„Wo gehen wir hin?“, wollte Tomaso wissen.
Ich öffnete die Tür zu unserem Schlafzimmer und drückte auf den Lichtschalter. Dann machte ich eine einladende Bewegung mit der Hand für Tomaso. Zögernd folgte er meinem Wink und lugte ins Schlafzimmer.
„Du wolltest das Bild sehen, das so viel Geld wert ist? Es hängt über dem Bett!“
Die Augen des siebzehn Jährigen wurden groß.
„Wow…“, entfleuchte es ihm und lief langsam an unser Bett heran.
„Das…, das bist ja du und du hast gar nichts an!“
Konnte etwas peinlicher sein? Mein Gesicht glühte vor sich hin und ich war mir nicht sicher was heller war. Ich oder die Deckenlampe?
„Fast nackt!“, meinte ich nur und räusperte mich.
„Musstest du lange dafür Model sitzen?“, fragte Tomaso und sein Kopf beugte sich einmal nach links und dann nach rechts.
„Gar nicht…! Placido hat es aus seinen Erinnerungen gemalt.“
Nun schaute Tomaso zwischen dem Bild und mir hin und her und langsam wurde mir das Ganze doch zu viel.
„Komm lass uns wieder hinüber gehen, das Essen wird sonst kalt!“
Ich zeigte Richtung Tür.
„Er muss dich ganz schön mögen, wenn er dich so gemalt hat.“
Dieser Satz kam nun fast geflüstert. Sein Gesicht war nun genauso rot wie meins.
„Ja das tut er!“, meinte ich nur und schob ihn aus dem Schlafzimmer.
*-*-*
Das Essen war fast ruhig verlaufen. Tomaso war wieder in seiner Gedankenwelt versunken. Auch Jakob sagte nicht groß. Danach war Küchenpflege angesagt, sprich sauber machen. Tomaso half auch etwas, bevor er nur mit einem „Gute Nacht“, das Zimmer verließ.
„Entschuldige Davide, ich habe nicht darüber nach gedacht, als ich das Bild erwähnte.“
Ich musste grinsen.
„Hat dich das jetzt die ganze Zeit gewurmt?“
Jakob nickte.
„Vergessen wir das einfach, okay?“
„Wenn du meinst…“
„Ja tu ich, mich würde nur interessieren, was da jetzt in Tomasos kleinen Köpfchen vorgeht.“
„Das hast du auch gemerkt?“
„Man muss keine großen Menschenkenntnisse haben, um zu merken, das Tomaso mit seinen Gedanken wo anders war.“
Ich spülte das Waschbecken aus und trocknete danach meine Hände ab.
„Ich bin dann in meinem Zimmer, wenn noch etwas ist“, sagte Jakob und ließ mich alleine.
Sollte ich noch einmal nach Tomaso schauen, oder ihn mit seinen Gedanken alleine lassen? Ich ließ mich auf dem Sessel vor dem Kamin nieder, dass immer noch gut brannte. Jakob hatte wohl noch etwas nachgelegt. Mein Blick fiel auf das Handtuch, in dem das Buch eingewickelt war und immer noch auf dem Kaminsims lag.
Ich erhob mich wieder nahm den Stoffbündel vorsichtig in die Hand und lief zum Sessel zurück. Sorgsam entwickelte ich das Handtuch und das Album kam zum Vorschein. Wie schon befürchtet, war das Album total hinüber.
Ich wusste ja nicht, wie alt es war, aber das Leder löste sich ab und mir schien, als wäre es noch mehr aufgequollen, als vorher. Vorsichtig öffnete ich es und ein leicht muffiger Geruch schlug mir entgegen.
So wird das nichts, dachte ich und erhob mich wieder. Ich löschte das Licht und verließ den Wohnbereich, um wenig später mein Büro zu betreten. Froh war ich, dass ich etwas Ordnung auf meinem Schreibtisch geschaffen hatte, so konnte ich das Buch, auf der freien Fläche ablegen.
Schnell war die Schreibtischlampe angemacht und ich ließ mich auf meinen Stuhl nieder. Wie auch dem Umband, hatten sich viele Seiten gelöst und klebten aneinander. Das würde eine größere Aktion werden.
Ich atmete tief durch und beschloss, dies mit Tomaso gemeinsam zu tun, es war schließlich sein Album. Ich ließ das Buch einfach liegen, deckte es mit dem Handtuch ab und löschte das Licht.
Fürs Bett war es noch etwas früh, so entschloss ich mich noch etwas Fernseh zu schauen.
*-*-*
Ich hatte mich gerade fertig gemacht und schlug die Bettdecke zurück, als es an der Tür klopfte es an meiner Tür. Nicht wie gewohnt, war ich nackt, sondern hatte mir wohlweislich eine Shorts und Shirt angezogen.
„Ja?“
Die Tür wurde geöffnet und Tomasos Kopf schaute herein. Verwundert schaute ich ihn an.
„Noch wach?“, meinte ich und schaute auf die Uhr.
„… kann nicht schlafen.“
Verständlich nach so einem Tag.
„Komm rein“, sagte ich nur und setzte mich aufs Bett.
Leise trat der siebzehn Jährige ein und verschloss die Tür. Dann schaute er mich an.
„Setz dich.“
Ich klopfte einfach aufs Bett.
Langsam tapste er auf mich zu, immer wieder auf das Bild schauend.
„War wohl doch etwas viel heute, oder?“, sprach ich einfach weiter und versuchte nicht rot zu werden.
Tomaso nickte und setzte sich vorsichtig auf den Bettrand. Ich sah ihn durchdringend an und wartete darauf, dass er etwas sagte. Aber es kam nichts. Ich atmete tief durch und machte es mir bequem.
„Was hast du auf dem Herzen, Tomaso? Ich sehe dir an, dass dich vieles beschäftigt.“
Ich war zwar kein Hellseher, aber es gab genug über den Tag verteilt, worüber sich der Junge den Kopf zerbrechen konnte.
„Ich … ich…“, fing er an zu stottern.“
„Möchtest du hier schlafen?“
Der Junge sah mich mit seinen immer noch wachen Augen an. Schöne Augen dachte ich für mich.
„Darf…, darf ich das denn?“
„Wieso solltest du nicht dürfen?“
„Hat denn Signore Romano nichts dagegen, wenn ich hier bin?“
„Wieso könnte er etwas dagegen haben?“
Er schaute kurz auf das Bett, dann wieder zu mir. Jetzt, wo er so dicht vor mir saß und ich ihn näher betrachtete, fiel mir auf, dass ich keinen Jungen, sondern einen angehenden Erwachsenen vor mir hatte.
Sein Gesicht war nicht mehr kindlich und rundlich, es zeichneten sich erste markante Stellen auf, auch fiel mir auf, dass er ein kleines Muskelpaket war. Aber all das widersprach seinem Verhalten.
Sein Grundwissen war gut, was er sicher Monsignore Viccario zu verdanken hatte, aber sein Benehmen erinnerte mich eher an zwölf oder dreizehn Jährigen.
„Das ist doch sein Bett…“
Ich musste grinsen und zog den Gedanken, einen zwölf Jährigen vor mir zu haben, innerlich zurück.
„Placido hat sicher nichts dagegen, wenn du in seinem Bett schläfst, ich tu es ja auch!“
„Du bist ja auch sein…“
„Freund?“, beendete ich seinen Satz.
Tomaso nickte leicht.
„Entschuldige, wenn ich dich das frage Tomaso… hast du vielleicht Angst vor Schwulen?“
„Ich?“, er zeigte entsetzt auf sich und sein Gesicht färbte sich tief rot.
Wild schüttelte er den Kopf.
„Du musst mir das bitte glauben, Davide…, ich habe wirklich nichts…“, er sackte in sich zusammen und schaute auf seine Hände, die nervös aneinander rieben, „… Parolaccia per merda*… es ist alles so kompliziert…“*Scheiße!
„Was ist kompliziert?“
Darauf antwortete Tomaso nicht, aber ich merkte, das Tränen auf seine Hände tropfte. Ich schlug die Decke auf Placidos Seite zurück und tippte auf das Bettlaken.“
„Komm!“, meinte ich nur.
Umständlich krabbelte er auf Placidos Schlafplatz und streckte seine Füße unter die Decke. So saß er nun neben mir.
„Tomaso, es gibt nichts, worüber du mit mir nicht reden könntest. Du musst aber nicht, denn ich zwinge dich zu nichts! Das musst du ganz alleine entscheiden. Und gleich vorneweg, wie du dich auch entscheidest, oder was du mir vielleicht erzählst, ich werde sicher nicht böse werden.“
„…es ist aber schwer…“, kam es flüsternd und weinerlichen Stimme.
Ich zog die Decke nach oben, so dass seine Beine vollständig bedeckt waren. Natürlich war mir aufgefallen, dass sie stark behaart waren, auch die Beule in seiner engen Shorts war mir nicht entgangen.
So langsam verbanden sich die Puzzlestücke in meinem Kopf und ein kleiner Verdacht kam auf. Ziemlich sicher hatte ich, dem Benehmen nach, keinen zwölf Jährigen vor mir. Tomaso war siebzehn, wahrscheinlich voll in der Pubertät und ganz alleine in seiner Gedankenwelt gefangen.
„Ist dir niemand böse?“
„Warum sollte mir jemand böse sein?“
Sein Kopf hob sich leicht und er schaute mich verschüchtert an.
„Du… du lebst doch mit… Signore Romano zusammen, …ihr seid ein Paar.“
Placido und ich hatten von vorne herein entschieden, vor den Kindern der Zeichenschule nicht zu zeigen, dass wir ein Paar waren. Einfach um sie nicht zu verwirren. Aber dieser Junge neben mir, wusste mehr.
Ob er irgendwo etwas aufgeschnappt hat, oder gar gesehen, wusste ich nicht. Aber der Verdacht, es könnte etwas mit unserem Schwulsein zu tun zu haben, verdichtete sich.
„Stell dir vor, wir sind sogar verheiratet…“
Ich hob meine linke Hand und der Ring daran funkelte im Schein der Nachtischlampen.
„… und es ist uns niemand böse deswegen!“
Den Ärger mit meinem Vater ließ ich unerwähnt, denn er hatte sich doch sehr gebessert.
„… du hättest… nichts dagegen… wenn ich auch… schwul wäre?“
Heftig blies er seinen Atem heraus. Mir kam es vor, als fiele sämtliche Spannung aus seinem Körper.
„Tomaso, wieso sollte ich etwas dagegen haben, ich bin es doch auch!“
Ich wuschelte ihm durch seine dicke schwarze Mähne und beugte mich etwas vor, um besser in sein Gesicht sehen zu können.
„Du bist doch kein anderer Mensch, nur weil du vielleicht einen anderen Jungen lieb hast!“
Seine Augen zuckten nach oben, er schaute mich nun direkt an. Tränen rannen ungehindert über sein Gesicht.
„Marco denkt aber so…“
Marco?
„Wer ist Marco?“
„… ein Junge aus… meiner Klasse…“
Plötzlich fiel Tomaso um meinen Hals und fing richtig an zu weinen. Oh Mann, was hatte dieser Junge da sich nur aufgeladen. Mit einer Hand klopfte ich ihm sanft auf den Rücken, die andere streichelte über seine Haare.
„Ist gut…, weine ruhig…!“
Die Tür zum Schlafzimmer ging auf und Jakob streckte seinen Kopf herein. Fragend sah er mich an. Ich winkte ab und er nickte mir zu, bevor er wieder verschwand. Tomaso dagegen schluchzte wild in meinen Armen, er schien sich gar nicht beruhigen zu wollen.
Ich hielt ihn einfach fest und ließ ihn gewähren. Das Weinen tat ihm sicherlich gut. Was hatte er da mit sich herum geschleppt und mit wem sollte er darüber reden? Monsignore Viccario war zwar seine Vertrauensperson, aber wahrscheinlich keine guter Gesprächspartner für dieses Thema.
Wobei der Monsignore sie nie negativ gegenüber Placido oder mir geäußert hatte. Sicher war aber, dass er über uns Bescheid wusste. Die anderen Angestellten des Heims kannte ich nicht, ich konnte aber davon ausgehen, dass auch dort niemand war, mit dem Tomaso hätte sprechen können.
Langsam beruhigte sich Tomaso wieder.
„Besser?“, fragte ich.
Er nickte und entließ mich aus seiner Umklammerung. Ich schaute ihn lange an.
„Komm, wir gehen ins Bad und waschen dein Gesicht, du siehst fürchterlich aus.“
Zaghaft nickte er. Ohne Widerstand ließ er sich aus dem Bett ziehen und kurz darauf standen wir im Bad. Sein Gesicht zierte immer noch ein dickes Pflaster, wo sich vorher noch der Verband befand.
„Ich helfe dir, mit dem Pflaster müssen wir vorsichtig sein…“, meinte ich und wunderte mich, dass Tomaso ohne Gegenwehr alles so über sich ergehen ließ.
Vorsichtig wischte ich über seine Augen und auch dem restlichen Gesicht. An der Stirn angekommen, tupfte ich mehr, als das ich wischte, denn Tomaso verzog das Gesicht.
„Schmerzen…?“
„Etwas…“
Ich hörte auf dem Flur Geräusche.
„Jakob?“, rief ich.
Wenige Sekunden später lugte der Amerikaner ins Bad.
„Was ist?“
Er hatte wie wir auch nur Shorts und Shirt an. Tomaso machte große Augen, denn in diesem Aufzug konnte Jakob seinen muskulösen Oberkörper nicht verstecken.
„Tomaso hat Schmerzen…, haben wir etwas da?“
„Hm“, meinte der zweiundzwanzig Jährige und trat nun vollens ins Bad und machte sich am Spiegelschrank zu schaffen, „ein Schmerzmittel ist da…, aber für Erwachsene.
„Tomaso ist siebzehn…“, sagte ich nur.
„Also so gut wie erwachsen!“, meinte Jakob und pfriemelte ein Päckchen hervor, währenddessen reichte ich Tomaso ein Handtuch.
Aufmerksam las Jakob den Beipackzettel.
„Eine kann er nehmen, dann erst morgen wieder.“
Ich nickte. Jakob brach eine Tablette heraus, während ich ein Glas mit Wasser befüllte. Beides reichten wir Tomaso. Artig schluckte dieser die Tablette und spülte mit dem Wasser nach.
„Sie sollte bald wirken“, sagte Jakob, während er die Packung Tabletten wieder im Spiegelschrank verstaute.
„Danke!“, erwiderte ich.
„Möchte noch jemand eine heiße Milch?“
Mein Blick wanderte zu Tomaso, der leicht nickte. So grinste ich Jakob an.
„Wir kommen gleich in die Küche“, antwortete ich und Jakob ließ uns wieder alleine.
Dann drehte ich mich wieder zu dem Jungen.
„Geht es dir wieder besser?“
„… etwas… , aber…“
Er brach ab und schaute wieder nach unten. Ich schob ihn einfach aus dem Bad und löschte das Licht. Ihn in meinem Arm lief ich zu Jakob in die Küche. Mollige Wärme kam uns entgegen, als wir den Wohnbereich betraten.
Im Kamin brannte nur noch ein kleines Feuer. Jakob stand am Herd und rührte in einem Topf.
„Du weißt schon, dass wir eine Mikrowelle haben“, sagte ich zu ihm.
Tomaso setzte sich auf einer der Hocker.
„Ja, aber seit ich hier bin, benutze ich sie nicht mehr gerne, frag mich, ich kann dir nicht sagen warum.“
Breit grinste mit seine Zahnreihen entgegen. Ich holte drei Gläser aus dem Schrank und stellte sie neben Jakob ab.
„Ist…, ist Jakob auch schwul?“, fragte Tomaso plötzlich.
Fast hätte Jakob den Kochlöffel fallen lassen.
„Ich? Nein… ich bin immer noch der Frauenwelt verfallen!“, lachte er.
„Was heißt hier immer noch?“, wollte ich wissen.
„Du musst wissen, an der Uni schauen mir nicht nur die Frauen hinter her“, grinste er mich an.
„So, so, davon hast du ja noch gar nichts erzählt!“
„Eigentlich uninteressant, oder?“
Ich nickte und lächelte dabei.
„Darf ich fragen, warum du das wissen möchtest?“, stellte nun Jakob Tomaso eine Frage.
„Weil… weil…“
Das Reden fiel dem Jungen immer noch schwer. Aber wer hatte es bei seinem Outing schon leicht, denn nichts anderes war das hier. Innerlich zog ich vor Tomaso den Hut, dazu gehörte doch recht viel Mut, waren wir doch schließlich so gut wie Fremde für ihn.
„Weil ich schwul bin…“
Tomaso atmete tief durch. Jakob blickte mich kurz erstaunt an und ich nickte leicht. Er vergaß dabei aber nicht, weiterhin in der Milch zu rühren.
„Und deswegen fragst du mich? Interesse an mir?“
Tomasos Gesicht färbte sich noch röter, als es schon war. Abwehrend hielt er seine Hände nach oben.
„Nein…, nein, so habe ich es nicht gemeint!“
„Wie gesagt, du wärst nicht der einzige Italiener, der den Kopf nach mir verdreht.“
Das sagte er mit einem Lachen, das ansteckte. Sogar Tomaso lächelte. Das erste Lächeln, das ich überhaupt auf Tomasos Lippen sah, seit ich ihn kennen gelernt hatte. Jakob war einfach super.
Er verstand nicht nur, mit Kids umzugehen, er behandelte dieses Thema, als wäre es ganz normal. Es war auch normal, aber eben nicht für Tomaso. Jakob streckte Tomaso seine Hand entgegen.
„Danke!“
„Für was?“, fragte Tomaso.
„Dass du mir so unendlich vertraust!“
*-*-*
Am nächsten Morgen musste ich mich erst etwas zu Recht finden. Tomaso hat sich regelrecht bei mir eingekuschelt und gab ordentlich Wärme ab, was mich an Placido denken ließ. Mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht, richtete ich mich vorsichtig auf.
Eigentlich hätte ich liegen bleiben können, denn es war ja Sonntag. Aber irgendwie hatte ich Lust auf einen Espresso. Langsam löste ich mich aus den Fängen von Tomaso, der das Ganze mit einem tiefen Atemzug quittierte.