Adventskalender 2021 – No one else III – Teil 4

„Ich weiß nicht ob ich dir zu Nahe trete, wenn ich dich nach deinen Eltern frage.“

„Tust du nicht, Davide, da kannst du ganz beruhigt sein. Meine Mutter ist an einer Lungenentzündung gestorben, als ich noch ganz klein war, dann bin ich zu meiner Großmutter gekommen.“

„Aber eine Lungenentzündung ist doch heilbar, war sie…?“

„… das kostete Geld“, fiel mir Jakob ins Wort, „und wenn kein Geld da ist…“

Ich traute mich fast nicht zu fragen.

„… und dein… Vater?“

„Der Grund auf das nicht Vorhandensein des Geldes. Er war ein Spieler und hat auch ordentlich gebechert.“

„Du sagtest war…“

„Ja, ich weiß nicht wo er ist, was er macht, ob er überhaupt noch lebt. Als meine Mutter beerdigt worden war, hat er sich abgesetzt.“

„Kein Wunder weißt du, wie Tomaso sich fühlen muss.“

„Bei mir gestaltet es sich doch etwas anders. Ich hatte den Vorteil eine leibliche Großmutter zu besitzen, die mich über alles liebt!“

*-*-*

Jakob war schon längst weg und ich hatte mich wieder ins Büro zurück gezogen. Gegen meine Gewohnheit stand die Tür zum Flur offen, so drang zwar der Lärm vom Tagesgeschäft des Cafés nach oben, aber ich hörte auch, falls Tomaso rufen würde.

Ich schaute auf die Uhr und fand, dass er jetzt schon recht lange schlief. So stand ich auf und ging zum Gästezimmer hinüber. Verwundert stellte ich fest, dass auch diese Tür offen stand und war dann noch mehr entsetzt, dass das Bett leer war, in dem Tomaso gelegen hatte.

„Tomaso?“, rief ich, aber es kam keine Antwort.

Warum ich direkt nach unten lief, wusste ich nicht. Er war doch wohl nicht weggelaufen? Die Haustür war angelehnt und ich zog sie auf. Dort fand ich Tomaso auf den Treppenstufen sitzend.

Er hatte die  noch mit Ruß verschmierte Jacke an, die eigentlich in der Waschmaschine hätte stecken sollen.

„Tomaso…?“, sagte ich nun wesentlich leiser.

Er zuckte zusammen, hatte mein Kommen wohl nicht gehört.

„Alles klar mit dir…, warum sitzt du hier draußen?“

Er hatte seinen Kopf gedreht und sofort fielen mir seine roten Augen auf. Er schien geweint zu haben.

„Wo soll ich sonst hin?“, fragte Tomaso trotzig.

Erst jetzt sah ich, dass er nur die Shorts und das T-Shirt trug, wie er sich hingelegt hatte. Auch trug er keine Schuhe, sondern nur Socken.

„Du hättest zu mir kommen können…“, antwortete ich und versuchte so normal wie möglich zu klingen.

Langsam ließ ich mich neben ihm nieder.

„Ich will niemand zur Last fallen!“

„Tust du nicht…, sonst hätte ich dich wohl kaum mit zu uns genommen.“

Wieder dieser durchdringende Blick seiner Augen. Konnte ich etwas Vorwurfvolles darin entdecken?

„Hast du Durst…, oder Hunger?“

„Wo ist… dieser Jakob?“

„Er ist ein paar Sachen besorgen, müsste bald wieder da sein.“

Der Mini war weg. Ich hatte Jakob meine Wagenschlüssel gegeben. Ohne Wagen hätte er viel mehr Zeit gebraucht.

„Woher kommt Jakob?“

„Jakob stammt aus den Staaten, genauer aus New York.“

„Und warum ist er hier?“

„Er studiert hier Kunst, das hat ihm Placido ermöglicht.“

„… und wo ist Signore Romano, ich habe ihn eine Weile nicht gesehen?“

Viele Fragen stellte der junge Mann.

„Placido? Er ist im Augenblick drüben in den Staaten hat viel Geschäftliches zu erledigen.“

„Wie ist es in Amerika?“

Ich musste grinsen, da war ich ein schlechter Auskunftgeber.

„Das kann ich dir nicht sagen, denn ich war nur kurz in New York zu Besuch. Da ist aber alles übergroß, da kommt dir Florenz wie ein Dörfchen vor.“

Tomaso drehte erneut den Kopf und sah mich lange an.

„Warum haben sie mich mit hierher genommen?“, fragte er plötzlich, „warum ich?“

Dies konnte ich ihm nicht mal beantworten, denn ich wusste nicht genau, warum ich so gehandelt hatte. Die Frage hatte Letizia schon gestellt, warum dieses Interesse an dem Jungen.

„Du kannst ruhig du zu mir sagen und mein Name ist Davide… und ich wollte nur helfen…“

„Wie lange muss ich hier bleiben?“

Er starrte wieder in den Hof.

„Tomaso, du musst gar nichts…“

„… ich will zu Monsignore Viccario!“, fiel er mir ins Wort.

„Das geht im Augenblick nicht, der liegt im Krankenhaus, weil er einen Schwächeanfall hatte.“

„…wird, …wird er mich auch verlassen?“

Tränen rannen über sein Gesicht. Ich legte meinen Arm um ihn, spürte aber eine gewisse Gegenwehr.

„Nein Tomaso, wie kommst du denn da drauf? Das mit dem Feuer und die Sorge um euch Kids, waren einfach zu viel für ihn. Er liegt jetzt im Krankenhaus, damit man ihn besser helfen kann und er wieder auf die Füße kommt!“

Er rückte etwas von mir weg, so zog ich meinen Arm zurück. Ohne mich anzuschauen, redete er einfach weiter.

„Jeder der mir etwas bedeutet, verlässt mich!“

Seine Eltern hatten ihn verlassen, aber wer noch?

„Ja… Eltern können grausam sein“, sagte ich dann eher zu mir, als zu ihm und bereute sofort, es gesagt zu haben, denn die Reaktion folgte prompt.

Er war aufgesprungen, seine Jacke auf den Boden geflogen und seine Hände in die Seiten gestemmt.

„Meine Eltern sind nicht grausam, sie lieben mich und holen mich bestimmt bald ab!“, fuhr er mich an.

Etwa so fand uns Jakob vor, der gerade in den Hof gefahren kam.

„Was weißt du schon von mir, lass mich einfach in Ruhe!“

Er rannte an mir vorbei in Haus.

„Ähm, was war das?“, fragte Jakob, der gerade den Wagen verlassen hatte.

„Ein Versuch eine Konversation zu starten. Ich habe nach ihm geschaut, aber er lag nicht mehr im Bett, da habe ich ihn hier auf der Treppe gefunden.“

Jakob wuschelte sich über seinen Kurzhaarschnitt und atmete tief durch.

„Ich habe schon gemerkt, dass bei diesem Jungen einiges im Argen liegt! Ich werde mal versuchen, ob ich etwas besser an ihn heran komme.“

„Da bin ich wohl keine große Hilfe“, meinte ich leicht frustriert.

„Jetzt warte erst einmal ab, er ist den ersten Tag hier! Dir geht es wohl nicht anders, wenn du irgendwo neu bist, oder?“

Ich nickte Jakob zu.

„Komm, hilf mir die Sachen hochzutragen, ist ein wenig mehr zusammen gekommen, als ich dachte.“

„Okay!“

So stand ich auf und gemeinsam liefen wir zum Mini. Ich sah, dass die Rückbank mit Tüten vollgestopft war.

„Was hast du alles eingekauft. Ist das alles zum Anziehen?“

„Nein, Lebensmittel sind auch darunter, wir wollen ja schließlich etwas Essen.“

„Hm…“

„Ich denke, das ist eine Grundausstattung, wenn der junge Mann eine Weile bei uns sein wird. Hosen, Oberteile, Unterwäsche, Socken Schuhe. Vorschlag, du räumst die Lebensmittel ein und überlegst dir schon, was wir kochen. Ich kümmere mich derweil um Tomaso und wir stoßen später zu dir, okay.“

„Wir kochen… aha…“, ich musste grinsen.

Jakob hatte sich bisher meist ums Frühstück, oder andere leichte Dinge gekümmert. Richtig gekocht hat er bis jetzt noch nicht.

„Ja, grins nicht, irgendwann muss ich doch auch die italienische Küche beherrschen, oder?“

„Egal ob italienisch, oder amerikanisch, du solltest Grundwissen haben, dann kannst du fast alles zu bereiten.“

„Gebongt, dann nehme ich einen Kochkurs bei dir!“, strahlte er mich breit an.

„Bei mir? Da solltest du dich lieber an meine Mutter wenden, ihr Küche ist einfach die Beste!“

„Das sagt wohl jeder Sohn.“

„Komm, lass uns die Sachen hochbringen, bevor noch etwas verdirbt.“

*-*-*

Ich konnte die beiden reden hören, aber ich verstand kein Wort, zu weit lag das Gästezimmer von Küche weg. Die Haustür machte sich bemerkbar, der Gong trällerte seine Tonfolge.

„Ich gehe!“, rief ich laut, drehte das Gas herunter und zog den Topf zur Seite.

Unten angekommen zog ich die Haustür auf und Emiliano stand vor mir.

„Hi Davide, hier sind noch ein paar Sachen von Tomaso, den Rest können wir vergessen, das Löschwasser hat das meiste ruiniert.“

„Oh danke…, viel ist es aber nicht“, meinte ich und schaute auf den kleinen Korb, den mir Emiliano entgegen hielt.

„Tomaso besitzt nicht so viel.“

„Willst du nicht herein kommen.“

„Nein, ich habe noch mehr Körbe im Auto, die ich verteilen muss, aber man sieht sich vielleicht später.“

„Gut…“, mein Blick schweifte über den Inhalt des Korbes, „… das Buch können wir auch vergessen!“

Ich zeigte auf das aufgequollene Papierbündel, was einmal ein Buch war.

„Geht nicht…, das ist das Familienalbum von Tomaso, dass einzige, was er von seiner Familie besitzt.“

„Dann müssen wir wohl versuchen es zu retten.“

„Okay, ich verschwinde dann mal wieder.“

„Bye!“

„Bye!“, meinte Emiliano und lief wieder zu seinem Wagen.

Als er den Hof fahrenderweise verließ, schloss ich die Haustür und lief wieder nach oben. Ich lief direkt zum Gästezimmer, hielt aber kurz vor der Tür inne.

„Das trägt man doch jetzt“, hörte ich Jakob sagen.

„Da ist aber ein Loch am Knie“, beschwerte sich Tomaso.

Es ging wohl um eine Hose.

„Und das ist jetzt modern, so laufen viele herum. Aber du kannst auch die andere Hose anziehen, die hat kein Loch, oder einfach die Jogginghose oder Shorts, wir sind ja zu Hause.“

„Zu Hause“, hörte ich Tomasos leise und traurige Stimme.

Mir wurde bewusst, dass ich jetzt wohl nur stören würde. So machte ich kehrt und lief zurück in die Küche. Dort angekommen, entnahm ich das nasse Buch und stellte den Korb beiseite. Ich nahm ein Geschirrhandtuch, legte das Buch vorsichtig hinein um nicht den ganzen Boden voll zu tropfen.

So legte ich es auf dem Sims über dem Kamin ab, dort war genügend Wärme, um es zu trocknen. Aber ob es retten konnte, war fraglich, zu aufgequollen waren die Seiten und die ersten Blätter hatten sich bereits aus dem Einband gelöst.

Viel Hoffnung hatte ich nicht. So ging ich zurück an die Theke und nahm meine Tätigkeit, das Abendessen vorzubereiten wieder auf. Wenig später hörte ich, wie die zwei wohl zu mir kamen und wenige Sekunden später erschien Jakob bereits in der Tür.

„Komm, hier ist es gut warm, das tut dir gut!“, meinte er und wenige Augenblicke später kam Tomaso zögerlich in mein Blickfeld.

„Setz dich ans Kamin“, meinte Jakob und schob Tomaso langsam in den Wohnbereich.

„Mir war, als hätte ich vorhin Emiliano gehört…, ist er nicht hier?“

„Nein, er musste weiter. Er hat noch den Rest von Tomaso gebracht, was das Löschwasser nicht zerstört hat“, antwortete ich.

Jakob schien ihn bereits entdeckt zu haben, denn er stand schon davor. Auch Tomaso war aufgesprungen und kam langsam näher.

„Ist das alles?“, fragte Jakob.

Ich nickte und beobachte Tomaso, wie er mit glasigen Augen, vor dem Rest seiner Habe stand.

„Emiliano konnte auch noch ein Album retten, aber es ist total aufgequollen und zerfällt bereits.“

„Meine Bilder“, sagte Tomaso plötzlich laut, „wo sind sie?“

„Ich habe sie auf Sims, über das Kamin gelegt…“

Tomasos Blicke wanderten zur Feuerstelle und wollte schon los rennen.

„Halt Tomaso!“

Er blieb stehen.

„Lass das Buch bitte erst trocknen bitte, bevor noch mehr kaputt geht. Danach schauen wir, was noch zu retten ist.“

Mitleidig schaute mich Jakob an und legte seinen Arm um Tomasos Schulter. Erneut drehte ich das Gas herunter, trat vor Tomaso, beugte mich etwas vor, damit mein Gesicht in gleicher Höhe wie seins war.

„Hör mal Tomaso, ich weiß wie wichtig diese Fotografien für dich sind. Den Ledereinband und auch das Buch, können wir wohl nicht mehr retten, aber ich denke, die Fotos darin sind unbeschädigt. Aber wir müssen warten, bis das Album etwas trockener ist, um sie zu entnehmen… okay?“

Tomaso nickt leicht.

„Aber… wie willst du das machen?“

Er sagte nun du, das freute mich.

„Du wirst mich sicher für altmodisch halten, aber ich bastle mir gerne meine Berichte für die Zeitung noch per Hand zusammen und nicht nur am PC.“

„Zeitung?“

Tomaso schien nicht viel über mich zu wissen.

„Ja, ich bin Journalist und schreibe für „La Nazione“ über Kunst und ähnlichen Dingen.“

Der Junge schaute mich mit großen Augen an.

„Möchtest du etwas trinken, Tomaso?“, fragte Jakob.

Der Junge schien meilenweit weg zu sein, denn er zuckte zusammen. Jakob schaute kurz zu mir.

„Ähm… ja… könnte ich einen Tee haben?“

„Tee?“

„Ja mit Monsignore Viccario habe ich immer Tee getrunken.“

„Haben wir so etwas da?“, fragte ich Jakob, aber der schüttelte nur den Kopf.

„Geh doch kurz runter ins Cafe, die werden sicher Tee da haben.“

„Gute Idee. Tomaso, willst du mit, hast du das Cafe schon gesehen?“

Der Junge schaute an sich herunter.

„So?“

„Warum nicht“, grinste Jakob und schob ihn bereits Richtung Tür.

Es dauerte etwas, bis die beiden wieder nach oben kamen. Währenddessen hatte ich das Abendessen fertig.

„Ihr ward aber lange unten, dass Cafe hat doch mittlerweile geschlossen“, meinte ich, als die beiden den Wohnbereich betraten.

„Wir haben noch Placidos Galerie angesehen“, erklärte Jakob kurz, bevor er zu mir hinter die Theke kam.

„Monsignore Viccario hat mir erzählt, dass Signore Romano malt, aber dass er so toll malen kann, hat mir der Monsignore verschwiegen.“

Jakob hatte hinter mir den Wasserkocher in Gang gesetzt, der lautstark seinen Betrieb aufnahm.

„Damit verdient Placido sein Geld“, warf ich ein, überlegte aber sofort, ob das passend war.

„Damit kann man Geld verdienen?“, nahm Tomaso den Faden auf.

„Wenn du Placido Romano heißt schon, er ist auf der ganzen Welt bekannt. Für ein Bild hat er sogar eineinhalb Millionen geboten bekommen!“, kam es grinsend von Jakob.

„So viel? Was man damit alles kaufen kann!“, sagte Tomaso begeistert und setzte sich nun zu uns an die Theke. Seine Shorts und Shirt waren für einen Jogginganzug gewichen.

„Er hat es nicht verkauft…“, meinte Jakob und machte sich Wasserkocher zu schaffen.

„WAS?“, kam es aufgekratzt von Tomaso, dass ich sogar etwas zusammen zuckte, weil seine Stimme etwas schrill klang.

Jakob lachte neben mir und schenkte Wasser in die mit Teebeutel vorbereitete Tasse ein.

„Er hat es selbst behalten, aus privaten Gründen“, erklärte nun Jakob und sah dabei mich an.

Ich spürte, wie sich so langsam mehr Blut in meinen Wangen breit machte, das Bild war mir jetzt etwas unangenehm.

„Verstehe ich nicht, bei so viel Geld.“

„Er hat etwas gemalt, was eigentlich nur für ihn gedacht war.“

Toll und ganz Florenz hat es gesehen, nein, genau genommen war es dank der Technik, sprich Medien, m die ganze Welt gegangen. Schon der Gedanke daran, wie viele Menschen nun wussten, wie ich fast nackt aussah, bescherte mir eine Gänsehaut.

„Aber das war nicht unten in der Galerie… oder?“

Der Junge war mir plötzlich zu neugierig.

„Nein, es hängt hier in der Wohnung“, antwortete Jakob wahrheitsgemäß.

„Darf ich das auch sehen?“

Klar kam diese Frage, das hätte ich mir auch denken können. Jakob sah mich an und die Röte in meinem Gesicht nahm zu, es fühlte sich an, als würden meine Wangen glühen.

„… ähm…, da musst du den jetzigen Besitzer fragen…“

„Aber du sagtest doch, das Signore Romano das Bild nicht verkauft hat, warum gehört es jetzt jemand anderem… und es hängt doch hier in der Wohnung?“

Fragen über Fragen. Was sollte ich jetzt tun. Jakob schaute mich erwartungsvoll an. Ach was soll es? Tomaso wird sicherlich schon andere fast nackte Männer gesehen haben.

„Komm mit!“, meinte ich nur zu ihm.

„Du deckst den Tisch“, sagte ich zu Jakob, der langsam begriff, wie unangenehm mir das Ganze war.

Das schlechte Gewissen machte sich auf seinem Gesicht breit. Ich verließ den Wohnbereich und steuerte das Schlafzimmer an.

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