Die zweite Chance – Teil 10

„Okay, du darfst dich wieder langlegen.“

„Bekomm ich das ewig zu hören?“

Marcus verließ grade die Halfpipe und machte Platz für Florian.
Fast jedes Mal zog ihn Marcus mit dem Sturz auf, den er bei ihrem ersten Mal im Park hatte. Für beide war es fast schon zum Ritual geworden. Aber nach diesem Unfall war zum Glück nichts weiter passiert.
Jetzt schwang er sich auf seinem Board wieder in die Halfpipe um zu zeigen war er konnte. Allerdings war er auch wieder etwas vorsichtiger geworden.

Nur am Rand bekam er mit wie Marcus ihn nach einer Weile wieder herausrief.
Florian lies sich ausschwingen und verließ die Rampe. Marcus saß daneben auf einer kleinen Treppe.

„Was ist?“

„Wir sind nicht mehr allein.“

Oben auf der Halfpipe standen schon Max und Peter in den Startlöchern. Beide waren an den Wochenenden auch häufiger im Park.

„Und du bekommst ja nie mit wenn andere auch mal rein wollen.“

„Warum müssen die auch immer herkommen?“

Florian setzte sich zu ihm auf die Treppe. Ganz ernst hatte er das sowieso nicht gemeint. Es machte einfach mehr Spaß wenn mehrere fuhren und man auch mal Anderen zusehen konnte. Außerdem war er ziemlich außer Atem und konnte eine Pause wirklich brauchen.

„Was machst du eigentlich wegen Sven?“

„Was soll ich denn da machen? Ich weiß nicht mal ob er eine Freundin hat, gar nicht zu sagen ob er schwul ist.“

„Dann solltest du das herausfinden wenn du wirklich Interesse an ihm hast.“

„Und wie soll ich das machen?“

Nach dem letzten Dienstag war Sven zwar etwas offener geworden und verbrachte auch mal die Pausen mit ihnen. Aber was persönliche Dinge anging war er noch immer verschlossen. Florian konnte noch nicht mal sagen ob er noch Geschwister hatte und das obwohl sie Nachbarn waren.

„Ich kann ihn doch nicht einfach fragen. Da könnt ich doch gleich erzählen dass ich schwul bin.“

„Wäre das so schlimm?“

„Du bist gut. Ich kenn ihn doch eigentlich gar nicht.“

„Dann lern ihn kennen!“

„Und wie? Ich habe keine Lust, dass nächste Woche die ganze Schule über mich Bescheid weiß. Dann könnt ich gleich ne Anzeige in der Schülerzeitung aufgeben.“

„Du bist manchmal echt kompliziert. Frag ihn doch einfach mal ob er einen Film gucken will.“

„Hast du eigentlich mit meiner Mutter drüber gesprochen?“ fragte Marcus nachdem sie den Anderen eine Weile in der Halfpipe zugesehen hatten.

„Nur kurz am Dienstag. Aber viel hat sie mal wieder nicht gesagt. Eigentlich nur, dass ich das schon hinbekomme.“

„Und für so was bezahlen deine Eltern?“ Marcus konnte sich ein kichern nicht verkneifen, „toller Rat…“

„So war sie eigentlich von Anfang an. Wirklich gesagt, was ich machen soll hat sie nie. Und seit meinem Geburtstag hält sie es eh kaum noch für nötig.“

„Und das heißt?“

„Ich muss nur noch einmal im Monat hin“, freute sich Florian.

„Schon wieder ein Patient weniger. Hoffentlich wird mein Taschengeld nicht wieder gekürzt.“

„Idiot.“ Florian verpasste Marcus eine Kopfnuss, nur um kurz danach aufzuspringen.

„Hey! Ich kann wieder.“

Florian sah, dass Max und Peter nun ebenfalls eine Pause einlegte. Marcus Protest, weil er jetzt dran sei, wurde einfach ignoriert.

Eine Stunde später und nach etlichen Wechseln in der Halfpipe, verabschiedeten sie sich von den beiden Anderen und verließen den Park.

„Kommst du noch mit zu mir?“

„Geht leider nicht, ich muss heute auf Laura aufpassen. Aber du kannst ja mitkommen, noch `nen Film gucken.“

Den Weg zu Florian brachten beide Schnell hinter sich.
Im Haus angekommen schienen seine Eltern auch schon auf ihn zu warten. Kurz danach zogen sie sich ihre Jacken an und verabschiedeten sie sich auch schon zu ihrem Pärchenabend.

„Was sollen wir denn gucken?“

„Ich befürchte die Entscheidung liegt bei Laura.“

„Disney?“

„Höchst wahrscheinlich.“

Marcus verzog gespielt sein Gesicht und folgte Florian in die Küche. Zusammen bereiteten sie einen Pizzateig zum selbst belegen vor.

„Hast du viel Hunger?“

„Klar!“

„Dann machen wir zwei.“

Gemeinsam mit Laura verteilten sie schließlich Schinken, Annanas, Brokkoli und zum Schluss noch Ei auf dem Backblech. Während des Backens kümmerte sich Florian erst einmal um die Getränke. Drei Gläser und Cola sollten für den Abend reichen.
Laura saß vor dem Regal mit den DVDs und diskutierte mit Marcus, der sie unbedingt von den Disney-Filmen abbringen wollte. Florian setzte sich auf das Sofa und beobachtete die Beiden. Nach zehn Minuten beendete Laura einfach die Diskussion.

„Du weißt doch gar nicht was toll ist.“

Damit zog sie „Ariel“ aus dem Regal und lies einen verdutzten Marcus sitzen.
Schon oft hatte Florian selbst diese Diskussionsführung bei Laura erlebt. Lachend verließ er das Wohnzimmer um nach der Pizza gucken. Ein Blick in den Ofen zeigte ihm, dass sie sich noch ein wenig gedulden mussten. Er wollte grade wieder ins Wohnzimmer gehen, wo Marcus scheinbar noch immer nicht aufgegeben hatte, als ihn die Türklingel davon abhielt.
Zu Florians Überraschung fand er vor der Türe einen verlegenen Sven vor.

„Hi, ich hab euch vorhin reingehen sehen und wollte fragen was ihr heut noch so macht.“

„ähm… nur Fernsehgucken. Aber… du kannst gerne reinkommen.“

„Danke, ich glaub noch einen Samstag alleine zu Hause sitzen hätte ich nicht ausgehalten.“

„Komm am besten mit, du kannst mir tragen helfen. Hast du Hunger?“

„Eigentlich hab ich schon gegessen. Was hast du denn?“

Wie nicht anders zu erwarten trugen sie dann doch vier Teller ins Wohnzimmer. Marcus staunte nicht schlecht als er Sven sah. Er fing sich jedoch schnell wieder und grinste als er an seinen Tipp dachte, mit Sven einen Film zu gucken. Nur hatten weder er noch Florian dabei an einen Kinderfilm gedacht.
Eine Weile sahen sie schweigen den bunten Fischen und Meeresfrüchten beim singen zu. Nach und nach wurde dabei die Pizza weniger.
Nachdem Laura satt war setzte sie sich mit ihrem Glas so dicht vor den Fernseher wie Florian es grade noch zuließ. Für die drei ergab sich dadurch die Gelegenheit sich wenigstens leise zu Unterhalten.

„Warum seid ihr eigentlich hergezogen?“ wurde Sven von Florian gefragt.

„Das lag an meinen Eltern. Wir haben früher schon einmal hier gewohnt, aber ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern. Wegen einem Job sind wir damals weggezogen. Für meine Eltern stand aber immer fest, dass wir zurückkommen.“

„Und du wollest nicht mit.“

„Ja, das hier ist nicht meine Heimat. Und meine Eltern haben mich auch nicht gefragt.“

„Deshalb der Streit mit deinem Vater?“

„Er ist der Meinung, dass ich auch nicht gefragt werden muss. Wenn ich volljährig bin könne ich ja hinziehen wo ich will. Aber bis dahin…“

„Krass, da kann ich dich gut verstehen.“

„Ich vermiss halt meine Freunde. Und meine Schwestern sind auch nicht mitgekommen.“

„Du hast Schwestern?“

„Ja, die sind acht Jahre älter als ich und haben schon lange nicht mehr zuhause gewohnt.“

„Und deine Mutter?“

„Die ist ganz in Ordnung. Sie akzeptiert wenigstens, das ich nicht umziehen wollte und lässt mich so weit in Ruhe.“

„Aber für dich eingesetzt hat sie sich auch nicht.“

„So weit ging ihre Unterstützung dann doch nicht. Aber sie besteht halt auch nicht darauf, dass ich sonntags mit beim Kaffee sitze und auf fröhliche Familie mache“

Mittlerweile war auf dem Fernseher nur noch der Abspann zu sehen.

„Flori, ich will jetzt noch einen Film“, war Lauras leise Stimme zu hören.

Sie lag schon eine ganze Weile mit einem Kissen auf dem Teppich. Ihr zum Glück leeres Glas hatte sie ohne es zu merken umgestoßen. Florian tauschte die DVD aus und kurz darauf lief der nächste Zeichentrickfilm. Auf eine erneute Diskussion mit Laura hatte nicht einmal Marcus Lust.

„Du lässt dich Flori nennen?“

„Nur wenn es unbedingt sein muss. Meine Familie und vor allem Laura nennt mich so.“

„Aber nenn ihn bloß nicht Flo, das mag er nicht.“

„Marcus!“

„Was denn? Er muss doch wissen wie er dich nicht nennen darf.“

„Und du bringst ihn erst auf die Idee.“

Sven saß grinsend daneben.

„Man würde echt nicht auf die Idee kommen das ihr befreundet seid.“

*-*-*

In der nächsten Woche hatte Florian Klasse nicht das Glück, dass ihr Sportunterricht ausfiel.

„Hallo, Leute. Tut mir Leid, dass der Unterricht in der letzten Woche ausfallen musste. Aber euch war das wahrscheinlich sogar ganz Recht.“

Ihre Klasse stand im Halbkreis vor der Turnhalle und wartete auf die obligatorische Einleitung durch ihren Sportlehrer.

„Wegen des Wetters werden wir die Leichtathletik immer dann machen wenn es nicht Regnet und nicht zu kalt ist. Also denk in der nächsten Zeit an eure Sportsachen für draußen. Ansonsten steht Geräteturnen an, so wie heute auch. Also zieht euch für die Halle um und legt auch sämtlichen Schmuck ab. Ihr kennt ja die Sicherheitsbestimmungen.
Und beeilt euch bitte!“

Nur zögerlich kam die Gruppe in Bewegung, was aber auch kein Wunder war. Wirklich beliebt war das Geräteturnen nicht, stand aber als Ausgleichsport zur Leichtathletik auf dem Plan.
Florian folgte den anderen Jungs den linken Gang entlang zu ihren Umkleideraum.
Dort streifte er sich direkt die Schuhe von den Füßen. Sein T-Shirt und die Hose folgten.
Währenddessen versuchte er unauffällig Sven zu beobachten. Aus den Augenwinkeln sah er wie sich der Andere grade sein Shirt über den Kopf zog.
Braungebrannte Haut spannte sich über gut definierte Muskeln. Florian fragte sich welchen Sport Sven wohl betrieb. Von alleine sah bestimmt niemand so aus.
Er band grade seine Schuhe als er Marcus neben sich bemerkt.
So ganz unbemerkt waren seine Blicke aber schein doch nicht gewesen. Marcus stand neben ihm und bekam sein Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht.
Florian merkte wie er rot wurde.

„Sei bloß ruhig!“ zischte er ihm zu.

Mit seinem Portemonnaie und Schlüssel lief er in die Halle. Seine Wertsachen schmiss er zu dem kleinen Haufen wo schon die Sachen der Anderen lagen.

„Jetzt sei doch nicht sauer.“

Marcus kam hinter ihm her gelaufen.

„Es macht einfach Spaß dich zu ärgern.“

„Dann versucht das wenigstens etwas unauffälliger zu machen.“

„Es weiß doch keiner warum ich gelacht habe. Jetzt mach kein Drama draus.“

„Ich will einfach nicht, dass es die ganze Schule weiß.“

„Ist ja gut ich halt mich zurück, versprochen.“

Irgendwie blieb das ungute Gefühl bei Florian. Marcus war immerhin genauso chaotisch wie er.

„Ich hab einfach Angst, dass du dich irgendwann verquatschst.“

Marcus zog Florian in eine Ecke der Halle.

„Ich weiß, dass du Angst hast und ich pass auf, das solltest du eigentlich wissen. Ich habe dir im Sommer was versprochen. Ich bin dein Freund und bin für dich da. Ich hoffe das weißt du noch.
Dass ich dich bei unseren Freunden geoutet habe ist mir echt nicht leicht gefallen. Aber ich dachte einfach, dass es in dem Augenblick das Richtige war. Ich würde das nie bei jemandem machen wo ich mir nicht sicher wäre; egal ob beabsichtigt oder unabsichtlich.“

„Ich weiß, tut mir Leid.“

„Und rede bitte mit mir wenn irgendetwas ist!“

„Wenn die beiden Herren da hinten auch endlich zu uns kommen würden!“

Der Rest der Klasse stand schon ordentlich aufgereiht und wartete nur noch auf Florian und Marcus.

„Alles klar mit uns?“

„Ja! Alles klar.“

Beide gingen zu ihren Freunden, anstatt sich an eines der Enden zu stellen, drängelten sich in die bis dahin ordentliche Reihe und verbreiteten mal wieder Chaos.

„Okay alles wie im letzten Jahr. Vier Stationen, zwei Kästen und zwei Böcke. Die ersten zwölf kümmern sich um die Matten. Die nächsten acht holen die Geräte und die letzten Acht die Sprungbretter! Abmarsch!“

Wie viele andere hatte auch ihr Sportlehrer einen ziemlichen Kasernenton drauf. Aber wenigstens funktionierte so der Aufbau problemlos. Als Florian zusammen mit Michael einen Bock in die Halle zog, lagen schon alle Matten akkurat auf dem Boden.

Die erste Sportstunde selbst war geprägt von einfacheren Übungen. Eigentlich mussten sie nur über den Bock springen, dann dem Nächsten Hilfestellung geben und anschließend in der anderen Reihe anstellen und über den Kasten springen.
Die Sprungübungen sollten ihnen nach den Ferien erst einmal wieder ein Gefühl für die Geräte geben.

Nach einer Stunde kam schließlich ein erlösender Pfiff von ihrem Lehrer.

„Okay, das war es für heute. Baut bitte wieder alles in den Gruppen ab wie ihr es auch aufgebaut habt.“

Florian ging wieder zum Bock um diesen zusammen mit Michael wieder in den Geräteraum zu schieben.

„Erst die Matten, habt ihr denn alles wieder vergessen?!“

Für Florian und Michael hieß das, fast bis zum Schluss zu warten. Als sie das schwere Gerät endlich verstaut hatten war der Großteil schon fertig. Dementsprechend schnell wurde danach dann auch die Stunde beendet.

„Hey! Guckt mal was bei den Sachen liegt.“

Malte gehörte zu den Schülern, dessen großer Traum es ist die Firma des Vaters zu übernehmen, zu verkaufen und dann mit dem Ferrari von einer Highsociety Party zur nächsten zu fahren.
Nach dem Ende der Stunde war Malte direkt losgelaufen und stand nun an der Bank, wo alle ihre Wertsachen deponiert hatten.
Florian war mit ihm nie richtig warm geworden.
Auch vom aus der Mitte der Halle konnte Florian sehen was Malte in seiner Hand hochhielt.

Seine Kette.

Florian fragte sich, wie er nur so Gedankenlos sein könnte sie einfach zu den anderen Sachen zu legen.
Er spürte wie sich sein Magen zusammenzog als er die nächsten Worte von Malte hörte.

„Wir haben nen Homo der Klasse.“

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