Peter
Der Laumer war heute sehr anstrengend. Nichts war gut genug, ausführlich genug. Linda sah zu Alex, rollte mit den Augen und er warf Ihr einen Luftkuss zu. Ich wunderte mich, warum sie sich nicht während Joshs Abwesenheit zusammensetzten.
“Ladies and gentlemen, today’s homework will be chapter 10. I want you to write a little summary, as usual. Class dismissed!”
Die fürchterlichen 45 Minuten gingen endlich zu Ende. Laumer packte seine Sachen und winkte mich unauffällig zu sich rüber.
“Peter, sie haben heute kein Wort gesagt. Fühlen sie sich heute nicht wohl? Sie wirken etwas kränklich. Das kenne ich von ihnen nicht.“
Soviel Aufmerksamkeit hatte ich dem gar nicht zugetraut.
“Sie haben Recht, mir geht es heute nicht gut. Ich werde wohl besser gehen.“
Laumer nickte.
“Gut, ich werde es noch im Klassenbuch vermerken. Linda! Kommen sie bitte her!“
“Herr Laumer?“
“Peter wird nach Hause gehen. Kümmern sie sich heute bitte um das Klassenbuch.“
“Kein Problem, Herr Laumer.“
Linda sah mich fragend an und formte lautlos die Worte ‚Schulhof, gleich!’
Ich verabschiedete mich vom Herrn Studienrat und folgte ihr.
“Was ist los? Bist Du krank?“
“Nein. Aber mich lässt unser Gespräch nicht los. Aber wenn Laumer denkt ich wäre krank, dann ist es gut. Ich kann dann gleich ins Krankenhaus. Ich muss mich bei Josh wegen gestern noch entschuldigen. Er kann ja nichts dafür.“
“Verstehe. Peter, steigere Dich bitte nicht so hinein, wegen Josh. Du weißt selber, dass es sinnlos ist.“
“Leider. Ich werde schon damit klarkommen, wie die letzten Jahre auch. Aber es ist mittlerweile schwer geworden. Früher war er ja wenigstens noch eine Klasse höher.“
Linda nahm mich tröstend in den Arm.
“Ich weiß. Wir werden Dir auch helfen, soweit es geht.“
“Danke. So, ich mach mich auf den Weg. Bis morgen.“
“Viel Glück. Und das mit morgen vergiss mal schön. Wir sprechen uns später.“
Kurz darauf machte ich mich auf den Weg. Bald sah ich das Krankenhaus vor mir. Wie und was wollte ich ihm eigentlich sagen? Er sollte ja noch nicht wissen, was ich fühle. Ich bekam langsam Angst vor meiner eigenen Courage. Vielleicht war das hier doch keine gute Idee? Ich stand vor dem Krankenhaus, noch wäre Zeit zur Umkehr gewesen. Aber es zog mich weiter.
Ich lief die Treppe in den zweiten Stock. Alles ging so schnell. Und dann näherte ich mich dem Zimmer. Durch die offene Tür drangen zwei Stimmen.
Joshua
“Ich freu mich schon, wenn wir hier raus sind.“
Flo lächelte mich an.
“Ja, jeder Tag hier ist einer zuviel. Hast Du eigentlich schon eine Idee, wie wir unseren Deal gestalten wollen?“
Gute Frage. Ja, wie eigentlich? Er war ja offensichtlich ziemlich eingeschränkt, schon bei Kleinigkeiten. Ich konnte ja schlecht jeden Morgen, Mittag und Abend nach dem Rechten sehen.
“Also ehrlich gesagt, schwierig. Nachhilfe ist die eine Sache, aber Dir zu helfen. Da müsste ich schon bei Dir für ein paar Tage einziehen.“
Ich hatte das eigentlich eher scherzhaft gemeint, aber Flo sah mich relativ erschrocken an.
“Denkst Du DAS wäre eine gute Idee?“
So langsam dachte ich ernsthaft darüber nach. Auf Jenny musste ich zurzeit ja keine Rücksicht nehmen. Meine Eltern wären vielleicht etwas überrascht, aber eigentlich auch kein Problem. Ein paar Euros zur Kostendeckung dürften auch abfallen.
“Von mir aus kein Problem. Aber kommst Du damit klar? Vom Platz her kein Problem, Deine Couch ist groß genug, Geld für Verpflegung geben mir bestimmt meine Eltern, Jenny… Jenny ist Geschichte. Wenn es Dich nicht zu sehr belastet?“
“Wenn Du mir nicht jeden Tag nackt vor der Nase herum springst.“
Er versuchte ein überzeugendes Grinsen. Es blieb beim Versuch.
“Werde mich beherrschen. Noch hast Du die Wahl. Wenn Du unsicher bist, ob Deine Gefühle das überstehen, dann sag jetzt nein.“
“He, das ist eine Wortfalle! Ich sage jetzt ‚nein’, aber es ist ein ‚nein’ zum Rückzieher.“
Ich wollte gerade antworten, als vor unserer Tür etwas mit einem lauten Krach zu Boden fiel. Nach einem Rascheln entfernte sich jemand mit eiligen Schritten.
“Ähm, wo war ich? Ah ja, dann haben wir eine Abmachung. Ich werde nachher mit meinen Eltern reden.“
Damit war es nun beschlossen.
Florian
Josh wollte also kurzfristig in meine Wohnung ziehen. Aufgewühlt griff ich nach meinem Laptop und versuchte mich mit einigen Runden Solitär abzulenken. Es lang mir, mehr schlecht als recht. Dieses Herumgeklicke mit nur der linken Hand gestaltete sich schwierig. Nach einer Stunde hatte ich die Nase voll und schaltete die Kiste aus.
“Ich geh mal für ne Weile raus.“
“Okay, ich lese noch ein wenig in Deinem Buch.“
Ich lief am Schwesternzimmer vorbei und sah Jens dort alleine am Computer sitzen. Ich lehnte mich an die Wand gegenüber der Tür, und sah ihm eine Weile zu. Er wirkte konzentriert, bis eine der anderen Schwestern hineinging. Er blickte kurz auf und lächelte, als er mich sah. Er stand auf und kam auf den Flur.
“Hey, was ist los mit Dir, Florian?“
“Hast Du etwas Zeit?“
Er sah auf die Uhr.
“In ein paar Minuten hab ich Pause, aber vorher muss ich noch ein paar Eintragungen ins System machen.“
“Ich warte hier.“
Jens strich mir mit der Hand über den Arm und ging zurück an den PC. Peer hatte sich da wirklich ein kleines Juwel geangelt. Er tippte noch ein paar Daten ein und kam wieder zu mir.
“Okay, ich wär dann soweit. Kantine?“
“Gerne.“
“Okay, dann mal los, ich lade Dich ein.“
In der Kantine setzte ich mich an einen Tisch und Jens ging zum Tresen. Er besorgte einen Salat und Wasser für sich, und einen grünen Tee für mich.
“Machst Du ne Diät, oder so?“
Er grinste mich an und piekste sich in die Hüfte.
“Nur ein wenig. Ich war in letzter Zeit relativ faul und hab etwas angesetzt.“
“Steht Dir aber.“
Er grinste wieder „Danke fürs Kompliment, aber für Schmeicheleien wolltest Du bestimmt nicht mit mir sprechen.“
“Erwischt. Es geht um Josh. Er hat mir vorhin einen Vorschlag gemacht und ich konnte ihn nicht ablehnen, auch wenn es vernünftiger gewesen wäre.“
Er blickte mich fragend an.
“Wir hatten ja diese Abmachung… ich gebe ihm Nachhilfe, und er unterstützt mich etwas daheim. Und jetzt möchte er für eine kleine Weile bei mir einziehen.“
“Oh, oh. Und Du hast zugestimmt? Wird das nicht ein wenig viel für Dich?“
“Vermutlich. Aber ich werde mich zusammenreißen.“
“Das ehrt Dich zwar, aber Du darfst gerne auch mal an Dich denken. Du liebst ihn, hast ihn ständig vor der Nase. Das ist doch etwas zuviel des Guten, oder nicht?“
“Mach mir ruhig Mut…“
“Wenn Du willst, da finde ich bestimmt noch aufmunternde Worte. Obwohl ich eigentlich dachte, Du wärst an meiner ehrlichen Meinung interessiert.“
“Du hast ja Recht. Ich weiß auch nicht was ich mir davon erwarte.“
“Doch, dass weißt Du. Du hoffst das er vielleicht doch etwas für Dich empfinden könnte und er merkt das er schwul ist.“
“Vielleicht.“
“Mensch Florian, verrenne Dich nicht. Und vor allem: er darf sich nicht unter Druck gesetzt fühlen. Denk an unser Gespräch neulich. Er wirkt vielleicht wieder stabiler, aber die Gründe für seinen Zusammenbruch sind immer noch da. Manchmal braucht es nur eine kleine Erschütterung, und sein Kartenhaus stürzt wieder zusammen.“
Verdammt, Jens hatte Recht. Joshs Fröhlichkeit hatte mich vergessen lassen, was mit ihm los war. Aber für einen Rückzieher war es zu spät.
“Ich hab wohl nicht nachgedacht. Aber ich werde mich unter Kontrolle halten und gut auf ihn aufpassen. Wenn ich jetzt einen Rückzieher mache, was soll er dann denken? Er hat bei seinem Zusammenbruch gesagt, dass er sich für wertlos hält. Wenn ich jetzt absage, ich weiß nicht wie er es auffasst.“
“Schon klar. Da wirst Du jetzt wohl durch müssen. Ich will nur nicht, dass DU auf der Strecke bleibst. Also, wenn was ist, Du kannst mich jederzeit anrufen.“
Er schrieb mir seine Nummer auf einen Block, den er aus der Hemdtasche zog.
“Wenn Du mich da nicht erreichst, dann versuche es bei Peer auf dem Handy.“
“Danke. Ich glaub das ich auf Dein Angebot eingehen werde.“
“hmmm, Florian… ich sollte jetzt eigentlich nichts sagen, aber ich hab ja auch Augen im Kopf.“
“Sogar sehr hübsche Augen.“
Er lächelte verlegen.
“Jetzt hör mir mal kurz zu. Es ist nur rein spekulativ, aber ich sehe, dass ihm Deine Nähe gut tut. Er scheint Dich sehr zu mögen. Ob da wirklich mehr sein könnte, ich weiß es nicht. Eigentlich hätte ich es auch nicht sagen sollen. Ich will Dir ja keinen Floh ins Ohr setzen.“
Das war ja interessant. Ich unterdrückte einen freudigen Seufzer, aber meine Augen mussten wohl strahlen, so wie Jens mich jetzt ansah.
“Was auch immer das ist, warte darauf was, er tut. Versprochen?“
“Versprochen.“
Ich sah ihm zu, wie er seinen Salat langsam verspeiste. Er hatte mir etwas Mut und Hoffnung gegeben. Aber er hatte Recht, es war mit Vorsicht zu genießen. Es war auch Möglich, dass Josh sich einfach nur verstanden und akzeptiert fühlte. Doch es war ein Strohhalm, an den ich mich einfach klammern musste.
Viel zu schnell endete Jens Pause, und wir gingen zurück auf die Station, wo Josh immer noch in meinem Buch las.
Linda
Schulschluss. Ich konnte es kaum noch erwarten. Fünf Minuten bis zur Schulglocke. Alex lächelte mir schon freudig zu. Ich wollte ihm ja noch von Peter erzählen.
Endlich, die Schule war aus. Alex stürmte gleich auf mich zu. Schnell brachte ich das Klassenbuch zum Fach vor dem Lehrerzimmer.
“Kleines, wollen wir noch eben ins Krankenhaus?“
“Gerne. Ich würde Dir auch gerne noch was erzählen, aber erst gleich, wenn wir allein sind.“
“Oh, Du machst es spannend.“
Nach einem kurzen Fußmarsch waren wir dann auch allein. Hand in Hand liefen wir zum Krankenhaus.
“Ich hab heute mit Peter geredet. Wegen gestern, weißt Du. Und jetzt macht alles Sinn.“
“Was ist mit Peter?“
“Er ist verliebt.“
“Cool! Wer ist die Glückliche? Und was hat das mit gestern zu tun?“
“Also, „die Glückliche“ ist Josh. Und das hat ALLES mit gestern zutun.“
“Oh… Peter ist schwul?“
“Nein. Er steht auf Jungs.“
Alex sah mich total entgeistert an.
“Jahaaa doch. Er ist schwul.“
“Weiß Josh schon von seinem Glück?“
“Nein, Peter will es nicht.“
“Ist ja okay das er schwul ist, aber warum Josh? Das kann doch nichts werden.“
“Es dürfte ihm wohl klar sein.“
Schweigend gingen wir den Rest des Weges. Alex schien angestrengt nachzugrübeln. Er sah nicht gerade glücklich aus. Peter und er waren eigentlich schon lange Freunde, und vielleicht wurmte es ihn, dass Peter ihm nie etwas gesagt hatte, oder es machte ihn traurig, dass Peter einer unerfüllbaren Liebe hinterher hing. Mir tat es ja auch Leid für ihn.
Bald darauf waren wir am Krankenhaus und näherten sich Joshs Zimmer. Auf dem Boden vor der Tür lag ein Portemonnaie, es sah aus wie das von Peter. Ich hob es auf und sah hinein. Peter Busseck, stand auf dem Perso. Zusammen betraten wir das Zimmer.
“Hi Josh, Hallo Herr Dietz.“
Sie begrüßten uns.
“Na, wie ich sehe hat sich Peter schon entschuldigt.“
“Peter? Wovon sprichst Du, Linda?“ Josh sah fragend rüber.
“Er war doch hier? Er hat sogar seinen Geldbeutel vor der Tür verloren.“
Florian sah irritiert zu Josh.
“Hier war aber niemand. Nur einmal ist etwas Seltsames gewesen.“
“Was war seltsam?“
“Also vorhin haben Flo und ich darüber gesprochen, dass ich für eine Weile zu ihm gehe, um ihm ein wenig zu helfen, solange seine Schulter verletzt ist. Auf dem Flur fiel irgendwas runter und jemand ist weggerannt.“
Plötzlich war alles für mich klar. Peter hatte sie gehört und ist abgehauen. Josh zieht zu Florian? Das musste er ja in den falschen Hals bekommen.
“Josh, ich glaub wir haben ein großes Problem.“
“Linda, jetzt rede schon!“ mischte sich Alex ein.
“Josh, Peter ist schwul und wohl ne Weile schon in Dich verliebt. Das auf dem Gang muss er gewesen sein.“
“Oh nein, nicht noch einer bitte.“
Josh seufzte gequält auf. Florian wirkte nach dieser Aussage plötzlich so blass, doch gerade er fing sich und durchbrach als Erster die Stille.
“Geht besser zu ihm. Er hat bestimmt etwas falsch verstanden.
Peter
Hatte ich das richtig verstanden? Josh sprach von ‚Gefühlen’, die dieser Florian ihm gegenüber hatte? Vor Schreck fiel mir mein Rucksack aus der Hand. Ich hob ihn wieder auf und rannte davon. Ich ertrug das nicht. Wieso durfte der Dietz bei Josh sein? Warum sollte Josh bei ihm wohnen?
In mir brach in dem Moment eine Welt zusammen. Florian nahm mir Joshua weg! Sie waren so vertraut. Meine Tränen trübten mir die Sicht. Ich rannte durch die Parkanlage nach Hause. Etwas abseits vom Weg stolperte ich über eine Wurzel, die wie eine Schlinge aus dem Boden ragte. Mit schmutzig-nassen Klamotten rappelte ich mich wieder auf und rannte weiter. Vor Linda hatte ich mich zum Idioten gemacht, vor mir auch. Ich war lächerlich. Daheim rannte ich in mein Zimmer und warf mich heulend auf mein Bett.
Plötzlich hatte ich eine Idee. Ja, da war doch ein Ausweg. Meine Mutter hatte doch Schlaftabletten in der Schublade von Ihrem Nachttisch. Ich ging in das Schlafzimmer meiner Eltern, nahm die Schachtel aus der Schublade. Sie war noch fast voll, ausreichend. Mit der Schachtel ging ich zurück in mein Zimmer und setzte mich auf das Bett. Bald würde niemand mehr über mich lachen. Niemand.