. 1,96m und meine sportliche Figur für Stunden dort hinein zwängen zu müssen, ist die totale Tortur. Jonathan hat es viel besser bei seiner Größe. Der schafft es sogar, seine Beine in alle möglichen Richtungen hoch zulegen und kann sich so etwas entspannen. (Ich wusste nicht, dass Pygmäen jetzt auch Militärfahrzeuge konstruieren.)

Jonathan hat es auch nicht weit bis in sein heimatliches Dorf, dort, gleich hinter der großen Mauer und nur wenige Kilometer entfernt. Er ist ein eher stiller Junge, mit seinen erst 18 Jahren. Die großen, braunen Augen scheinen immer in eine unbestimmte Ferne zu blicken. Das kürzlich geschorene, dunkle Haar zeigt bereits wieder einige Locken, die sein Gesicht lustig einrahmen. Seine Nase allerdings, so spitz und schmal, könnte neben dem Eintrag in der Sparte Riechwerkzeug auch als Sattlereihilfsmittel Verwendung finden.

Irgendwie sind wir ziemlich gegensätzlich: Er, ziemlich zerbrechlich – ich, eher von der Gestalt ein würdiger Nachkomme eines berühmten Seefahrervolkes. Er, der große Träumer, ich, eher ein Realist und Pragmatiker. Über solche für mich sehr wichtigen Dinge wie Freundin zu reden, ist mit ihm leider nicht möglich. Ich glaube, der ist noch total unbeleckt in Liebesdingen.

Nun allerdings fuchtelt der mit seiner Nasenspitze wild vor der Gummibrille des Nachtsichtgerätes rum, was für mich gerade noch so bei der schwachen Innenbeleuchtung erkennbar ist.

 

„Peter, so schau doch mal. Ich glaube, da vorn bewegt sich was“, flüstert er aufgeregt.

 

Ich denke nicht, dass da was ist, ich kann jedenfalls nichts Außergewöhnliches erkennen. So stundenlanges Starren auf den winzigen Bildschirm ist ziemlich anstrengend und kann die Wahrnehmung schon mal verwirren.

 

„Lass uns besser nachschauen, was dort los ist. Nicht, dass wir wieder wegen einer Maus Meldung machen. Hab echt keine Lust, deswegen ausgelacht zu werden.“

 

„Gut, Jonathan. Es sind nur ein paar Meter, die können wir laufen, und wenn wir jetzt den Motor starten, gibt das nur eine prima Warnung. Falls wir uns getäuscht haben sollten, war es zumindest eine gute Gelegenheit, mal wieder die müden Knochen zu strecken.“

 

Uns langsam vorwärts bewegend, das Gelände aufmerksam im Helm-Nachtsichtgerät unter Kontrolle, bewegen wir uns mit schussbereiten Waffen Richtung 13 Uhr (hier als Richtungsmaß beim Militär gebräuchlich).

Das Gelände ist nicht sehr eben und überall liegen Steinbrocken unterschiedlichster Größe herum. Es ist gut möglich, sich dort mit entsprechender Ausbildung erfolgreich in einer Sandkuhle oder hinter großen Steinen zu verstecken und wir müssen sehr aufmerksam sein, um nicht als Zielscheibe benutzt zu werden.

 

„Jonathan, da, rechts! Schau mal, diese Mauerreste.“

 

Ist doch praktisch, wenn man so groß ist wie ein Leuchtturm, da entgeht einem fast nichts. In einer tieferen Mulde erkenne ich ein Mauerfragment. Ist vielleicht mal Teil eines alten Gebäudes gewesen. Im unteren Bereich erregt eine dunkle Öffnung meine Aufmerksamkeit.

Mein Herzklopfen verstärkt sich heftig, als ich im feinen Sand Fußspuren einer einzelnen Person erkenne, die, von uns unbemerkt, im gesperrten Gebiet unterwegs war. Der Eingang scheint zwar schon sehr alt zu sein, wurde offenbar aber erst kürzlich benutzt.

Wir haben den Vorgang nicht bemerkt und es ist, verdammt nochmal, unser Job und für uns sogar überlebenswichtig, genau zu wissen, was in unserer Umgebung passiert! Mein Blick ist eher skeptisch, als ich die schmale Öffnung betrachte, jedoch Jonathan schlüpft sofort mühelos hinein, wartet nicht mal mein OK ab.

 

„Peter, hier drin ist nur ein langer Gang zu sehen. Da passt auch Du mühelos rein – falls Du durch den Eingang kommst.“

 

Ich hasse diese Anspielungen auf meinen sportlichen Körperbau! Eiligst will ich den Gegenbeweis antreten und quetsche mich mühevoll hindurch. Tief ausatmen und Bauch einziehen. Dass ich in engen, unterirdischen Räumen immer Probleme bekomme, habe ich bei der Musterung vorsichtshalber verschwiegen.

Geschafft! Und hier ist es im Gegensatz zu draußen angenehm frisch. In der völligen Dunkelheit im Loch ist leider kein Restlicht und ein Nachtsichtgerät somit wirkungslos, zusätzlich erzeuge ich mit meinem Hinterteil eine völlige Abblendung des Eingangs. Es hilft nichts, wir müssen zwecks Orientierung die Taschenlampe benutzen.

„Jonathan, mir scheint diese Sache etwas unsicher zu sein. Besser ist, wir fordern Verstärkung an“, flüstere ich, meine ersten Panikanzeichen sind bereits da.

 

„Hast Recht, ich möchte nur eben noch die paar Meter bis zum Ende des Ganges. Ist wohl ein alter Keller, oder so was.“

 

Jonathan ist flinker, ich gehe schnaufend hinterher, will mir meine momentane Schwäche nicht anmerken lassen.

 

„Stehen bleiben!“

 

Gerade kann ich noch wahrnehmen, dass jemand am Gangende von rechts um die Ecke kommt. Es gibt kein Zurück und keine Deckung, vielleicht können wir den Überraschungseffekt nutzen. Meine Taschenlampe leuchtet der Person direkt ins Gesicht.

Ruckartig bleibt diese stehen, als sie uns bemerkt. Dann knallt es auch schon und ich sehe den Feuerschein einer Salve aus der Waffe von Jonathan. Vorne ist dann alles ruhig.

 

„Warum hast du geschossen?“

 

„Der hat seinen Arm so schnell bewegt. Das ging ganz automatisch. Dem habe ich einen verpasst. Lieber der, als ich.“

 

„OK. Dann lass uns mal nachschauen.“

 

„Oh. Scheiße, scheiße! Ich habe doch noch nie auf jemanden direkt geschossen. Schau mal, der sieht auch noch so gut aus… Ist der tot?“

 

Hat Jonathan eben „der sieht auch noch so gut aus“ gesagt – da werden wir noch drüber reden müssen. Später.

 

„Ja, hast du toll gemacht! Schau mal, wo der seine Waffe hat, ich sehe keine. Aber was soll’s, der Kerl hat eben nur Pech gehabt, uns zu treffen. Was macht der auch hier, der hat um diese Zeit hier nichts verloren. Wenn Du mich fragst, ist der bestimmt nicht unschuldig. Du brauchst dir wegen des Waffengebrauches keinen Vorwurf machen, ist alles laut Dienstvorschrift. Und wenn da noch eine Schlagader am Hals zuckt, heißt das meistens, dass die Person noch lebt.“

 

Jonathan hat sein Licht auf Maximum gestellt, seinen Verstand wohl auf Minimum. Denn wenn ich sehe, wie der sich an diesem verletzten Jungen zu schaffen macht, dem noch, muss ich leider feststellen, richtig liebevoll den Kopf verbindet – der hat sie doch nicht mehr alle!

Der Typ hat einen Streifschuss abbekommen und ist nur bewusstlos. Normalerweise verpasse ich denen einen Volltreffer dazu. Aber Jonathan ist eben noch ein Frischling in diesem Geschäft, wo Mitleid meist mit dem eigenen Tod bestraft wird. Na gut, vor zwei Jahren hätte ich noch genau so gehandelt.

Sollen sich die Vorgesetzten um den da kümmern. Scheint so in Jonathans Alter zu sein, vielleicht auch jünger.

 

„Schau mal, Peter, der hat sogar leicht rötliche Haare und ist eher so ein Typ wie du. Ist wohl ein Nachfahre der vielen Eroberer aus deiner Heimatgegend.“

 

„Oh, shit, hast Recht. Der sieht ja beinahe aus wie mein jüngster Bruder.“

 

Da der aber nicht mein Bruder ist und sein kann, gibt es von mir noch kräftige Binden an Arm- und Fußgelenken gratis, damit er nicht abhaut, wenn er zur Besinnung kommt.

 

„Gut. Dann rufe gleich nachher über Funk mal im Stützpunkt an, dass die Sanis einen Verletzten abholen können. Die sollen auch Leute für eine Durchsuchung schicken. Na, die werden sich über den da besonders freuen… Kannst dich schon mal darauf vorbereiten, im Klub einen auszugeben. Ab zum Fahrzeug!“

 

Jonathan ist immer noch ein Frischling, dem ich von Zeit zu Zeit ordentlich die Richtung weisen muss. Besser ist, ich gehe diesmal voraus. Ich muss mich beeilen, die volle Panik.

Gerade noch kann ich den feinen Draht nahe am Ausgang erkennen. Jedoch, es ist zu spät, ich kann die Vorwärtsbewegung meines Körpers nicht mehr bremsen! Höllenlärm, Schmerzen, dann vollkommene Dunkelheit.

 

*- *- *

 

Shit – wer krabbelt mir da am Bein rum, wo nur meine Freundin mich anfassen darf? Jemand tastet vorsichtig meinen Körper ab. Ich will laut protestieren, merke aber, dass mir dafür die Kraft fehlt.

Im Kopf dröhnt es furchtbar, ein helles Pfeifen ertönt in den Ohren, etwas drückt sehr schmerzhaft auf meine Beine. Dann versinke ich wieder in der Dunkelheit.

 

*- *- *

 

Etwas Feuchtes ist an meinen Lippen. Reflexartig öffne ich den Mund, schlucke kaltes Wasser. Mit dem Wasser kommt gleich etwas Lebenskraft in mir zurück und ich öffne die Augen.

Ich sehe nicht viel, denn es ist ziemlich finster. Nur weit oben ist ein heller Lichtschein.

Als ich die Konturen eines jungen Mannes ausmachen kann, der mir zwar bekannt vorkommt, den ich aber zunächst nicht zuordnen kann, wird mir nach etlichen misslungenen Versuchen, auf den Langzeitspeicher meines Gedächtnisses zu zugreifen, klar, dass der von uns zuvor gefangen genommene junge Mann mir gerade zu trinken gibt.

Nur langsam kommt mein Verstand wieder in die Gegenwart zurück, was mein Wohlbefinden nicht unbedingt verbessert. Ich habe unvorsichtigerweise eine Sprengfalle ausgelöst.

Ich Idiot – damit ist doch in solchen Räumen immer zu rechnen! Und was ist mit Jonathan? Habe ich durch meine Dusseligkeit etwa seinen Tod verschuldet?

 

„Hallo, ich bin Edward. Es ist alles gut. Ihr Kamerad lebt. Sie haben beide aber einige Verletzungen. Verstehen Sie mich?“

 

Verdammt, diese Stimme: Wenn ich nicht genau wüsste, dass mein jüngster Bruder nicht anwesend ist und er auch ein wesentlich besseres Englisch spricht, würde ich jetzt Marvin umarmen wollen.

Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend. Und ich habe noch ziemliches Glück, dass der mir nun zu trinken geben kann. Wäre ich an Jonathans Stelle zuerst in den Gang hinein gegangen, wäre der schon längst tot. Ich kann nur mit dem Kopf nicken.

 

„He, schauen Sie mal…“

 

Der Junge hat einen Spiegel, mit dem er das von oben durch einen schmalen Spalt einfallende Licht in die verschiedenen Ecken des Raumes reflektiert. Und er ist nicht mehr mit meinen guten Kabelbindern gefesselt.

Ich kann erkennen, dass es sich um einen ziemlich großen Raum handeln muss. Ich glaube, es ist eine Nekropole aus der Antike. Darüber habe ich schon mal was gelesen. Bestimmt zu anderen Zeiten eine sehr interessante Entdeckung, aber jetzt – hoffentlich wird sie nicht unser Grab. Dann leuchtet er weiter. Jonathan! Ich glaube, den hat es heftig erwischt.

 

„Versuchen Sie mal, den Spiegel zu halten und in die Richtung von ihrem Kameraden zu leuchten, damit ich ihn versorgen kann.“

 

Meine Arme scheinen noch gut zu funktionieren, und so kann ich diese Bitte gern erfüllen. Jonathan blutet am Bein. Ein großer roter Fleck umgibt ihn bereits. Der Junge wickelt sich die Binde vom Kopf und windet diese sehr fest um die blutende Wunde, was sofort eine stillende Wirkung hat.

Dann ist in der Ferne ein Schuss zu vernehmen. Stört mich aber nicht weiter, denn so was bin ich ja gewöhnt.

 

„Ihr Kamerad müsste von einem Arzt behandelt werden, so wie die Wunde aussieht. Mein Bruder weiß, wo ich bin, der wird bestimmt schon nach mir suchen.

Ich bin hier oft unter der Erde. Ich interessiere mich sehr für diese alten Gemäuer, und möchte nach dem Abitur Geschichte studieren, wenn alles klappt.

Es gibt noch viel mehr von diesen Ruinen in der Umgebung auf unserem Land. Leider hört dieser blöde Krieg wohl niemals auf…

Meine Eltern wissen nichts von diesem Ort, ich habe ihn entdeckt und ihnen nichts davon erzählt, nur mein Bruder ist eingeweiht. Wir müssen nur etwas warten, bis er kommt. Auf den ist absolut Verlass!

Ich weiß nicht, wieso ihr Kamerad auf mich geschossen hat – ich hab ihm doch nichts getan. Wir wollen nur in Frieden leben, hier auf unserem Land!“

Trotzig reißt der Junge mir den Spiegel aus der Hand und geht in eine entfernte Ecke des Raumes. Ich kann ihn deutlich weinen hören. Sehr geschwächt und mit unguten Gefühlen schlafe ich ein.

 

*- *- *

 

Als ich wieder erwache, ist es vollkommen finster. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, aber dieser Edward gibt mir wieder was zu trinken.

 

„Mein Bruder ist nicht gekommen. Schon zwei Tage nicht. Und das war jetzt der letzte Schluck Wasser. Ich habe mich Richtung Ausgang vorgetastet. Es ist hoffnungslos. Ihre Ausrüstung ist auch vollkommen kaputt. Keine Lampe. Kein Funk. Die schusssicheren Westen wärmen wenigstens etwas. Nur die Maschinenpistolen, die funktionieren noch. Ich habe mehrfach damit geschossen zwecks Signalgebung, sie haben es wohl nicht mal gehört. Aber wer hört schon auf Schüsse in der Wüste in diesem unsicheren Land, und dann noch die Schalldämpfung durch die Mauern…

Sie wissen sicher, wie lange man ohne Wasser und Nahrung überleben kann. Es gibt nur noch eine Hoffnung, einen Weg hinaus, und der ist oben, wo das Licht einfällt. Allein schaffe ich es nicht. Wir sollten zusammen bei Tage überlegen, wie wir an das Lichtloch oben ran kommen können. Leider ist Ihr Kamerad eher keine Hilfe.“

 

Das war jetzt eindeutig zu viel für mich. Ich wollte ja dringend noch was fragen, aber ich bin in meinem Zustand schnell wieder weggedöst.

 

*-*-*

 

Ich werde wach gerüttelt. Edward.

 

„Sag mal, wie sind mein Kumpel und ich eigentlich in diesem Raum gekommen?“

 

Oh, ich kann ja wieder reden.

 

„Guten Morgen, sagt man bei uns! Und Ihr Kumpel lebt noch, Danke der Nachfrage. Im Prinzip ganz einfach: Ich musste nur den Schuttberg von Ihnen runter räumen und Sie einzeln am Kragen hierher schleifen. Ich wurde zum Glück nur von der Druckwelle leicht gegen die Wand geworfen. Die Sprengladung war wohl außen angebracht und hat sich dort in ihrer Wirkung voll entfaltet, ansonsten hätte bestimmt keiner überlebt. Und wäre ich nicht gewesen, der Sie von dem Schutt befreit hätte, wären sie auch schon längst erstickt. Nun, wir haben jetzt keine Zeit für Debatten. Mir ist nach Dusche und ich habe Hunger. Das gibt’s hier aber nicht – also sollten wir jetzt an Lösungen arbeiten…“

 

„Dann leuchte doch mal den Bereich unterm Loch mit deinem Spiegel aus.“

 

Bis oben sind es etwa vier Meter. Ich aufgerichtet sind schon zwei. Beim Jungen ist es etwas weniger. Jonathan ist auch noch, im Diesseits, aber wohl mit einem Bein schon auf der anderen Seite, der fällt hierbei total aus. Ob ich mich aufrichten kann?

 

„Also, Edward, ich würde meinen, wenn ich versuche, mich aufzurichten, und Du mir dann auf die Schultern steigst, müsstest Du schon fast am Lichtloch sein. Wir sollten das mal probieren.“

 

Mit Hilfe der flachen Erde, dort drauf kriechend, und mich an der senkrechten Wand abstützend, stehe ich wirklich wieder aufrecht, wenn auch ziemlich wacklig. Woher sollen auch die Kräfte kommen, so ganz ohne feste Nahrung.

Wenn wir es nicht bald schaffen, können wir uns einen Platz zum Sterben suchen. Geeignete Nischen dafür sind reichlich in die Wände der Nekropole geschlagen… Mit Edward auf den Schultern merke ich mein ganzes körperliches Elend.

Ja, es würde gut gehen mit einem gesunden Peter unten, aber jetzt kann ich eben noch so signalisieren, dass ich gleich fallen werde, damit der Junge vorher runter springen kann.

 

„Scheiße! Mist, verdammter!“

 

Nach einem langen Moment gemeinsamer Traurigkeit und Mutlosigkeit habe ich eine Idee: Ja – bin ich denn total bekloppt? Ich bin zwar kein Profi auf dem Gebiet, aber ich weiß, dass man an Steilhängen im Gebirge hoch kommt, wenn man die Wand präpariert.

Und hier ist es nur Sandstein! Und ich weiß auch schon wie. Geht ganz schnell und mühelos…

 

„Edward, ich brauche jetzt mal die Waffen und alle Munition. Keine Angst, ich will uns nur helfen und ich tue dir wirklich nichts. Ich will hier ja auch nur raus! Ich werde versuchen, Stufen in den Sandstein zu schießen. Ich möchte oben anfangen und erzielen, dass du wenigstens mit einem Fuß unter dem Loch stehen kannst, damit du es dann von einem guten Standpunkt aus vergrößern kannst. Du leuchtest mit dem Spiegel die Zielpunkte an. Einverstanden?“

 

Geht wirklich sehr gut. Nur den Winkel etwas optimiert, dann müssen wir aufpassen, von den abplatzenden Bruchstücken nichts in die Augen zu bekommen, von all dem Staub mal abgesehen.

Als ich auch den Bereich rund um das Loch in Beschuss nehme, ist die Munition leider bald verbraucht. … Immerhin, wenn ich mich an die Wand hocke, kann Edward über meine Schultern recht bequem bis unter die schon fast „erschossene“ und erweiterte Öffnung steigen.

Die jetzt nutzlosen Waffen werden zu prima Steinzeitwerkzeugen zur Bearbeitung von Sandstein umfunktioniert. Edward macht seinen Job dann wirklich sehr gut. Ich merke aber, wenn er nicht bald Hilfe holen kann, wird mein Kamerad und ich diese nicht mehr benötigen. Die Dunkelheit hat mich bereits wieder gefangen…

 

*-*-*

 

Ein Gemurmel vieler Stimmen weckt mich. Als ich die Augen aufschlage, ertönt Beifall von zahlreichen Personen, die am Fußende des Bettes versammelt stehen, in dem ich liege. Zwei Frauen, eine ältere und eine ganz junge, flößen mir dann fast um die Wette Tee ein.

Was ist mit Jonathan… Meine suchenden Augen werden richtig gedeutet und ich erkenne ihn auf dem anderen Bett neben meinem liegend. Er lebt, scheint aber tief zu schlafen. Eine Frau und Edward sitzen beiderseits auf der Bettkante und kümmern sich um ihn.

Mir fällt auf, dass beide sehr bekümmert aussehen. Die Frau bekommt Weinkrämpfe und klammert sich an Jonathan. Was ist los – eindeutig kann ich Jonathan ruhig atmen sehen…

Von außen sind laute Männerstimmen zu vernehmen. Die Sprache kann ich nur sehr schlecht verstehen, aber was ich verstehe, klingt bedrohlich.

 

„Tötet diese Mörder! Rache für meinen jüngsten Sohn! Auge um Auge, Zahn um Zahn!“

 

Ängstlich verlassen alle den Raum, außer Edward und der Frau an Jonathans Bett.

 

„Eure Leute haben meinen Bruder getötet. Der wollte uns nur zur Hilfe eilen, dann kam die Kugel. Dein Kamerad erinnert meine Mutter und mich sehr an ihn. Sie haben zumindest die gleiche Nase und auch sonst viel gemeinsam im Aussehen. Scheiß Krieg. Ich würde Ihren Kameraden gern näher kennen lernen, wenn er wieder richtig gesund ist. Ich weiß aber nicht, ob wir noch Gelegenheit dazu bekommen. Der Stammesrat wird heute noch tagen…“

 

Ich kann mich noch an den Schuss zwischendurch erinnern.

 

„Mein Kamerad heißt Jonathan. Der stammt auch aus dieser Gegend und wohnt auf der anderen Seite der Sperrmauer.“

 

So richtig habe ich ja Edward noch gar nicht bei vollem Licht gesehen. Er sieht aus wie ein Teenager in dem Alter überall in der westlichen Welt, trotzdem wirkt er schon irgendwie alt, und auch schon sehr reich an Lebenserfahrungen.

Unschöne, in seinem Alter, und überhaupt… Dunkle Ringe umgeben seine Augen. Dann werden wir noch gewaschen und bekommen saubere Kleidung. Und endlich gibt es was zu futtern.

Eigentlich könnte ich jetzt beruhigt aufatmen, dank Edward, muss aber auch daran denken, dass ich den bei etwas anderen Verlauf auch hätte erschießen können… Ach, scheiß drauf, was soll die unnötige Grübelei, endlich gerettet!

Ich habe Mühe, meinen Gedanken eine vernünftige Struktur zu geben. Um wieder eine Ordnung in meinen Kopf bringen zu können, mit der ich so einigermaßen leben kann, muss ich die Struktur ändern.

Ich weiß nun, so wie ich bisher dachte und handelte, kann ich nicht weiter machen. Von den Frauen liebevoll umsorgt, schlafe ich einen unruhigen Schlaf. Bis zum nächsten Morgen.

Da wird mit lautem Gepolter die Tür aufgerissen und mehrere bewaffnete Männer stürmen rein, einschließlich Edward.

 

„Ihr Hunde habt meinen Sohn getötet! Dafür werdet Ihr büßen! Der Ältestenrat hat Euch einstimmig zum Tode verurteilt.“

 

Ich bin nicht so richtig überrascht. Klar, als Soldat habe ich den Tod immer vor den Augen. Er ist mein tägliches Geschäft, auch wenn bisher immer andere die Opfer waren.

Ich weiß nach einem Blick in die Gesichter und auf die Bewaffnung: Gnade gilt nicht und Flucht ist zwecklos. So ergebe ich mich dem Schicksal und werde versuchen, meinen letzten Weg würdig zu gehen.

Jonathan wird wohl nicht so richtig was mitbekommen in seinem Zustand. Bisher hat er noch nichts gesagt und anderweitig reagiert. Vielleicht ist es für ihn auch besser so. Von einer wütenden Menge umringt, werden wir zum Exekutionsplatz geführt, Jonathan auf einer Krankentrage neben mir. Schreiende Frauen, die wohl anderen Mutes sind, begleiten uns.

An zwei Gruben wird halt gemacht. Ruck zuck werde ich auf die Knie gezwungen, und Jonathan neben mir auf einen Stuhl gesetzt und festgebunden. Vor uns ist in Großformat ein Foto des getöteten Sohnes aufgestellt, wie ich vermute.

Der lächelt uns in seiner Schuluniform an und scheint uns viel Glück bei unserem letzten Gang zu wünschen. Er hat die gleiche Nase wie Jonathan, stelle ich nebenbei fest. Selbst an ein Rednerpult ist gedacht. Wohl für unsere Totenrede.

 

„Mashari! Das ist doch Mashari! Was ist mit meinem Bruder?“, ruft Jonathan plötzlich auf Englisch.

 

Er ist wieder sehr lebendig und zeigt aufgeregt auf das Bild.

 

„Du Schuft! Ja, das ist unser Mashari. Sei du bloß ruhig, du wirst gleich dein Maul für immer gestopft kriegen… Edward! Komm und tue deine Pflicht gegenüber der Familie und deinem Volk, wie wir es besprochen haben. Die Mörder deines Bruders müssen sterben. Das ist unser Gesetz. Ich befehle es dir!“

 

Edward bekommt von seinem Vater eine Pistole in die Hand gedrückt. Und so wie der jetzt schon zittert – als Soldat weiß ich, das wird ein scheiß langsamer Tod… Ich richte meine Augen auf den Boden und erwarte mein Schicksal.

 

„Haltet ein! Du, der du der Vater von Edward bist, und ihr alle – erkennst ihr denn nicht, dass ihr gerade dabei seid, noch einen Sohn zu töten, dass Ihr gerade einen von euch töten wollt? Schaut in das Gesicht dieses Jungen hier, der seinen lang vermissten Bruder auf dem Bild wieder erkannt hat, schaut in das Gesicht des anderen jungen Mannes, schaut in das Gesicht eures Sohnes auf dem Bild: Nur gemeinsam konnten sich beide aus großer Gefahr befreien und haben eine große Prüfung bestanden. Und nur gemeinsam werden sich eure Völker befreien können. Denn sie sind alle Brüder vor Gott und sollen sich künftig wie leibliche Brüder achten und unterstützen.“

 

Ein sehr alter Mann in einem bis an die Füße reichendem Gewand hat sich vor die Männer gestellt und spricht auf sie ein. Obwohl er schon sehr alt ist und zerbrechlich wirkt, geht von ihm eine große Kraft aus.

Seine Stimme ist mächtig wie ein Orkan, die Bedeutung der Worte trifft selbst die härtesten Männer in ihren inneren, wie es nicht mal ein präzise ausgeführter Schwerthieb vermag, lässt sie in ihrem für sie gerechten Tun innehalten.

Und er hat uns für den Moment noch das Leben gerettet, denn Edward ist die Pistole aus der Hand in den Sand gefallen. Ich müsste diese jetzt nur schnell an mich und ihn als Geisel nehmen, dann könnte sich meine Situation entscheidend verbessern.

Alles schwer trainiert während der Ausbildung und wirklich kein Problem für mich. Aber als ob der alte Mann meine Gedanken schon vorab kennen würde, sein Blick nimmt mich gefangen und meine Glieder gehorchen mir nicht mehr.

Davon, was ich dann in seinen Augen sehe, werde ich wohl noch mein ganzes Leben träumen können…

Es entspricht der Kultur dieses Volkes, Alte zu achten und ihren Anordnungen meistens Folge zu leisten. Aber so einem alten Mann ist von den Anwesenden hier bisher niemand begegnet. Die Rachsucht ist plötzlich verschwunden, große Nachdenklichkeit macht sich breit.

„So lasst uns ins Dorf zurückkehren. Am Abend wollen wir zusammen kommen und uns neu beraten.“

 

*-*-*

 

Zurück auf unsere Betten und jetzt hemmungslos dem plötzlich erweckten positiven Interesse der Dorfbewohner an uns ausgeliefert, dem der Frauen wie der Männer, und die ganz ohne Waffen, werden wir mit allem verwöhnt, was die Küche der Region zu bieten hat. Edward und dessen Eltern haben sich zu Jonathan gesetzt, der seinen Schock wohl nur durch die missglückte Erschießung überwinden konnte.

Was sie reden, davon kann ich in dem Stimmengewirr leider nichts mitbekommen. Es muss aber wohl sehr emotional sein, so wie sie sich oft umarmen und die Tränen fließen lassen. Auch wird ein Arzt aus der Stadt gerufen, der uns gründlich untersucht.

Nur Jonathan hat einige tiefe Fleischwunden, die sofort versorgt werden. Alle unsere restlichen Wunden werden mit der Zeit und bei guter Pflege von allein heilen. Ich muss die Leute nach Stunden bitten, uns und insbesondere Jonathan etwas Ruhe zu gönnen. Aber Jonathan ist viel zu aufgedreht, um gleich einschlafen zu können.

 

„Du, Peter, bist Du wach? Der Junge, der erschossen wurde, ist mein lang vermisster jüngerer Bruder. Wir dachten eigentlich, dass er bereits vor Jahren ums Leben gekommen ist.

Ich habe ihn sofort auf dem Foto erkannt, auch wenn ich ihn lange nicht gesehen habe.

Leider kann ich ihn nicht mehr in meine Arme schließen, was mich sehr traurig macht. Unsere Familie ist während eines Angriffs einer radikalen Einheit getrennt worden.

Das Haus war zerstört, niemand mehr aus der Familie für ihn da, und da hat er zum Glück Leute gefunden, die sich um ihn kümmerten. Und ich habe fast meinen neuen Bruder erschossen, und überhaupt – mir kommt mein bisheriges Leben jetzt ziemlich verrückt vor.

Stell dir mal vor, ich hätte bei einer Kampfhandlung auf Edward und dessen Eltern geschossen, vielleicht sogar selbst Mashari, meinen Bruder getötet! Oder die hier hätten mich getötet, und Mashari wäre am Leben geblieben. Mashari wollte uns helfen, und ist dabei umgekommen. Mein Bruder – von meinen eigenen Leuten erschossen!

Es gibt leider zu viele Leute, die immer nur gleich schießen. Und, ja, Edward ist jetzt mein Bruder. Ich werde für ihn da sein und auf ihn aufpassen, damit ich ihn nicht auch noch verliere.

Dieses verfluchte Spiel, ständig immer gleich aufeinander zu schießen und den Hass, den man uns gelehrt hat, mache ich nicht mehr mit. Morgen will ich mich an das Grab von Mashari bringen lassen. Nun, jetzt bin ich aber etwas müde.“

 

Und ich drehe mich um und weine heimlich einige Tränen. Ich habe ganz schön an Edwards Schilderung zu knabbern.

 

*-*-*

 

Der Abend bricht herein und die Vorbereitung zur Dorfversammlung artet eher in die Vorbereitung eines Dorffestes aus. Der sehr alte Mann geht in alle Hütten und wirklich zu jedem Bewohner, einen Teil seiner Güte und Weisheit lässt er jeweils zurück.

Dann ist er so plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht ist. Sein Ehrenplatz am Abend muss leider leer bleiben. Niemand wagt es, sich dorthin zu setzen. Die Dorfältesten tauschen immer wieder bedeutungsvolle Blicke aus.

Edward, Jonathan und ich sitzen zum Sonnenuntergang in bequemen Kissen, extra für uns hergerichtet.

 

„Der sieht auch noch so gut aus…“, das fällt mir jetzt ein.

 

Dazu wollte ich Jonathan später noch was fragen, aber diese Frage könnte ich auch Edward stellen. Die denken wohl, ich bin so blöd und kriege nicht mit, wie die sich heimlich immer wieder kurz an den Händen halten und schwer anschmachten?

Frage beantwortet mit Taten. Genau wie meine Freundin und ich, stelle ich sehnsuchtsvoll fest. Liebe ist doch so etwas Schönes! Im schönsten Abendrot umarmen wir uns und schwören, immer füreinander da zu sein und für unsere Interessen zu kämpfen. Es ist Ostern, ich bin ein besserer Mensch geworden und habe wirkliche Freunde gefunden.

 

E-N-D-E

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