Segato
Hurenkind
Crossar verfügt über ein umfangreiches Angebot an sinnlichen Dienstleistungen. Die Huren der Stadt sind, und dies lässt sich sonst nur sehr selten sagen, die besten und talentiertesten der bekannten Welt.
Die professionellen Liebesdienerinnen sorgen mit ihren strengen Zunftregeln dafür, dass der Qualitätsstandard ihrer Dienstleistungen selbst höchsten Ansprüchen genügt.
Dem geneigten Reisenden sei deswegen ans Herz gelegt, sich ausschließlich diesen, registrierten, professionellen Huren zu zuwenden.
Muriels Reiseführer Band 14 — »Crossar«
Mein Zimmer war erschreckend klein, viel kleiner, als ich es erwartet hatte. Überhaupt war alles deutlich anders, als ich es erwartet hatte. Mein Zimmer bestand gerade einmal aus einem Bett mit einem kleinen Nachtschränkchen, einem Schreibtisch mit Datenpad, einer Schreibunterlage, Schreibwerkzeugen und Schreibtischlampe. In der Ecke stand ein Schrank mit meiner Kleidung. Meiner neuen Kleidung, sollte ich hinzufügen, denn nichts erinnerte an mein früheres Leben.
Mein Name ist Segato G’Narn. Ich bin Gildeakolyth der 1. Stufe. Natürlich ist Segato G’Narn nicht der Name, mit dem ich geboren wurde. Geboren wurde ich unter dem Namen Prado Cassanter im Stadtstaat von Crossar, weit südlich des Königreiches Goldor. An meinen Vater kann ich mich nicht erinnern, da sich meine Mutter ebenfalls nicht an ihn erinnern konnte oder wollte. Er könnte ein Seemann gewesen sein, aber genau so gut wäre Lehrer, Sattler oder Gerichtspräsident. Die Kundschaft meiner Mutter umfasste alle sozialen Schichten.
Ja, meine Mutter war eine Hure, eingetragen in der Zunftrolle der professionellen Liebesdienstleisterinnen der Stadt. Wenn ich sage, sie war eine Hure, dann deswegen, weil sie tot ist. Offiziell heißt es, sie wäre von einem Freier ermordet worden. Der Mörder hatte ihr die Kehle aufgeschlitzt. Damals war ich gerade einmal 8 Jahre alt und verstand noch nicht so recht, was geschehen war. Man sagte mir nur, dass meine Mutter auf eine lange Reise gegangen sei und brachte mich zur Familie meines Onkels, einem geachteten und angesehenen Händler und Reeder des Stadtstaates. Mein Onkel nahm mich eher widerwillig auf und, wie ich später erfuhr, auch nicht sonderlich uneigennützig. Meine Mutter hatte mir nicht nur ein kleines Vermögen hinterlassen, die Zunftkammer zahlte mir als Hinterbliebenem auch eine Versicherung aus, die im Fall eines Arbeitsunfalls fällig wurde.
Wie man sich denken kann, wusste ich von alledem natürlich nichts. Ich wusste weder, dass meine Mutter eine Hure war, noch, dass man sie ermordet hatte. Dass ich es schließlich erfuhr, dafür sorgte mein Onkel, oder genauer seine Frau. Sie behandelten mich wie den letzten Dreck. Beschimpften mich als Bastard und Sohn einer Hure. Als Sohn einer Hure war ich in ihren Augen der größte Abschaum, noch schlimmer als die Aussätzigen, die die verlassenen Schuppen des alten Hafens bevölkerten. Nur der Umstand, dass mein Onkel und meine Tante überaus geizig und extrem raffgierig waren, brachte mir eine Kammer im Keller ihres Hauses ein. Dass dieses eher auf Ausbeutung angelegte Verhältnis auf Dauer nicht gut gehen konnte, kann man sich denken. Mit 14 Jahren lief ich vom Haus meines Onkels fort und tauchte unter. Sie unternahmen keinerlei Versuche, mich zurück zu holen.
Die nächsten zwei Jahre verbrachte ich auf der Straße. Aber die Straße war ein täglicher Kampf. Offiziell blieb ich das Mündel meines Onkels und deswegen ein Mitglied der Kammer der Händler. Wenn ich bettelte, dann verstieß ich gegen die Gesetze, denn betteln war nur dem Stand der Bettler gestattet. Dieses Recht war ihnen von den Patriziern der Stadt exklusiv verliehen worden. Und die Bettler Crossars wussten sehr genau, wie man dieses Recht gegen unerwünschte Konkurrenz verteidigte. Sie machten es mir nachdrücklich deutlich. Die folgenden Tage waren…schmerzhaft.
Was blieb mir also anderes übrig, als einer weniger ehrenhaften Tätigkeit nachzugehen und mir eine gesellschaftliche Nische zu suchen? Ich versuchte mich als Taschendieb, was aber auch nicht einfach war, da die Bruderschaft der Diebe ebenfalls recht ungehalten auf Mitbewerber reagierte. Um nicht eines schönen Tages mit durchgeschnittener Kehle aufzuwachen, lernte ich sehr schnell, mich sowohl vor der Stadtwache, den Dieben und den oftmals wenig zimperlichen Personenschützern meiner Opfer zu verstecken.
Passanten auf einem belebten Marktplatz um ihre Geldbörse zu erleichtern, ist leicht. Dabei nicht von anderen Dieben erwischt zu werden, die natürlich ebenfalls auf die gleichen Opfer aus waren, ist die Hölle. Meine einzige Chance zu überleben, bestand darin, für die anderen Diebe unsichtbar zu sein. Um dies zu erreichen, schlug ich nie an einem Ort zweimal zu. Eine Woche zog ich reihenweise reiche Geldsäcke ab, dann tauchte ich solange unter, wie mein erbeutetes Geld reichte. Da ich sehr sparsam lebte, kam ich oft einen Monat über die Runden, ohne auf einen Fischzug gehen zu müssen.
So ging dies gute zwei Jahre. Ich war mittlerweile 16 Jahre alt geworden und hatte eine Fingerfertigkeit im Taschendiebstahl erreicht, um die mich mancher Profi beneidet hätte. Der Tag, der mein Leben total verändern sollte, war ein Mittwoch im Juli. Es war später Vormittag und die Sonne brannte heiß auf dem Pflaster der Stadt. Ich hatte seit 6 Wochen keine Erlöse gehabt und war klamm, mehr als klamm. Es war nicht nur an jenem Mittwoch heiß, es war seit Wochen sehr heiß gewesen. Die Hitze trieb die Menschen in ihre kühlen Häuser. Wer es nicht musste, unterließ es, freiwillig auf den Straßen umher zu laufen. Selbst in den Nächten hielt sich die Hitze, weswegen unsere sonst übliche südländische abendliche Triebsamkeit ebenfalls zum Erliegen gekommen war.
So oft ich auch in meinen Brustbeutel schaute, er blieb erschreckend leer. Ich musste tätig werden. Seit vier Tagen hatte ich nichts mehr gegessen. Die Lebensmittelhändler hatten wegen der Hitze ihre Auslage in ihre Geschäfte verlagert, so dass sich nicht einmal ein harmloser Apfel mopsen ließ. In meiner Verzweifelung kam mir sogar die Idee, in die Fußstapfen meiner Mutter zu treten. Als Sohn einer offiziellen registrierten Hure stand mir das Recht zu, mich zum Liebesdiener ausbilden zu lassen. Allerdings hatte ich nicht das Gefühl, dass mir diese Art von Beruf wirklich gefallen würde.
An jenem Mittwoch hatte ich mich in einer dunklen Ecke unter den Arkaden des Marktplatzes im mondänen West Viertel Crossars verkrochen. Von hier aus konnte ich den ganzen Platz überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Auf dem Platz war es nicht nur hell, sondern regelrecht grell. Die verbauten hellen Steine des Pflasters und die orangen bis hellgelben Wandfarben verstärken die Helligkeit auch noch zusätzlich. Wie schon die Wochen zuvor, war auf dem Platz nicht viel los. Es war noch recht früh, aber die Hitze bereits unerträglich geworden, als plötzlich ein Mann auftauchte. Ich weiß nicht, warum er mir auffiel, denn er passte überhaupt nicht in mein übliches Opferraster. Die meisten Leute, die ich um ihre Geldbörse erleichterte, waren reiche eitle Geldsäcke, wie mein Onkel, die ihren Reichtum nur allzu gerne zeigten: teure Stoffe, Juwelen um Hals oder Finger, aufwendig geschnittene Kleider. Der Mann, der mir nun auf dem grell erleuchteten Marktplatz auffiel, hatte von all dem nichts. Er trug keine Juwelen an seinen Fingern, seine Kleidung war zurückhaltend und verriet nur einem geschultem Auge, dass sie aus sehr gutem und teuerem Stoff gefertigt worden war.
Ich hätte auf meine innere Stimme hören sollen, die mich versuchte zu warnen, diesen Klienten abzuziehen. Aber mein Magen knurrte und schmerzte vor Hunger. Obendrein bot sich plötzlich eine unerwartet gute Gelegenheit. Eine Gruppe Händler aus Süd Harrasland kam auf den Platz und kreuzte den Weg meines Kandidaten, wobei sie obendrein eine aufgeregte Lebendigkeit verbreiteten. Es war die Gelegenheit. Ich schlüpfte aus meinem Versteck und mischte mich unter die Händlergruppe, die gerade dabei war, mein Opfer einzuhüllen. Die Situation war perfekt. Offenbar hatten einige Mitglieder der Gruppe dem Alkohol zugesprochen und torkelten leicht umher, wobei sie auch gegen sich und andere Menschen stießen. Mein Ziel war abgelenkt, denn es war damit beschäftigt, den Trunkenbolden auszuweichen.
»Hallo, mein Freund!«, ein alkoholisierter Händler hatte mein Opfer an dessen Schultern gepackt und wollte nun mit ihm Bruderschaft feiern. Besser konnte es nicht kommen. Der Mann war vollkommen abgelenkt. Ich schlüpfte heran, strich unauffällig an meinem Kunden vorbei, eine Handbewegung, die ich im Schlaf beherrschte und seine Geldbörse gehörte mir. Ebenso unauffällig wie schnell war ich wieder in meinem Versteck verschwunden. Niemand hatte etwas bemerkt – So dachte ich.
Jeder halbwegs brauchbare Taschendieb entledigt sich bei erster Gelegenheit des verräterischen Beifangs, also der Brieftasche oder Geldbörse. Das einzige, was uns interessiert, war das Geld, denn Geld ist anonym. Ein Portemonnaie ist es nicht. Ich war ein sehr guter Dieb. Ohne selbstgefällig zu sein, kann ich von mir behaupten, ein Meister im Taschendiebstahl gewesen zu sein. Keiner meiner Kunden hat es jemals bemerkt, dass ich ihn erleichterte.
Ich war ein Meisterdieb, aber diesmal verhielt ich mich nicht so. Kaum war ich in meine beschattete, dunkle Ecke der Arkaden zurückgekehrt, begannen sich diese unerwartet mit Menschen zu beleben. Ich konnte unmöglich vor Zeugen die eben entwendete Geldbörse entleeren und sie dann wegschmeißen. Mir blieb nichts anderes übrig, als mir einen anderen Ort zu suchen. Also verließ ich mein Versteck. Ich umrundete den Marktplatz im Schutz der schattigen Arkaden. Am anderen Ende gab es eine wenig belebte Gasse, in die ich ohne zurückzublicken einbog.
»Du hast etwas, das mir gehört!«
Ich blieb mitten in meiner Bewegung stehen. Vor mir stand der Mann, dessen Geldbörse sich in meiner rechten Hosentasche befand. Wie war er vor mir in die Gasse gekommen? Woher wusste er, dass ich ihn beklaut hatte? Was würde er mit mir machen? Tausend Fragen geisterten durch meinen Kopf. Der Mann stand gut fünf Schritte vor mir und versperrte den Weg. Von seiner Stimme aufgeschreckt, sah ich zu ihm hoch. Zwei eisblaue Augen sahen mich an. Sie bohrten sich in meinen Verstand. Ich war starr vor Angst, oder war es ein Zauber, der von diesem Mann ausging? Jedenfalls konnte ich mich nicht bewegen, sondern nur diese zwei eisblauen Augen anglotzen. Es war, als wenn mich sein Blick lähmte. Ich war noch nicht einmal in der Lage, den Rest seines Gesichtes zu sehen. Ich sah weder seinen Mund, die Farbe seiner Haare, noch hätte ich sagen könnten, ob er eine Adler- oder Stupsnase besaß.
»Behalte das Geld und iss dich satt. Heute Abend, um genau 8:00 Uhr, bringst du mir die Börse zurück.«
Mir war, als wenn ich ein kurzes Lächeln gesehen hätte. Ich blinzelte, mir wurde kurz schwarz vor Augen und ich schüttelte meinen Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen. Der Mann war weg, als hätte ihn der Erdboden verschluckt. Etwas verwirrt wanderte ich durch die Stadt zu meinem Heim. Wobei Heim ein übertriebener Begriff ist. »Unterschlupf« beschreibt das Loch, in dem ich lebte, wesentlich besser. Dort angekommen zog ich die Börse aus meiner Hosentasche. Es war ein einfacher schmuckloser Geldbeutel aus feinem Handschuhleder. Einen Moment zögerte ich, ihn zu öffnen, doch dann meldete sich mein Magen. Ich zog das Lederbändchen auf und breitete den Inhalt vor mir aus.
»Scheiße!«
Vor mir lagen eine handvoll Goldmünzen, von denen ich gut und gerne mehrere Jahre lang hätte leben können. Was mich aus der Fassung brachte, waren fünf Mithrilmünzen. Ihr Wert war unbeschreiblich hoch. Ich hatte gehört, dass alle Patrizier der Stadt zusammen gerade einmal 100 Münzen besitzen sollten. Von einer Mithrilmünze konnte man sich einen Palast, nein, was sage ich, einen ganzen Block von Palästen bauen lassen. War der Mann wahnsinnig? Niemand lief mit solchen Werten umher. Und niemand verschenkte derartige Werte.
»Megascheiße!«
Mein Blick fiel auf eine Karte.
Erogal D’Santo
Silbereichenallee 1 – Crossar
Die vereinfachte Version meiner Lage hätte man so beschreiben können: Ich hatte den Falschen beklaut. Die wirkliche und zutreffende Version meiner Lage war: Ich war am Arsch! Ich hatte ein Mitglied der Gilde beklaut. Nicht irgendeiner Handelsgilde, sondernder Gilde. Immerhin war es kein Gildemeister, andernfalls wäre ich vermutlich bereits tot gewesen. Auf der anderen Seite, vielleicht war es ein Gildemeister. Niemand wusste, wer ein Gildemeister war, denn niemand hatte jemals einen gesehen und überlebt. So behaupteten es jedenfalls die Legenden und Geschichten, an die ich nie so richtig glauben wollte. Doch nach dieser Begegnung war ich mir nicht sicher, ob nicht doch etwas Wahrheit in ihnen steckte. Eins war sicher, Erogal D’Santos Aufforderung, ihm die Börse zurück zu bringen, war keine Bitte – Es war ein Befehl.
Lebenslinien
»Bist du ein Gildemeister?«
»Wenn ich es wäre, müsste ich dich jetzt töten.«
S EGATO G’N ARN
Die Eichenallee war wohl einer der nobelsten Gegenden Crossars. Eichenallee 1 lag obendrein am Senatsplatz, einen Steinwurf vom Senatsgebäude, der zweiten Kammer des Stadtstaates, entfernt. Es war viertel vor acht, als ich den Platz betrat. In den letzten Stunden hatte ich mich krampfhaft damit beschäftigt, mich von der nun bevorstehenden Begegnung abzulenken. Ich hatte gut und reichhaltig gegessen, ein Badehaus aufgesucht, war beim Friseur und hatte mir neue und vor allen saubere Kleidung zugelegt. Trotzdem kam ich mir immer noch dreckig und schäbig vor. Es braucht wohl doch etwas mehr, als ein neues Hemd und eine neue Hose, um die Straße hinter sich zu lassen.
Zwei Minuten vor Acht stand ich vor dem Haus Silbereichenalle 1. Vor mir erhob sich ein imposantes Patrizierhaus. Aus fünf Stockwerken schauten mir hell erleuchtete Fenster entgegen. Die einzelnen Etagen waren mit kunstvollen Friesen dekoriert, die mit Blattgold belegt waren. Eine mächtige Tür bildete den Eingang. Sie war von edlen Elbenlichtern gesäumt, den gleichen Lichtern, die auch die Auffahrt erhellten. Die Auffahrt führte durch einen Garten mit fein getrimmtem Rasen und edlen Gewächsen. Der schneeweiße Kies knirschte unter meinen Füßen, als ich den Weg zum Haus hinauf ging. Statt eines schnöden Klingelknopfes prangte ein schwerer Messingklopfer auf dem wuchtigen und mit feinen Intarsien belegten Türblatt.
Es war exakt acht Uhr Abends. Die Turmuhr des Senats schlug den ersten Glockenton an. Ich klopfte.
Zuerst passierte nichts, dann hörte ich hallende Schritte. Die Tür wurde geöffnet, und ein Butler sah mich fragend an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war sonst nicht auf den Mund gefallen, aber die Gegend, das Haus, der Butler, die ganze Situation schüchterte mich ein. Mit anderen Worten: Ich blieb stumm.
Der Butler, ein hagerer hoch gewachsener Kerl, sah mich von oben herab an. Seine linke Augenbraue hob sich ein ganz klein wenig. Verdammt war die Situation peinlich, aber mein Mund ließ sich nicht dazu bewegen, sinnvolle Laute von sich zu geben. Um die Situation zu retten, zog ich die Geldbörse hervor, öffnete sie und gab dem Butler die Visitenkarte.
»Folgen Sie mir bitte. Sie werden erwartet.«
Der Butler hatte »Sie« gesagt. Noch nie hatte mich jemand gesiezt. Der Butler ließ mich herein und schloss die Tür hinter mir. Freundlich, aber bestimmt, ging er voran. Ich folgte ihm durch eine riesige Halle. Zwei geschwungene Treppen mit fein gedrechselten Tralien liefen links und rechts vom ersten Stock herab. Der Fußboden hallte unter unseren Schritten auf. Feinster schwarzer und weißer Marmor war zu einem geometrischen Muster zusammengefügt und bildete in seinem Zentrum eine Art Wappen oder Siegel.
Der Butler führte mich quer durch die Halle in einen Flur, den wir ebenfalls durchquerten. Es ging zwei Treppen aufwärts, einen weiteren Flur entlang, um drei Ecken herum und endete schließlich vor einer Tür. Der Butler öffnete eine äußere und eine innere Tür. Die beiden einander zugewandten Türblätter waren mit feinstem Leder abgesteppt. Offensichtlich handelte es sich um eine Tür, die Schall abhalten sollte. Fragte sich nur, in welche Richtung? Vermutlich von außen, denn der Raum beherbergte eine Bibliothek. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt, dessen Art ich nicht kannte. An einer Wand befand sich ein Kamin, der aber nicht brannte. In der Mitte des Raumes standen drei voluminöse lederne Clubsessel und ein Beistelltischchen. Für das intensive Studium gab es einen Schreibtisch mit Leselampe. Das wichtigste aber waren die Bücherregale. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so viele Bücher gesehen. Ich muss allerdings zugeben, dass ich in meinem Leben auch noch nicht viele Bücher gelesen hatte. Bis auf meine Schulbücher hatte ich keine anderen in meiner Hand gehabt. Die Bücher in dieser Bibliothek waren allerdings keine Schulbücher. Es waren seltsame Bücher mit merkwürdigen Titeln. Da der Butler hinter mir die Tür geschlossen hatte und sonst niemand im Raum war, schlenderte ich neugierig von Bücherregal zu Bücherregal. Es war ernüchternd. Die meisten Bücher schienen in fremden Sprachen, manchmal sogar in fremden Schriften abgefasst worden zu sein. Auf jeden Fall waren die Bücher wertvoll. Ich mochte zwar ein Dieb und Sohn einer Hure gewesen sein, aber ich erkannte Ledereinbände und Goldschnitt. Manche Bücher, insbesondere diejenigen, die in dem vergitterten Regal standen, besaßen sogar einen Mithrilschnitt. Sie zierten die feinsten und elegantesten Beschriftungen, bei denen ich vermutete, dass sie elbisch waren.
»Ich sehe, du bist meiner Einladung nachgekommen.«
Ich hatte meinen Gastgeber nicht kommen hören. Ich stand vor dem vergitterten Bücherregal, als hinter mir die Stimme meines Diebstahlopfers ertönte.
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass es nur eine Einladung war.«
Ein feines Lächeln umspielte die Lippen meines Gastgebers. Hier in der Bibliothek hatte ich erstmals die Möglichkeit, ihn genau zu mustern. Erogal D’Santo trug einen dezenten, aber auf jeden Fall maßgefertigten Anzug. Schuhe, Hemd, Krawatte, alles war perfekt aufeinander abgestimmt. Alles war sehr edel, aber gleichzeitig unauffällig und dezent. Doch die Kleidung war nichts gegen das Gesicht von Erogal D’Santo. Natürlich dominierten seine eisblauen Augen und konnten von den markanten Wangenknochen leicht ablenkten. Die aristrokratische Nase war eigentlich nur konsequent bei dieser Physiognomie. Ich war so dreist und musterte mein ehemaliges Opfer völlig unverblümt. Er ließ es geschehen, wobei sein Gesichtsausdruck unheimlich war. Diese Andeutung eines Lächelns verlieh ihm eine unheimliche Aura. Dieser Mann hatte sich absolut unter Kontrolle. Nichts würde ihn aus der Ruhe bringen. Durch meine Tätigkeit als Dieb hatte ich gelernt, Menschen einschätzen zu können. Erogal D’Santo war die Selbstbeherrschung in Person. Er jagte mir Angst ein.
»Warum bin ich hier?«
»Genau auf den Punkt.«
Erogal D’Santo deutete mit einer Handbewegung auf einen der Clubsessel. Alleine diese Geste war ein Lehrstück an Präzision. Sie war »Genau auf den Punkt«, nämlich die minimal mögliche Körpersprache. Jeder Mensch spricht mit seinem Körper. Die meisten Menschen reden mit ihrem Körper viel mehr, als mit ihrem Mund. Oft sagt der Körper auch etwas völlig anderes, als der Mund. Die Körpersprache ist verräterisch. Sie fällt uns in den Rücken, wenn wir lügen. Aber bei D’Santo war es vollkommen anders. Sein Körper sprach nur das aus, was ihm erlaubt wurde. Der Hinweis, mich zu setzen, war Bitte und Befehl zugleich. Ich setzte mich.
»Prado Cassanter, Sohn von Emila Mercedes Cassanter, einer Liebesdienstleisterin der Klasse M. Nach dem offiziellen Polizeibericht von einem Freier vor acht Jahren ermordet. Vater unbekannt. Vormundschaft übernommen durch den Bruder Emilio Cupertin Cassanter, einem Gewürzhändler des Südviertels, und seiner Frau Estefania. Aneignung der Erbschaft des Prado Cassanter durch seinen Vormund. Streitigkeiten im Hause. Prado flieht vor zwei Jahren aus dem Haus seines Onkels und lebt von dort an auf der Straße. Auseinandersetzung mit dem Stand der Bettler. Danach erfolgreicher Taschendieb, wenn auch nicht lizenziert. Habe ich etwas vergessen?«
Ich hätte mich fast an meiner Spucke verschluckt. Alles, was ich raus bekommen konnte, war ein gehauchtes »Nein!«
»Du weißt, was ich bin?«
»Ein Meister der Gilde?«
»Ein Meister der Gilde…«
Erogal D’Santo musterte mich. Seine eisblauen Augen bohrten sich in meinen Schädel, dass mir der Kopf schmerzte und mir übel wurde. Nachdenklich fasste sich mein Gegenüber mit Daumen und Zeigerfinger an sein Kinn und massierte es. Er wollte, dass ich wusste, dass er nachdachte. Warum?
»Niemand hat jemals einen Meister der Gilde gesehen…«
War das eine Frage oder eine Feststellung? Jedenfalls ließen die stechenden Kopfschmerzen nach. D’Santo sah mich ausdruckslos an. Sein Gesicht verriet nicht die kleinste Emotion.
»Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Warum gibst du dein Leben als Taschendieb nicht auf? Es ist nur eine Frage der Zeit, dass die anderen Diebe auf dich aufmerksam werden. Bisher hast du Glück gehabt, sehr viel Glück. Aber du weißt ganz genau, was die Diebe mit dir machen werden, sollten sie dich in ihrem Revier ertappen.«
Ich wusste es, und es gefiel mir nicht. Sie brachten einen nicht um. Diebe sind keine Mörder. Aber man wünschte sich, man wäre tot. Einem Dieb, der nicht in der Bruderschaft der Diebe war, wurden die Hände abgehackt.
»Du hast außergewöhnliche Talente. Vermutlich ist es dir gar nicht bewusst, aber kein gewöhnlicher Dieb wäre in der Lage gewesen, mir die Geldbörse zu entwenden. Hier ist mein Angebot: Ich biete dir an, ein Akolyth der Gilde zu werden.«
»Muss ich mich sofort entscheiden?«
»Bevor du diesen Raum wieder verlässt, brauche ich deine Antwort. Es ist deine freie Entscheidung. Bedenke, die Wahl kann nicht geändert werden. Es ist eine Entscheidung, die du nur ein einziges Mal in deinem Leben treffen kannst. Nimm an, oder lehne ab.«
Ich weiß bis heute nicht warum. Aber bei diesem Satz stellten sich meine Nackenhaare auf. D’Santo saß mir völlig ruhig gegenüber. Seine Mine war ebenso unergründlich, wie die Tiefen des Alten Meeres. Ein Profipokerspieler hätte sich an ihm die Zähne ausgebissen.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Das Angebot war absolut fantastisch. Ein Akolyth der Gilde zu sein, war ein Privileg. Ein Akolyth hatte ausgesorgt. Als Mitglied der Gilde war man faktisch unantastbar. Keine Gruppe, auch nicht die Kirche der unifizierten Technokratie, wagte es, ein Mitglied der Gilde anzufassen. Wie gesagt, das Angebot war fantastisch. Ich würde nie mehr hungern oder stehlen müssen. Allerdings würde ich mit meinem bisherigen Leben brechen müssen. Ich würde einen neuen Namen erhalten und von da an aufhören, Prado Cassanter zu sein. Mein Leben, so hatte ich über die Akolythen der Gilde gehört, wäre von da an dem Studium und dem Dienst der Gilde gewidmet. In gewisser Weise hieß es, meine Freiheit aufzugeben. Doch was war dies für eine Freiheit? Die Freiheit zu hungern, zu stehlen und vor den Wachen und Dieben auf der Hut zu sein? Wie lange würde ich noch so überleben können? Was verlor ich wirklich, wenn ich mein bisheriges Leben aufgab?
»Meine Antwort lautet: Ich nehme an!«
»Das freut mich zu hören. Aber bist du dir sicher? Ist es deine eigene, freie Entscheidung?«
»Ja, es ist meine Entscheidung! Ich will ein Akolyth der Gilde werden. Frei und ohne Zwang nehme ich das Angebot an.«
»Endgültig und unwiderruflich?«
»Ja, endgültig und unwiderruflich!«
»Willkommen in der Gilde. Von nun an ist dein Name S EGATO G’N ARN!«
Das war also mein neuer Name. Segato G’Narn. Ein typischer Gildename. Ich lächelte. Irgendwie fiel mir ein Stein vom Herzen.
»Was wäre, wenn ich nein gesagt hätte?«
Erogals Züge lockerten sich ein wenig, als er lächelte.
»Du kennst die Antwort auf deine Frage.«
»Niemand hat jemals einen Meister der Gilde gesehen…«, wiederholte ich einen Satz, der mir von Erogal D’Santo in Erinnerung geblieben war.
»Niemand, der noch am Leben ist.«, fügte D’Santo hinzu. In seiner rechten Hand hielt er plötzlich eine Schusswaffe, die tödliche Giftpfeile verschoss. Hätte ich nein gesagt, hätte ich die Bibliothek nicht lebend verlassen.
Die Aufgabe
»Gut oder Böse? Bis auf einen Vorzeichenfehler kann ich da keinen Unterschied entdecken.«
N ESTOR C ANISUS P RAX III, Königlicher Hofmathematiker und Philosoph der Schule der fundamentalistischen Symmetriker
»Warum ich?« Die Frage drängte sich einfach auf. Wer war ich schon, dass mich ein Gildemeister fragte, ob ich ein Mitglied der Gilde werden würde.
Erogal D’Santo musterte mich lange, bevor er antwortete. Aus seiner Miene war nicht ersichtlich, ob er über die Antwort nachdenken musste, oder über die Frage einfach nur amüsiert war.
»Was weißt du von der Gilde?«
»Vermutlich nicht viel. Ich weiß nur das, was man sich erzählt. Dass die Gilde sehr mächtig ist. Dass sie sich politisch absolut neutral verhält. Ist das nicht ein Widerspruch? Wie kann man gleichzeitig neutral und mächtig sein? Immerhin scheint die Gilde, oder ihre Mitglieder, sehr wohlhabend zu sein.«
Während meines letzten Satzes ließ ich demonstrativ meinen Blick über die wertvollen Bücher, Möbel und anderen Einrichtungsgegenstände der Bibliothek gleiten. Erogal lächelte! Die Selbstbeherrschung in Person lächelte, und mit diesem Lächeln begann der ganze Mann aufzutauen. Statt ausdruckslos in seinem Clubsessel zu sitzen, lümmelte er sich regelrecht in den Sessel hinein.
»Du kannst dir deine erste Frage selbst beantworten. Du hast dich vorhin in der Bibliothek umgesehen. Kannst du mir sagen, wie der Schreibtisch hinter dir aussieht, ohne dich umzudrehen?«
Das war einfach. Ich musste mir nur das Bild des Schreibtischs in Erinnerung bringen: »Ein Holzschreibtisch. Dunkles, lackiertes, stark marmoriertes Holz. Links und rechts sind Türen, die mit Intarsien versehen sind, In der rechten Tür steckt ein Schlüssel im Schloss, in der linken nicht. Zwischen den Seiten mit den Türen befindet sich eine flache Schublade unter der Oberfläche. Auf der Oberfläche liegt eine grüne Schreibmatte. Dahinter ein Tintenfass mit schwarzer Tinte, eine Glasschale mit zwei perlmuttverzierten Füllfederhaltern, ein Tintenkissen, Löschpapier. Beleuchtet wird der Schreibtisch von einer messingfarbenen länglichen Schreibtischlampe mit grünem Glasschirm. Unter der rechten Ecke der Schreibunterlage lugt ein kleiner weißer Zettel hervor.«
Mein Gegenüber nickte zufrieden und stand auf. Erogal ging zu einem Bücherregal, entnahm ein Buch, schlug es auf und zeigte mir eine Seite: »Schau dir bitte diese Seite genau an und präge sie dir ein.«
Ich schaute ungefähr eine Minute darauf und meinte dann: »Ja!«. Die Seite enthielt nur ein paar Reihen mit graphischen Symbolen.
Erogal D’Santo klappte das Buch zu und sah mich auffordernd an: »Könntest du den Inhalt der Seite aus deinem Gedächnis aufschreiben?«
Ich zuckte nur mit den Schultern: »Sicher!«
Der Gildemeister führte mich zum Schreibtisch, zog ein Blatt Papier und einen Stift aus der Schreibtischschublade und meinte freundlich: »Bitte!«
Ich wusste zwar nicht, wo der Witz bei dieser Aufgabe sein sollte, tat es aber trotzdem. Ich rief mir das Bild ins Gedächnis zurück und malte das Bild ab. Nach fünf Minuten war ich fertig. Mit meiner Arbeit zufrieden, hielt ich das Blatt meinem Gastgeber hin. Jener schlug das Buch auf und verglich die Seite mit meinem Blatt. Es gab keinen Fehler. Warum auch, schließlich sollte ich mir die Seite gut einprägen.
»Für dich ist das ein Kinderspiel, oder?«
»Was?«, ich verstand die Frage nicht.
»Du weißt es nicht, aber du bist besonders begabt. Etwas, das wir bei dir schon immer vermutet haben. Dein Vater…«
»Was ist mit meinem Vater?«, fiel ich meinem Gegenüber ins Wort. Der sah mich nachsichtig an.
»Dein Vater… Nach allem, was wir wissen, war er kein Seemann, wie dir dein Onkel immer erzählt hat. Sagt dir das Wort Mailar oder Istarilari etwas?«
»Aus einem Märchen. Geschichten, die mir meine Mutter erzählt hat. Istarilari sollen sowas wie Zauberer oder Hexenmeister sein, oder? Aber was hat das mit mir zu tun?«
»Istarilari waren Zauberer und keine Hexermeister. Sie habe unsere Welt schon vor mehr als fünftausend Jahren verlassen. Sie wurden uns geschickt, um uns im Kampf gegen das Böse beizustehen. Damals gab es noch ein enges Bündnis zwischen Menschen und Elben. Die Istarilari sahen aus wie Menschen, waren aber Wesen großer Macht. Man sagt, sie kamen von über dem Meer, wie die Elben. Es gibt Aufzeichnungen die behaupten, dass es eine Welt jenseits des Meeres gibt, oder zumindest einmal gab. Von Zeit zu Zeit segeln immer noch Elben dort hin, denn ihnen stehe der Weg in jenes sagenhafte Land offen. Die unifizierte Technokratie tut dies als Aberglauben ab und behauptet, die Elben würde einfach Selbstmord begehen, wenn sie ihres unendlichen Lebens überdrüssig geworden sind. Schließlich habe man die Welt vermessen und kartographiert. Die Erde wäre halt eine Kugel und es gäbe kein ewiges Land. Wir, die Gilde, sehen das anders. Wir glauben, dass es dieses Land gibt und dass es die Istarilari gab. Es gibt Aufzeichnungen in sehr alten Dokumenten, dass die Istarilari unsere Welt zwar verlassen haben sollen, aber ihre Nachkommen sollen unter uns weilen. Ein kleiner Teil der Fähigkeiten dieser Zauberer soll in den Nachkommen weiter leben, schlafend, ruhend, wie ein Samenkorn, das darauf wartet, den richtigen Boden zu finden, um zu keimen. Du bist eines dieser Samenkörner!«
»Ich? Ich soll ein Nachkomme eines Zauberers sein?«
»Ja, vermutlich. Du konntest mir exakt den Schreibtisch beschreiben. Du siehst dir kurz eine Seite mit hexatronischen Brammenglyphen an und kannst sie wenige Minuten später fehlerfrei aufschreiben. Kein normaler Mensch kann diese Glyphen aufschreiben. Und wenn das noch nicht reicht, du hast meine Geldbörse geklaut. Du hättest mich gar nicht als potentielles Opfer wahrnehmen dürfen. Einen Gildemeister bemerkt man nicht, niemals.«
Ich sah ihn verblüfft an, dann dämmerte es mir: »Ihr seid ein Zauberer! Aber wieso hat euch der betrunkene Händler dann umarmt?«
»Wir sind keine Zauberer. Das einzige Mitglied der Gilde, das einem wahren Zauberer noch am nächsten kommt, bist du. Wir wissen, wie man die Kräfte der Natur, auch die magischen, nutzen kann, um unsere Aufgabe zu erfüllen.«
»Welche Aufgabe?«, mir wurde langsam klar, dass ich nicht viel über die Gilde wusste. Aber damit stand ich nicht allein. Ich glaube, niemand wusste, welche Ziele die Gilde verfolgte. Wenn man jemanden fragte, was die Gilde sei, erntete man zumeist ein Schulterzucken. Die Gilde gab es schon ewig. Ähnlich, wie die Kirche der unifizierten Technokratie, unterhielten sie Niederlassungen, die Gildehäuser. Man fand sie in jeder größeren Stadt, überall auf der Welt. Auch unterhielt die Gilde Schulen, wenngleich sie nicht jeden unterrichteten. Ein Schüler, der aufgenommen werden wollte, musste eine extrem harte Prüfung über sich ergehen lassen. Auf der anderen Seite standen die Türen der Gildeschulen immer offen. Der Gilde war es egal, ob ein Kandidat die Tochter eines Herzogs, oder der Sohn eines Bettlers war. Abstammung und Rasse spielte keine Rolle, nur die persönlichen Fähigkeiten und der Wille zur Leistung. Dabei waren die Gildeschulen keine elitären Kaderschmieden, obwohl ihre Absolventen immer eine gut bezahlte Arbeit fanden. Intelligenz konnte sich sehr unterschiedlich zeigen. Es gab Schüler, die zu den besten bildenen Künstlern ihrer Zeit wurden, aber kein einziges Wort schreiben oder lesen konnten.
Was wusste man sonst über die Gilde? Sie war reich, das stand außer Frage. In manchen Städten war das Gildehaus das vornehmste der ganzen Stadt, vornehmer noch, als das Rathaus. Womit die Gilde ihr Geld machte? Man wusste es nicht. Es war bekannt, dass sie sich an Unternehmen beteiligte. Aber nach welchen Kriterien sie ein Unternehmen auswählte, war ebenso verwirrend, wie widersprüchlich.
»Unsere Aufgabe möchtest du wissen? Du weißt, dass es von nun an auch deine Aufgabe ist?«, D’Santo wurde sehr ernst.
»Meine Aufgabe?«, ich hatte noch nicht verinnerlicht, dass ich von nun an ein Gildemitglied war.
»Du weißt, dass du eine sehr große Ausnahme darstellst?«, D’Santo wurde extrem ernst. Er setzte wieder seine Körpersprache ein, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Unwillkürlich nahm ich eine bessere, aufmerksamere Körperhaltung ein. D’Santo fuhr fort: »Außer dir und mir weiß in diesem Gebäude niemand, dass ich ein Gildemeister bin. Es ist für unsere Aufgabe lebensnotwendig, dass die Identität der Meister geheim bleibt. Du ahnst nicht, welche Gefahr es für dich bedeutet, dass du meine wahre Identität kennst. Außerhalb dieses Raumes bin ich der Sekretär des Gildepräfekten der Stadt Crossar. Selbst er weiß nicht, wer ich bin. Junge, ist dir eigentlich klar, was in den letzten 9 Stunden passiert ist? Du bist von einem Niemand zu einem der wichtigsten Menschen dieser Stadt geworden. Deine Abstammung von einem Istarilari macht dich aber auch zu einem der Bedrohtesten. Dieser Raum ist der einzige im Umkreis von vielen hundert Meilen, an dem wir frei miteinander reden können. Was wir hier besprechen, darf diesen Raum niemals verlassen. Die Gilde wird dich ausbilden und dich auf deine Aufgabe vorbereiten. Du wirst eine Gildeschule besuchen und zusätzlich in diesem Raum von anderen Meistern in speziellem Wissen unterwiesen, Wissen, das du zum Überleben brauchen wirst. Du wirst hier im Haus leben. Offiziell bist du ein Mündel der Gilde geworden. Dein Onkel war für eine entsprechende Summe Gold mehr als willig, die Vormundschaft an uns abzugeben. Aber habe keine Angst, du bist ein freier Mensch. Wir würden niemals, niemals einen Menschen, Elben, Zwerg, selbst einen Ork versklaven.«, Erogal D’Santo sah mir tief in die Augen, »Es war sehr wichtig, dass du dich frei entschieden hast, ein Mitglied der Gilde zu werden. Dich zu töten, wäre eine Tragödie gewesen.«
»Sie hätten mich wirklich getötet?«
Segato D’Santo sah ein wenig traurig aus:»Ja, ich hätte dich getötet… und anschließend mich ebenfalls.«
Ich kam nicht mehr mit. Wieso hätte dieser Gildemeister erst mich und dann sich umgebracht, wenn ich sein Angebot ausgeschlagen hätte? Ich musste ein ziemlich fragendes Gesicht gemacht haben, denn Segato D’Santo nickte und erklärte: »Für uns, für die Gilde, ist das Leben etwas heiliges. Es zu nehmen ist ein Verbrechen und nur in allergrößter Not gerechtfertigt. Im Kampf kann ich einen Gegner erschlagen. Aber du bist kein Gegner, du wärst auch keiner, hättest du unser Angebot abgelehnt. Mit der Schande, dich töten zu müssen, könnte ich nicht weiterleben. «
Langsam ahnte ich, dass man einen sehr hohen Preis zahlte, wenn man ein Mitglied der Gilde wurde: »Die Aufgabe?«
Erogal D’Santo nickte: »Es ist die größte Aufgabe überhaupt. Es ist der Kampf gegen das Böse!«
»Das Böse?«
»Das Böse manifestiert sich nicht nur in Gewalt, Zerstörung, Aggressivität oder Ungerechtigkeit. Es existiert physisch. Denke daran, dass wir in einer Welt Leben, in der es wirkliche Magie gibt, auch wenn die Technokratie sie wegdiskutieren will. Alle Jahrtausende findet das Böse einen Weg in unsere Welt, um sie zu zerstören. Das Böse ist die vollkommene Negation: Statt Freiheit Sklaverei, statt Frieden Kampf, statt Aufbau Zerstörung und statt Liebe Hass! Seit der letzten großen Schlacht sind wir, die Gilde der Wächter, damit beschäftigt, diese Welt zu schützen. Wir wachen darüber, dass das Böse nicht wieder Fuß fassen kann und bekämpfen es überall dort, wo es uns begegnet. Aber der Kampf ist gefährlich und mühsam. Aber da ist noch etwas anderes…«
Erogal D’Santo schaute mich auf eine Weise an, dass ich eine Gänsehaut bekam, dann fuhr er fort: »Es gibt dich! In all den Jahrhunderten wurde das Erbe der Istarilari in deiner Familie weitergegeben. Dort schlief es, bis es wieder benötigt wurde. Segato, du bist ein Omen! Das Erwachen des Erbes in dir ist ein Zeichen. Das Böse kehrt zurück! Nach fünftausend Jahren ist die Zeit gekommen, in der sich die Gilde beweisen muss. Ein Sturm wird kommen, und er wird zeigen, wer stärker ist, das Gute oder das Böse.«
Training
»Rache? Immer! Man muss nur bereit sein, den Preis dafür zu bezahlen.«
V LADIMIR M ARSAKOV auf dem Weg zum Schafott, nachdem er eines sechsfachen Fememordes für schuldig befunden wurde.
Ich hatte es schon erzählt: Mein Zimmer war erschreckend klein, viel kleiner, als ich es erwartet hatte. Überhaupt war alles deutlich anders, als ich es erwartet hatte.
An jenem denkwürdigen Abend, als ich ein Mitglied der Gilde wurde, sprach ich noch mit Erogal D’Santo bis tief in die Nacht. Er erklärte mir viel, aber nicht so viel, dass mein Wissensdurst auch nur ansatzweise gestillt wurde. Die Sonne war längst wieder aufgegangen, als wir die Bibliothek verließen. Ein Diener kam und brachte mich in jenes erschreckend kleine Zimmer. Es war wirklich alles anders, als ich erwartet hatte. Aber was hatte ich erwartet?
Ich hatte dieses Haus als Prado Cassanter, Taschendieb und Sohn einer Hure, betreten. Aber Prado Cassanter existierte nicht mehr. Ich war Segato G’Narn, Akolyth 1. Stufe der Gilde. Ich war ein Nachkomme der Istarilari, einem Echo der Märchen und Sagen der Vergangenheit. Mein Leben hätte keine härtere Wendung nehmen können, als diese.
Ich hockte auf meinem Bett und ließ den Blick über mein Zimmer, das eher einer Klosterzelle entsprach, schweifen. Bett, Schreibtisch, Schrank. Eine unendliche Einsamkeit überkam mich, was völlig widersinnig war, da ich allein auf der Straße als Dieb eigentlich viel einsamer war. Oder nicht? Ich fühlte mich, als wenn tonnenschwere Gewichte auf meine Schultern gepackt worden waren. Wie sollte ich gegen das Böse in der Welt kämpfen? Ich war fast noch ein Kind. Ich war gerade einmal 16 Jahre und der einsamste Junge der Welt.
Ich legte mich auf mein Bett, starrte die Decke an und fing an, leise zu weinen. Ich wusste noch nicht einmal, warum ich weinte. Ja, das Zimmer war klein. Es war ein Zimmer von vielen dieser Art, denn es war ein Zimmer des Schuldormitoriums. Zum Waschen musste ich den Gang herunter in die Gemeinschaftsduschräume gehen. Ja, ja und nochmals ja, das Zimmer war klein – Aber es war meins!
Der nächste Tag sah schon besser aus. Man ließ mich ausschlafen. Am späten Vormittag zeigte mir ein Diener die für mich wichtigen Teile des Hauses. Ich lernte meine Lehrer kennen und wurde von Erogal D’Santo dem Präfekten der Gilde vorgestellt.
»Ah, du bist also unser neuer Schüler?«, fragte der Präfekt rhetorisch, »Wie mir mein Sekretär erläuterte, sollst du sehr begabt sein. Du musst einen unserer Meister sehr beeindruckt haben. Es kommt sehr selten vor, dass ich persönlich von ihnen gebeten werde, einen neuen Schüler aufzunehmen, und ihn zudem noch zum Mündel der Gilde zu erklären. Hoffen wir, dass du dich dieser Ehre als würdig erweist!«
Der Präfekt wusste natürlich weder, dass Erogal D’Santo ein Meister war, noch wusste er, welche Begabung wirklich in mir schlummerte. Auch die Formulierung »persönlich von den Meistern gebeten« war mehr als geprahlt und entsprach nicht ganz der Wahrheit. Die Gildemeister blieben immer unbekannt. Wenn sie den anderen Mitgliedern der Gilde etwas mitteilen wollten, dann benutzten sie spezielle magische Bücher. Erogal zeigte mir die Exemplare Crossars, als es darum ging, von anderen Meistern mit für mich wichtigem Wissen unterwiesen zu werden. Die Bücher der Verbindungen wurden in dem verschlossenen Bücherregal der Bibliothek aufbewahrt. Je nachdem, welche Seite man wählte, konnte man mit einem Meister oder einem anderem Buch der Verbindungen kommunizieren. Jede Seite war mit geheimnisvollen magischen Glyphen bedruckt, dessen Sprache nur noch sehr wenige beherrschten. Schlug man eine bestimmte Seite auf und berührte sie mit dem Handrücken, glühte sie auf und verband sich mit dem entsprechenden Geist des jeweiligen Meister, um einerseits ihm jedes gesprochene Wort zu übermitteln und andererseits die Antworten des Meisters als Schrift auf der Seite erscheinen zu lassen. War das Gegenstück ein anderes Buch, lief die Kommunikation etwas anders. Mit einer speziellen Tinte konnte man auf der entsprechenden Seite schreiben, ohne dass Spuren von der Tinte auf dem Papier blieben. Das Geschriebene erschien dann nicht nur auf der eigenen, sondern auch auf der Seite des fernen Buchs.
Das war soweit das, was allgemein in der Gilde über diese Bücher bekannt war. Die Bücher konnten aber mehr. Sie konnten nämlich auch die Sprache des Meisters übertragen. Da aber die Gefahr bestand, an der Stimme erkannt zu werden, wurde diese Kommunikation nur von den Meistern untereinander verwendet. Und von mir. Meine speziellen Lehrer erklärten mir mit ihrer echten Stimme, was ich wissen musste.
Ich hielt diese Art der Kommunikation für recht rückständig. Es gab weit moderne Techniken. Nicht alles, was Technik war, war schlecht. Insbesondere die Maschinen der U.T.U, der Unabhängigen technologischen Union, waren nicht per se schlecht. Ich sprach Erogal D’Santo darauf an und fragte, warum man nicht einfach Datenpads mit Verschlüssungssystemen verwendete. Mein Mentor, denn als das betrachtete ich Erogal D’Santo, lächelte und meinte, es wäre zu gefährlich. Eine Datenübertragung könnte abgehört und schlimmstenfalls sogar entschlüsselt werden. Außerdem bestand immer die Gefahr, dass Sender und Ziel geortet werden könnten. Wusste man erst, wer mit wem sprach, wusste man möglicherweise auch, wer welche Funktion in der Gilde besaß. Die magischen Bücher der Verbindungen besaßen keinen dieser Nachteile.
Ich merkte sehr schnell, dass ich viel zu lernen hatte. Wobei »viel« ein viel zu schwacher Begriff ist, denn mein Lehrplan sah mörderisch aus. Ich lernte vermutlich alles, was man überhaupt lernen konnte. Ich wurde in lebenden und toten Sprachen, in Literatur, Philosophie, Politik, Mathematik, Physik und Chemie unterrichtet. Man erklärte mir den Unterschied zwischen Zauberei und Hexerei. Man führte mich in die unterschiedlichen Arten der Magie ein. Ich lernte mit der gleichen Selbstverständlichkeit magische Runen zu zeichnen, wie ich lernte, ein Datenpad zu programmieren. Die Gilde war nicht technikfeindlich. Ob Magie oder Technik war schlicht eine Frage der Ökonomie.
Was sich dann auch an einer eigenwilligen Veränderung an meinem Körper manifestierte. Mir wurde ein PDA implantiert. Die Gilde verfügte über einen erstaunlichen Ressourcenreichtum. Mein PDA war gerade einmal walnussgroß, wurde direkt mit meinem Hirn verbunden und benötigte keine Energiequelle. Das Gerät war ein Meisterwerk moderner »Wetware«. Es bezog seine Energie aus meinen Blutgefäßen, wie ein Muskel oder eine Nervenzelle. Es besaß einen Stoffwechsel, verfügte aber über keine Intelligenz. Vielmehr erweiterte es mein eh schon großes Erinnerungsvermögen, unterstützte meine kognitiven Fähigkeiten und war vor allen Dingen eine intelligente Datenbank. Das ganze passierte völlig unbewusst. Wenn ich einen Text in einer fremden Sprache las, übersetzte mein PDA den Text in Echtzeit. Allerdings war mein PDA nach der Implantation leer. Mir blieb also nicht erspart, die Sprache trotzdem zu lernen, was mir mit Hilfe des Gerätes aber wesentlich leichter fiel, als ohne. Eine einmal gelernte Vokabel wurde niemals vergessen.
Wenn man jetzt glaubt, ich verbrachte die meiste Zeit an einem Schreibtisch, dann unterliegt man einem Irrtum. Es standen nämlich auch alle Arten von Kampftechnik auf dem Stundenplan. Ich lernte mit dem Schwert, meinen bloßen Fäusten, mit einem Plasmagewehr und allen möglichen anderen Dingen zu kämpfen. Die Hälfte meiner Ausbildung bestand aus Sport, Kraft- und Kampftraining. Und damit war mein Ausbildungsplan immer noch nicht zu Ende. Persönlichkeitsentwicklung hieß das letzte, aber nicht das unwichtigste Thema, in dem es darum ging, sich seiner selbst ständig bewusst zu sein und nur das von sich Preis zu geben, was man wollte. Ich lernte, meine Körpersprache bewusst einzusetzen und die eines Gesprächspartners genau so zu lesen, wie ich seine Worte hören konnte.
Persönlichkeitsbildung. Als Mitglied der Gilde wurde von einem erwartet, dass man sich standesgemäß verhielt. Man mag es kaum glauben, aber meinen ungehobelten Charakter glatt zu feilen, ohne meine Persönlichkeit dabei zu deformieren, war für alle Seiten, dem Schüler und insbesondere den Lehrern, mehr als prüfend. Es mag leicht sein, jemanden wie mich aus der Gosse zu holen, aber die Gosse aus mir heraus zu holen, war ein wahrer Kraftakt.
Tischbesteck, das heißt Messer und Gabel, war so ein Beispiel. Ich wusste, wie man es benutzte. Allerdings war die Art der Nutzung…trampelhaft. Ich war kein feiner Pinkel. Ich zerschnitt mein Essen mit Messer und Gabel, packte dann das Messer zur Seite, nahm die Gabel in die rechte Hand und futterte alles auf. Das man gleichzeitig Messer und Gabel verwenden kann, war mir neu.
Aber auch diese Hürde meisterte ich und wurde so von der Gilde zu einem kultivierten Menschen erzogen, der sich halbwegs in der Gesellschaft sehen lassen konnte.
Die Zeit ging dahin. Ich lernte, lernte und lernte. Das Wissen, das mir offenbart wurde, erschloss eine völlig neue Welt. Ich erfuhr von Wundern, die so fantastisch waren, dass man sie nicht einmal ausdenken konnte, wie es die Schriftsteller zuweilen taten. Ich hörte von Ringen der Macht, von großen Schlachten, in denen die Elben zusammen mit den Menschen gegen das Böse gekämpft hatten. Es gab wahre Geschichten von Monstern, gegen die die Orks wie Schoßhündchen wirkten.
Und es gab Drachen!
Von allen magischen Wesen faszinierten sie mich am meisten. Es war ein unscheinbarer Buchrücken, den ich aufs Gradewohl heraus dem Bücherschrank entnahm. Doch schon sein Deckel war eine Offenbarung. In kostbarstem Gold- und Mithrilschnitt zierten zwei ineinander verschlungene Drachensymbole den ledernen Einband. Wie ich später erfuhr, war der Einband nicht aus simplem Leder, sondern aus echtem Drachenleder gearbeitet worden. Finodas, ein Golddrache, der vor vielen Jahrhunderten gelebt hatte, hatte seine Haut der Gilde vermacht, auf dass eine Enzyklopädie der Drachen entstehen sollte. Und jenes Werk hielt ich nun in meinen Händen. Als ich das Buch aufschlug war es, als wenn sich vor mir eine völlig neue Welt entfalten würde. Die Drachen hatten mich in ihren Bann geschlagen.
Ungefähr zu der Zeit, zu der ich meine Faszination für die Drachen entdeckte, fiel ein Schatten auf die Gilde. Ich war seit gut zwei Jahren ein Schüler, als ich eines Abends Erogal D’Santo in der Bibliothek traf. Inzwischen hatte ich gelernt, seine Körpersprache auch dann zu lesen, wenn sich der Gildemeister alle Mühe gab, seine Emotionen vor mir zu verstecken. Er wirkte abgelenkt und mit seinen Gedanken weit weg, als er mich nach dem Buch fragte, das ich in meinen Händen hielt. Es war das Drachenbuch, aber ich hatte den Eindruck, dass mein Mentor nur aus Höflichkeit fragte. Er sah müde und besorgt aus.
»Meister, gibt es noch Drachen in unserer Welt?«
Von einer Sekunde zur nächsten war die Abgelenktheit verschwunden. Erogal D’Santo sah mich erstaunt und mit hellwachen Augen an: »Wie kommst du auf Drachen?«
Ich reichte ihm das Buch. Er nahm es in seine Hände und strich versonnen über dessen Einband: »Drachen also? Ja, es gibt sie noch. Nicht mehr viele und die wenigen, die es noch gibt, haben sich weit hinter die Einöden zurückgezogen. Dort gibt es eine Stadt, Daelbar, das Drachenheim, in der sie leben.«
»Habt ihr schon einmal einen Drachen gesehen?«, fragte ich und hatte nun gänzlich Feuer gefangen.
»Ja, vor vielen Jahren. Ich war damals so alt wie du jetzt. Ich war mit einer Drachenreiterin befreundet.«, Erogals Mine verfinsterte sich. Der Gildemeister machte keine Anstalten, seine Emotionen zu verheimlichen, »Vaire war eine Halbelbin. Wir wollten uns vermählen. Aber dann wurde ihr Drache, Gulfir, von einer Jagdlanze getroffen und getötet. Ein Drachenreiter kann ohne seinen Drachen nicht weiterleben, und ein Drache kann ohne seinen Reiter nicht weiterleben. Beide gehören zusammen, bilden eine Einheit. Vaire starb in meinen Armen.«
Ich war erschüttert und berührt. Dieser mächtige Mann, ein Meister der Gilde, war auch nur ein Mensch. Ich verstand nicht, wer ein edles Wesen, wie einen Drachen, töten konnte und fragte meinen Meister.
»Es sind Menschen, Orks, Trolle oder noch bösartigere Wesen, die so etwas machen. Sie stehen im Dienst dessen, wogegen wir kämpfen, dem Bösen. Die Drachen sind nicht nur magische Wesen, sie sind auch inhärent gut. Es gibt keine bösen Drachen, denn diese Wesen symbolisieren das Leben.«, Erogal wurde sehr, sehr leise, »Die Drachen überlegen sich sehr genau, wen sie als Drachenreiter auswählen. Sie wissen, ob ein Kandidat ein guter Reiter sein wird, oder nicht. Ich habe es erlebt. Ich wurde nicht erwählt.«
Erogal D’Santo schwieg. Er wollte, wie seine Liebe, ein Drachenreiter werden. Aber er wurde nicht erwählt und ich ahnte, wieso. »Meister, haltet mich bitte nicht für respektlos, aber warum wurdet ihr nicht erwählt?«
»Wegen meiner Wut! Nach dem Tod von Vaire schrie meine Seele nach Rache. Ich verstehe die Drachen und respektiere ihre Entscheidung, mich nicht zu erwählen. Mein Zorn hätte uns beide zerstört, mich und meinen Drachen. Immerhin, die Drachen waren nicht herzlos. Sie sahen meinen Schmerz und gaben mir eine andere Aufgabe. Ich wurde ein Meister der Gilde.«, der Gildemeister wischte die Erinnerung mit einem Ruck hinweg, »Aber das war vor vielen Jahren und ist fast nicht mehr wahr. Ich bin ein Meister der Gilde geworden, so wie es mir die Drachen rieten. Ich kann gegen das Böse kämpfen, gegen das Böse, das mir alles genommen hat, was ich liebte.«
Berufung
Ich mag Bücher nicht. Sie sind träge, geradezu faul und sehr eigenwillig, manche neigen sogar zur Übellaunigkeit.
Letztens hat mich doch glatt eins gebissen!
H ARANDOR R ANDWALD Rektor der staatlichen Bibliothek zu Crossar
Nach viereinhalb Jahren war ich mit meiner Ausbildung so gut wie fertig. Körperlich und seelisch war ich fix und fertig. Eines Tages brach ich einfach zusammen. Dabei fühlte ich mich gar nicht überfordert. Ich war im Unterricht gut mitgekommen, lieferte sogar hervorragende Leistungen ab, aber etwas fehlte. Von Tag zu Tag und Woche zu Woche fühlte ich mich leerer, so, als wenn ich nicht mehr ich selbst war. Ich lächelte immer weniger. Jeder, der mich sah, sah nur ein müdes griesgrämiges Gesicht. Eines Tages, es war eine Woche nach Neujahr, passierte es.
Es hatte die Nacht über geschneit, was für Crossar als südländische Küstenstadt etwas sehr seltenes war. Im Schulhof der Gildeschule lag der Schnee gut einen halben Meter hoch. Die Schüler waren nicht zu bremsen. Sie stürmten los und es entbrannte eine richtige Schneeballschlacht. Alle waren fröhlich und ausgelassen. Ob Erstklässler oder Absolvent, alle tobten in der weißen Pracht.
Bis auf mich! Ich stand am Rand und begann unkontrolliert zu weinen. Ich wusste nicht, warum, aber flennte einfach los. Meine Gefühle spielten plötzlich verrückt. Ich sackte in mich zusammen. Zusammengekauert hockte ich im Schnee und heulte.
Eine Hand berührte mich an meiner Schulter. Ich zuckte vor Schreck zusammen und schaute aus verquollenen Augen hoch. Natürlich war es mein Mentor. Er packte meine Schulter und zog mich hoch: »Komm!«
Im Kamin der Bibliothek prasselte ein wärmendes Feuer. Seit einer viertel Stunde hockte ich in mich zusammen gekrochen in einem der Clubsessel und heulte, wie ein Schlosshund. Und ich wusste noch nicht einmal, warum! Es dauerte eine Weile, bis meine Tränen verebbten und ich nur noch leicht vor mich hin schniefte. Erogal D’Santo ließ es einfach geschehen. Er saß mir gegenüber und sagte nichts. Er wartet ab. Erst, als ich ganz ruhig geworden war, fragte er leise.
»Und? Willst du darüber sprechen?«
Ich zuckte linkisch mit meinen Schultern und murmelte verschnieft: »Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Als ich die anderen fröhlich im Schnee toben sah, war es, als wenn mich ein Vorschlaghammer getroffen hätte.«
»Bist du glücklich?«
Ich starrte Erogal an. Plötzlich wurde mir klar, was mit mir los war: »Nein! Ich bin einsam! Ich fühle mich einsam und verlassen, ein Wassertropfen in einem anonymen Meer. Ich habe nichts, statt Freunde habe ich Geheimnisse. Ich… Ich war nie ein Kind! Ich habe verlernt, mich zu freuen.«
Erogal D’Santo schwieg eine ganze Weile. Schließlich drehte er sich dem Kamin zu und stocherte versonnen mit einem Schürhaken in der Glut: »Ich weiß, was du fühlst. Du denkst, es sei der Preis, den wir zahlen müssen, für unser Leben in der Gilde. Aber es sollte nicht so sein. Wie können wir für das Gute kämpfen, wenn uns das Gute keine Freude mehr bereitet? Wenn uns ein Moment einfacher Freude, wie eine Schneeballschlacht, zum einsamsten Wesen auf der Welt macht?«
Erogal drehte sich mir zu: »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du dich selbst findest. Du hast in den letzten Jahren alles Mögliche und Unmögliche über die Welt gelernt. Eigentlich hast du alles gelernt, was wichtig war zu lernen. Es wird Zeit, dass du lernst, wer du bist! Lerne Segato G`Narn kennen, lerne dich kennen.«
»Und wie mache ich das?«
Erogal grinste: »Wie wäre es, wenn du eine Reise machst?«
»Eine Reise?«
»Sicher! Du hast ununterbrochen gelernt. Du hast es dir verdient, die Früchte deiner Arbeit zu ernten. Nimm dir die Zeit. Reise. Wandere umher und erkenne dich selbst. Wer weiß, vielleicht verliebst du dich sogar dabei.«
»Und wohin soll ich verreisen?«, die Idee, Crossar zu verlassen, war mir überhaupt noch nicht in den Sinn gekommen.
»Wohin du willst. Du hast viel gelernt. Du kennst die Welt aus Büchern. Welches Land, welche Stadt, hat dich am meisten fasziniert?«
»Daelbar!«, ich musste nicht einmal nachdenken. Die Antwort kam von ganz allein.
Erogal D’Santo grinste breit und meinte: »Natürlich, Daelbar, wohin sonst…«
Erogal D’Santo stand auf und ging zum verschlossenen Bücherregal. Er öffnete das Regal und hantierte darin herum. Es gab ein leises Klicken und ein Teil des Regals rollte zur Seite und gab den Zugriff auf ein weiteres Bücherregal frei. D’Santo griff zielsicher ein dünnes Buch und kehrte zu seinem Clubsessel zurück. Er setzte sich, beugte sich zu mir vor, wobei er sich mit den Armen auf seine Beine stützte. Das Buch hielt er in seiner rechten Hand, als er seinen Kopf hob und mir tief in die Augen schaute: »Du weißt, was die Aufgabe der Gilde ist?«
»Wir kämpfen gegen das Böse, aber das ist wohl nicht das, was ihr wissen wolltet.«
D’Santo grinste: »Warum vermutet jeder einen Hintergedanken, wenn ich eine einfach Frage stelle? Aber es war wirklich so einfach gemeint. Ja, wir kämpfen gegen das Böse.«
Ich sah meinen Lehrer, Mentor und Meister fragend an: »Worauf wollt ihr hinaus, Meister?«
»Hierauf!«, Erogal D`Santo reichte mir das Buch. Ich nahm es in meine Hände. Es war mehr ein Heft, als ein Buch. Es besaß einen Einband aus einem weichen Material, das sich sehr angenehm anfühlte, war ansonsten aber schmucklos. Es besaß nicht einmal eine Beschriftung. Aber das Merkwürdigste an diesem Buch war, dass es sich warm anfühlte. Ich schlug es auf. Die Seiten waren aus einem seltsamen Papier geschöpft. Es war etwas gelblich und von feinen Linien, wie von Adern, durchzogen. Sämtliche Seiten waren leer. Etwas irritiert sah ich meinen Meister an, während ich gleichzeitig mein erlerntes Wissen durchforstete.
»Schlag die erste Seite auf.«, forderte mich Erogal D’Santo auf.
Ich tat, wie mir geheißen. Ich sah nichts. Die Seite war leer… Nein, die Seite war zuerst leer, änderte sich aber. Die Linien oder Äderchen des Buches pulsierten, als ob Blut durch die feinen Kapillaren der Seiten fließen würde. An manchen Stellen begann sich das Papier zu verfärben, erst bräunlich, dann heller werdend, bis schließlich altertümlich geschwungene Buchstaben gold leuchtend vor meinem Auge standen.
»Lies!«
Die Buchstaben waren wirklich altertümlich und entstammten einer sehr alten Schrift, mit der ich schon während des Unterrichts meine liebe Mühe gehabt hatte. Erschwerend kam hinzu, dass die Schrift auch noch funkelte, oszillierte und irgendwie leicht hin und her wogte. Mühsam fing ich an zu lesen: »Ich grüße dich, Segato G’Narn, 3. Graumeister der Gilde der Wächter!«, entsetzt sah ich Erogal D’Santo an, »Graumeister? Ich? Aber Meister…«
»Höre auf, mich Meister zu nennen. Ich war nie dein Meister. Ich war dein Lehrer, dein Mentor und hoffentlich ein väterlicher Freund, mehr aber auch nicht. Der oberste Rat der Graumeister hat entschieden, dich in ihren Kreis aufzunehmen. Du hast es dir verdient. Du hast es dir redlich erarbeitet. In den letzten viereinhalb Jahren hast du mehr Wissen und Fertigkeiten erlernt, als die meisten Wesen im ganzen Leben geschafft hätten. Es ist deinem Erbe zu verdanken, dass du so weit gekommen bist. Dieses Buch wird dich von nun begleiten. Es hat sich mit dir verbunden und verbindet dich mit uns. Jeder Meister besitzt eines dieser Bücher. Die Meisterbücher, wie sie genannt werden, sind lebendige Wesen. Sie leben in Symbiose mit ihren Besitzern. Auf deiner Reise nach Daelbar werdet ihr euch kennen lernen. Mit diesem Buch bist du niemals allein, selbst in den tiefsten Verliesen der Trolle. «
»Ich bin ein Graumeister?«, ich konnte es immer noch nicht fassen. Wer war ich denn? Ich war ein Junge von der Straße, der zum Überleben arglose Menschen beklaut hatte, und jetzt war ich ein Meister der Gilde?
»Ja!«, lachte Erogal, »Du bist ein Graumeister. Sei nicht schockiert, Bruder. Ich bin mir sicher, dass es deine Bestimmung war, ein Graumeister zu werden. Ich war mir dessen von dem Moment an sicher, als du meine Geldbörse klautest. Und ich weiß auch, dass es deine Aufgabe ist, nach Daelbar zu gehen.«
»Wegen der Geldbörse…«, stammelte ich los, »Ich habe von den Mithrilmünzen nicht eine ausgegeben.«
Erogal lachte auf: »Du bist unglaublich! Da erklärt man dir, dass man dich zum Meister erklärt hat und alles, an was du denken kannst, ist ein wenig Geld.«
»Ein wenig Geld? Die Münzen sind mehr wert, als halb Crossar!«
»Ich habe es dir bei unserer ersten Begegnung schon gesagt. Behalte das Geld. Du wirst es vielleicht irgendwann einmal dringend benötigen. Und nun, komm mit, ich möchte dich zum Essen einladen und feiern. Wer weiß, wie viele Gelegenheiten sich noch bieten.«
Mit dieser Frage bewies Erogal D’Santo mehr Weisheit, als er selbst geahnt hatte. Drei Tage nach meiner Ernennung zum Graumeister, erreichten uns besorgniserregende Nachrichten. Der lange schwelende kalte Krieg zwischen Goldor und seinem südlichsten Nachbarn, Harrasland, drohte zu eskaliert und zu einem heißen zu werden. Beide Seiten zogen ihre Streitkräfte zusammen und bereiteten sich auf ein fürchterliches Gemetzel vor. Alles begann, als ein Orkheer unter dem Befehl General Uskavs eine Festung des Feindes eroberte. Gerüchten zufolge war bei dieser Aktion etwas schief gegangen. Ein hoher Würdenträger der unifizierten Technokratie war festgenommen, gefoltert und anschließend getötet worden. Dies galt gemeinhin als Sakrileg. Die Würdenträger der Kirche waren unantastbar, da sie sich zur absoluten Neutralität verpflichtet hatten. Einer Neutralität, die von der Päpstin der unifizierten Technokratie gerade erst durch eine Dekretale contra factionis erneuert worden war.
Goldor und sein Nachbar gaben sich gegenseitig die Schuld an dem Vorfall. Goldor behauptete, die Festung wäre widerrechtlich auf goldorianischem Territorium errichtet worden und es wäre daher ihr natürliches Recht, diese eklatante Verletzung der Souveränität zu beseitigen. Man gebe durchaus zu, dass es bei der Befriedung zu Opfern gekommen sei, mit dem Tod des Klerikers hätte man aber nichts zu tun.
Harrasland wiederum beharrte darauf, dass der Anspruch Goldors auf das Territorium völkerrechtlich von den meisten Staaten nicht anerkannt würde. Auf dem Kongress von Crossar vor 25 Jahren war deswegen die betreffende Region unter das Protektorat Harraslands gestellt worden. Die Festung bestand daher nur, um dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen. Mit dem Tod des Klerikers hätte man im Übrigen ebenfalls nichts zu tun. Zum Zeitpunkt der goldorianischen Aggression wäre der Kleriker noch am Leben gewesen.
»Es beginnt.«, meinte Erogal nachdenklich, worauf ich ihn fragend an sah: »Was?«
»Sie hat den ersten Zug gemacht. Die Eskalation zwischen Goldor und Harrasland ist nur der Anfang. Aber wieso? Warum schon jetzt? Wir waren uns doch so sicher, dass wir noch 10 Jahre Zeit hätten. Zeit, uns vorzubereiten.«
Ich verstand nicht, was Erogal D’Santo meinte und deswegen fragte ich ihn. Seine Antwort machte mir Angst. Sie, das war die Päpstin der unifizierten Technokratie. Die Gilde kannte den Plan der Kirche, sich in sämtliche Schlüsselstellungen aller Staaten zu bringen. Man wusste auch, dass die Päpstin einen Kreuzzug gegen die Magie betrieb. Die Päpstin war zweifellos böse, aber war sie auch das Böse? Diese Frage war der Grund, warum die Gilde bisher nicht gegen den Klerus vorgegangen war. Wäre die Päpstin nur eine Marionette einer viel größeren und dunkleren Macht, würde ein unüberlegter Akt die Gilde verraten. Man würde einem Gegner gegenüberstehen, der gewarnt war. Was die Sache auch nicht leichter machte, war der Umstand, dass man keine Agenten in unmittelbarer Nähe des apostolischen Sanktums, dem exterritorialen Gebiet, das die Kirche der unifizierten Technokratie beherbergte, besaß. Alle, die es versuchten, waren auf mysteriöse Weise verschwunden.
»Etwas muss die Päpstin aufgeschreckt haben. Sie hat früher begonnen, als sie wollte. Ich glaube nicht, dass sie bereit war. Etwas ist geschehen!«, Erogal D’Santo sah mich an, schaute aber durch mich hindurch. Plötzlich kehrte sein Blick aus weiter Ferne zurück. Erogal packte mich an meinen Schultern: »Segato, Freund, das ist die Lösung! Dein Wunsch, Drachen zu sehen, könnte sich noch als extrem wichtig erweisen. Du solltest so schnell wie möglich aufbrechen. Ich weiß nicht wieso, aber ich habe das Gefühl, dass du eine Bestimmung besitzt, die nicht in Crossar liegt. Du musst nach Daelbar. Vor deiner Abreise werde ich noch mit einigen unserer Meisterbrüder sprechen. Ich schäme mich es zu sagen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich noch allen Meistern vollkommen vertrauen kann.«
Ich war entsetzt: »Glaubst du, wir haben Verräter in unseren Reihen?«
Erogal D’Santo schüttelte energisch seinen Kopf: »Nein, das nicht. Aber ich befürchte, dass es Spitzel in der Gilde gibt. Ich habe merkwürdige Gerüchte gehört. Die Päpstin stellt Nachforschungen über einen jungen Mann an. Es kann ein Zufall sein, aber die Beschreibung passt auf dich. Was, wenn sie erfahren hat, dass du ein Nachkomme der Istarilari bist?«
»Aber das weiß doch außerhalb der Gilde… Ich verstehe, was du meinst. Aber warum ist Daelbar für uns wichtig?«
»Eben weil du ein Nachfahre magischer Wesen bist. Es ist die gleiche Magie, der auch die Drachen entspringen. Vielleicht sind die Drachen in der Lage, deine Kräfte zu erwecken. Ich hoffe, ich irre mich, aber was ist, wenn die Päpstin tatsächlich von dir gehört hat? Du wärst für sie eine, wenn nicht die größte Bedrohung, der sie jemals gegenüber stand.«
Reisezeit
»Reisen bildet!«
T OLDIN auf die Frage, warum er mit T URONDUR einfach so einmal um die Welt geflogen war.
Und so brach ich drei Tage später auf. Der Abschied fiel mir schwer, sogar sehr schwer. In den viereinhalb Jahren war mir Erogal D’Santo mehr ans Herz gewachsen, als mir bis dahin bewusst war. Erst am Tor des Gildehauses, als mir das Wasser in den Augen stand, wurde mir klar, dass Erogal so etwas wie mein Vater geworden war, den ich nie hatte.
Erogals Stimme klang belegt, als er mich verabschiedete: »Mach’s gut, Segato. Vergiss Crossar nicht.«
Aus einem völlig gildeuntypischen emotionalen Impuls heraus umarmte ich Erogal, wobei ich ihm noch einmal seine Börse entwendete: »Danke! Danke für alles. Ich werde Crossar nicht vergessen, niemals. Und ich werde dich nicht vergessen, Bruder.«
»Sei vorsichtig. Die Agenten der Päpstin lauern überall. In anderen Ländern hat der Klerus wesentlich mehr Einfluss, als in unserer Stadt. «
»Ich werde vorsichtig sein. Das verspreche ich!«
Erogal räusperte sich: »Gut, gut… Ähm …«
Meinem alten Meister schien etwas auf der Seele zu brennen. Ich vermutete schon, er hätte entdeckt, dass ich ihm die Börse gemopst hatte, also hielt ich ihm den Lederbeutel vor die Nase: »Vermisst du dies?«
Das war es nicht, was ihn bewegte. Erogal D’Santo sah mehr als verblüfft aus: »Ich sehe, du hast keines deiner Talente verlernt. Du bist sogar noch besser geworden, denn diesmal habe ich wahrlich nichts bemerkt.«.
Mein ehemaliger Meister nahm seinen Geldbeutel, sah sich um, dass uns auch niemand hörte und zog mich schließlich zu sich heran: »Segato, könntest du mir einen persönlichen Gefallen tun? Wenn du in Daelbar angekommen bist, dann halte bitte Ausschau nach einem Drachen und seinem Reiter. Der Drache heißt Toldin und sein Reiter Turondur. Toldin ist ein wirklich liebenswürdiger Silberdrache. Turondur, nun ja, er ist ein Elb. Wenn man hinter seine Arroganz schaut, erkennt man einen netten Kerl. Wenn du sie siehst, richte ihnen bitte meine Grüße aus und teile ihnen mit, dass es mir Leid tut. Ich war im Unrecht.«
Ich fragte nicht nach, was diese Botschaft bedeutete. Es stand mir nicht zu. Ich nickte und meinte nur: »Ich werde deine Botschaft überbringen.«
Wir verabschiedeten uns voneinander. Meine Reise hatte begonnen. Der Stadtstaat Crossar lag weit im Süden. Der Norden der Stadt grenzte an Harrasland, und nach Norden musste ich. Der größte Teil meiner Reise würde direkt in Richtung Norden gehen. Ich hatte überlegt, ob ich mit einem Fluggleiter direkt nach Goldor reisen sollte, hatte mich aber dagegen entschieden. Ich wollte richtig reisen und was lag da näher, als auf klassische Art und Weise: auf dem Rücken eines Pferdes. Genau genommen war es mein Pferd. Reiten gehörte zum Unterricht und jeder Schüler erhielt ein Pferd. Zuerst hatte ich einen Heidenrespekt vor dem Tier. Ulfin, so der Name des Pferdes, war riesig. Jedenfalls für einen Jungen in meinem Alter, damals vor vier Jahren. Inzwischen war Ulfin ein guter Freund.
Als ich die Stadtgrenze von Crossar erreichte, sah ich sehnsüchtig zurück. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie die Stadt verlassen. Das Gefühl war merkwürdig. Meine Reise hatte noch gar nicht richtig begonnen, da hatte ich bereits Heimweh.
»Sie stehen in der falschen Schlange.«, wurde ich von einem Grenzwächter belehrt. Ich starrte ihn verdattert an, worauf er erläuterte: »Ihr Reisepass! Sie sind ein Mitglied der Gilde. Sie müssen die Schlange für Diplomaten benutzen. Sie sind doch ein Mitglied der Gilde?«
Langsam begriff ich, was er meinte. Etwas linkisch und mit rot angelaufenem Kopf packte ich meine Ausweisdokumente wieder zusammen, schnappte meine Satteltasche und lief zum Kontrollschalter mit der Beschriftung »CD«. Dort angekommen wurde ich sehr freundlich und zuvorkommend behandelt.
»Willkommen in der Grafschaft Harrasland. Ist Harrasland Ihr Endziel, oder sind Sie Transitreisender?«
»Transitreisender. Ich beabsichtige, Richtung Norden zu reisen.«
Der Grenzwächter wirkte angestrengt und etwas nervös: »Sie wissen, dass das diplomatische Verhältnis zwischen Harrasland und dem Königreich Goldor zur Zeit schwierig ist? Für nicht diplomatisches Personal ist die Grenze bereits geschlossen. Bei der augenblicklichen Entwicklung besteht die reale Möglichkeit, dass bei Ihrer Ankunft die Grenze auch für Diplomaten geschlossen sein könnte. Darf ich fragen, was ihr in Goldor sucht?«
Ich konnte ganz deutlich spüren, dass es dem Grenzwächter missfiel, jemanden nach Goldor gehen zu sehen. Misstraute er mir? Hielt er mich etwa für einen Spion? Damit hätte er gar nicht so falsch gelegen. Ich war zwar kein Spion, eine Haupttätigkeit der Gilde im Kampf gegen das Böse bestand allerdings tatsächlich in der Beschaffung von Informationen. Ich hatte schon von meinem PDA-Implantat erzählt, das mir als Datenbank nützliche Dienste erwies. Viele Mitglieder der Gilde besaßen ein derartiges Implantat, denn die Datenbank war keine Einbahnstraße. Man konnte von ihr nicht nur Daten abrufen, der Träger des PDAs konnte auch Daten darin ablegen: Gedankenmemos, aber auch Sinneseindrücke. Wenn ich es wollte, konnte ich das PDA wie ein audiovisuelles Aufzeichnungsgerät verwenden. Alles was ich hörte und sah, wurde auf Wunsch vom PDA aufgenommen. Ich musste es nur »wollen«. Später konnte ich diese Aufzeichnungen immer und immer wieder vor meinen inneren Augen oder Ohren abspielen. Ich konnte die Daten sogar per Datenupload in ein Datenpad überspielen.
Ich wusste zwar nicht, was der Grenzwächter über die Gilde wusste, aber die Gerüchte über uns waren allesamt genau so falsch, wie untertrieben. Es war das erste Mal, seit meinem Eintritt in die Bruderschaft, dass ich begriff, dass ich in einem gewissen Sinn die Seiten gewechselt hatte. Als Taschendieb waren Gildemitglieder genauso faszinierend wie unheimlich. Jetzt, auf der anderen Seite des Tisches, musste ich lernen, dass diese Aura uns zu sehr einsamen Wesen machte. Dabei kultivierten wir diesen Nimbus. Ich war das beste Beispiel dafür. Mein Gildetraining hatte mir Selbstbewusstsein und Kultur gegeben. Ich sprach nicht mehr wie ein Kind aus der Gosse. Ich popelte nicht mehr in der Nase, wischte mir meine Hände nicht mehr an meiner Hose ab. Dafür konnte ich jetzt hunderte Weinsorten am Geschmack erkennen. Aus dem Kind einer Hure war ein Mann geworden, der auf einem königlichen Staatsbankett nicht den kleinsten protokollarischen Fehler beginge, hinterher aber über die wichtigsten Intrigen und dunklen Geheimnisse der Bankettgesellschaft informiert wäre. Kein Wunder also, dass uns die meisten Menschen gleichzeitig fürchteten, aber eben auch von uns fasziniert waren. Bei näherem Hinschauen galt gleiches auch für die Kleriker. Waren Gilde und Klerus sich vielleicht ähnlicher, als wir zugeben wollten?
»Nein, nein!«, beruhigte ich meinen Passbeamten, »Goldor wird für meine Reise ebenfalls ein Transitland sein.«
Mein Gesprächspartner entspannte sich ein wenig. Offensichtlich hielt er mich nicht mehr für einen Spion. Dafür gab er mir aber den guten Ratschlag, niemandem in Goldor zu vertrauen und sehr vorsichtig zu sein. Es wäre ein aggressives Volk, die Goldorianer, nur, weil sie vor Jahrtausenden angeblich die Welt vor dem Untergang gerettet haben sollen, würde sich der König anmaßen, aller Welt seinen Willen aufzwingen zu müssen. Aber die Harraslander wären ein freies, unabhängiges Volk. Das würde der Graf dem König schon noch zeigen. Ich bedankte mich höflich für seine Warnung und versicherte ihm, dass ich in Goldor besonders vorsichtig sein würde.
»Sehr gut! Gute Reise!«, entgegnete der Grenzwächter und stempelte ein elektronisches diplomatisches Transitvisum in meinen Pass. Eine Minute später stand ich das erste Mal in meinem Leben mitten auf der Straße eines fremden Landes. Ich bestieg mein Pferd und trabte los.
Harrasland ist ein Land der Gegensätze. Da Crossar eine Küstenstadt war, lag natürlich auch das umgebende Harrasland an der Küste. Diese Region bildete die grüne Seite Harraslands. Die Seewinde trugen viel Feuchtigkeit mit sich. Die Küstenlinie Harraslands war auf einer Breite von 30 Meilen recht flach, stieg dann aber steil an und schoss zu einem Gebirgsrücken auf, der sich ebenfalls die Küstenlinie entlang zog. Wie man sich denken kann, regnete sich die Feuchtigkeit über diesem Gebirge ab und schuf zwischen dem Meer und dem Gebirge einen grünen, saftig bewucherten und fruchtbaren Streifen. Hinter dem Gebirge lag ein karges, trockenes Plateau, das von den Harraslandern mit Hilfe des Harraslandaquädukts mühsam fruchtbar gemacht wurde. In gewisser Weise rührte der Streit zwischen Harrasland und Goldor indirekt von diesem Aquädukt her. Das Territorium, um das es ging, besaß keinen nennenswerten Nutzen, es gab keine Bodenschätze und es konnte auch nicht zum Ackerbau genutzt werden. Es bestand eigentlich nur aus einem Berg, dem Amon Harronsul. Diesem Berg entsprang allerdings der Harrondulin, ein Fluss, der früher relativ ungenutzt ins Meer mündete. Das Harrasland überwiegend trockenes Wüstenland war, entschied man, das Wasser des Harrondulin umzuleiten und zur Bewässerung zu verwenden. Wasser ist Leben. Dumm nur, dass der Harrondulin den letzten Teil seines Weges zum Meer durch Goldor lief. Die Goldorianer riefen prompt »Wasserdiebe« und meinten, der Amon Harronsul gehöre eigentlich sowieso zum Königreich Goldor. Es wurden Dokumente vorgelegt, die diesen Anspruch beweisen sollten. Allerdings gab es Zweifel an der Echtheit der Dokumente. Es wäre fast zu einem Krieg gekommen, wäre es nicht im letzten Moment durch Vermittlung der Gilde zu einer Konferenz in Crossar gekommen.
Leider konnte die Konferenz den Streit nicht schlichten. Die Vertreter Goldors beharrten auf dem Standpunkt, dass der Amon Harronsul ein Teil des Königreiches wäre. Die Delegation Harraslands wiederum bestritten die goldorianischen Ansprüche mit der Begründung, dass die beigebrachten Dokumente Fälschungen seien. In der Sache konnte man zu keiner Einigung kommen, allerdings wurde ein Krieg verhindert. Das Ergebnis entsprach dem kleinstmöglichen Kompromiss. Der Amon Harronsul sollte bis zu einer völkerrechtlich eindeutigen Klärung offiziell nicht mehr zu Harrasland gehören. In der Zwischenzeit wurde die Bergregion aber unter ein harrasländisches Protektorat gestellt. Harrasland musste sich zusätzlich verpflichten, nur bis zu einem festgelegten maximalen Anteil des Wassers des Harrondulins für ihr Aquädukt abzuzweigen. Damit konnte Harrasland leben. Goldor murrte, fügte sich aber, als die Mediatoren der Konferenz, der regierende Senator Crossars, ein Kardinal der unifizierten Technokratie und der Präfekt der Gilde zu Crossar, damit drohten, zu Gunsten Harraslands zu entscheiden.
Diese Geschichte ging mir durch den Kopf, als ich die Küstenstraße in Richtung Norden entlang ritt. Die Harraslander brauchten das Wasser. Die Goldorianer brauchten es meinem Wissen nach nicht. Der Süden des Königreiches war kaum besiedelt. Wozu also dieser Streit?
Die Landschaft, durch die mein Weg führte, war wunderschön. Der Kälteeinbruch, der auch Crossar Schnee gebracht hatte, war längst wieder vorüber gegangen. Mit 17 Grad und strahlendem Sonnenschein war es zwar nicht warm, aber sehr mild. Linkerhand ging der Blick über das weite Meer. Die Straße verlief nicht gerade, sondern zog sich entlang einer krakeligen Küstenlinie. Immer wieder öffneten sich neue phantastische Perspektiven. Eine elegant geschwungene Bucht mit zerklüfteter Steilkante oder eine Landzunge, die einen überwältigenden Rundblick bot. Zypressen, Oliven, Zedern, Agarven und Wein, Unmengen von Wein – Die Vegetation um mich herum verströmte ein berauschendes Aroma. Die Grafschaft Harrasland war wirklich ein traumhaft schöner Flecken Erde. Ich bedauerte schon, dass ich nur auf der Durchreise war.
Die Sonne hing bereits knapp über dem Horizont, als ich Xengabad, mein erstes Ziel, erreichte. Xengabad war eine Hafenstadt wie Crossar, womit sich die Gemeinsamkeiten aber bereits erschöpft hatten. Während meine Heimatstadt ein Stadtstaat mit mehr als 3 Millionen Einwohnern war, besaß Xengabad keine 50.000. Crossars Hafen war ein Geschäftshafen, mit hunderten von Lagerschuppen, Containerterminals, Werften und riesigen Tanklagern. Xengabad besaß einen Yachthafen. Statt Lagerschuppen gab es Clubhäuser und statt eines Tanklagers einen Countryclub. Xengabad war wohl die mondänste Stadt der gesamten südlichen Küste. Eine Nobelyacht lag neben der nächsten. Reiche Händler, Industrielle und sonst wie zu Geld gekommene genossen es, ihr Leben im Winter hier, in einer sehr milden Klimazone, zu verbringen.
Ich wunderte mich gerade, wieso ich so viel über eine Stadt wusste und mich sogar in ihr zurechtfand, obwohl ich noch nie zuvor einen Fuß in sie gesetzt hatte, als unerwartet das Gildehaus Xengabads vor mir stand. Es war mein implantiertes PDA! Der Groschen fiel, als ich das Gildesymbol über der Eingangstür des Hauses sah.
Das Gildehaus lag direkt am Yachthafen und sah so ganz anders aus, als das in Crossar. Als Erstes fiel auf, dass es eine Glastür besaß, die sich automatisch öffnete. Ich ging hinein und fand mich in einer Empfangshalle wieder, die eher an ein Hotel, als an ein Gildehaus erinnerte. Rechter Hand befand sich eine Rezeption, während sich die linke Seite zu einer Art Bar oder Cafe öffnete. Die ganze Hafenseite war verglast und führte auf eine Terrasse, die aber zurzeit mit einem Glasdach verschlossen war und somit einen Wintergarten bildete. Die Bar bestand aus einem Tresen an der gegenüberliegenden Wand. Wenn man sich meinen Standort als Mittelpunkt einer Windrose denkt, befand sich die Eingangstür des Gildehauses hinter mir im Süden, von NNW bis NNO lag die Bar, den gesamten Westen nahm der Wintergarten ein und die Rezeption lag im Osten, welches auch die Richtung war, in die ich mich begab.
»Guten Tag, der Herr, was kann ich für sie tun?«, fragte mich ein distinguierter Mann hinter der Rezeption höflich.
»Ich hätte gern ein Zimmer für eine Nacht und eine Möglichkeit, mein Pferd unterzustellen.«, war meine ebenso sachliche, wie neutrale Antwort.
»Sie wissen, dass dies ein Privatclub ist, zu dem nur Mitglieder zugelassen sind?«, kam es blasiert vom Rezeptionsknilch.
»Nein, das wusste ich nicht, ich dachte…«, es wäre ein Gildehaus, aber da hatte ich mich wohl geirrt, obwohl mein PDA ebenfalls der Meinung war, dass ich vollkommen richtig sei.
»Es tut mir aufrichtig leid, dass ich in diesem Fall nichts für sie tun kann. Wenn ich Ihnen eine andere Herberge empfehlen dürfte?«
»Einen Moment bitte…« Ich hatte dem Butler des Clubs nur mit einem Ohr zugehört, weil sich in meiner Jackeninnentasche mein Buch bemerkbar machte. Es zappelte. Ich zog es heraus und schlug es auf. Ich brauchte gar nicht zu warten. Mitten auf der aufgeschlagenen Seite flammte in großen Buchstaben auf: »Nenn deinen Namen!« Ich stutzte, brauchte drei Sekunden um zu begreifen, was mein Buch eigentlich meinte, begriff es, grinste zufrieden, streichelte das Buch und murmelte »Danke« und steckte es wieder ein.
»Segato G’Narn«
»Was?«, fragte der Mann hinter dem Empfangstresen verdattert. Er war gerade dabei, mir den Weg zu einem Hotel zu beschreiben und dachte wohl, ich hatte mir Notizen in einem Notizbuch gemacht.
»Segato G’Narn. Das ist mein Name. Ich komme aus dem Gildehaus in Crossar.«
Dem Empfangschef klappte der Unterkiefer herunter. Dann glotzte er mich entgeistert an, musterte mich von oben bis unten und meinte schließlich: »Ähm, einen Moment bitte.« Mit diesen Worten ging er zu einem Datenpad, tippte ein wenig darauf herum und fragte: »Zypresse«
Dies war noch eine Funktion des PDAs. Natürlich konnte jeder behaupten, er wäre ein Gildemitglied. Um sich ausweisen zu können, verfügte das PDA über einen trickreichen Passwortmechanismus. Das Verfahren lief ungefähr so. Man erhielt ein Kennwort, auf das mit einem anderen Kennwort geantwortet werden musste. Passte das zweite Kennwort zu dem ersten, wusste zum Beispiel der Empfangschef, dass ich war. Damit niemand davon profitieren konnte, eine derartige Unterhaltung zu belauschen, wechselten Anfragen und Antworten. »Zypresse«, würde ich vermutlich so schnell, wenn überhaupt, nicht wieder hören. Doch selbst wenn, wäre meine Antwort jedes Mal eine andere gewesen, da auch das Datum und die Uhrzeit in die Kennwortberechnung einging. Meine Antwort lautete: »Spazierstock«. Jetzt wusste zwar der Portier, dass ich tatsächlich der war, für den ich mich ausgab, ich wusste aber noch nicht, dass der Portier wiederum der war, der er behauptete, zu sein. Darum antwortete er wiederum mit »Vorhängeschloss«.
»Entschuldigen sie, dass ich sie nicht gleich erkannt habe. Wir haben selten Gildegäste, insbesondere Mitglieder, die zu Pferde anreisen. Ihr Zimmer steht sofort zu ihrer Verfügung. Darf ich sie, soweit sie von Ihrer Reise nicht zu erschöpft sind, zu unserer kleinen Gesellschaft heute Abend einladen? Wir würden uns sehr freuen.«
Ich verstand nicht, was der gute Mann meinte und fragte daher nach.
»Oh, entschuldigen sie, das können sie natürlich nicht wissen. Unser Gildehaus ist stolz darauf, der gesellschaftliche Mittelpunkt Xengabads zu sein. Eine vertraute und geschützte Atmosphäre, losgelöst von den Widrigkeiten des Lebens da draußen, wird von unseren Gästen sehr geschätzt. Ich würde mich freuen, unseren Gästen ein Gildemitglied aus unserem Bruderhaus in Crossar vorstellen zu dürfen. Was sagten sie noch, war dort Ihre Funktion?«
Der Trick war so alt, dass er bereits in der ersten Woche einer Ausbildung zum Gildemitglied Unterrichtsstoff war. Ich lächelte den Portier einfach nur freundlich an. Er grinste zurück und meinte: »Zimmer 312. Der Hausjunge wird ihr Gepäck gleich nach oben bringen und sich anschließend um ihr Pferd kümmern.«
»Erst das Pferd. Ich habe alles, was ich brauche.«, wobei ich auf meine Satteltasche klopfte, »Die restlichen Taschen kann er später bringen.«
Ich ging auf mein Zimmer. Gegen meinen spartanischen Raum in Crossar war dieser Raum luxuriös. Es gab sogar ein eigenes Badezimmer, statt der Gemeinschaftsduschräume des Schuldormitoriums. Nach der langen Reise tat eine lange Dusche wirklich gut. Das Bad bot alle möglichen Einstellungen. Ich stellte ein Massageprogramm ein und ließ mir von allen Seiten die schmerzenden Muskeln mit prasselnden Wasserstrahlen durchkneten. Als ich fertig war, dampfte das Bad und der Spiegel war beschlagen. Ich muss wirklich lange unter dem Wasserstrahl gewesen sein, aber er war so entspannend. Ich hatte mein Gepäck auf einem Kofferständer abgelegt. Nun öffnete ich meine Satteltasche und entnahm ein weißes T-Shirt und ein Paar Boxershorts.
Das Bad hatte mich müde gemacht. Ich schaute auf die Uhr auf dem Nachttisch. Die Anzeige bestätigte mein Gefühl: für das Abendbrot war es noch zu früh. Ich legte mich in das Bett. Der lange Ritt, das Bad, ich war müde und ausgepowert. Zwei Sekunden später war ich eingeschlafen.
Ich wurde erst wieder wach, als es an meiner Tür klopfte. Schlaftrunken blickte ich auf die Anzeige der Uhr auf meinem Nachttisch. Es war kurz vor sieben Uhr Abends. Zeit zum Aufstehen. Es klopfte erneut, nicht energisch, aber auch nicht ignorierbar.
»Ja?«, knurrte ich, versuchte dabei aber freundlich zu klingen.
»Der Hausjunge«, hörte ich eine Stimme hinter der Tür, »Ich bringe ihre Satteltaschen.«
»Komm rein!«, rief ich ihm zu.
Die Tür ging auf und herein kam ein Junge, der etwa zwei Jahre jünger war, als ich. Ich war zwanzig, er war 18, allerhöchstens 19 Jahre alt. Mir kam es merkwürdig vor, dass jemand mich siezte, der noch vor wenigen Tagen ein Mitschüler von mir hätte sein können.
»Wo soll ich ihre Sachen ablegen?«, fragte er und lächelnd mich dabei provozierend an. Ich bekam Schweißausbrüche. Ein Gefühl, das ich bisher noch nie erlebt hatte, überwältigte meinen Körper. Der Typ war süß. Ein Wort, das mir im Zusammenhang mit einem männlichen Wesen noch nie in den Sinn gekommen war. Schlimmer noch, ich spürte deutlich, dass ich eine sehr unerwartete Erektion bekam. Bei einem Mann? Bei einem Mann!
»Dort drüben! Und bitte siez mich nicht, du bist ein Gildebruder wie ich.« War ich etwa schwul? Bisher hatte ich mir um sexuelle Dinge, geschweige denn meine eigene Sexualität, noch nie Gedanken gemacht. Meine Ausbildung hatte mir wenig Zeit gelassen, über diese Zweisamkeitsgeschichten nachzudenken. Theoretisch war ich natürlich über alles informiert. Ich hätte nicht einmal Probleme damit gehabt, schwul zu sein. Die Gilde betrachtet jede Form gegenseitiger Liebe als gleichwertig. Ganz im Gegensatz zur unifizierten Technokratie.
Der Junge lächelte verlegen und grinste mich an.
»Was?«, fragte ich.
»Du hast eine Latte.«, meinte der Kerl frech, und deutete auf das Zelt, welches meine Shorts zierte.
»Hey, schon mal was von Schamgefühl gehört?«, fragte ich den Jungen.
»Hier? In diesem Laden? Träum weiter!«
»Wie jetzt? Wie meinst du das?«
Der Junge drehte sich um, schaute in den Flur und schloss dir Tür hinter sich. »Du weißt es nicht, oder? Na ja, woher auch. Dies ist Xengabad. Einer der korruptesten Orte der Welt. Du befindest dich mitten in einem Schlangennest. Hast du die Yachten im Hafen nicht gesehen? Manche davon kosten mehr, als euer Präfekt in seinem ganzen Leben verdienen wird. Xengabad ist die Walfahrtsstätte der Superreichen, und das Gildehaus ist die Walfahrtsstätte der Reichsten der Superreichen. Hast du die Bar nicht gesehen, mit Fensterfront zum Hafen? Alles sehr offen.« Der Junge macht eine rhetorische Pause und fuhr dann fort: »Die Bar ist abhörsicher. Das ganze Haus ist mit einem Schutzzauber umgeben, der verhindert, dass man draußen etwas hören oder sehen kann. Und das ist auch notwendig. Zwischen Weinbrand und Zigarre werden Milliardengeschäfte abgewickelt.«
Ich nickte, denn ich verstand: »Und die Gilde gibt sich die Ehre, unseren Gästen eine Bühne dafür zu bieten, oder wie? Kein Wunder, dass der Empfangschef mich nur ungern als Gast haben wollte, bevor ich mich als Gildebruder zu erkennen gab.«, ich grinste ihn an und fragte »Erhalten wir viele Informationen?«
»Viele, aber nicht alle. Unsere »Gäste« sind zuweilen sehr kooperativ, was Informationen betrifft. Schließlich ist es ein Privileg, ein Gast des Gildehauses sein zu dürfen. Dann wiederum sind sie zugeknöpfter, als ein Kurienkardinal.«
»Natürlich, ich verstehe. Als Gegenleistung für den Gaststatus erhalten wir Informationen. Ein interessantes Arrangement.«, meine Augen funkelten, der Junge stand mitten im Zimmer und bedachte mich mit ziemlich frechen, aufreizenden Blicken. Seine Augen wanderten über meinen Körper, der darauf deutlich reagierte. Warum sah er auch so unverschämt gut aus? Er war schlank, trotzdem muskulös und hatte ein unheimlich attraktives Gesicht. Eine niedliche Stupsnase, dunkle haselnussfarbene Augen mit langen Wimpern, ein voller Mund und eine samtene, leicht bronzefarbene Haut vereinten sich zu einer fast göttlichen, auf jeden Fall unwiderstehlichen Kombination. Der Typ war geil, megageil! Ich schmolz dahin, wie Butter in der Sonne. Bisher wusste ich nicht, dass ich schwul war, aber der Typ zeigte es mir in aller Deutlichkeit.
»Stopp!«
Meine Stimme war laut und energisch. Mein schmerzhaft erigierter Schwanz hatte mich fast blind und taub für das Wesentliche gemacht. Aber eben nur fast. Ein Stückchen Restvernunft bemerkte den Trick. Der nette, ach so süße Junge setzte schamlos einen Zauber ein, um mich um den Finger zu wickeln. Vermutlich wäre ich ohne mein istarilarisches Erbe erledigt gewesen und dem Zimmerjungen auf den Leim gegangen. Aber ich tat es nicht. Ich löschte den Zauber mit einer magischen Handbewegung aus, was unfreundlich war. Für den Jungen fühlte es sich an, als wenn ich ihn kräftig geohrfeigt hätte. Dementsprechend angefressen und sauer sah er mich auch an.
»Hey, du Arsch!«, fauchte er los und wirkte nicht mehr ganz so attraktiv. Obwohl…
»Ist das die Ausdrucksweise eines Gildemeisters?«, mit seinem Zauber hatte er sich verraten. Diese spezielle Art eines Beschwörungszaubers wurde nur Meistern gelehrt. Genau so, wie der entsprechende Abwehrzauber.
»Nein, sicherlich nicht!«, antwortete der Junge und grinste breit, sehr breit, »Erogal hat nicht untertrieben, du bist wirklich gut. Respekt, nur ein Istarilari konnte meinen Zauber erfühlen. Mein Name ist Suman K’Tar, aber alle nennen mich nur Su. Willkommen im Fegefeuer der Eitelkeiten – Xengabad!«, er kam auf mich zu und begrüßte mich mit dem traditionellen Bruderschaftshandschlag. Ich war ein wenig überrascht.
»Erogal wusste Bescheid? Du bist wirklich ein Meister? Du bist so jung.«
Su grinste und erklärte mir, dass ihn Erogal D’Santo kontaktiert und mich angekündigt hatte. Er vermutete zu Recht, dass Xengabad mein erster Halt sein würde. Erogal und Su waren beide der Meinung gewesen, dass ich etwas praktische Erfahrung brauchen würde. Bücher allein machen nicht klug. Es war Sumans Idee, mich zu verführen. Es sollte mir eine Lehre sein, stets wachsam zu sein. Es war ein Test und ich hatte bestanden, wenn auch knapp. Über sein Alter musste er lachen, denn er war nicht etwa 18, sondern 23 Jahre alt, drei Jahre älter, als ich es war.
»Ich bin derjenige, der die Ohren und Augen aufhält. Wer achtet schon auf einen Hoteljungen? Denn nichts anderes spielen wir hier. Ein Hotel für die Superreichen und vor allem Mächtigen.«
»Und… was war das mit der Anmache?«, immerhin war Suman K’Tar männlich und nicht weiblich. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung pflegte heterosexuelle Beziehungen. Wieso war Su auf die Idee gekommen, ich könnte für seine erotischen Avancen empfänglich sein, obwohl es mir selbst noch gar nicht bewusst war?
Der vermeintliche Hausboy neigte abwägend seinen Kopf zur Seite, grinste verschmitzt und kratzte sich verlegen am Kinn: »Na ja, ich hatte es gehofft. Hast du eine Ahnung, wie gut du eigentlich aussiehst? Dein Kampf- und Fitnesstraining zeigt deutliche Spuren. Entschuldige, wenn ich so offen bin, aber ich finde dich attraktiv.«
Mir wurde heiß. Derartiges hatte noch niemand über mich gesagt. Ich fühlte mich gleichzeitig geschmeichelt und verwirrt. Suman war ebenfalls sehr anziehend. Aber das war nicht der Punkt. Er hatte etwas in mir erweckt. Sexualität war bisher unbekanntes Territorium für mich gewesen. Ich hatte zwar den einen oder anderen feuchten Traum gehabt, aber zur aktiven Selbststimulation war ich meistens viel zu müde. Wie gesagt, das Training der Gilde war mörderisch. Selten, dass ich abends in meinem Zimmer noch die Energie aufbrachte, mir etwas Erleichterung zu verschaffen. Meistens war ich bereits eingeschlafen, bevor mein Kopf das Kissen berührt hatte.
Aber das schien sich gerade zu ändern. Suman machte mich rollig. Das hatte nichts mit Liebe zu tun. Es war einfach dieses Gefühl, Suman in den Arm nehmen zu müssen, über seine Brust, sein Gesicht oder seine Arme zu streicheln, diesen Körper zu fühlen. Was war das nur für eine peinliche Situation. Der Typ war schließlich ein Gildemeister. Er musste mich für einen notgeilen Spätentwickler halten, und hätte damit vermutlich sogar recht gehabt.
»Segato, darf ich dir eine persönliche Frage stellen?«, Suman kam näher und setzte sich auf die Kante meines Betts.
»Nenn mich bitte Seg. Und, natürlich, kannst du eine Frage stellen – Auch eine persönliche.«
»Du hattest noch nie Sex, oder? Sex war für dich bisher kein Thema. Du bist verunsichert, weil du nicht weißt, was gerade mit dir passiert. Stimmts?«
Das traf meine Situation genau: »Woher weißt du das?«
Suman lächelte: »Ich habe meine Ausbildung vor fünf Jahren abgeschlossen. Ich weiß, wie anstrengend die Ausbildung ist. Wie oft bin ich in der Bibliothek über den Büchern eingeschlafen. Übrigens war ich auch in Crossar.«
»Du warst ein Schüler in Crossar?«
»Ja, das war ich!«, Su grinste und kratzte sich am Kinn, »Ich habe da eine Idee. Die nächsten vier Stunden hab‘ ich noch Dienst als Hausboy, danach habe ich frei. Ich schlage vor, wir treffen uns später wieder hier. In der Zwischenzeit solltest du etwas essen und dich anschließend unter unsere Gäste mischen. Ich kenne dein Reiseziel, und wenn ich ehrlich bin, beneide ich dich ein wenig darum. Du gehst nach Daelbar! Aber das ist eine gefährliche Reise. Es scheint so, als wenn sich die Welt auf einen Abgrund zu bewegt. Harrasland und Goldor trennen nur noch wenige Millimeter von einem Krieg. Die Kirche ist ungewöhnlich aktiv. Hör dir mal die Geschichten und Berichte unserer Gäste an. Die sind sehr interessant und beunruhigend. Aber sei vorsichtig, was du selbst sagst. Die Leute wirken freundlich, sind aber in Wirklichkeit Hyänen. Boldin, der Zwerg, ist ein skrupelloser Waffenproduzent und -Händler. Ole Olson, der Neovikinger, ist ein ultrareicher Schmuggler und nebenberuflicher Auftragsmörder. Eusebius Markendorfer und Michaelis Szwang sind Großhändler für Hochtechnologieprodukte. Alexander Vaughan war der Eigentümer von Secur-O-Fence Ltd. Du wirst als Makrele in einem Haifischbecken schwimmen. Na ja, irgendwann musst du ja mal schwimmen lernen.«
Ich schluckte, mir war mulmig und mein Herz war mir in die Hose gerutscht, aber Suman hatte Recht. Wenn ich ein Gildemeister sein wollte, durfte ich vor einer derartigen Gesellschaft keine Angst haben. Es war die Chance, Informationen zu erhalten.
»Und du willst mit mir später über die andere Sache reden?«, ich schaute auf die etwas kleiner gewordene Beule in meinen Shorts.
»Über die und andere Dinge, ja!«, grinste Suman und verließ mich.
Smalltalk
Reden, ohne etwas zu sagen, ist eine Kunst, die gelernt werden will.
In 14 einfachen Lektionen werden wir Sie in die Kunst der inhaltsfreien Rede einführen. Wir werden Ihnen zeigen, wie Sie zu einem begnadeten, gern gehörten Redner werden, der viel sagt, aber nicht aussagt.
Klappentext auf dem Begleitbuch zum königlichen Volkshochschulkurs M ODERNE G ESELLSCHAFTSKOMMUNIKATION
Ich zog mich an. Der Hausboy alias Suman K’Tar hatte mir meine Satteltaschen gebracht. Der offizielle Anzug im Stil der Gilde (dunkel, zweireihig) war etwas zerknittert, was aber mit einem geeigneten Zauberspruch kein wirkliches Problem war. Wie aus dem Ei gepellt begab ich mich in den Speisesaal im Erdgeschoß. Auf dem Weg dorthin erntete ich nicht nur von Suman, der kurz meinen Weg kreuzte, bewundernde Blicke.
Das Essen war sehr gut. Natürlich gab es Fisch. Schließlich war Xengabad eine Küstenstadt. Der Hochseefisch war sehr zart und leicht mit den Gewürzen der Region zubereitet. Es schmeckte so gut, dass ich ein klein wenig mehr aß, als ich eigentlich wollte. Nach einer dreiviertel Stunde war ich gesättigt und bereit, mich in das mutmaßliche Haifischbecken zu begeben.
Ich verließ den Speisesaal und begab mich in die Lobby. Von dort riskierte ich einen ersten prüfenden Blick in Richtung Bar. Dort saßen sie. Sämtliche von Su beschriebenen Personen waren anwesend. Schon aus der Ferne sah ich eine unglaubliche Menagerie an Eitelkeiten. Der Zwerg Boldin und der Neovikinger Ole Olson waren leicht zu erkennen und trotzdem überraschend. Ich erkannte Olson sofort, denn er war der Prototyp eines Neovikingers. Als erstes war ein Hüne. Er war gerade aufgestanden, um sich von der Bar Nachschub an Alkoholika zu besorgen, weswegen man ihn in seiner ganzen Größe sehen konnte. Und diese Größe war beeindruckend. Olsen war weit jenseits der zwei Meter. Selbst als er sich wieder setzte, überragte er alle anderen anwesenden Personen. Außer seiner Größe kennzeichneten ihn sein leuchtend blondes Haar und seine eisgrauen Augen (die ich allerdings erst später sah) als typischen Neovikinger. Überraschend waren die anderen körperlichen Attribute. Mein durch das Gildetraining geschärfter Blick bemerkte sofort, dass sich in dem perfekt sitzenden Maßanzug ein ebenso perfekter und trainierter Köper verbarg. Olsons Bewegungen besaßen eine katzenhafte Geschmeidigkeit und Präzision, die fast Angst einflößend war. Erschwerend kam hinzu, dass der Mann unverschämt gut aussah. Was mich allerdings wirklich überraschte, war sein Alter. Gerade einmal 25 Jahre war er alt und galt bereits als König der Schmuggler, was aber auch daran lag, dass er den Familienbetrieb von seinem Vater übernommen hatte, wenn auch nicht ganz freiwillig. Olson senior hatte bei seinem letzten Deal etwas Pech gehabt und war am Galgen gelandet – Berufsrisiko.
Der Zwerg, Boldin, hingegen, bildete zu Olson den größten Kontrast, den man sich vorstellen konnte. Für einen Zwerg völlig untypisch, war er dünn, fast hager und kurzbärtig. Neben Olson wirkte er noch kleiner, als dies Zwerge überlicher weise eh schon taten. Auf der anderen Seite von Boldin saß noch ein Kontrastprogramm. Eusebius Markendorfer war ein fetter, ungepflegter Mensch. Seine Haare wirkten ölig, seine Haut teigig und glänzten fettig. Seine Finger waren gelb vom Nikotin. Der Typ war reich, sehr reich, sah aber schlimmer aus, als der ärmste Bettler Crossars. Und die sahen schon schlimm aus.
»Ah, Bruder G’Narn«, begrüßte mich der Empfangschef, »Ich freue mich, dass sie sich dazu entschieden haben, sich der Gesellschaft anzuschließen. Darf ich sie den Herren vorstellen?«
Ich aktivierte all mein Wissen über gesellschaftliche Umgangsformen. Körperkontrolle, gezielte Körpersprache, Aussprache, Vokabular, Lautstärke, Mimik, jeden Punkt ging ich wie auf einer Checkliste durch. Ein letztes Sammeln und ich gab den Startschuss, in dem ich dem Empfangschef antwortete: »Sehr gern.«
Ich wurde zur Bar geleitet. Erst jetzt sah ich, dass sie von der Lobby mit einer spiegelungsfreien Glaswand abgetrennt war.
»Darf ich Ihnen Gildebruder Segato G’Narn vorstellen?«, führte mich der Empfangschef in die Gesellschaft ein, »Bruder Segato ist stellvertretender Sekretär des Präfekten in Crossar.«
»Ah, ein neues Gesicht!«, der Zwerg, Boldin, ergriff als Erster das Wort, »Setzten Sie sich, nehmen Sie einen Drink und erzählen Sie, was gibt es Neues in Crossar?«
»Danke!«, entgegnete ich höflich und nahm in einem Clubsessel, nicht unähnlich denen in der Bibliothek im Gildehaus von Crossar, Platz, »Neuigkeiten, aus Crossar möchten Sie erfahren? Ich dachte, alle Blicke sind zurzeit auf den Amon Harronsul gerichtet. Ganz Crossar spricht von Krieg«
»Ach, Kriege werden überbewertet.«, bemerkte ein eher unauffälliger grauer Typ, der sich später als Michaelis Szwang entpuppte.
»Meinst du?«, fragte der Neovikinger in einem Tonfall, der mir verdeckt aggressiv vorkam. Dabei vollführten die Muskeln und Sehnen seines Halses einen Tanz, der den lauernden Eindruck, den der Neovikinger erweckte, nur noch verstärkte. Bei allen Göttern, sah der Typ gut aus. Ein kurzer gepflegter blonder Bart akzentuierte Mund, Kinn und Wangen, wodurch das Spiel seiner Wangenknochen noch intensiver wurde. Obwohl ich noch nie Sex gehabt hatte, wusste ich eins: der Typ war ein Sexgott.
»Unser Freund Boldin sieht das bestimmt ganz anders.«, konterte Szwang.
Der Angesprochene machte eine wegwerfende Bewegung: »Der Krieg ist die Mutter aller Dinge. Er fordert uns das Beste ab.«
»Und das Beste sind die neuesten Waffensysteme aus dem Hause Boldin Dynamics«, frotzelte der Neovikinger, während ein feines ironisches Lächeln seine Lippen umspielte.
So leicht ließ sich der Zwerg nicht aus der Ruhe bringen. Er lehnte sich demonstrativ entspannt zurück und meinte: »Ich hoffe doch inständig, dass meine Waffen die Besten sind.«
Diesmal war es Eusebius Markendorfer, der meinte, sich in das Gespräch einzumischen: »Das ist wohl kaum dein Verdienst, Boldin, ohne deinen Kle… ähm, Wissenschaftler, wärst du wohl kaum so erfolgreich.«
Markendorfer wollte Kleriker sagen. Jeder wusste es. Unter diesen Leuten war es ein offenes Geheimnis, das Problem war ich. Ich merkte es daran, wie sie mich alle anstarrten und schwiegen. Sie fragten sich, ob ich den Versprecher bemerkt hatte. Ich entschied, etwas dagegen zu tun, auch wenn das hieß, als Trottel dazustehen. Ich tat so, als wenn ich träumen würde und schreckte dann, nach ein paar Sekunden auf: »Oh, entschuldigen Sie. Ich war wohl mit meinen Gedanken woanders. Was hatten Sie eben gesagt?«
Die Erleichterung war geradezu greifbar. Bevor Eusebius Markendorfer erneut etwas verbocken konnte, ergriff Szwang das Wort: »Wir haben gerade die Einzigartigkeit und Qualität von Boldins Wissenschaftler gewürdigt. Unser kleiner Freund ist der führende Waffenproduzent.«
»Befriedungsprodukte!«, korrigierte Boldin, »Waffen klingt so negativ. Dass es beim Einsatz meiner Produkte zu bedauerlichen Nebeneffekten kommt, lässt sich leider nicht vollständig vermeiden, aber das Ziel ist schließlich der Frieden.«
Ein interessanter Standpunkt. Ich hatte etwas über Boldin Dynamics gelesen. Seine Waffen waren deswegen so begehrt, weil ihre Wirkungen extrem verheerend waren. Die Waffen Boldin Dynamics waren wie Orks: erbarmungslos, Furcht erregend und immer tödlich, wenn auch nicht sofort. Sie begnügten sich nicht damit, ihre Opfer einfach schnell zu töten, sie ließen sich damit Zeit. Ein Ziel, von Opfern sprach man nicht, sollte wissen, dass es starb. Und dieses Wissen sollte das Ziel möglichst auch noch an seine Kameraden weitergeben. Der Tod sollte so grausam wie möglich erfolgen. Dieses Konzept diente der psychologischen Kriegsführung. Die Soldaten einer Armee sollten hören, wie ihre Kameraden krepierten. Sie sollten ihre langsam nach und nach verstummenden Schreie hören und daran verzweifeln. Allein die Drohung, eine Boldin Waffe einzusetzen, löste Panik, Horror und Verzweifelung aus. Es gehörte schon ein gerütteltes Maß an Selbstverleugnung dazu, derartige Waffen als friedensstiftend zu betrachten. Aber Boldin schien kein Problem damit zu haben. Ich hatte sogar den Eindruck, er war stolz auf seine Arbeit. Jedenfalls genoss er die angenehme Atmosphäre der Bar, ließ sich einen Cocktail schmecken und paffte vergnügt an einer riesigen Zigarre.
Ich hatte fast den Eindruck, das Blut sehen zu können, das an Boldins Händen klebte. Ich würgte eine aufkeimende Übelkeit hinunter und meinte: »Und Frieden wollen wir ja alle.« Ich erntete halbherzige Zustimmung.
»Und was ist Ihre Aufgabe als Sekretär des Gildepräfektens von Crossar?«, fragte ein Mann, der bisher geschwiegen hatte. Er war mir schon die ganze Zeit aufgefallen, obwohl ich fast nur Augen für den Neovikinger hatte. Dieser Mann hatte unsere Unterhaltung aufmerksam beobachtete, sich selbst aber auffällig zurückgehalten. Seinem Auftreten nach, insbesondere seiner Gestik und Körpersprache, lag die Vermutung nahe, dass er eine Gildeausbildung genossen hatte. Es war ein Mann, der sich wie Olson perfekt unter Kontrolle hatte, aber auf eine andere Weise. Bei Olson schien es mir die instinktive Selbstkontrolle eines Kämpfers zu sein, der genau wusste, dass er seine Beute nur erlegen konnte, wenn er absolut konzentriert blieb. Dieser andere Mann war kontrolliert, weil er es bewusste so wollte. Er war die Coolheit in Person. Nur bei Boldins »Befriedungsprodukten« meinte ich kurzfristig, Ekel und Abscheu aufflackern zu sehen. Dieser Mann war Alexander Vaughan, der ehemalige Eigentümer Secur-O-Fence.
»Stellvertretender Sekretär!«, korrigierte ich höflich und erntete ein feines Lächeln.
»Natürlich! Und was macht einstellvertretender Sekretär?«, fragte Vaughan, wobei sei Augen blitzten. Er spielte mit mir.
»Och, dies und das.«, meinte ich vage, um schließlich herausfordernd lächelnd zu sagen: »Eigentlich ist es nur Titel. Ich reise. Ich bin gerade dabei, meine Ausbildung zu vervollständigen. «
»Und, empfinden Sie unsere kleine Unterhaltung als lehrreich?«
»Unbedingt!«, waren wir wirklich gerade dabei, unsere Kräfte zu messen? »Wo hat man sonst Gelegenheit, von dem unerschöpflichen Erfahrungsschatz einer derart exklusiven Gesellschaft, zu lernen?«
»Hört, hört, der Kleine schmiert uns Honig um den Bart!«, quäkte Markendorfer dazwischen und disqualifizierte sich endgültig als Dünnbrettbohrer. Er merkte gar nicht, was zwischen Alexander Vaughan und mir gerade stattfand. Es war kein Wunder, dass Vaughan Markendorfers Einwurf ignorierte.
»Und an welchem Teil unseres Erfahrungsschatzes wäre ein stellvertretender Sekretär besonders interessiert?«
Die Unterhaltung war ultrahöflich. Sie fand in einem lockeren Plauderton statt, war aber in Wirklichkeit ein Kampf mit allen Mitteln. Vaughan wusste ganz genau, dass ich jede Information aufsaugte, die mir die Anwesenden wissentlich oder unwissentlich gaben. Sei es eine Geste oder ein Wort. Ich war mir sicher, dass Vaughan meine Ausrede, ich wäre abwesend gewesen, keine Sekunde geglaubt hat.
»Ihr Name kommt mir bekannt vor, Alexander Vaughan, waren Sie nicht der Chef von Secur-O-Fence?«
Für einen Moment blitzte zwei Reihen schneeweißer Zähne auf, während er schmunzelte. Das Funkeln in den Augen Vaughans wurde intensiver: »Ja, in der Tat. Ich habe das Unternehmen eine Weile geleitet.«
»Ihre Perimetersysteme gelten als unüberwindlich.«
»Unüberwindlich ist ein viel zu endgültiges Wort, als dass es wahr sein könnte. Glauben Sie mir, jede Grenze lässt sich überwinden, man muss nur wissen, wie.«, er lehnte sich zurück, »Aber das ist alles Geschichte. Ich leite das Unternehmen nicht mehr und wer weiß, was die Wissenschaftler inzwischen Neues ausgetüftelt haben.«
Ich war überrascht. Warum gab mir Vaughan diesen Hinweis? Die Betonung des Wortes war mehr als eindeutig. Er hatte »Wissenschaftler« und nicht »Wissenschaft« gesagt, so wie man es erwarten würde. Warum wollte Vaughan, dass ich wusste, dass seine Sicherungssysteme ebenso von den Klerikern der unifizierten Technokratie entwickelt wurden, wie die Waffensysteme Boldins?
»Ja, die Technik macht schon erstaunliche Fortschritte.«, stimmte ich floskelhaft zu, »Was meinen Sie, wird es zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Goldor und Harrasland kommen?«
Meine letzte Frage stellte ich niemand speziellem und sah mich einfach in der Runde um.
»Ich vermute, ein Krieg wird sich nicht vermeiden lassen.«, ließ sich der Neovikinger vernehmen, »Es ist eine zwangsläufige Entwicklung.«
Ich spielte den etwas naiven und ahnungslosen Schulabsolventen, der das wirkliche Leben noch nicht kannte: »Aber wofür braucht Goldor überhaupt das Wasser? Der Süden ist doch unbewohnt.«
Die Reaktion meiner Gesprächspartner war interessant. Jeder bedachte Szwang und Boldin mit einem kurzen Blick, um dann verlegen in eine andere Richtung zu schauen und jeden Blickkontakt zu meiden. Zögerlich und unter starkem Geräusper meldete sich Michaelis Szwang: »Nun ja, es geht wohl ums Prinzip. Der König ist der Meinung, der Amon Harronsul sei goldorianisches Gebiet. Der Graf Harraslands sieht das natürlich anders. Das ist der Konflikt. Auf der einen Seite ist Harrasland auf das Wasser des Harrondulins angewiesen, während Goldors König aus Gründen der Staatsräson den Anspruch durchsetzten muss. Er kann unmöglich zulassen, dass ein Graf seine Position schwächt. Sie sehen, der Konflikt ist sehr kompliziert.«
Ich sah gar nichts. Ich fand den Grund eigentlich nur absurd. Meines Erachtens hatte sich Goldors König selbst in diese Situation gebracht. Ich bezweifelte, dass es seine Idee war. Ich versuchte es auf einem anderen Weg: »Nun, die Gilde ist in dieser Angelegenheit soweit neutral, dass wir, wenn irgendwie möglich, eine kriegerische Auseinandersetzung vermieden sehen möchten.«
»Die Gilde und ihr peinlicher Pazifismus!«, höhnte Ole Olson, wobei er merkwürdig schmunzelte, was zu seiner Aussage gar nich passte. Mir war fast so, als wenn er mir sogar provozierend zuzwinkerte.
»Glauben Sie mir, wir sind alles andere als pazifistisch. Meine Brüder und ich wissen durchaus ein Schwert zu führen.«, versicherte ich dem Neovikinger ein wenig scharf, grinste ihn aber frech dabei an.
»Darin besteht kein Zweifel!«, milderte Alexander Vaughan die aufschäumende Stimmung ab, »Wir alle wissen um die segensreiche Tätigkeit der Gilde. Verzeiht unserem kriegerischen Freund sein Temperament, genau so, wie wir das jugendliche Temperament unseres stellvertretenden Sekretärsentschuldigen.«
Ich nickte dem Neovikinger höflich, als Zeichen meiner Entschuldigung, zu. Jener gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er meine Entschuldigung annahm und sich ebenfalls entschuldigte. Nach dieser Episode folgte die Unterhaltung eher seichteren Bahnen. Man philosophierte über Luxusyachten und Geldanlagemöglichkeiten. Es wurden die Vor- und Nachteile der verschiedenen Städte und ihrer Nobelherbergen erörtert. Die ganze Konversation wäre beliebig langweilig geworden, wäre da nicht der Ex-Chef von Secur-O-Fence gewesen. Seine Gesprächsbeiträge enthielten für mich unüberseh- und hörbare Andeutungen. Nur jemand, der, wie ich, eine Gildeausbildung genossen hatte, war in der Lage, diese Andeutungen zu erkennen. Vorsichtshalber beobachtete ich die anderen Gäste, konnte aber kein Anzeichen dafür erkennen, dass sie ebenfalls etwas von den Hinweisen bemerkt hatten.
Was mir Alexander Vaughan mitteilte, waren eigentlich belanglose Informationen. Ich erfuhr, dass er zusammen mit Boldin und Szwang reiste. Dir drei waren mit Boldins riesiger Luxusyacht vor zwei Tagen in Xengabad angekommen, nachdem sie vorher in vier anderen Häfen Station gemacht hatten. Dabei war der vorletzte Hafen interessant. Tharbad war alles andere, als ein mondänes Ziel. Es war ein dreckiger, hässlicher Umschlagshafen. Als Vaughan die Namen der Häfen aufzählte, hatte ich für einen Moment die Befürchtung, dass sich Vaughan zu weit aus dem Fenster gehängt hatte. Der Zwerg fühlte sich genötigt, das Thema Tharbad möglichst schnell zu verlassen, denn er knurrte kurz angebunden: »Ach ja, dieser Dreckshafen. Ich hätte ihn nicht ansteuern wollen, aber wir mussten Kraftstoff bunkern.«
Die Unterhaltung zog sich noch eine Weile hin. Immer wieder gab es von Vaughans Andeutungen, die ich natürlich sammelte. Nach gut drei Stunden entschied ich, mich zurück zu ziehen. Ich stand auf und meinte: »Meine Herren, ich möchte mich für Ihre freundliche Aufnahme in Ihrem Kreis bedanken. Ich denke, ich werde mich jetzt zurückziehen, meine Anreise war wohl anstrengender, als ich dachte.«
Boldin erhob sich ebenfalls und meinte in seiner jovialen Art: »Natürlich, mein junger Freund. Schlafen Sie sich ordentlich aus.«
Die anderen Gäste folgten Boldins Vorbild und erhoben sich ebenfalls, um mich zu verabschieden. Dabei rempelte Vaughan Markendorfer an. Der wiederum hielt gerade ein Glas mit einem Weinbrand in seiner Hand. Durch den Stoß entleerte sich der Inhalt des Glases auf meinen Anzug. »Oh, das ist mir jetzt sehr unangenehm.«, Alexander Vaughan sprang auf mich zu und tupfte mein Jackett mit einer Serviette ab.
Bekannter weise war ich nicht immer ein Gildemeister. Ich war ein Taschendieb und, wenn ich das mit einem gewissen Stolz so sagen darf, ein verdammt guter. Alexander Vaughan tupfte nicht nur mein Jackett ab, er ließ auch etwas in meine Jackentasche hineingleiten. Der Mann war gut, sehr gut sogar. Ich war mir absolut sicher, dass niemand sein Manöver bemerkt haben dürfte.
»Lassen Sie nur. Es ist ja nichts passiert.«, mit diesen Worten löste ich mich von der fröhlichen, alkoholisierten Gesellschaft. Ich fuhr auf mein Zimmer und entledigte mich des strengen Anzugs. Dabei hätte ich fast vergessen, dass mir Vaughan etwas zugesteckt hatte. Mit zwei Fingern angelte ich in meiner Jackentasche und beförderte einen Datenkristall zu Tage.
Wenig später klingelte es an der Tür. Suman war, wie versprochen, nach seiner Arbeit als Hausboy, zurückgekehrt. Er trat ein, schloss die Tür und überprüfte, ob das Zimmer gesichert war. In allen Gildehäusern konnte man Räume vor neugierigen Zeitgenossen schützen. Ein in die Wände, Türen und Fenstervorhänge eingearbeitetes magisches Flies sorgte für absolute Diskretion.
»Ja was haben wir denn da?«, fragte er mich und schmunzelte dabei, als ich den Kristall hoch hielt.
»Ein Datenkristall – Alexander Vaughan hat ihn mir heimlich zugesteckt.«, meinte ich und erntete zwei vor Erstaunen hochgezogene Augenbrauen: »Interessant… Schauen wir doch mal, was da drauf ist.«
Wir schnappten uns ein Datenpad und klickten den Kristall in die dafür vorgesehene Fassung. Der Kristall strahlte kurz auf, doch die Daten wollten nicht auf der Sichtplatte des Pads erscheinen.
»Der Kristall wurde verschlüsselt.«, knurrte Suman enttäuscht, »Es wird einige Zeit dauern, den Schlüssel zu finden.«
Suman K’Tar
Und dann wird sich auftun ein Schlund. Und der Schlund wird fressen. Gierig und unersättlich wird er alles verschlingen.
Und er wird nicht unterscheiden zwischen Gut und Böse, denn dieser Schlund ist das Nichts. Das Nichts kennt kein Gut und es kennt kein Böse. Es ist das, das nichts ist.
1. Prophezeihung der blinden Frau vom Berg.
»Und sonst, wie war das Bad im Haifischbecken?«, fragte mich Suman und schaute mich provozierend an, als er nachschob: »Wie gefällt dir Ole Olson?«
Ich antwortete, indem ich meine Augen verdrehte: »Hör mir auf. Der Typ ist der Hammer. Ich könnte mir vorstellen, dass er das Blut beiderlei Geschlechts in Wallung bringen kann. Meins hat er in Wallung gebracht.«
»Er könnte es dir auch nehmen, das Blut. Der Mann gilt als Auftragskiller. Man sagt, er sei ein Mitglied der Bruderschaft der Meuchelmörder.«, entgegnete Suman und fuhr fort: »Ole Olson ist kein Mensch, den man unterschätzen sollte. Niemanden aus der Runde solltest du unterschätzen. Selbst der fette Markendorfer hat mehr Leichen im Keller, als wir Weinflaschen. Jeder einzelne dieser erlauchten Gruppe steht auf dem Standpunkt, dass der Zweck die Mittel heiligt. Das Wort Skrupel ist für sie ein Fremdwort.«
»Was ist mit Vaughan?«, warf ich ein.
Suman zögerte. Seine Lippen nahmen einen indifferenten Ausdruck an: »Ich weiß es nicht. Vaughan gibt uns seit einiger Zeit Rätsel auf. Er macht von Zeit zu Zeit Andeutungen, aus denen wir aber nicht schlau werden. Dieser Datenkristall«, Su deutete auf das Datenpad, das gerade den Kristall verdaute, »ist ein sehr unerwarteter Zug.«
Mir kam eine Idee. Eigentlich war es ein völlig absurder Gedanke, mit dem ich mich vermutlich hoffnungslos lächerlich machen würde. Trotzdem äußerte ich ihn: »Kann es sein, dass Vaughan ein Gefangener ist?«
Suman K’Tar starrte mich geschockt an. Seine Augen wurden so groß wie Mandarinen. Sein Unterkiefer klappte hinunter. Ich kam mir blöd vor und äußerte dies auch: »Vergiss, was ich gesagt habe. Das war schwachsinnig. Ich bin immer noch ein dummer Schüler, der es nicht wert ist, Meister der Gilde genannt zu werden.«
Suman drehte seinen Kopf von links nach rechts und wieder zurück. Dieser Bewegung wiederholte er und wurde dabei immer schneller, bis er bei einem ausgewachsenen Kopfschütteln angekommen war: »Ich Idiot! Ich blinder, tauber, dummer Schwachkopf! Natürlich, das ist die Lösung! Er reist nicht einfach mit Boldin und Szwang herum, er ist ihr Gefangener. So macht sein Verhalten überhaupt erst Sinn. Wieso hab‘ ich das nicht früher gesehen? Ich Hornochse!«
Ich war verblüfft. Hielt Suman meine dumme Idee wirklich für möglich?
»Und ob! Aber weißt du was das bedeutet?«, Suman sah mich ernst an. Ich überlegte. Ich analysierte die Situation so, wie man es mich auf der Gildeschule gelehrt hatte. Ich nahm alle Fakten zusammen. Mein PDA-Implantat verknüpfte die Informationen und verlieh ihnen unterschiedliche Gewichte, je nach dem, wie sicher oder vertrauenswürdig ein Faktum war. Suman musterte mich dabei und nickte zustimmend. Er wusste ganz genau, was ich machte.
»Also«, begann ich meine Analyse, »Alexander Vaughan ist mit 76% Wahrscheinlichkeit ein Gefangener Boldins und Szwangs. Boldin und Szwang, und damit auch Markendorfer, sind an einem geheimen Projekt dran (88% Wahrscheinlichkeit), bei dem sie entweder auf Vaughans Hilfe angewiesen sind (60%), oder aber sein Verschwinden würde das Projekt anderweitig gefährden (40%). Mit 75% Wahrscheinlichkeit ist die Kurie involviert. Es könnte sein, dass die Krise um den Amon Harronsul mit dem Projekt in Zusammenhang steht (40%), Jedenfalls hat Vaughan viel riskiert, als er mir den Kristall zugesteckt hat. Mit 80% Wahrscheinlichkeit sehe ich ihn tot oder in einer noch schlimmeren Situation, wäre die Sache bemerkt worden. Ich glaube auch, dass Vaughans Leben mit Abschluss des Projektes enden dürfte (60%). Er stellt für Szwang und Boldin ein Risiko dar.«
Suman seufzte: »Erogal hat dich sehr gut ausgebildet. Ich bin zu den gleichen Ergebnissen gekommen.« Suman sah sich nachdenklich um und fuhr dann zögernd fort: »Wenn das zutrifft… Kannst du dir vorstellen, was das für Konsequenzen hat? Wir sitzen auf einem Pulverfass. Und das Schlimmste ist, dass mir die Kombination der Personen überhaupt nicht gefällt. Boldin, Szwang, Markendorfer und Vaughan… Das klingt alles andere als gut. «, Su schnappte mit seinen Fingern. Er hatte eine Entscheidung getroffen, »Nimm dein Buch und informiere Erogal. Ich werde ebenfalls ein paar andere Gildemeister informieren. Allerdings sollten wir den Kreis eng begrenzt halten. In letzter Zeit sind Informationen aus den inneren Zirkeln nach außen gelangt.«.
Mit diesen Worten griffen wir zu unseren Büchern. Ich zückte meins und schlug es auf. Mein Buch begrüßte mich mit seiner goldenen Schrift und fragte, was es für mich tun könnte. Ich wollte schon zur Feder greifen, als das Buch meinte, ich bräuchte nur meine Gedanken auf es richten, dann wisse es Bescheid. Also richtete ich meinen Wunsch, mit Erogal zu kommunizieren, an das Buch, welches in goldener Flammenschrift meinte: »Ich rufe ihn!«. Drei Minuten später hatte ich Erogal an der Leitung und erläuterte ihm die Situation. Mein ehemaliger Lehrer kam zum gleichen Schluss wie Suman und ich. Seine Analyse deckte sich in wesentlichen Punkten mit unserer, oder war bei manchen Aspekten sogar noch etwas pessimistischer. Unter Anderem war er der Meinung, dass Sumans und mein Leben in Gefahr sei. Wir sollten mit unseren nächsten Schritten extrem vorsichtig sein. Das Beste wäre, wenn Suman mich auf meiner Reise begleiten würde. Wenn er, Erogal, sich nicht täuschte, hätten wir vermutlich keine Chance, den Datenkristall mit einem einfachen Pad zu entschlüsseln. »Aber die Drachen können es!«, fasste Erogal seine Überlegungen zusammen, »Geht beide nach Daelbar und wendet euch an Toldin! Sagt ihm, dass die Zeit gekommen ist. Der alte Feind sei erwacht und rüstet zum ersten Schlag. Toldin wird wissen, was zu tun ist.«, in Erogals Gedankenübertragung gab es eine Pause, dann hörte ich ihn in meinem Kopf seufzen: »Bei allen Göttern, Segato, mein junger Freund, in was für eine Situation habe ich dich nur gebracht? Deine Reise wird kein gemütlicher Spaziergang mehr sein. Du und Suman seid von nun an auf der Flucht. Wenn jemand herausbekommt, dass dir Vaughan einen Datenkristall zugesteckt hat, ist euer Leben keinen Pfifferling mehr wert. Man wird euch bis ans Ende der Welt jagen. Geht nach Daelbar! Rettet euch! Rettet die Welt!«
Langsam, ganz langsam, wurde mir die Tragweite dieser Worte klar. Wie konnte das passieren? Wie konnte ich, der Sohn einer Hure, ein Dieb und Straßenkind, zwischen die Mühlsteine der Geschichte geraten? Wer war ich, dass mir eine derartige Bürde auferlegt wurde? Warum ich?
Meine Jugend schlug zu. Ich fühlte mich einfach noch nicht bereit für eine derartige Aufgabe. Ich war doch fast noch ein Kind. Vor weniger als einem Monat hatte ich noch die Schulbank gedrückt. Und jetzt war ich, nach Allem, was ich wusste und man vermuten konnte, jemand, dem man schon bald nach dem Leben trachten würde?
Diese Erkenntnis war unschön und führte zu einer adäquaten Reaktion meines Körpers. Ich fing an zu heulen. Ich wollte es nicht. Ich fand es peinlich und wenig gildehaft. Insbesondere nicht für einen Meister der Gilde. Aber meine Augen und vor allem meine Nerven setzten andere Akzente. Ich hockte einfach auf mein Bett und brach in Tränen aus. Verzweiflung keimte in mir auf und verursachte eine unprofessionelle Übelkeit. Als mir Erogal D’Santo eröffnete, dass ich ein Schüler der Gilde werden könnte, klang das wie die Erfüllung eines unerreichbaren Traumes. Die Ausbildung war anstrengend und forderte mir extrem viel ab, aber war auch gleichzeitig so etwas wie ein gigantischer Abenteuerspielplatz. Die Ziele der Gilde, die Bekämpfung des Bösen, klangen gut, geradezu beeindruckend. Es machte mich stolz, für ein derartig hehres Ziel zu arbeiten. Als mir dann Erogal erklärte, dass ich zum Gildemeister berufen wurde, kam dies einem Ritterschlag gleich. Es war wie in einem Märchen aus alten Zeiten, einer Sage mit edlen, heroischen Kämpfern.
Doch es war kein Märchen. Es war auch keine Sage. Es passierte tatsächlich. Der Kampf gegen das Böse war keine Gutenachtgeschichte, die man Kindern am Kamin erzählte. Er war absolut konkret. Und jetzt hatte der Kampf mich erreicht.
»Hey, Kleiner, es ist gut.« Ich hörte diese Worte. Meine Tränen verquollenen Augen und mein derangierter Gemütszustand verzögerten meine Wahrnehmungsfähigkeit. Suman hatte sich nicht nur neben mich auf mein Bett gesetzt, er hatte mich sogar in seine Arme genommen. Dieser mir eigentlich völlig unbekannte junge Mann zögerte nicht, mich zu trösten. Und ich ließ es geschehen. Nicht nur das, ich saugte seine Berührung sogar regelrecht auf. Seine Berührung, die Wärme seines Körpers, war überwältigend. Ich weiß nicht, was dieser Kontakt in mir auslöste, aber etwas löste er aus. In mir keimte ein Gefühl auf, das ich nicht kannte, geschweige denn beschreiben konnte.
»Du hast nicht gedacht, dass dich die Realität so schnell einholt, was?«, fragte Suman tröstend und riss mich aus meinen Gedanken. Suman hielt mich und streichelte mir über meine Wangen, wobei er meine Tränen wegwischte, »Ich weiß, wie schwer das ist. Ich weiß es nur zu gut…«
Sumans letzte Worte schnürten mir den Hals zu. Wir lösten uns voneinander. Man brauchte kein Hellseher sein, um zu begreifen, dass dieser Gildemeister mehr erlebt hatte, als seine Jugend vermuten ließ. Man brauchte ihn nur anzusehen. Auch in seinen Augen konnte ich eine übermäßige Feuchtigkeit entdecken. Sie war weit davon entfernt, schon als Tränen bezeichnet werden zu können, aber eine gewisse Glasigkeit war unbestreitbar.
»Erogal meint, wir sollten fliehen.«, murmelte ich schniefend, »Mein Leben sei nicht mehr sicher. Der Datenkristall könne, so vermutet er, nur in Daelbar von den Drachen entschlüsselt werden. «
»Wir?«, fragte Suman erstaunt, fast entsetzt.
»Ja, wir! Erogal meint, du sollst mich begleiten, damit wir uns gegenseitig schützen können.«
Suman K’Tars Reaktion bestand in einem Mix unterschiedlicher, sogar gegensätzlicher, Emotionen. Einerseits strahlte Suman vor unverholener Freude. Auf der anderen Seite, und das empfand ich als verwirrend, schimmerte Unsicherheit und Ängstlichkeit durch. Irgendetwas nagte an Suman. Ich sah es an seinen Augen. Seine Begeisterung, mich auf meiner Reise zu begleiten, war echt und nicht gespielt. Aber gerade weil er sich offensichtlich freute, verstand ich nicht, warum ich zusätzlich diese gegensätzlichen Emotionen empfand.
Natürlich wusste Suman, dass mir seine indifferenten Signale nicht entgangen waren. Bei aller Unerfahrenheit war ich trotzdem ein Gildemeister. Suman wich meinem fragenden Blick aus.
»Was ist?«, fragte ich direkt.
»Nichts.«, entgegnete Suman etwas zu nervös und wechselte sofort das Thema, »Wir sollten überlegen, wie wir auf dem schnellsten Weg nach Daelbar kommen.«
Suman hatte sich verändert. Noch vor wenigen Stunden hatte er versucht, mich zu verführen. Und wenn dies auch nur als kleine Prüfung gedacht war, so hatte es für eine erotische Spannung zwischen uns gesorgt. Diese Spannung war verschwunden… Nein, nicht verschwunden – Sie hatte sich verlagert. Ich fand Suman noch anziehender, als vorher. Als er mich in den Arm genommen hatte, mich hielt, als mich meine Gefühle überwältigten, war dies ein unbeschreibliches Gefühl. Nur, dass ich nicht einordnen konnte, was dies für ein Gefühl war.
Umso mehr verwirrte mich Sumans plötzliche Zurückhaltung. Etwas enttäuscht antwortete ich auf Sumans letzte Bemerkung: »Was schlägst du vor?«
Mein zukünftiger Reisegefährte wurde sachlich und erklärte mir seine Ideen. Danach sollte mir Suman K’Tar als ganz offiziell von der Gilde beauftragter Begleiter zugeteilt werden. Dazu sollte der Präfekt von Crossar eine offizielle Anforderung an das Gildehaus in Xengabad stellen. Natürlich würde der Name Sumans nicht in der Anforderung auftauchen. Da Xengabad über keine Gildeschule verfügte und nur den Rasthof unterhielt, in dem wir uns gerade befanden, verfügte es nur über einen Subintendenten, der sich einer Anforderung eines Präfekten niemals widersetzen würde. Da außer mir niemand etwas über Sumans wahre Identität im Xengabadhaus wusste, würde der Verlust eines Hotelboys wenig schmerzlich sein. Dafür, dass Su ausgewählt würde, sorgte der junge Gildemeister selbst. Die Anforderung aus Crossar würde über das gildeeigene Datennetz erfolgen. Die Verarbeitungsstationen schlagen bei derartigen Anforderungen automatisch die am besten geeignete Person vor. Was niemand außer uns Gildemeistern wusste, war die kleine aber feine Möglichkeit, in diesen Auswahlprozess eingreifen zu können, ohne dass dies jemandem auffiel. Die Datenstation des Subintendenten würde also am nächsten Morgen Reisebegleitung für mich anfordern und Suman K’Tar als geeigneten Kandidaten vorschlagen.
Wir diskutierten den Plan eine Weile. Anschließend überlegten wir, welchen Weg wir von Xengabad aus einschlagen sollten. Ich gab zu bedenken, dass meine Abreise nicht wie eine Flucht aussehen dürfte. Meine bisherige Wegplanung, die ich auch gegenüber Vaughan, Boldin und Co erwähnt hatte, führte mich direkt in Richtung des Amon Harronsuls. Es gab auch keine wirklichen Alternativen. Im Westen lag das Meer. Im Norden Goldor. Daelbar lag im Nordosten. Rein von der topologischen Lage aus betrachtet, bestand die Möglichkeit von Xengabad aus in Richtung Osten zu gehen. Das hieße aber, das Gebirge Harraslands zu erklimmen und die trockene Einöde des Plateaus zu durchqueren. Kein wirklich attraktiver Weg, der danach aber noch wesentlich unattraktiver wurde. Nach der Durchquerung der Hochebene Harraslands muss man sich in Richtung Norden wenden. Was dann folgte, war das Ödland östlich des Schattengebirges von Goldor. Eine tote Landschaft von mehreren 100km Länge.
»Ich sehe nur einen Weg, den durch Goldor.«, fasste ich unser Ergebnis zusammen, »Wir könnten zumindest den Amon Harronsul umgehen, wenn wir eine Küstenfähre nehmen, dann müssten wir allerdings entweder zurück nach Crossar oder nach Harrassand.« Harrassand war die Hauptstadt der Grafschaft Harraslands und von Xengabad noch etwa zwei Tage entfernt. Sie lag ebenfalls direkt an der Küste, direkt in Richtung Norden. Zwischen Harrassand und Crossar, aber auch Küstenstädten in Goldor, verkehrten Fähren. Eine alternative Reiseroute bestand somit darin, eine Fähre zu nehmen, die uns entlang der Küste zu einem nördlichen Hafen bringen könnte.
»Ich glaube, ich habe eine noch viel bessere Idee!«, meinte Suman breit grinsend, »Hast du Lust, die nächsten Tage auf einer Yacht zu verbringen?«
Als Antwort auf meinen fragenden Blick erklärte mir Suman, dass in zwei Tagen die Yacht des Gildepräfekten von Minas Rochsir, der Feste des Flusses der Gischt, wieder in ihren Heimathafen überführt werden soll. Minas Rochsir lag weit an der Nordwestküste Goldors. Es wäre zwar ein Umweg von zwei Tagen, da die Küstenlinie sich im Norden zusätzlich auch nach Westen neigte, aber dafür wäre man nicht im offenen Gelände unterwegs und man würde die kritische Region um den Amon Harronsul umgehen.
Die Idee war perfekt, bis auf die unschöne Tatsache, dass ich mein Pferd zurücklassen musste. Suman meinte dazu, dass man sich gut um Ulfin kümmern würde. In Xengabad gäbe es vorzügliche Stallungen, da Pferdesport eine der Lieblingsbeschäftigungen der Gäste seien. Diese Sorge konnte mir Suman also nehmen.
Langsam nahm unsere weitere Reise Form an. Bis spät in die Nacht erörterten wir noch einige Details. Dabei kam es ab und zu vor, dass ich, nicht ganz zufällig, Suman berührte. Es gab keine Reaktion, es sei denn, man bewertete den umgekehrten Fall, dass Suman mich gelegentlich berührte, als Reaktion, Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke kreuzten, lächelte mich Suman an, wirkte dabei aber unsicher und auch ein wenig traurig.
Es war drei Uhr morgens. Wir hatten alles erörtert. Ich hatte Erogal über unseren Plan informiert. Mein alter Lehrer fand ihn gut und meinte, er würde noch nachts die Anforderung eines Begleiters für mich an das Xengabadhaus fertig stellen. Wir waren fertig und hundemüde, doch wusste ich, dass ich nicht schlafen können würde. Sumans verändertes Verhalten nagte an mir. Ich musste wissen, was los ist.
»Ok! Wir haben alles geklärt. Wir werden Übermorgen, nein Morgen, mit der Yacht nach Minas Rochsir fahren. Dort sehen wir weiter. Die Anforderung, mir einen Reisebegleiter beizustellen, ist auch raus. Eigentlich ist alles geklärt. Bis auf eine Sache. Was ist mit dir los? Suman, heute Nachmittag warst du völlig anders. Vorhin warst du noch völlig anders. Erst, seit feststeht, dass wir zusammen reisen, bist du anders. Distanziert und abweisend. Was ist los?«
Der Angesprochene sah mich mit großen Augen an, die glasig und feucht wurden. »Bitte, frag nicht!«, war alles, was er sagte, denn danach verließ er schweigend mein Zimmer.
Seefahrt
Wasser, Wasser, Wasser und noch mehr Wasser. Dazu Wellen, Wind und Möwen, die einem auf den Kopf kacken. Einfach öde, nur öde.
Ich hasse das Meer! Es ist so völlig unbergisch.
Dublin I, 47. Vater der Zwerge aus der Sippe des Stammvaters Fulbin
Das Thema wurde nicht wieder angeschnitten. Am nächsten Morgen erklärte mir der Subintendent des Hauses, den ich schon als Empfangschef kennengelernt hatte, dass eine offizielle Anfrage des Präfekten von Crossar vorliegen würde, mir einen Reisebegleiter beizustellen. Man sei in Anbetracht der politisch angespannten Lage zwischen Harrasland und Goldor der Meinung, dass ich nicht allein reisen sollte. Der Subintendant meinte, dass dies eine sehr weise Anforderung sei und man auch den passenden Begleiter für mich gefunden hätte. Suman K’Tar, der Hausboy, wäre der absolut Richtige für diese Aufgabe. Er wäre ein sehr heller Kopf. Ich würde mit ihm sehr zufrieden sein. Er hätte auch schon mit K’Tar gesprochen und jener hätte sich sofort bereit erklärt, mich zu begleiten. Ich stimmte zu. Dann gäbe es da noch eine zweite Sache, über die er mit mir sprechen wolle, meinte der Subintendent. Mein Reiseweg wäre zu risikoreich. Suman hätte ihn auf eine Idee gebracht, die zum einen bewiese, wie schlau der Hausboy sei und zum anderen mir eine wesentlich sicherere Reise bescheren würde. Natürlich ging es um die Yacht. Auch hier stimmte ich zu und dankte dem Hauschef.
Der Rest des Tages verging mit Vorbereitungen. Ich versicherte mich, dass mein Pferd gut untergebracht war. Anschließend ließ ich meine Sachen auf die Yacht bringen. Nach dem Mittagessen schaute ich mir das Boot an, das für die nächsten Tage mein Heim sein sollte. Es war wirklich eine Yacht. Der Begriff war nicht untertrieben. Die Mannschaft bestand aus sechs Mann und ging vom Skipper über den Maschinisten bis zum Koch. Die Yacht besaß 7 Kabinen, wovon zwei eigentlich Suiten mit Wohn-, Schlaf und Badezimmer, sowie Sonnendeck waren. Die »Stern von Galadan« war purer Luxus. Es gab sicherlich wenige Reisearten, die angenehmer waren.
Da die Yacht gleich mit der Morgenflut auslaufen sollte, verbrachten Suman, ich und die Besatzung die Nacht bereits auf dem Schiff. Am Abend hatte ich mich vom Subintendenten verabschiedet und für seine Hilfe gedankt. Jener meinte, dass dies eben die Art der Gilde sei und somit nicht der Erwähnung wert wäre. Während wir uns noch unterhielten, fiel mir auf, dass die Bar verwaist war. Darauf angesprochen, meinte der Intendent, dass sämtliche Gäste etwas überraschend abgereist seien. Szwang, Boldin und Vaughan wären bereits am frühen Morgen ausgelaufen. Olson und der Rest im Laufe des Tages. Ich macht mir in meinem PDA-Implantat eine Notiz. Irgendetwas war passiert. Dinge waren in Bewegung geraten, die man nicht mehr kontrollieren konnte. Wenn ich doch nur wüsste, welche.
Die Morgenflut kam gleichzeitig mit der Morgendämmerung. Der Gebirgskamm entlang der Harrasländischen Küste schien Feuer zu fangen, als hinter ihm die ersten Sonnenstrahlen durch die hohen Zinnen fielen. Lichtfinger tasteten nach der Dunkelheit, die noch im Westen lag. Ich stand an der Reling und schaute in Richtung Yachthafen, den wir langsam hinter uns ließen. Neben mir stand Suman und sah ebenfalls zurück. Ich erhaschte einen Blick auf seinen Gesichtsausdruck und erschrak. Der junge Gildemeister sah gleichzeitig traurig und glücklich aus. Es war mehr als merkwürdig. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, zuckte er zusammen und drehte sich weg. Ich hatte den Eindruck, er würde sich schämen. Ich zuckte leicht resigniert meine Schultern und richtete meinen Blick wieder auf Xengabad, das langsam immer kleiner wurde. Die Yacht nahm Fahrt auf und setzte Kurs – Nordwest.
Obwohl ich versuchte, mich auf andere Dinge zu konzentrieren, etwa den Datenkristall zu entschlüsseln, hing die Szene vom Morgen wie eine unheilvolle Wolke über dem Boot. Suman vermied jeglichen Kontakt zu mir. Zum Mittag saßen wir mit der Crew zusammen. Man unterhielt sich über Belanglosigkeiten. Doch obwohl ich neben Suman saß, und es wieder zu diesen »zufälligen« Berührungen kam, wechselten wir kein Wort miteinander. Mir begann dieses Verhalten auf die Nerven zu gehen. Ich fühlte mich von Suman unfair behandelt. Merkwürdiger noch, ich sehnte mich nach seiner Anwesenheit und empfand es schmerzhaft, dass er die meine mied.
Es war Nachmittag. Die Sonne hing bereits tief im Westen, schließlich hatten wir noch Winter, doch war es warm. Das Wetter war umgeschlagen und bracht sehr warme Luftmassen aus dem Süden heran. Leicht bekleidet saß ich auf Deck und dachte nach. Suman musste mich zuerst nicht gesehen haben, denn als er mich entdeckte, zuckte er zusammen und wollte wieder verschwinden.
»Warte!«, rief ich ihm zu, »Ich will wissen, was los ist! Warum meidest du mich? Warum weichst du mir aus?«
Er blieb stehen, wandte mir aber seinen Rücken zu. An seiner Körpersprache konnte ich ablesen, dass er mit sich am Kämpfen war. Suman schwankte. Seine Stimme war leise: »Ich kann nicht! Bitte, lass mich…«
»Was soll ich dich?«, ich ärgerte mich über meinen Gildebruder. Suman hatte etwas in mir geweckt, was ich bisher nicht kannte. Der Zauber, mit dem er und Erogal mich testen wollten, hatte unerwartet die Frage meiner sexuellen Identität aufgeworfen. Ich hatte diesen Zauber zwar entdeckt und zurückgeschlagen, aber der Funke war übergeschlagen. Ich begann mich zu beobachten und zu hinterfragen. Spätestens als ich daran dachte, wie ich Ole Olson gemustert hatte, wurde mir klar, wo mein Herz schlug. Als mich Suman dann auch noch in seine Arme genommen hatte, war es um mich geschehen. Allerdings begriff ich dies erst zu jenem Zeitpunkt. Ich war dabei, mich in diesen Typen zu verlieben.
»Nein, ich lass dich nicht!«, stoppte ich Sumans Versuch, sich wieder zu verkriechen. Ich sprang auf, packte ihn an der Schulter und drehte ihn zu mir herum: »Ich will wissen, was los ist. Erst versuchst du mich mit einem Zauber zu verführen und weckst in mir Gefühle, die ich bisher nicht kannte. Dann versprichst du mir, dass wir darüber reden werden. Aber als sich die Gelegenheit dafür bot, zogst du dich zurück. Du weichst mir aus. Warum? Ich seh doch, dass du mit dir kämpfst. Du vergisst, dass ich die gleiche Ausbildung genossen habe, wie du. Du magst andere Menschen täuschen, mich aber nicht. Verdammt, Suman, ich hätte das niemals für möglich gehalten, aber ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.«
Bei meinen letzten Worten riss Suman seine Augen auf. Er starrte mich entsetzt an und stammelte nur: »Oh nein, was hab‘ ich nur angerichtet. Warum bin ich nur auf die Idee gekommen, diesen Beschwörungsspruch anzuwenden. Segato, bitte, du bist ein viel zu lieber Kerl, als dass du dich in mich verlieben darfst! Lass es. Ich bin es nicht wert!«
Suman wollte sich von mir losreißen, aber ich ließ ihn nicht. Jetzt war ich fest entschlossen, der Geschichte auf den Grund zu gehen. Ich packte ihn an seiner Schulter und zog ihn in meine Kabine, die, schließlich war es ein Schiff der Gilde, abhörsicher war. Suman versuchte Widerstand zu leisten, aber ich war stärker. Offensichtlich hatte man bei meiner Ausbildung mehr Gewicht auf Kampftraining gelegt, als bei Sumans. Nach etwas Gezerre gab er schmollend nach.
»Also, was willst du damit sagen, du seist es nicht wert? Ist es nicht meine Entscheidung? Wenn du mir sagst, dass du meine Gefühle nicht erwidern kannst, könnte ich das verstehen. Aber dem ist wohl nicht so, oder? Ich bin nicht blind. Glaubst du, ich habe nicht bemerkt, wie du mich ansiehst? Noch mal, was ist los?«
Suman wand sich wie ein Wurm. Er hatte sich auf einem Sessel in meiner Suite quasi zusammengerollt. Ich wollte es kaum glauben, aber Suman, immerhin ein Meister der Gilde, schaute mich mit großen ängstlichen Augen an. Leise, sehr leise, eigentlich war es nur ein Flüstern, brachen Worte aus seinen Mund hervor: »Ich liebe dich!«
Das soll jemand verstehen. Dieser süße Typ, die personifizierte Niedlichkeit, erklärte mir, dass er mich ebenfalls liebte und brach anschließend in Tränen aus. Als ich während meiner Ausbildung Texte zu Romantik und Liebe studierte, hatte sich ein anderes Bild bei mir eingeprägt. Liebe assoziierte ich eher mit Feuer, Glück und Leidenschaft, nicht aber mit Tränen und Verzweiflung. Ich hockte mich vor Suman hin und sah ihm von unten in seine verquollenen Augen: »Aber, das ist doch toll! Warum bist du traurig?«
»Weil du mich nicht kennst! Verdammt, du weißt nicht, was ich getan habe!«, schluchzte Suman und ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, »Wenn du wüsstest, wer ich bin, würdest du mich hassen! Also, bitte, liebe mich nicht. Such dir jemand anderen, der dich verdient. Du bist ein viel zu netter Kerl, als dass du dich mit jemandem wie mir abgeben solltest. Ich bin ein Nichts! Abschaum! Dreck!«
Ich hatte selten jemanden mit derart selbst zerstörerischen Tendenzen erlebt. Damals nicht und später auch nicht. Nun hatte ich zum damaligen Zeitpunkt auch wenig Lebenserfahrung gesammelt. Ich war noch jung. Gut, es gab die Geschichte meiner Mutter, das Leben bei meinem Onkel und schließlich das Leben auf der Straße. Wenn jemand Abschaum oder Dreck war, dann ich. Obwohl ich mich nie als solchen empfunden hatte. Mein Onkel und meine Tante hatten mich so bezeichnet, hatten mich als Sohn einer Hure beschimpft. Doch ich hatte meinen Stolz. Und selbst wenn es nur kindlicher Stolz war, der aus Trotz geboren wurde, so ließ ich mich nie brechen. Ich schämte mich nicht meiner Vergangenheit. Es stimmt, ich war Prado Cassanter, der Sohn einer Hure und Taschendieb. Aber das war Geschichte. Jetzt war ich Segato G’Narn, ein Meister der Gilde im Kampf gegen das Böse. Und genau das war auch Suman K’Tar. Er war ein Meister der Gilde und damit dem Guten und Aufrechten verbunden. Ich fühlte es, ich konnte es regelrecht sehen. Suman war ein guter Mensch. Also, was quälte ihn?
»Verdammt, Suman, du bist kein Dreck. Du bist ein Meister der Gilde. Du hast dich in jahrelanger Ausbildung als würdig erwiesen, diesen Titel zu tragen und dich dem Kampf gegen das Böse zu stellen. Ein Kampf, der uns weder Anerkennung noch Ruhm einbringt, da wir ihn im Verborgenen führen. Wir tun es nicht der Ehre wegen, sondern weil wir wissen, das es notwendig ist. Ich weiß, dass du es genauso siehst. Also, wie kann jemand, der so etwas tut, Dreck sein?«
»Du willst es wirklich wissen? Du willst von meiner Schande erfahren? Gut, dann hör mir gut zu. Weißt du, was meine Aufgabe im Xengabadhaus war?«
Ich begriff sofort. Daher wehte also der Wind. Seine Verführungskünste waren also professioneller Natur. Ich hätte es eigentlich gleich merken müssen. Sein Zauber gehört zu den komplizierten.
ren. Ohne regelmäßiges Training konnte man ihn nicht so beiläufig anwenden, wie Suman es tat. Ich sagte erstmal nichts, sondern überließ es Suman, sich seine Angst von der Seele zu reden.
»Ich bin eine Hure! Ich habe mit unseren Gästen geschlafen, verstehst du? Ich tat es, um Informationen zu erhalten. Ich habe Typen wie Markendorfer befriedigt und ihn dabei ausgehorcht. «
»Ja, und?«, zugegeben, meine Kommentar war provozierend und auch recht gewagt. Zumal ich nicht wusste, ob mir der Gedanke, dass Suman mit Markendorfer geschlafen hatte, gefiel. Na ja, er gefiel mir nicht. Ich fand den Gedanken einfach ekelhaft. Aus der Theorie wusste ich, was körperliche Liebe war. Die Vorstellung, den fetten Markendorfer nackt zu sehen, war einfach widerlich.
»Ja und? Hast du nicht verstanden, was ich eben gesagt habe? Ich hab‘ mich von Markendorfer ficken lassen. Ihm und noch etlichen anderen. Willst du wirklich mit so jemandem zusammen sein?«
Ich zuckte mit den Schultern: »Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß es nicht. Ich bin nicht schockiert. Ich bin erstaunt, dass du deinen Ekel derart unter Kontrolle halten kannst. Markendorfer ist absolut widerlich. Mir ist egal, was du bisher getan hast. Ich könnte dich deswegen niemals verurteilen. Du sagst, du warst eine Hure und dass du dich dafür schämst. Tu es nicht! «
»Aber…«, Suman bekam immer größere Augen, »Ich versteh dich nicht. Ich habe mich ihnen hingegeben. Verstehst du, was ich sagen will?«
»Doch, ich verstehe sehr gut. Was du nicht verstehst, ist, dass ich auch eine Vergangenheit besitze. Aber ich schäme mich ihrer nicht. Du warst eine männliche Hure? Gut, ich bin das Kind einer Hure. Ein Unfall mit einem Kunden. Mein Onkel hat mich um mein Erbe betrogen und ich habe zwei Jahre auf den Straßen von Crossar als illegaler Dieb gelebt. Also, wie war das mit Vergangenheit?«
Ich hätte es für anatomisch unmöglich gehalten, aber Sumans Augen wurden noch größer: »Du… du… du…«
»Ja, du und ich, wir sind gar nicht so unterschiedlich. Du schämst dich dafür, was du gemacht hast. Ich sage dir: Tu es nicht! Sei stolz darauf, was du geleistet hast. Denk an all die Informationen, die du beschafft hast! Weißt du, ob nicht durch eine deiner Informationen schlimmes Unheil verhindert wurde oder später vielleicht einmal wird? Weißt du was? Ich war mehrmals drauf und dran, meinen Körper für Geld zu verkaufen. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, nichts zu fressen zu haben? Aber ich konnte es nicht. Ich respektiere und achte, was du getan hast. Ich würde dich deswegen nie verurteilen, weil ich dann meine eigene Existenz verurteilen müsste.«
Ich ging auf Suman zu. Er hockte immer noch zusammengerollt auf seinem Sessel. Ich streckte meine Hand aus und berührte seine Schulter. Ich griff zu und zog ihn zu mir heran, nahm ihn in den Arm. Es fühlte sich gut an. Suman fühlte sich gut an. Die Wärme seines Körpers war berauschend. Ich nahm seinen Kopf in meine Hand und legte ihn in auf meine Schulter: »Suman, mir ist das ernst. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Aber ich möchte es immer und immer wieder erleben, dieses Gefühl. Suman, ich liebe dich!«
Suman Widerstand schmolz dahin. Er wollte oder konnte einfach nicht glauben, dass es jemanden gab, der ihn nicht nach seiner bisherigen Tätigkeit beurteilte. Aber ich meinte wirklich jedes Wort. Mich störte nicht, was er getan hatte. Was mich schmerzhaft störte war, dass es Spuren in Sumans Seele hinterlassen hatte. Die Gilde hätte dies niemals zulassen dürfen.
»Segato, ich liebe dich auch. Als ich dich das erste Mal sah, war es um mich geschehen. Kannst du dir das vorstellen? Liebe auf den ersten Blick. Erogal hatte mich gebeten, nach dir Ausschau zu halten und dich zu testen. Er hatte mir aber nicht gesagt, was mich erwarten würde. Zuerst realisierte ich gar nicht, wie verschossen ich in dich war. Ich fand dich einfach nur geil. Die Aussicht, dich zu verführen, war ausgesprochen verlockend. Endlich mal jemand, der attraktiv und in meinem Alter war. Aber als du dann deinen emotionalen Absturz hattest und ich dich in den Arm nahm, war plötzlich alles anders. Ich konnte es nicht mehr. Ich war nicht mehr in der Lage, mit dir eine belanglose schnelle Nummer zu schieben. Verdammt, ich geb‘ es zu. Ich wollte mit dir Sex haben und dabei deine Unerfahrenheit ausnutzen. Aber es ging nicht mehr. Ich schämte mich so sehr dafür, was mein Job aus mir gemacht hat, dass ich dir nicht mehr in die Augen sehen konnte. Bitte, Segato, verzeih mir!«
Ich hielt Suman fest. Streichelte über seinen Rücken, seine Schultern und seine Wangen. Leise redete ich auf ein: »Es gibt nichts zu verzeihen. Du bist ein Mensch. Menschen machen Fehler. Aber du hast keinen Fehler begangen. Du hast dich vorher gestoppt. Quäl dich nicht. Fühl dich nicht für deine Gedanken schuldig. Die Gedanken sind frei. Suman, ich wäre ein sehr glücklicher Mensch, wenn du mich zu deinem Partner nehmen würdest. Ich weiß nicht wieso, aber ich habe das unendlich starke Gefühl, dass wir füreinander bestimmt sind. Ich sehe in deine Augen und ich weiß einfach, dass es so ist. Bitte, Suman, Schatz, Liebster, hasse dich nicht mehr!«
Das brach den Bann. Suman löste sich ein wenig aus meiner Umarmung und sah mich an. Die Traurigkeit aus seinen Augen wich und machte einem glücklichen Gesichtsausdruck platz. Der junge Gildemeister fing an, vor Freude zu strahlen. Er lächelte. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Dieser Mund war einfach zu süß, zu anziehend. Ich näherte mich mit meinen Kopf. Suman wich nicht zurück. Unsere Lippen berührten sich. Erst ganz zart und sanft, dann intensiver und schließlich leidenschaftlich. Wir fielen regelrecht übereinander her. Wie ein Verdurstender in einer Oase, konnten wir voneinander nicht genug bekommen. Wir waren unersättlich. Wenig später hatten wir uns unserer Hemden entledigt. Als ich Sumans nackten Oberkörper sah, war es um meinen Verstand vollends geschehen. Es war unmöglich, sich an diesem Anblick satt zu sehen. Meine Hände berührten Sumans Brust, strichen über Bauch, Hüften, Rücken und Schultern. Meine Handflächen spürten eine unbeschreibliche Lebendigkeit. Ich konnte einfach nicht aufhören, diesen Mann zu fühlen.
»Gefällt dir, was du siehst?«, fragte Suman frech.
»Gefallen? Spinnst du? Du bist das Begehrenswerteste, was ich jemals gesehen und gefühlt habe. Wenn mich jetzt der Schlag treffen und ich sterben würde, wäre ich trotzdem als ein glücklicher Mann aus dieser Welt geschieden. Suman, du bist ein Traum.«
Piraten
»Nun an, ihr Höllenhunde! Entert, plündert, mordet, auf dass es kein Morgen gibt!«
Piratenkapitän B ALTHASAR M AGHONIS letzte Worte auf dem Weg zum Galgen
Suman und ich verbrachten die Nacht miteinander. In dieser Nacht lernten wir, was es hieß geliebt zu werden… und auch, dass dies einen Heidenspaß machen kann. Natürlich war Suman wesentlich erfahrener als ich. Niemand wird es daher verwundern, dass er quasi die Führung übernahm. Trotzdem hielt für ihn unser Zusammensein ebenfalls etwas Neues bereit. Aus beruflichen Gründen mit einer Informationsquelle zu schlafen, oder dies mit jemandem zu tun, den man liebt, sind eben doch zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. Suman genoss es, sich vollkommen hingeben zu können, ohne dabei ständig darauf zu achten, ja keine Information zu verpassen oder seine Deckung zu verlieren. Ich habe selten einen derart glücklichen und zufriedenen Menschen wie Suman gesehen.
Und was war mit mir? Für mich war es wie die Eroberung einer unbekannten Welt. Was hatte ich bisher von Liebe gewusst? Nichts, absolut rein gar nichts. Erst als mich Suman in seinen erstaunlich kräftigen Armen hielt und mich leidenschaftlich küsste, während er gleichzeitig sanft und kräftig in mich eindrang, begann ich zu begreifen, was Liebe war.
Und wie verkorkst mein bisheriges Leben war.
Daran waren mein werter Onkel und seine schreckliche Frau nicht ganz unschuldig. Während die beiden mich um meine Erbschaft erleichterten, erklärten sie mir regelmäßig, was für eine fürchterliche Missgeburt ich doch sei. Schließlich sei ich das Produkt einer Schamlosigkeit, ein Kind einer Hure. Für seine Schwester hatte mein Onkel nur Verachtung übrig. Sie hätte Schande über die ganze Familie gebracht, den Beruf eines Liebesdienstleisterins zu wählen. Und ich, ihr Sohn, wäre das lebende Produkt dieser Schande. Allein mich sehen und meine Existenz ertragen zu müssen, wäre eine bittere Prüfung, die einen stets daran ermahnt, in seiner Moral nicht zu fehlen. So, wie es meine Mutter getan hatte. Damals verstand ich zwar nicht, was das alles bedeutete, aber soviel war mir klar. In den Augen meines Onkels war Liebe etwas überaus Schlechtes und Unanständiges, denn meine Mutter war eine Liebesdienerin und dieser Dienst sei eine Schande.
Naiv, wie ich als kleiner Junge war, fragte ich meine Tante, ob mich den niemand lieben würde. Die Antwort war eiskalt: Mich könne man nicht lieben. Ich sei das Ergebnis der Sünde. Mich zu lieben, hieße die Sünde zu lieben.
Ich lag auf Sumans Brust. Mein Liebling, so nannte ich ihn jetzt, spielte verträumt mit meinen Haaren. Wir waren glücklich, wirklich glücklich. Doch im Glück liegt immer auch ein wenig Bitterkeit. Es war dieser Moment, der mir klar machte, dass ich all die Jahre mit einem Stück Selbsthass auf meinen Schultern rum gelaufen war. Nicht, weil ich schwul war, das wusste ich erst seit drei Tagen. Nein, das Gift aus den Reden meines Onkels strömte immer noch durch meine Adern. Warum war ich als Taschendieb allein gewesen? Warum hatte ich, außer Erogal, niemanden als Freund während meiner Ausbildung? Weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass mich jemand respektieren würde. Unbewusst hatte ich die Denkmuster meiner Verwandten übernommen. Ich konnte niemanden lieben, weil ich mich selbst nicht liebte.
Doch dies hatte sich dank Suman geändert. Danke Suman? »Oh, dieses dreiste Arschloch!« Mein Aufschrei ließ Suman vor Schreck fast aus dem Bett springen.
»Was?«, stotterte er verstört, »Was ist mit dir los? Stimmt etwas nicht?«
Zur Beruhigung nahm ich Suman in den Arm, küsste ihn auf Stirn und Mund und meinte: »Doch, doch. Alles ist perfekt. Ich hätte da nur eine kleine Frage an dich. Weiß Erogal, welche Aufgabe du in Xengabad hattest? Und wenn ja, wusste er, mit welchen Mitteln du die Informationen beschafft hast?«
Der ehemalige Hotelboy sah mich neugierig an: »Natürlich wusste er es. Wer denkst du, hat mir den Beschwörungszauber gelehrt? Erogal hat mich ausgebildet. Er war zwar dagegen, dass ich diese Aufgabe übernahm, aber die anderen Meister haben mich darum gebeten. Ich möchte nicht, dass du mich für arrogant oder angeberisch hältst, aber es ist eine Tatsache, dass ich mehrere Jahre jünger aussehe, als ich bin. Man suchte einen Typen, der als Hausboy, mit der Betonung auf Boy, durchging und in der Lage war, die betreffenden Informationsquellen zu verführen. Man suchte mich. Erogal war der einzige, der meinte, man dürfe mir diese Aufgabe nicht auferlegen, man dürfe niemandem diese Aufgabe auferlegen. Die anderen Meister sind keine gewissenlosen Monster. Sie gaben Erogal Recht und schämten sich für die Idee. Doch ich sagte dann, ich würde es tun. Ich war wirklich naiv; hätte ich gewusst, was diese Aufgabe aus mir macht, ich hätte mich anders entschieden. Immerhin, mir wurde keine Verpflichtung auferlegt. Ich hätte jederzeit aufhören können. Ich weiß nicht, warum ich es nicht tat. Vermutlich war ich zu abgestumpft. Außerdem gab es nicht nur Fettberge wie Markendorfer. Mit manchen Männern hat der Sex wirklich Spaß gemacht. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich so ehrlich bin, aber eine Weile gefiel mir, was ich tat. Es hat meinem Ego geschmeichelt, begehrt zu werden. «
Suman sah mich ein wenig ängstlich an. Ich lächelte: »Nein, ich bin dir nicht böse. Das man sich geschmeichelt fühlt, wenn man von jemandem begehrt wird, ist doch nur natürlich. Und dass Sex Spaß machen kann, verstehe ich nach dem, was wir miteinander gemacht haben, nur zu gut. Na ja, solange es nicht Typen wie Markendorfer sind…«
Suman lachte: »Der Type hat es dir angetan, oder?«
»Ja! Er ist so ekelhaft, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, wie du es geschafft hast, nicht zu kotzen.«
Suman prustete vor Lachen: »Es war wirklich nicht einfach. Manchmal muss man mit etwas Magie nachhelfen. Aber wen meintest du jetzt mit Arschloch?«
Ich schmunzelte, küsste Suman und meinte: »Erogal, der Schuft. Dass wir zusammengekommen sind, war eindeutig sein Plan. Er wusste ganz genau, wie gut wir zueinander passen. Der Typ hat uns eiskalt miteinander verkuppelt. Er war es, der mich in den Urlaub geschickt hat. Er wusste besser als ich, dass ich immer noch mit den Dämonen meiner Kindheit zu kämpfen habe. Er war gegen deine Aufgabe, wusste aber, dass du einen Anstoß brauchtest, um von ihr loszukommen. Unser alter Freund ist eine ausgebuffte Ratte. Danke, Erogal!«
Am nächsten Morgen standen wir pünktlich zum Frühstück auf der Matte. Schließlich waren wir Mitglieder der Gilde und damit zu einem standesgemäßen Verhalten verpflichtet. Nach dem Frühstück schnappte ich mir mein Meisterbuch und kontaktierte Erogal. Die Verbindung zu ihm benötigte deutlich länger, als ich das bisher gewöhnt war. Als sie schließlich stand, wurde meine Vorahnung, dass etwas nicht stimmte, bestätigt. Erogal hörte sich an, was ich von Suman und mir zu erzählen hatte. Natürlich bezichtigte ich ihn auch scherzhaft der Kuppelei.
»Schuldig im Sinne der Anklage.«, gestand Erogal und klang für einen Moment zufrieden und glücklich, »Ich hatte gehofft, dass ihr zwei zueinander finden würdet. Das es wirklich geklappt hat, ist ein kleiner Funken der Hoffnung in einer dunkler werdenden Zeit.«
Von Erogals Seite gab es eine Pause. Als er fortfuhr, klangen seine Gedanken, die aus dem Buch kamen, dunkel und unheilsschwanger: »Ich muss euch noch etwas Schreckliches mitteilen. Heute Morgen wurde die Leiche von Alexander Vaughan in der Nähe von Xengabad angespült.«
Die Nachricht traf mich wie ein Schlag: »Was? Vaughan tot? Wann? Wie? Wo?«
»Wir wissen noch nichts genaues, aber sein Körper soll sich in einem grauenvollen Zustand befunden haben. Vaughan wurde vor seinem Tod noch gefoltert. Du weißt, was das für dich, Suman und eure Reise bedeutet. Sollte Vaughan vor seinem Tod geredet haben, seid ihr in sehr ernster Gefahr. Ich bitte dich, seid sehr, sehr vorsichtig. Der Datenkristall muss auf jeden Fall Daelbar erreichen. Der Kapitän eurer Yacht erhält in wenigen Minuten eine Nachricht und wird das Schiff in Alarmzustand versetzen. Ich werde dafür sorgen, dass man euch in Minas Rochsir erwartet und sicher ins Gildehaus bringt. Wie ihr von dort weiter nach Daelbar kommt, können wir uns überlegen, wenn es soweit ist. Mir gefällt nicht, euch beide auf offener See zu wissen. Aber der Landweg wäre auch nicht besser gewesen. Goldur hat heute Morgen die Grenzen zu Harrasland geschlossen. Der Krieg rückt näher.«
Mit diesen Nachrichten kehrte ich zu Suman zurück. Wie nicht anders zu erwarten, war er entsetzt: »Von allen Gästen unseres Hauses war Vaughan immer noch der sympathischste. Er hatte nicht nur Verstand, sondern auch Herz. Aber das wurde ihm von Boldin und Co immer als Schwäche ausgelegt. Und jetzt hat man ihn ermordet, sogar gefoltert. Wenn ich jemals Zweifel an unserer Arbeit hatte, dann sind sie verschwunden. Segato, mein Freund, mein Bruder, mein Liebhaber, lass uns dafür kämpfen, dass so etwas nicht mehr geschieht. Lass und das Böse bekämpfen, wo es sich uns zeigt!«
In den Augen meines Freundes war eine kalte Entschlossenheit. Er war bereit zum Kampf. Ich packte seine Hand und griff fest zu und schwor: »Gegen das Böse! Wo immer es sich zeigt!«
»Gegen das Böse! Wo immer es sich zeigt!«, wiederholte Suman meinen Schwur.
Eine Minute später rief uns der Skipper zu sich. Die Gilde hätte ihm eine Warnung geschickt. Wir wurden über den Tod Vaughans und der Zuspitzung der Krise zwischen Harrasland und Goldor informiert. Zum Schutz des Schiffes und unserer eigenen Sicherheit löste der Kapitän den Alarmzustand der ersten Stufe aus. Die Mannschaft wurde bewaffnet, Schotten wurde geschlossen und die Über- und Unterwassersonarüberwachung doppelt besetzt. Das Schiff, obwohl es offiziell nur eine Yacht war, wurde in den Gefechtszustand versetzt. Gildeschiffe sind durchaus in der Lage, sich zu verteidigen.
Nach und nach trudelten von allen Stationen die Klarmeldungen ein. Dies geschah alles ohne Hektik und sehr ruhig. Der Feind besaß viele Möglichkeiten, einen zu beobachten. Es gab Technik, wie Satelliten mit Spionagekameras, aber auch so simple Dinge wie gemeine, niedere Seevögel im Dienste der Hexenmeister des Feindes. Nachdem das Schiff klar war, rief mich der Kapitän, und nur mich, zu sich: »Segato, als stellvertretender Sekretär des Präfekten von Crossar sind sie der ranghöchste Vertreter der Gilde auf diesem Schiff. Ich wurde darüber informiert, dass sie etwas sehr wichtiges bei sich führen, dass auf keinem Fall dem Feind in die Hände fallen darf. In Anbetracht der Umstände sollten sie die Entscheidungen treffen, wie wir weiter zu verfahren haben.«
Ich überlegte einen Moment: »Ich glaube, wir sollten alles so lassen wie es ist. Kapitän, sie sind der qualifizierteste Mann an Board, was Navigation und Nautik betrifft. Bringen sie uns heil nach Minas Rochsir. Nur sie, mein Begleiter und ich wissen, dass ich etwas Wichtiges bei mir trage. Belassen wir es dabei. Für alle anderen sind mein Begleiter und ich nur zwei Gildebrüder, die die günstige Gelegenheit einer Mitreise nutzen. Sollten jemand unser Boot beobachten, soll alles harmlos und unverdächtig aussehen. Lassen Sie ihre Männer bewaffnet, aber verdeckt.«
Der Skipper stimmte mir zu. Dann fragte er mich, ob mein Reisebegleiter, Suman, vertrauenswürdig sei. Mich ärgerte diese Bemerkung, ließ sie aber unkommentiert. Anschließend suchte ich Suman in unserer nun gemeinsamen Suite auf und informierte ihn über die Vereinbarung mit dem Kapitän: »Es tut mir Leid, dass er nur mich zu sich gerufen hat. Er hält dich für sowas wie meinen persönlichen Diener. Ich finde es unwürdig. Du bist ein Meister der Gilde!«
Suman legte mir seinen Zeigefinger an meine Lippen: »Schhch… Es ist gut, so wie es ist. Ich brauche keine öffentliche Huldigung. Ich war der Hotelboy und es war Ok. Jetzt bin ich Reisebegleiter des stellvertretenden Sekretärs von Crossar und es ist Ok. Aber das du dich um mich sorgst, ist lieb.«
Die nächsten drei Tage vergingen ereignislos. So luxuriös die Yacht auch war, jeder Luxus wird mit der Zeit langweilig. Immerhin konnte ich mich mit Suman unterhalten. Er erzählte mir von seiner Kindheit und Jugend, die mindestens so aufregend war, wie meine. Auch er war von Erogal gefragt worden, ob er ein Schüler der Gilde werden wollte. Suman sagte sofort ja. Er lebte zwar nicht auf der Straße, wie ich, dafür aber in einem grauenvollen Heim für ausgesetzte Kinder. Suman kannte seine Eltern nicht. Er wusste nur, dass das Heim die Hölle auf Erden war und er dort raus wollte. Wie es schien, besaß Erogal den Hang, Kinder retten zu wollen. An einem Punkt unserer Anwerbung unterschieden Suman und ich uns allerdings deutlich voneinander. Hätte Suman Erogals Angebot, ein Schüler der Gilde zu werden, abgelehnt, wäre ihm nichts passiert. Ich wäre hingegen auf der Stelle gestorben.
»Du wusstest, dass Erogal ein Meister ist?«, fragte Suman erstaunt.
»Ich fühlte es. Frag mich nicht wie, aber ich konnte es wirklich fühlen. Als er mich fragte, was er sei, sagte ich es ihm. Bei allen Göttern, hätte ich sein Angebot abgelehnt, wäre das das Ende zweier Leben gewesen.«
Jeder Meister der Gilde kannte den Preis einer Enttarnung, den Tod – Für beide, denjenigen, der den Meister enttarnte und den Meister selbst.
Das Wissen um unsere gegenseitige Vergangenheit, Sumans und meiner, brachte uns noch etwas näher, als wir uns eh schon standen. Zwischen uns entwickelte sich eine Bindung, die von Tag zu Tag fester wurde.
Es war gegen Mittag des dritten Tages, als plötzlich eine Alarmglocke die Yacht durchschallte. Ich lief, Suman im Schlepptau, sofort auf die Brücke: »Was gibt es Skipper?«
Der Kapitän hatte ein Fernglas vor den Augen, mit dem er den Horizont absuchte. »Vor ein paar Minuten ist ein Transponderecho auf dem Radar aufgetaucht, es trägt die Kennung einer Yacht, die einen Tag vor uns Xengabad verlassen hat. Es ist Boldins Yacht. «
»Ist sie auf einem Abfangkurs?«, sollte Boldin mich etwa jagen? Hatte er Vaughan gefoltert und dabei vom Datenkristall erfahren?
»Nein, die Yacht scheint antriebslos auf dem Meer zu treiben. Alle Versuche, sie zu erreichen, waren erfolglos. Auf unserem jetzigen Kurs kreuzen wir ihren Weg, aber wenn Sie möchten, können wir auch ausweichen.«
»Nein, ich möchte keine Aufmerksamkeit erregen. Wir halten Kurs. Wann werden wir die Yacht erreichen?«
»In 45 Minuten.«
»Gut, machen Sie es so.«, ich war es nicht gewohnt, Anweisungen zu geben, aber es gefiel mir. Suman hingegen war die ganze Zeit still und unauffällig im Hintergrund geblieben. Niemand hatte ihn beachtet, er aber hatte jeden beobachtet.
Ich verließ die Brücke und Suman folgte. Kurze Zeit später waren wir wieder in unserer Kabine. Ich war unsicher, ob ich gerade das Richtige getan hatte. Ich hatte faktisch das Kommando an mich gerissen. Ich schloss die Tür hinter uns und fragte: »Hab‘ ich richtig gehandelt?«
Mein Schatz strahlte mich an und meinte: »Absolut richtig. Du bist ein geborener Anführer. Ich bin stolz auf dich. Der Kapitän ist ein guter Seemann, aber unsicher, was gefährliche Entscheidungen betrifft. Jeder auf der Brücke vertraut dir. Du machst deine Sache sehr gut.«
Ich hatte gar keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, ich hatte es einfach getan. Ich hatte sowohl instinktiv als auch rational gehandelt. Natürlich hatte mein PDA-Implantat etwas dabei geholfen.
Die Minuten krochen dahin. Nach einer halben Stunde des Wartens begaben wir uns wieder auf die Brücke. Inzwischen konnte man die Yacht mit dem Fernglas sehen. Während wir warteten, versuchte der Kapitän mehrfach, Boldins Yacht zu kontaktieren. Ohne Erfolg. Sie trieb einfach auf dem offenen Meer. Nach weiteren 15 Minuten lag Boldins Yacht mit uns längs auf. Beide Yachten trennten keine 50 Meter voneinander. Der Kapitän rief per Lautsprecher hinüber. Aber es kam keine Antwort.
»Was sollen wir machen?«, fragte mich der Skipper.
»Schicken sie ein paar Männer rüber. Sie sollen nachsehen, aber vorsichtig und bewaffnet.«
Ein Beiboot wurde zu Wasser gelassen und ein Trupp von vier Mann setzte über. Die Männer erklommen die Reling und verschwanden unter Deck. Boldins Yacht war riesig, trotzdem benötigte sie keine Crew. Ein paar Minuten tat sich daher nichts. Plötzlich flog eine Tür auf und ein Mann unserer Crew sprang heraus und übergab sich. Unmittelbar hinter ihm folgten die anderen drei, von denen einer sich dem Vorbild des Ersten anschloss. Alle vier sahen aus, als hätten sie den Leibhaftigen in Person gesehen.
»Was ist?«, rief der Kapitän.
»Ich glaube, Sie sollten rüber kommen und sich das selbst ansehen.«, brachte einer der vier heraus.
Wir setzten über. Man führte uns unter Deck direkt in die Kabine des Eigners, Boldins Kajüte. Und dort sahen wir es. Es war ein grausiger Anblick, bei dem ich ebenfalls mit aufsteigender Übelkeit kämpfen musste. Mitten im Raum lagen Boldin und Szwang. Sie lagen in einem Meer von Blut, ihrem Blut. Man hatte ihnen von hinten die Kehlen durchgeschnitten. Der Kapitän fand als erster Worte: »Piraten!«
Uskav
Gemeinschaftsdienst
»Wir bitten alle Drachen, in langen und gleichmäßigen Stößen zu blasen.«
Arbeitshinweis im Blockheizkraftwerk II – Daelbar Süd
Gilfea saß am Fenster seiner und Mithvals Drachenhöhle und sah den Schneeflocken zu, wie sie langsam vom Himmel herab rieselten und Daelbar in eine weiße Märchenstadt verwandelten. Es war Abend. Die Flocken, angestrahlt von den unendlich vielen Lichtern Daelbars, glühten in der Dunkelheit wie silberne Sterne. In letzter Zeit hatte er oft an diesem Fenster gesessen und hinaus geschaut. Daelbar – Die Stadt der Drachen. Seine neue Heimat. Die letzten Jahre waren wie im Flug vergangen. Waren es wirklich schon vier Jahre, dass sein Dorf von Orks niedergebrannt worden war? Dass er einsam und verängstigt durch die Welt gelaufen war, nur um an einem der unwirtlichsten Orte, die man sich vorstellen konnte, ein Drachenei zu finden? War es wirklich gerade einmal vier Jahre her, dass er fast gestorben war und von einem Drachenbaby gerettet wurde?
Gerettet – Manch einer hätte dies anders gesehen, denn dir Rettung bestand darin, dass sich der Drache mit Gilfea vereinigte. Es gab Stimmen, die so etwas als ein gewaltsamer, monströser und unnatürlicher Akt bezeichnet hätten. Nicht so Gilfea. Für ihn war jener Tag eine Art zweiter Geburtstag. Es war der Tag, an dem ihm ein neues Leben und der beste Freund der Welt geschenkt wurden.
Dieser Freund war natürlich Mithval, der Mithrildrache. Außer Gilfea wusste niemand, dass Mithval ein Mithrildrache war. Mithval zog es vor, sein wahres Wesen zu verbergen, bis die Zeit gekommen war, um der Welt die Ankunft des einen Drachens, des Drachens aller Drachen, zu zeigen. Nicht, dass Mithval unter einem Messiaskomplex litt. Sein ganzes Auftreten widersprach allem, was man von einem ernsthaften Erlöser erwarten würde. Ernsthaftigkeit, genau genommen das Fehlen von Ernsthaftigkeit, war Mithvals dominantester Charakterzug. Die meisten Drachen tendierten zu einer gewissen Lockerheit, Mithval aber, war nicht nur locker, er war völlig losgelöst. Er war mit Abstand der albernste Drache, den Daelbar jemals erlebt hatte.
»Mithval?«, Gilfea sandte seine Gedanken an seinen Drachen aus.
»Ich bin hier.«, kam prompt die Antwort. Mithvals Stimme war kräftig, irden und fruchtig, wie ein satte Wiese oder ein übervoller Obstgarten mit Bäumen, deren Äste fast unter der Last der Früchte zu brechen drohten.
»Ich höre deine Stimme so gerne.«, antworte Gilfea und sandte Mithval mit seinem Geist ein Bild der Schneeflocken, die vor seinem Fenster tanzten.
»Ich weiß!«, antwortete Mithval und schickte statt eines Bildes ein lustiges, geradezu komisches Gefühl zu Gilfea. Seine Seele musste kichern. Mithval wusste immer, wie er seinen Freund und Partner aufmuntern konnte. Er fühlte, dass Gilfea in einer melancholischen Stimmung war, denn es waren auch seine Gefühle. Gilfea war Mithval und Mithval war Gilfea. Ihre Verbindung hatte sie zu einem Wesen vereint. Eine Bindung, die weit über Freundschaft hinausging. Sogar bis über den Tod.
»Wie lange hast du noch Dienst?«, fragte Gilfea immer noch kichernd.
»In einer halben Stunde löst mich Guldur ab. Goldlöckchen hat Nachtschicht«
Den Spitznamen Goldlöckchen hatte Guldur dem Umstand zu verdanken, dass er ein goldener Drache war, dessen Schuppen im Sonnenlicht wie Locken glänzten. Er hasste seinen Spitznamen und knurrte Mithval jedes Mal scherzhaft an, wenn jener ihn mit seinem Namen aufzog. Genau genommen war er einer von zwei Golddrachen. Der andere war Fingolf, ein steinalter Haudegen und Freund von Mithval, Guldur und natürlich auch ihren Reitern. Guldur war Franciscus Drache oder Franciscus die Seele von Guldur. Franciscus, Tom, Xurina, kurz Xu, und Mithrandor waren Gilfeas engste Freunde. Bis auf Tom waren sie alles Drachenreiter.
Was Mithval mit Nachtschicht meinte, war der Dienst im Heizkraftwerk. Daelbar war eine moderne Stadt. Jedes Haus, jede Drachenhöhle besaß Fernwärme. Um aber Wärme verteilen zu können, musste man sie erst erzeugen. An dieser Stelle kamen die Drachen ins Spiel. Aus Respekt vor den normalen Bewohnern Daelbars und um wenigstens symbolisch etwas von der freien Versorgung der Drachen und ihrer Reiter der Gesellschaft zurück zu geben, wechselten sich alle Drachen als Hochleistungsbrenner für die Strom- und Heizkraftwerke Daelbars ab. Drachen konnten nämlich nicht nur magisches kaltes Feuer, sondern auch echte heiße, wirklich heiße Flammen speien. Es brauchte eine Weile, bis Magier und Materialforscher einen Stoff gefunden hatten, der dem Drachenfeuer widerstand und als Wärmetauscher verwendet werden konnte.
Diesen Abend hatte Mithval zusammen mit Goldorin, der Grasdrachendame Mithrandors, Heizdienst. Sie hockten in Heizkraftwerk Süd Block II und spieen Feuer, was das Zeug hielt. Neben dem gesellschaftlichen Aspekt hatte diese Tätigkeit noch einen anderen, sehr praktischen Aspekt. Ythlingas, Xus Drache, Guldur, Goldorin und Mithval waren noch sehr junge Drachen. Kontrolliertes Feuerspeien will gelernt sein und bedarf intensiver Übung.
Gilfea schaute nach wie vor aus seinem Fenster, doch hatte sich sein Gesichtsausdruck geändert. Die nachdenkliche und melancholische Mine hatte einem glücklichen und zufriedenen Ausdruck Platz gemacht. Gilfea sah gerade den herabrieselnden Schneeflocken zu und bewunderte ihre Schönheit, als es an seiner Tür klopfte. Eigentlich erwartete der Drachenreiter niemanden, allerdings war es nicht so ungewöhnlich, dass ihn seine Freunde auch noch abends besuchten.
»Es ist offen!«
Dieser Ruf war ein Witz, denn niemand in Daelbar verschloss seine Wohnung. Kriminalität war eher ungewöhnlich für die daelbarische Gesellschaft.
Die Tür öffnete sich. Statt eines Besuchers waren es gleich mehrere. Die beiden Elben Turondur und Thonfilas betraten als erste die Drachenhöhle, dicht gefolgt von dem Neovikinger Roderick und Franciscus. Gilfeas begrüßte seine Freunde herzlich, sah aber an ihren Gesichtern, dass ihr Besuch ernsterer Natur war. Dass die meisten von ihnen auch noch Mitglieder des Rates von Daelbar waren, ließ Gilfea heftig schlucken. Dies war ein offizieller Besuch.
»Ihr seht nicht sehr glücklich aus.«, begrüßte der junge Drachenreiter seine Besucher.
»Nein, wir kommen, weil wir dich etwas fragen müssen.«, begann Turondur.
»Das klingt ernst. Habe ich etwas falsch gemacht? Wenn ja, sagt mir, was.«, Gilfea war unsicher. So ernst kannte er seine Freunde nicht. Irgendwie hatte er das Gefühl, etwas ausgefressen zu haben und nun vor Gericht zu stehen.
»Kein Panik, Gilli!«, beruhigte ihn sein enger Schulfreund Franciscus, »Es geht nicht um etwas, was du getan hast, sondern, was du erlebt hast. Es schmerzt uns, dich behelligen zu müssen, aber könntest du dich an den Tag erinnern, an dem dein Dorf überfallen wurde?«
Gilfea holte tief Luft. Jener Tag war eine Erinnerung, die er am Liebsten vergessen hätte. Allerdings war sie so schrecklich gewesen, dass ihm die Gnade des Vergessens wohl auf immer verwehrt bleiben würde. Das Bild der Flammen, die Schreie der Opfer und das Gebrüll der metzelnden Orks war auf ewig in sein Bewusstsein eingebrannt worden.
»Was wollt ihr wissen?«
Gilfeas Besucher tauschten viel sagende Blicke untereinander aus. Niemand schien sich zu trauen, bis sich Franciscus ein Herz nahm und begann: »Es ist sehr wichtig, dass du dich an alle Details des Abends erinnerst. Ich erkläre dir hinterher, warum das so wichtig ist. Jetzt brauchen wir deine unverfälschte Erinnerung.«
Gilfea traute Franciscus. Er war nicht nur sein Freund, er und sein Drache waren die jüngsten Mitglieder des Rates, die jemals von den Daelbanern in dieses Verfassungsorgan gewählt worden war. Es hatte schon einen Grund, warum Guldur ein Golddrache war und sich Franciscus als Seele erwählt hatte. Die Drachen irrten sich nie in den Charakteren ihrer Reiter.
»Ich weiß nicht, was ich euch noch mehr erzählen kann, aber ich werde es versuchen.«, entgegnete Gilfea. Der junge Drachenreiter schloss seine Augen und konzentrierte sich auf eine Erinnerung, die er lieber für immer vergessen hätte.
»Ich bin bei dir. Die Erinnerung kann dir nichts anhaben. Ich werde dir helfen.«, hörte Gilfea Mithval in seinen Gedanken. Kaum waren Mithvals Worte verstummt, erschienen die Ereignisse in leibhaftigen Bildern vor Gilfeas geistigem Auge. Mithvals spirituell-magisches Wesen visualisierten die Geschehnisse. Gleichzeitig hörte Gilfea aber auch ein Summen. Es war das Lied, die Melodie Mithvals, welche der Drache Gilfea noch in seinem Ei vorgesummt hatte. Dieses Lied war wie ein emotionaler Rettungsanker. Gilfea konnte seine Erinnerungen schildern, ohne in ihren dunklen Schlund zu stürzen.
Gilfea begann seine Erzählung, als er, wie so oft, abends heimlich das Dorf verließ, um unter dem Sternenhimmel auf seinem Baum zu schlafen. Er war bereits eingeschlafen, als er vom Lärm der Orks geweckt wurde. Der Baum befand sich etwas außerhalb des Dorfes und somit Gilfea auch außerhalb des Rings, den die Orks um das Dorf gezogen hatten. Genau in jenem Moment, als Gilfea richtig wach wurde, brach die Hölle über das Dorf herein.
»Ich weiß, das ist sehr schwer für dich.«, Thonfilas war auf Gilfea zugegangen und hatte dessen Hände in die seinen genommen. Obwohl der Elb schon ein paar hundert Jahren auf dem Buckel hatte, verband ihn ein besonderes Verhältnis mit dem gerade einmal 19 jährigen Drachenreiter. Gilfea hatte Lindor, Thonfilas Drachen, von den Schmerzen einer Jagdlanze befreit, indem er die Schmerzen auf sich genommen hatte. Seid jenem Tag wurde er von den Drachen geliebt, aber besonders von Lindor und seinem Reiter.
»Ich danke dir, Thonfilas«, es tat gut, von Freunden bei dieser schweren Aufgabe gestützt zu werden. Die Bilder in Gilfeas Bewusstsein waren grauenvoll. Grauenvoll, weil sie die Realität zeigten. Gilfea versuchte, so präzise wie möglich, alle Details zu schildern. Es gelang ihm, einzelne Erinnerungen festzuhalten und wie auf einem Datenpad einzufrieren.
»Stopp!«, machte sich Roderick bemerkbar, »Bitte wiederhole das, was du eben erzählt hast, noch einmal. Aber, wenn es geht, sehr genau und ganz langsam.«
Gilfea war gerade bei einer der für ihn schmerzhaftesten Szenen. Das Haus von Schriftmeister Arbogast stand in Flammen. Es war jenes Haus, in dem Gilfea lebte. Wenn Meister Arbogast auch nicht sein wirklicher Vater war, so war er der beste Ersatz, den man sich wünschen konnte. Gilfea stoppte das Bild in seinem Kopf. Mit Mithvals magischer Hilfe gelang es ihm, dichter an die Szene heranzugehen. Langsam setzte sich die Erinnerung wieder in Bewegung. Ein riesiger Ork ging auf das Haus zu. Er trug eine Kapuze, Gilfea konnte kein Gesicht erkennen. Der Ork hob seine Hände und… Er war kein Ork! Das Bild traf Gilfea, wie ein Schlag. Die Hände waren zwar auch schwarz und die große Gestallt trug die gleiche martialische Rüstung, wie die Orks, aber es waren eindeutig menschliche Hände. Und es waren eben jene Hände, die komplizierte Muster und Gesten in die Luft malten und am Ende sich zu Fäusten ballten und sich dann blitzartig entfalteten und eine stoßartige Bewegung in Richtung des Hauses von Meister Arbogast vollführten. Es gab einen Blitz und das Haus stand in Flammen.
Gilfea war geschockt. Dieses Detail war ihm bisher entgangen. Oder er hatte es verdrängt, denn die Erinnerung ging noch weiter, denn plötzlich stand Meister Arbogast vor der Tür. Er war in ganz in weiß gekleidet und schimmerte in einem silbernen Glanz. Auge um Auge mit der dunklen Gestalt. Zum völligen Erstaunen von Gilfea konnte er hören, was zwischen seinem alten Lehrer und der dunklen Figur an Worten gewechselt wurde.
»Aus dem Weg, du alter Narr!«, die Stimme des Fremden war tief und grollend, wie der Donner eines Gewitters.
»Du kannst nicht vorbei! Ich bin der Hüter der Zukunft! Du kannst nicht vorbei!«, Arbogast Stimme stand der des Fremden an Mächtigkeit in nichts nach. Gilfea hatte noch nie erlebt, das sein Lehrer und Ziehvater eine derartige Macht in sich verbarg.
»Dann stirb!«, entgegnete die dunkle Gestalt und zog ein langes Breitschwert. Die Klinge schimmerte glutrot, als sie auf Meister Arbogast niedersauste. Aber statt ihn zu treffen, flammte ein gleißend weißes Licht auf und zerfetzte die Klinge und die dunkle Figur. Doch blieb auch Gilfeas Lehrer von dieser geballten Entladung magischer Energie nicht verschont. Sein Körper wurde blass und durchsichtig, als sich sein Blick direkt in Richtung Gilfea wandte. Offensichtlich wusste er ganz genau, wo sich sein Schüler nächtens rum trieb.
»Flieh Gilfea, flieh!«, ertönte die Stimme Meister Arbogasts in Gilfeas Kopf, »Meine Aufgabe ist erfüllt. Rette dich, sonst wirst du sterben und alles wird verloren sein. Doch dein Schicksal soll sich nicht hier, sondern an anderer Stelle erfüllen. Vergiss nun für eine Weile, was ich dir gesagt habe und noch sagen werde. Zur rechten Zeit sollst du dich erinnern. Du wirst ein Drachenreiter sein und dein Drache wird der größte unter den Großen sein. Ihr habt eine Aufgabe zu erfüllen. Eine Aufgabe, zu groß, um sie allein zu bewältigen. Doch sei getrost, ihr werdet nicht allein sein. Ihr habt Freunde und werdet neue Freunde gewinnen. Gemeinsam werdet ihr stark sein, um den Sturm, der kommt, zu widerstehen. Mein Blick in die Zukunft verdunkelt sich, wenig gibt die Zukunft freiwillig preis. Doch sehe ich einen unbekannten Freund. Er ist in Gefahr. Er wird verfolgt und seine Verfolger haben schlimmeres mit ihm vor, als ihn nur zu töten. Wenn die Zeit kommt, werde ich dir noch einmal ein Zeichen geben dürfen. Dann werde ich dir sagen, wo du suchen musst. Doch jetzt fliehe! Lauf um dein Leben und vergesse alles, bis der Tag gekommen ist, an dem du gebraucht wirst!«
Gilfea schlug die Augen auf und sah sich verwirrt um. Es war, als wenn er aus einem Traum erwacht war. Nur, dass dieser Traum die Wirklichkeit war. Den Blicken seiner Freunde nach zu urteilen, hatte er alles, was er gesehen hatte, auch berichtet. Turondur war der Erste, der sprach: »Dann ist es also wahr! Arbogast war ein heiliger Wächter der Zukunft und zu Gilfeas Schutz auf dieser Welt.«
»Und was heißt das?«, fragte der junge Drachenreiter.
»Das heißt, dass du nicht ohne Grund ein Drachenreiter geworden bist. Auch wenn man es sich kaum vorstellen kann, aber dein ganzes Leben scheint einer Vorbestimmung zu folgen. Mehrfach stand deine Zukunft an einem Scheideweg. Du hättest im Dorf gewesen sein können, als die Orks euch überfielen. Aber du warst auf deinem Baum und entgingst der Vernichtung. Als du Mithvals Ei gefunden hattest, hättest du es sich selbst überlassen können, aber du bliebst. Du warst bereit, dich selbst für dieses Ei zu opfern. Du hast alles gewagt und wurdest belohnt. Mithval erwählte dich zu seinem Reiter. Nein, das war kein Zufall. Du stehst unter dem Licht eines besonderen Sterns. Ich zweifle keinen Moment daran, dass Meister Arbogast Recht hatte, als er sagte, dass auf dich eine Aufgabe wartet.«
Gilfea wusste nicht so recht, ob er diese Enthüllung nun gut oder schlecht finden sollte. Eigentlich hatte er sich ein einfaches Leben mit ein paar Freunden gewünscht. Abenteuer waren etwas, die man in Büchern las, man erlebte sie nicht. Gilfea wollte kein Held sein, kein selbstloser Krieger im Kampf für eine gerechte Sache. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass er keine Wahl hatte. Das Schicksal hatte andere Pläne mit ihm.
»Was meinte Arbogast mit >der Größte unter den Großen<?«, griff Roderick genau in dem Moment auf, als Mithval von seinem Heizdienst in seine Höhle zurückkehrte. Gilfeas Besuch hatte die Höhle durch die Tür für Menschen betreten und stand in dessen Wohnzimmer. Hinter einem Vorhang verbarg sich die große Halle der Höhle. Ein kalter Wind wehte herein, als sich die großen Höhlentore öffneten und hinter Mithval schlossen.
»Bring die Meute in die Höhle.«, kicherte Mithval in Gilfeas Kopf,»Mal sehen, was die Jungs von meiner Glitzershow halten«
Der Angesprochene konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und meinte: »Kommt mit, Mithval will euch was zeigen.« Woraufhin ihm alle in die große Halle folgten. Dort hockte Mithval, seinen langen Schwanz um die Beine geschlagen. Mit einer Kralle kratzte er sich ein einem Nasenloch, aus dem kleine schwarze Rauchwölkchen aufstiegen. »Ich glaube, ich habe mich erkältet. Meine Nase juckt!«, meinte der Drache in akustischer Sprache und nieste einen kleinen Feuerball.
»Hallo Mithval!«, grüßten ihn die anderen Drachenreiter, während Gilfea zu seinem Freund lief, um ihm die Flanke zu streicheln. Die enge Bindung zwischen den beiden war erstaunlich. Mithval beugte sich zu seinem Reiter herab und gab ihm einen leichten, fast zärtlichen Stubser mit seiner Schnauze. Bei der immensen Größe des Drachens war dies mehr als beeindruckend.
»Ihr wollt wissen, was für ein Drache ich bin?«, fragte Mithval schließlich, während Gilfea zur Gruppe seiner Freunde zurück ging. »Wir könnten das noch etwas spannender machen und Wetten abschließen?«, Mithvals Scherze waren zuweilen etwas derb.
»Spann sie nicht auf die Folter.«, meinte Gilfea lachend.
Der riesige Drache erhob sich zu seiner vollen Größe. Seine Schwingen füllten die gesamte Größe der Höhle aus. Mithval war, abgesehen von den beiden goldenen Drachen Guldur und Fingolf, der größte Drache Daelbars. Obwohl Gilfeas Freunde selbst Drachenreiter waren, konnte man deutlich hören, wie sie tief Luft holten. Mithval reckte sich, seine schwarzen Schuppen wurden noch dunkler, soweit dies überhaupt möglich war. Dann begannen sie an ihren Rändern silbern zu schimmern. Ein feiner Hochglanz breitete sich über die Schuppen aus, das Schwarz gewann an Tiefe, als könne man in einen Abgrund schauen. Plötzlich riss die Wolkendecke über Daelbar auf. Der Mond kam zum Vorschein. Sein blasser aber heller Schein fiel durch die Dachfenster der Höhle und traf auf den Drachen. Mithvals Haut flammte regelrecht auf. Der übernatürliche Glanz des Mithrils erstrahlte in seiner vollkommenen Schönheit. Jeder Schuppe schien ein Stern zu sein, der auf die Erde herab gefallen war. Die Ränder der Schuppen erstrahlten in den Farben des Regenbogens.
»Nette Lichtshow, was?«, fragte Mithval in die Runde. Niemand war in der Lage, zu antworten. Gilfeas kicherte, während alle anderen mit runter geklappten Unterkiefern Mithval angafften. Der reagierte auf seine Art: »Ich glaub, ich könnte mit einer Drachenpeepshow eine Stange Geld machen. Genug gefunkelt.«.
Und schon war die Show vorbei. Als wenn er einen Schalter umgelegt hätte, war Mithval wieder ein mattschwarzer Drache unbekannter Gattung. Es dauerte noch ein paar Momente, bis die Drachenreiter ihre Sprache wieder fanden. Roderick war der erste: »Das… das… das… ist ein Mithrildrache.«
»Ja!«, meinte Turondur bitterernst, »Und es ändert alles!« Typisch Elb ging seine aristokratisch, arrogante Art mit ihm durch. Man sah, dass er sich über sich selbst ärgerte, »Ich meine… Wir müssen reden!«
Thonfilas Verpflichtung
»Hüte dich vor Blutschwüren. Sie neigen dazu, dich irgendwann in den Arsch zu beißen.«
Leitsatz 24 des Ordens der Neovikinger
Wie Turondur vorschlug, wurde geredet. Es wurde sogar ziemlich viel geredet. Die zentrale Frage, nämlich warum Mithval seine Gattung geheim gehalten hatte, ließ sich noch am Einfachsten lösen: Aus Vorsicht. Die Existenz eines Mithrildrachens würde sich wie ein Lauffeuer verbreiten und schnell die Grenzen Daelbars verlassen. Jedem war klar, dass die Existenz Mithvals genau so, wie Gilfeas Lebensgeschichte, etwas Besonderes darstellte. Es war ein Omen und, für alle, die sich mit Omen auskannten, auf keinem Fall ein gutes. Ein Drachen mit der magischen Potenz des Mithrils konnte nur eins bedeuten: Ein Hurrikan lauerte am Horizont. Einer, der die Welt verändern würde. Aber soweit war es noch nicht, oder doch? Gilfea brannte eine Frage unter den Fingern. Er hatte sie schon stellen wollen, als die anderen Drachenreiter bei ihm aufkreuzten: »Warum seid ihr überhaupt zu mir gekommen? Warum habt ihr mich ausgerechnet heute besucht? Warum heute die Fragen zum Tag des Untergangs meines Dorfes?«
Thonfilas ging auf Gilfea zu und legte ihm beide Hände auf die Schultern: »Freund, du sollst es erfahren. Aber …« Thonfilas zögerte ein wenig, der nächste Satz war ihm unangenehm: »Ich weiß, dass wir uns auf dich verlassen können. Es ist wichtig, dass du alle Informationen, die du gleich hörst, für dich behältst. Was du jetzt erfährst, ist ebenso beunruhigend, wie geheim.« Mit diesen Worten begannen seine Freunde, wechselweise zu erzählen. Daelbar besaß Freunde. Überall auf der Welt gab es Menschen, Elben, Zwerge und andere Wesen, die an Daelbar und dessen Idee von einer freien Welt glaubten. Und wenn diese Freunde auch absolut loyal zu ihren jeweiligen Heimatländern waren, pflegten sie wohlmeinende Kontakte zur Stadt der Drachen. Für viele stellte dies kein Problem dar, denn nicht in allen Ländern galt Daelbar als böse und feindlich. Eine ganze Reihe Staaten, darunter viele kleine Republiken und unabhängige Grafschaften, unterhielten sogar sehr enge diplomatische Beziehungen zu Daelbar. Doch war dies nicht bei allen Staaten so, gerade die großen Reiche, wie Goldor, betrachteten Daelbar als feindlich. Freunde in jenen Ländern riskierten viel, zuweilen auch ihr Leben. Denn Daelbar galt vielen Herrschern als Bedrohung ihrer Macht. Für die Päpstin war das Drachenheim ein Stachel im Fleisch, den es auszureißen galt. Für alle Freunde Daelbars, die mittel- oder unmittelbar unter dem Einfluss der Kirche der unifizierten Technokratie lagen, drohte stets die Gefahr, als Hochverräter angeklagt und hingerichtet zu werden. Trotzdem gab es immer wieder mutige Personen, egal ob Elb, Mensch oder Zwerg, die sich aller Gefahren zum Trotz ein Herz nahmen und den Kontakt zur Stadt der Drachen pflegten.
Es waren gleich mehrere dieser Quellen, die seit Tagen beunruhigende Nachrichten übermittelten. So soll ein junger Elb den Staatsminister Victor zu Lebelfallas ermordet haben. Dieser Elb wurde beschuldigt, eine Gruppe von Terroristen anzuführen und den Sturz des Königs von Goldor zu planen. Weiterhin, so wurde behauptet, soll jener Elb ein Schwarzmagier sein. Diese Nachricht war gleich doppelt erschreckend. Zum einen verhieß ein Elb, der der schwarzen Magie verfallen war, nichts Gutes. Viel schlimmer aber war die Nachricht vom Tode Victor zu Lebelfallas. Er gehörte nicht nur zu einer Gruppe selbstloser geheimer Kämpfer gegen das Böse. Er besaß auch eine Schlüsselposition am Hofe des Königs und war einer der Wenigen, dem der Souverän noch ein Ohr schenkte und dabei nicht unter dem Einfluss des Klerus stand. Mit dem Verlust Victor zu Lebelfallas war Daelbar ein schwerer Schlag versetzt worden.
»Weiß man etwas von dem Täter?«, fragte Gilfea.
»Nur sehr wenig und das Wenige, was man weiß, scheint auch nicht sonderlich verlässlich zu sein. Es soll ein sehr junger Elb sein. Etwa in deinem Alter, was an und für sich schon recht unwahrscheinlich ist. Die königliche Garde verfolgt ihn. Zuletzt wurde seine Spur in einem Wald nördlich des großen Elbenreservats entdeckt. Es scheint, als wenn er versucht, aus Goldor zu fliehen.«, erläuterte Thonfilas. Jeder konnte den Ekel in seiner Stimme hören, als er fortfuhr, »Mir dreht sich der Magen um bei dem Gedanken, dass jemand aus meiner Sippe Victor ermordet haben soll. Victor war ein guter Freund. Sein Tod sollte nicht ungesühnt bleiben!«
»Was schwebt dir vor?«, fragte Roderick.
»Dieser Elb will vor den Häschern des Königs fliehen?«, Thonfilas Mine wurde finster, »Soll er! Wir werden ihn fangen. Sollte er es tatsächlich aus Goldor heraus schaffen, werden wir uns um ihn kümmern!«
Gilfea war von Thonfilas Wut erstaunt. Nein, Wut war das falsche Wort. Es war Hass, blanker Hass, was Gilfea wunderte. Er dachte, er würde diesen Elb kennen, aber diese heftige Emotion bestürzte ihn. Gilfea ging zu seinem Freund, berührte ihn sanft an dessen Schulter. Thonfilas vibrierte vor Wut, sagte aber kein Wort, weswegen Gilfea sprach: »Was ist mit dir? So kenn ich dich nicht! Das ist nicht Thonfilas, der sanfte Elb. Das ist… Etwas völlig anderes.«
Thonfilas biß sich auf die Lippen. Roderick, sein Lebenspartner, bedachte ihn mit einem besorgten Blick, den Thonfilas mit einem Nicken erwiderte. Gepresst und mit seinen Emotionen kämpfend, begann er zu sprechen: »Lindor und ich verdanken Victor unser Leben. Wir stehen in seiner Schuld, so, wie wir in deiner stehen. Er hat uns vor Jahren vor den Agenten der Päpstin versteckt gehalten. Ich muss seinen Tod rächen! Ich werde fliegen!«
»Du musst mitfliegen! Es ist wichtig!«, tönte Mithval in Gilfeas Kopf. Seine Stimme war absolut ernst. Nicht die geringste Amüsiert- oder Albernheit war zu hören. Gilfea ahnte, nein er wusste, dass er mitfliegen musste.
»Ich komme mit!«, war dann auch seine nächste Äußerung, mit der er Bestürzung von allen Seiten erntete.
Es war Turondur, der die allgemeine Meinung in Worte fasste: »Nein, du bleibst hier! Du und Mithval, ihr seid viel zu jung und unerfahren, um an einer solchen Mission teilnehmen zu können. Wir werden in der unmittelbaren Nähe Goldors fliegen. Es kann durchaus sein, dass wir in Kämpfe verwickelt werden. Du warst noch nie in einen Kampf verwickelt worden. Bist du dir sicher, dass du jemanden töten könntest? Nein, Gilfea, das Risiko, euch zu verlieren, ist viel zu hoch.«
»Als ich sagte, dass ich mitkomme, war dies keine Bitte um Erlaubnis. Es war eine Feststellung. Du hast Recht, wenn du der Meinung bist, ich sei noch zu jung. Und du hast ebenso recht, wenn du mich fragst, ob ich jemanden töten könnte.«, Gilfea zuckt hilflos mit seinen Schultern, »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich hoffe, es niemals tun zu müssen. Aber es ist nicht meine Entscheidung gewesen, mitfliegen zu wollen. Mithval ist der Meinung, ich müsse es. Ich diskutiere nicht mit meinem Drachen. Und ihr solltet es auch nicht.«
»Mithval besteht darauf, dass du mit fliegst?«, Turondurs Augen zeigten sein Erstaunen.
»Ja!«
Der erfahrene Drachenreiter und Elb seufzte, schließlich schloss er müde seine Augen und meinte: »Ja, Toldin hat mir gerade gesagt, dass wir den Dingen nicht im Wege stehen dürfen. Gilfea, du hast Recht, man diskutiert nicht mit seinem Drachen. Ihr brecht morgen früh auf.«
Schattengebirge
»Könnte mal jemand dieses Gebirge wegräumen, es versperrt mir die Sicht aufs Meer.«
Halbgott U STUR, bei der Gestaltung der Welt.
Der Flutzyklus der Schleusenkammer war gestartet worden. Das Wasser des Stausees strömte in den kleinen Raum und begann, ihn zu füllen. Jedes normale Wesen wäre in Todespanik geraten. Nicht so Uskav. Der Uruk hatte sich in Trance versetzt und beschwor seine Götter. Worte von unheilschwangerem und grausamem Klang entwichen seinen Lippen. Die Beschwörung wirkte. Uskav spürte es daran, dass sein Körper das Wasser verdampfte. Um ihn herum begann es zu Brodeln und Dampfen. Seine Geister waren ihm wohl gesonnen. Die Dämonen des Schattenreiches gewährten ihm, auf ihre Kraft und Stärke zurückzugreifen. Doch noch hatte Uskav nur die Hälfte seiner Aufgabe erfüllte. Der schwierigste Teil stand ihm noch bevor. Noch galt es, die Beschwörung auf Gildofal auszudehnen. Gildofal, der Elb, der ein Werwolf war. Wie hatte er die Elben doch gehasst. Obwohl, Hass war nicht das richtige Wort. Es war kein Hass, der Uskav gegen die Elben trieb. Es war Zwang.
Das erste Mal, dass er spürte, dass er Elben nicht hasste, sondern etwas in ihn dazu zwang, sie zu hassen, war vor ein paar Monaten. Uskav war auf der Flucht. General Uskav war er gewesen. Aber er hatte sich seines Titels entledigt, sich abgesetzt und war geflohen. Er hatte die Wahrheit erfahren. Die Wahrheit darüber, dass die Orks nur Schlachtvieh im Machtspiel der Päpstin waren. Als er Uskav, General des Königs und Meister des Mordes, erfuhr, dass er gezüchtet wurde, nur um in sinnlosen Kriegen gegen seine Brüder anzutreten, war ihm der Sinn seiner Existenz abhanden gekommen.
Doch dann begriff er. Er, Uskav, war ein Lebewesen. Er dachte, er fühlte, er hatte ein Bewusstsein. Das erste Mal in seiner bisherigen Existenz, die er jetzt »sein Leben« nannte, fühlte er er etwas, das er bisher nicht kannte: »Freiheit«. Es war ein berauschendes Gefühl und es veränderte alles. Denn genau zu jenem Zeitpunkt kreuzte ein Elb seinen Weg. Er kannte seinen Namen nicht. Es interessierte ihn auch nicht. Uskavs erster Impuls war, diesen Elb zu erschlagen und, Elbenfleisch ist köstlich, ihn zu verspeisen.
Der Elb war alt, vermutlich schon über zweitausend Jahre alt und wirkte müde. Uskav hatte leichtes Spiel. Er lauerte dem Elb auf, sprang aus seinem Versteck hervor, packte den Elb und… Erschlug ihn nicht. Uskavs stoppte seine Klauen wenige Millimeter vor dem Hals des Elben. Da war etwas in ihm. Uskav spürte es deutlich. Dieser Hass gehörte nicht ihm. Er war zwar in ihm, aber nicht ein Teil von ihm. Etwas Fremdes zwang ihn dazu, diesen Elb zu töten und zu fressen.
»Nein!«, brüllte der Uruk, denn er begriff. Würde er den Elb töten, blieb er der Sklave eines fremden Willens. Aber dieser Ork, dieser Uruk, hatte von der Freiheit gekostet. Er nahm seine ganze Willenstärke zusammen. Nein, ich werde diesen Elb nicht töten. Ich werde frei sein!
Uskav siegte über das Fremde in seinem Geist und ließ den Elb laufen. Es war qualvoll, das Fremde in ihm rebellierte, wollte die Kontrolle über Uskavs Willen zurückerlangen, doch Uskav blieb stark. Er war ein Uruk! Er war stark! Und er war frei!
Daran musste er denken, als er einen Blick auf Gildofal warf. Er wusste, dass seine Beschwörung dem jungen Elben ziemlich zu schaffen machen würde. Elben vertrugen schwarze Magie nicht sonderlich gut. Vermutlich würde er ein paar Tage ohne Besinnung sein, aber das war kein Problem. Er würde es überstehen und Uskav würde ihn beschützen. Er konnte fühlen, wie das Fremde in ihm vor Wut tobte. Es versuchte mit allen Tricks in sein Bewusstsein einzudringen. Es flüsterte ihm verführerische Worte ein, es versuchte, ihn mit qualvollen Schmerzen gefügig zu machen. Doch Uskav widerstand, denn Gildofal war vielleicht der Schlüssel zu seiner Freiheit. Der Schlüssel zur Freiheit seiner Brüder. Dieser Elb war ein Werwolf, ein Lycanthrop, er war ein Wolfsreiter. Wie jeder Ork kannte auch Uskav die Legende vom Wolfsreiter, der den Orks die Freiheit bringen würde. Es war nur eine Legende, doch sollte die Chance noch so klein sein, dass Gildofal dieser Wolfsreiter war, dann musste Uskav ihm helfen. Es war sein Pflicht und er war entschlossen, sie zu erfüllen.
Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Uskav, als er die Beschwörung auf Gildofal richtete. Er empfand Zuneigung zu diesem Elb. Noch nie hatte er ein derartiges Gefühl erlebt. Es war so völlig anders und Furcht einflößend, denn es rief ein sehr anderes, ausgesprochen orkuntypisches, Gefühl hervor: Mitleid. Uskav tat es Leid, dem jungen Elben die Qualen zuzumuten, die die Beschwörung nun einmal mit sich brachte. Doch wollten sie überleben, sollte ihre Flucht erfolgreich sein, musste er es tun.
Mit einer Geste der Macht projizierte Uskav die Beschwörung auf Gildofal. Der Elb brach besinnungslos zusammen. Uskav fing ihn auf und hielt ihn. Die Kammer war mit Wasser gefüllt. Durch die Beschwörung vor dem Druck des Wassers geschützt und mit Lebenskraft versorgt, die ein Atmen überflüssig macht, schwamm Uskav hinaus in den Stausee, Gildofal hinter sich herziehend.
Der Stausee war mehrere hundert Meter tief und gut drei Meilen lang. Ungefähr in der Mitte verlief die Grenze Goldors. Uskav wusste, dass dieser Marsch unter Wasser ihn seine letzten Kräfte kosten würde. Er wusste vorher, dass die Chance zu überleben, eher nicht vorhanden war. Die Beschwörung aufrecht zu erhalten kostete genau so Kraft, wie durch das Wasser zu waten. Hätte er doch nur etwas mehr Zeit gehabt, ihre Flucht zu planen. Wozu war er General gewesen, ausgebildet in Strategie und Taktik. Ziemlich schnell wurde klar, dass über den Grund des Stausees zu laufen, zu anstrengend war.
»Ich muss schwimmen!«, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Schwimmen! Genau in jenem Moment rammte ein monströser Fisch den Uruk. Uskav erschrak. Ein Augenblick der Unkonzentriertheit! Uskav lockerte unwillkürlich den Griff um Gildofals Handgelenk. »Nein!«, schrie Uskav in seinen Gedanken, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und Gildofal fest im Griff. Würde er den Elb loslassen, wäre er verloren. In dieser absoluten Dunkelheit würde er ihn niemals wieder finden können. Die Wirkung der Beschwörung würde irgendwann schwinden und dann…
Der Fisch startete eine weitere Attacke. »Wenn du denkst, ich bin dein Abendessen, hast du noch nie etwas von einem Uruk gehört.«, dachte Uskav. Ein Plan begann sich in seinem Schädel zu formen. Der Fisch, nach der Druckwelle etwa so groß wie Uskav selbst, steuerte erneut auf ihn zu. Uskav war vorbereitet, er wartete. Seine scharfen Uruksinne zeichneten ein Bild des Fisches, wie er auf ihn zukam. Uskav wartete, wartete. Der Fisch schoss auf ihn zu. Der Fisch zielte und griff an, doch Uskav war schneller, er wich aus, wartete, bis der Fisch halb an ihm vorbei war und packte zu. Er krallte sich an seiner Rückenflosse fest. Mit der anderen Pranke hielt er Gildofal. Der Fisch wehrte sich, merkte, dass er vom Angreifer zum Gejagten geworden war. Uskav ließ nicht los. Stattdessen zwang er unter größter Konzentration eine weitere Beschwörung hervor. Er wusste, dass er nun wirklich alles auf eine Karte setzte. Würde diese Beschwörung scheitern, waren er und Gildofal verloren. Seine Kraft würde nicht mehr reichen, sie am Leben zu halten.
Doch die Beschwörung gelang. Uskav zwang dem Fisch seinen Willen auf. Und der bestand darin, sie ans andere Ufer des Stausees und an die Oberfläche zu ziehen. Der Fisch beschleunigte, das Wasser zerrte an Uskav. Dieser Fisch war kräftig. Ein wahres Monster. Mit atemberaubender Geschwindigkeit jagte das ungleiche Gespann durchs Wasser. Uskav spürte, dass sie an Höhe gewannen. Er spürte aber auch, wie seine Kräfte zu schwinden begannen. Müdigkeit ergriff von Uskav Besitz. Mit aller Kraft zwang er dem Fisch die letzten Reserven ab. Es gab einen Ruck und sie schossen mit noch höherer Geschwindigkeit durch das Wasser. Uskav glaubte schon, er würde die Besinnung verlieren und beginnen zu fantasieren, aber der Schimmer, den er sah, existierte tatsächlich. Helle Sonnenstrahlen drangen in das Wasser ein und griffen wie Finger nach der Tiefe.
»Wir müssen es schaffen! Ich muss es schaffen! Ich bin ein Uruk!«, trieb sich Uskav an. Die zwei Beschwörungen zogen und zogen immer mehr Kraft aus dem Ork. Die Augen offen zu halten wurde zu einem Kraftakt. Uskav wusste es. Noch ein paar Sekunden und er würde die Kontrolle verlieren, er spürte, wie sich sein Griff um Gildofals Handgelenk langsam lockerte, wie sich seine andere Pranke vom Fisch löste.
»Ich will frei sein!«, war der letzte Gedanke Uskavs, dann ließ er los. Doch statt zu ertrinken, durchbrach der Fisch im gleichen Moment die Wasseroberfläche. Er schoss mit einer derartigen Gewalt aus dem Wasser hervor, dass Uskav und Gildofal mitgerissen wurden. Es war ein Wunder. Sie hatten das rettende Ufer erreicht. Gildofal und Uskav landeten im Röhricht des Uferstreifens. Sie hatten es überlebt. Sie waren in Sicherheit. Erschöpft zog Uskav Gildofal zu sich heran. Eigentlich war seine ganze Kraft für die Beschwörungen verbraucht worden, doch aus einer unbekannten Ecke seines Körpers mobilisierte Uskav soviel Kraft, dass es ihm gelang, sich und Gildofal auf trockenes Gelände zu schleppen. Dort angekommen, sackte er in sich zusammen und fiel in einen tiefen Schlaf.
Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Als Uskav erwachte, war es Nacht. Er fühlte zwar immer noch die Anstrengungen der Beschwörung, doch war ein Großteil seiner Stärke zurückgekehrt. Ganz im Gegenteil zu Gildofal, der bewusstlos vor ihm lag. Uskav nahm seine Hand und fühlte seinen Puls. Stark und gleichmäßig. Gildofal lebte, würde aber noch eine Weile außer Gefecht sein.
»Sucht dort am Land!« Verschiedene Stimmen und die Lichter von mehreren Suchscheinwerfern alarmierten Uskav. Die Goldorianer wollten offensichtlich auf Nummer sicher gehen, dass nicht doch jemand aus ihrem Land geflohen war. Obwohl dieser Teil außerhalb Goldors lag, waren sie dabei, das Ufer abzusuchen. Uskav wusste: wollten er und Gildofal nicht entdeckt werden, musste er fliehen. Vorsichtig hob er den besinnungslosen Elb auf und legte ihn sich über die Schulter. Gildofal war leicht wie eine Feder. Mit flinken Schritten und keinerlei Geräusch sprang Uskav davon, weg vom Stausee in Richtung des Gebirges.
Der Fuß des Gebirgsmassivs war nach wenigen Minuten erreicht. Das Gelände stieg sehr schnell sehr steil an. Schon bald musste Uskav klettern. Immerhin blieben die Verfolger zurück. Vermutlich dachte niemand wirklich ernsthaft daran, dass jemand vom Fuße eines Staubeckens fliehen könnte. Außerdem gab es nicht wirklich einen Grund, in Richtung Gebirge zu fliehen, da es als unerklimmbar galt.
Es galt als unerklimmbar, war es aber nicht. Als General war Uskav im Besitz geheimer Landkarten gewesen. Es gab einen geheimen Pfad, der zu einem verborgenen Pass führte und von Zeit zu Zeit von Spähern genutzt wurde. Diesen Pfad wollte der Uruk einschlagen. Er wusste ganz genau, nach welcher Felsformation er Ausschau halten musste, um den Anfang des Weges zu finden. Es war zwar Nacht, für einen Ork, insbesondere einen Uruk, aber hell genug, so dass er alles sehen konnte, was er wollte. Trotzdem brauchte es dann doch eine Weile, bis Uskav den Anfangspunkt des Pfades zum Gebirgspass entdeckte. Denn obwohl Gildofal kaum als schwer bezeichnet werden konnte, lenkte so ein Elb auf der Schulter doch ein wenig ab.
Uskav war beeindruckt. Der Pfad zum Gebirgspass war künstlich angelegt worden. Seine Baumeister mussten weniger einen bequemen als vielmehr ein heimlicher Aufstieg im Sinn gehabt hat. Der Weg verlief überwiegend in tiefen Einschnitten, die so geschickt in den Berg geschnitten waren, dass sie wie natürliche Spalten aussahen. Von Zeit zu Zeit gab es von Felsen überdeckte Nischen, in denen man Rast machen konnte. Das war auch bitter notwendig. Uskav empfand den Aufstieg als anstrengend und er war immerhin ein Uruk. Die in den Stein gehauenen Stufen waren häufig schmal und verwittert. Ein falscher Tritt und man stürzten unweigerlich in den Tod.
Der Uruk schätzte, dass er ungefähr die Hälfte des Weges hinauf zum Pass geschafft hatte, als er sich erstmals eine kurze Pause gönnte. Vorsichtig legte er Gildofal in die Windgeschützteste Ecke einer Rastnische. »Die Beschwörung hat dich richtig umgehauen, was Kleiner?«, dachte Uskav bei sich und setzte sich ebenfalls und sah sich um. Wieder zeigte sich die Genialität der Erbauer dieses Pfades. Während der Weg vor Einblicken geschützt war, gab es in der Rastnische einen Vorsprung, von dem man aus das gesamte Tal einschließlich des Stausees überblicken konnte. Und wie es aussah, war die Gefahr verfolgt zu werden, soeben gesunken. Die Grenzsoldaten Goldors waren gerade dabei, ihr Boot wieder am kleinen Anleger der Wachstation auf goldorianischer Seite zu vertäuen. Die Suchscheinwerfer, die vorher den See abgeleuchtet hatten, wurden wieder ausgeschaltet. Zurück blieb nur das monotone Aufflammen der Grenzwarnlinie, die, über Bojen mit Sendemasten, auch den Stausee kreuzte. Nach und nach kehrte Ruhe am Stausee ein.
Verpflegung– Dieser Gedanke durchzuckte Uskavs Gehirn und riss ihn aus seiner starren Beobachtungshaltung. Der Ork griff nach seinem Rucksack, den er sich fest auf den Rücken geschnallt hatte, und öffnete ihn. Er hatte es befürchtet. Der Sack hatte den See zwar überstanden, aber über die Hälfte seiner Vorräte war durch das Wasser zerstört worden. Nur die in Schutzfolien eingeschweißte Nahrung hatte überlebt. Das hieß, den Gürtel enger schnallen, doch war der Verlust der Nahrung nicht das Hauptproblem. Das lautete Wasser. Zwei Wochen ohne zu Essen hätte Uskav locker überstanden, aber ohne Wasser zu sein, machte die Flucht deutlich kniffliger.
»Mal sehen, was du in deinem Beutel hast?«, murmelte Uskav in sich hinein und nahm Gildofal dessen Rucksack ganz vorsichtig ab. Zu seiner größten Überraschung war dessen Inhalt vollkommen trocken. Dafür fühlte sich das Material des Sacks unangenehm an, es brannte leicht unter Uskavs Fingern. »Elbenmagie! Selbst vor solch einfachen Dingen, wie einem Rucksack, soll ich mich ekeln.«, stellte der Ork nüchtern fest, als er begriff, dass man ihm auch gegen simple Elbenstoffe eine Aversion eingepflanzt hatte. Aus dem gleichen Grund nahm er die Lembas aus Gildofals Gepäck gleichgültig zur Kenntnis, er würde sie nicht essen können. Erst als Uskav die letzten Teile aus Gildofals Rucksack herausnahm, erhellte sich seine Mine: Selbstvollsaugende, filternde Wasserschläuche. Sie würde nicht lange reichen, aber mit ihnen würde Uskav weiter kommen, als ohne. Ohne auf seine Müdigkeit zu achten, kletterte der Ork den Berg wieder hinab. Ohne Gepäck und Gildofal auf der Schulter kam er gut voran, was aber nicht hieß, dass es ihn nicht anstrengte. Nach zwei Stunden Marsch hatte er den Fuß des Berges erreicht und schlich zum See, damit sich die Schläuche voll saugen konnten. Uskav nutzte die Gelegenheit und stillte ebenfalls seinen Durst. Der erneute Aufstieg dauerte dann über vier Stunden. Der Uruk musste sich eingestehen, dass er seit fast 36 Stunden nicht geschlafen hatte. Hinzu kamen die Beschwörungen. Als Uskav die Nische mit Gildofal erreichte, brach er zusammen und schlief neben dem Elb vollkommen erschöpft ein.
Als Uskav erwachte, war die Sonne gerade dabei, weit im Westen unterzugehen. Er hatte den kompletten Tag verschlafen. Müde, aber kräftiger, setzte er sich auf. Sein erster Blick galt Gildofal. Er stupste ihn vorsichtig an und tatsächlich, der Elb öffnete die Augen.
»Welcher Dämon hat mich nur überrannt. Ich habe Kopfschmerzen, sämtliche Knochen tun mir weh und ich kann mich nicht bewegen.«, meinte der Elb matt.
Uskav grinste: »Das wird schon wieder. Du lebst, das ist das Wichtigste. Trink!«
Gildofal kannte seinen Uruk inzwischen gut genug, dass er wusste, dass man mit ihm nicht diskutierte. Als Uskav ihm den Schlauch hinhielt, trank er mit kleinen Schlucken. Das Wasser tat ihm gut. Die Kopfschmerzen wurden schwächer, wenn sie auch nicht verschwanden.
»Wir müssen weiter!«, verkündete Uskav schließlich und packte seine Sachen zusammen. Selbst die durch das Wasser unbrauchbar gewordenen Sachen verstaute er in seinem Rucksack. Er konnte nicht riskieren, die Sachen in der Nische zu lassen. Eine Windböe könnte sie aufwirbeln und ins Tal befördern. Ihre Verfolger würden sofort wissen, dass sie noch am Leben waren und die Jagd von neuem beginnen.
Gildofal war erstaunt, mit welcher Leichtigkeit Uskav ihn sich auf die Schulter legte. Noch erstaunter war er, als er sah, wo sie sich bereits befanden: »Hast du mich den ganzen Weg getragen?«
»Ja, natürlich!«, war die knappe Antwort.
»Wie kann ich dir nur jemals danken. Uskav, ich stehe in deiner Schuld.«
»Nein, ich stehe in deiner. Du hast mir die Freiheit gezeigt.«
Mit jenen Worten setzte sich Uskav in Bewegung. Stunde um Stunde verging, in der sie dem Pass immer näher kamen. Mit jedem Meter, den sie an Höhe gewannen, wurde es kälter und der Wind stärker. Der Einschnitt im Berg war ein Kamin, in dem es kräftig zog. Erst kurz vor Sonnenaufgang erreichten sie ihr Ziel, den Pass übers Schattengebirge. Eigentlich war es kein richtiger Pass, vielmehr eine Klamm, die sich tief in den Berg einschnitt. An ihrem Ende gab es weitere Stufen, die zu einer verwinkelten Schlucht quer durch den Gebirgskamm führten. Die Sonne stand hoch im Zenit, als sie den Anfang dieser Schlucht erreichten. Uskav entschied, dass sie eine Pause machen sollten. Die Schlucht würde gefährlich sein. Sie mussten ruhen, um sie sicher zu durchqueren. Doch vorher sollten sie sich noch stärken. Uskav packte eines der Lembasbrote aus und gab es Gildofal zusammen mit etwas Wasser zu essen. Sich selbst gönnte er nichts, bis auf ein paar Schlucke Wasser. Gestärkt und erfrischt, breitete Uskav Gildofal ein kleines Kopfkissen aus Moos und legte sich anschließend hin: »Schlaf jetzt. Der Weg morgen wird anstrengend.«
Noch während sich Gildofal über den Uruk wunderte, war er bereits eingeschlafen. Sein Schlaf war unruhig. Die Monsterfratzen der Dämonen aus Uskavs Beschwörung spukten immer noch in seinem Kopf umher. Doch mit der Zeit verblassten auch dieser Schrecken und Gildofals Schlaf wurde tief und erholsam.
Am nächsten Tag erwachte Gildofal durch das Geräusch plätschernden Wassers. Zu seiner Verblüffung konnte er seinen Kopf bewegen und, unter größter Anstrengung, seine Arme und Hände. An Laufen war allerdings beim besten Willen nicht zu denken. »Wasser?«
»Es hat heute Nacht im Gebirge geregnet oder es ist Tau, der sich an den Felsen niedergeschlagen hat. Es gibt ein kleines Rinnsaal, das von einem Felsvorsprung herabregnet, ich konnte unsere Schläuche füllen. Wir sollten trinken und sie danach noch mal füllen. Danach brechen wir auf.«
Und genau so geschah es. Eine Stunde später kletterte Uskav mit Gildofal über seiner Schulter durch die Passschlucht des Schattengebirges. Zu beiden Seiten türmten sich hunderte Meter hohe Felswände auf. Alles wirkte bedrohlich, denn es war sehr dunkel, da die Sonne nicht vermochte, in die Tiefen des Einschnitts vorzudringen. Streckenweise war die Schlucht nur wenige Meter breit. Dann war es noch dunkler und auch gefährlicher, da man die Spalten im Boden nicht sehen konnte, die den Weg von Zeit zu Zeit kreuzten. Wie tief diese Spalten waren, vermochte niemand zu sagen. Man wusste nur, dass niemand jemals wieder gesehen wurde, der in sie hineingestürzt war.
Es verging abermals ein ganzer Tag, bis sie endlich die Schlucht hinter sich gelassen hatten. Das Ende kam völlig abrupt. Uskav bog um eine Kehre und plötzlich war da nichts mehr. Keine Felswände rechts und links, sondern nur noch eine weite, von der Sonne hell erleuchtete Ebene. Es war das Ödland von Erudor. Als Gildofal es erblickt, sank seine Stimmung auf den Nullpunkt. Das Ödland war genau das, was der Name sagte. Wohin das Auge reichte, sah man nichts, außer einer kahlen, felsigen und trostlosen Landschaft. Es gab keine Erhebungen, keine Hügel, keine Berge, es gab nichts, außer Sand und Steinen.
»Da sollen wir lang?«, fragte der Elb ängstlich.
Uskav nickte nachdenklich: »Es ist der einzige Weg.«
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Das Ödland von Erudor machte seinem Namen alle Ehre. So angestrengt Gildofal auch schaute, vor ihnen lag nichts als Stein, Fels und Sand. Es gab keine Erhebungen, keinen Baum und keinen Strauch. Selbst Tiere mieden diesen lebensfeindlichen Flecken. Uskav und Gildofal hatten das Ende der Schlucht am späten Nachmittag erreicht. Und obwohl die Sonne noch hell über der Ebene stand, blies ihnen ein eiskalter Wind entgegen. Im Tal vor dem Schattengebirge, aber insbesondere im Reservat, spürte man wenig vom anbrechenden Winter. Die Tage waren noch recht mild gewesen und selbst die Nächte waren bisher frostfrei. Die Hochebene des Ödlands von Erudor hatte der Winter hingegen bereits fest im Griff. Durch kein Gebirge aufgehalten war die Bahn frei. Eine Kaltfront nach der anderen brachte polare Eisluft heran. Bereits nach wenigen Minuten brannten Gildofas Augen. Die Kälte biss in seiner Nase und seinen Ohren. Seine Hände fühlten sich wie unter hunderten Nadelstichen an.
»Wir warten bis Morgen früh«, meinte Uskav und trug Gildofal zurück in die Schlucht. Hier waren die beiden vor dem Wind geschützt, nicht aber vor den unangenehmen Gedanken, die sie beim Anblick der Ebene beschlichen hatten. Uskav und Gildofal wussten, dass ihre Chancen so gut wie bei Null lagen, die Ebene lebend zu durchqueren. Doch keiner wagte, etwas zu sagen. Das Problem war das Wasser. Gildofal hatte für diesen Streckenabschnitt mit drei Tagen gerechnet und entsprechend viele Wasserschläuche mitgenommen. Doch seine Planung war in mehrfacher Hinsicht fehlerhaft. Erst einmal war er von einem Klima wie im Reservat ausgegangen. Doch ein Marsch bei eisiger Kälte dauert wesentlich länger, als bei milden Temperaturen. Statt mit drei Tagen rechnete Gildofal nun eher mit fünf oder sechs. Die Wasserschläuche reichten bestenfalls für vier Tage und dies auch nur für ihn allein. Und was war mit Uskav? Hinzu kam das Problem, dass sich Gildofals Körper immer noch von Uskavs Beschwörung erholte. Er vermutete zwar, dass er am nächsten Tag wieder selbst laufen könnte, aber vermutlich noch nicht mit voller Geschwindigkeit und über den ganzen Tag. Uskav würde natürlich keine Sekunde zögern, Gildofal wieder zu tragen, aber das machte den Ork langsamer und strengte ihn an. Die Lage sah nicht sonderlich rosig aus.
Am nächsten Morgen brachen der Elb und der Ork beim ersten Sonnenstrahl und einem scharfen eisigen Wind auf. Gildofal konnte tatsächlich laufen, obwohl stolpern es eher beschrieb. Das Terrain war schwieriger, als sie vermutet hatten, da die Ebene an vielen Stellen die reinste Geröllfläche war. Normales Laufen war so gut wie unmöglich. Trotzdem schleppten sie sich voran. Langsam und stetig schrumpfte die Gebirgsformation hinter ihnen zusammen.
Die Qualen, die der Untergrund und der Wind verursachten, hielten bis zum Mittag an. Als die Sonne am Höchsten stand, stoppte Uskav und meinte, sie sollten eine Pause machen und etwas trinken. Trinken! Was für ein Wort. Gildofal führte einen Wasserschlauch an seine Lippen und wollte gerade trinken, als Uskav ihn unsanft stoppte.
»Warte!«, schrie der Ork, sprang heran und entriss Gildofal den Schlauch, »Deine Lippen sind vom Wind aufgeplatzt und ausgetrocknet. Sei ganz vorsichtig, wenn du trinkst. Nimm kleine Schlucke!«
Gildofal war sprachlos. Hätte der Ork ihn nicht gewarnt, er hätte sich das Wasser über die Lippen in den Mund laufen lassen, vor Schmerz aufgebrüllt und den Schlauch fallen lassen. Das kostbare Wasser wäre verloren gewesen.
Gildofal nickte, worauf ihm der Uruk den Schlauch zurückgab. Vorsichtig nahm der Elb einen Schluck Wasser. Uskav hatte Recht, es brannte wie Feuer. Der Luft war nicht nur eisig, sie war extrem trocken. Die Haut von Gildofals Händen war weiß vor Trockenheit. Seine Augen brannten und erst der Schluck Wasser zeigte, wie trocken und rau seine Kehle war. Nie und nimmer würden sie mit dem Wasser auskommen. Es war der Wind. Er schien permanent zu wehen und dabei überall herein zu kriechen. Er kroch am Hals, an den Bündchen der Kleidung, einfach überall kroch der kalte Wind hinein.
»Ich werde dich wieder tragen!«, verkündete Uskav. Er wartete gar nicht erst Gildofals Einverständnis ab, sondern packte ihn sich einfach wieder auf seine Schulter und stiefelte los. Für den Elb war es eine Erholung. Er merkte, wie müde er war. Der Marsch hatte ihn sehr angestrengt. Ohne es zu wollen, döste Gildofal auf Uskavs Schulter ein.
Als er wieder erwachte, war es Abend geworden. Er lag in einer Kuhle. Der alles beherrschende Wind war weg. Neben ihm saß Uskav und betrachtete sein Datenpad, das das Wasser des Stausees erstaunlicherweise überstanden hatte. Der Ork nickte Gildofal zu: »Wir haben ein gutes Stück Weg geschafft. Vielleicht überleben wir es doch noch. Wenn wir weiter so gut vorankommen, sind wir in weiteren drei Tagen durch.«
Gildofal sah sich um. Die Kuhle, in der er lag und Uskav hockte, war nicht natürlich. Uskav hatte einen Ringwall um sie herum aufgeschichtet. Er hatte alle Steine und kleineren Felsen aus der Mitte eines Kreises herausbefördert. Der Wind wehte immer noch, nur dass er nun über sie hinwegwehte.
»Wir sollten jetzt schlafen. Du solltest versuchen, dich in einen Wolf verwandeln. Dein Fell wird dich wärmer halten, als deine Kleidung.«
»Du hast Recht. Danke.«
Uskav nickte freundlich und rollte sich in einer Ecke der Kuhle zusammen. Gildofal tat, was man ihm geraten hatte; er verwandelte sich in einen Wolf. Uskav hatte Recht, das Fell war deutlich wärmer. Eng zusammengerollt schlief Gildofal ein.
Der nächste Tag begann viel versprechend. Der Wind war vollkommen eingeschlafen. Die Wintersonne erhellte nicht nur die Landschaft, sondern auch die Stimmung. Nach gut einer Stunde Marsch, Gildofal stellte dabei fest, dass er als Werwolf deutlich besser laufen konnte, als Elb, wandelte sich die Landschaft. Das Geröll nahm ab, zurück blieb ein fester, sandiger Boden. Uskav und Gildofal kamen besser und schneller voran, als sie insgeheim befürchtet hatten. Ein Funken von Hoffnung keimte auf.
Doch es war nur ein Funken, ein trügerischer Funken. So windstill, wie der letzte Tag war, so stürmisch wurde der nächste. Ein schneidender, eisiger Wind fegte mit orkanhafter Stärke über die Ebene und wirbelte dabei Sand und kleine Steine auf, die in seinem Weg lagen. Die Sicht war gleich Null. Zusammen mit der Gefahr, von einem Stein erschlagen zu werden, war ein Weitergehen unmöglich geworden. Wenn nicht noch ein Wunder geschah, war das ungleiche Paar gescheitert.
In diesem Bewusstsein blieben Uskav und Gildofal den ganzen Tag zusammengekauert hocken. Dabei konnten sie noch nicht einmal einen schützenden Steinwall errichten. Es gab keine Steine. Ob es ihnen gefiel oder nicht, sie mussten den Orkan abwarten. Als Uruk war Uskav ein wahres Monster, eine Naturgewalt aus Muskeln, Sehnen und Knochen. Er war nicht nur ein Krieger, er war der Inbegriff des Kriegers. Doch selbst diesem Felsen setzte der eisige Wind zu, dass ihm keine Wahl blieb. Er musste etwas tun, wenn er und Gildofal nicht erfrieren wollten. Er musste eine weitere Beschwörung wagen, dabei fühlte er sich immer noch von seiner letzten geschwächt. Beschwörungen waren anders, als etwas mit Muskelkraft zu bewegen. Körperlich zu arbeiten stellte Uskav vor keine Probleme. Die Erschöpfung durch eine Beschwörung hielt lange an, meistens mehrere Tage. Doch er hatte keine Wahl. Uskav hockte sich hin, schloss seine Augen, konzentrierte sich und begann Worte in einer für Gildofal grausamen Sprache zu murmeln. Eine Weile passierte nichts, doch dann glühte ein blutroter Nebel um Uskav herum auf. Der Nebel war wie ein Schild. Der umher gewirbelte Sand prallte von ihm ab und flog um Uskav herum. Ohne mit dem Murmeln aufzuhören, öffnete der Uruk seine Augen und deutete Gildofal, zu ihm zu kommen. Der Elb hatte sich bereits als Schutz vor der Kälte in seine Werwolfform verwandelt. Er trottete heran. Kaum hatte er den Nebel um Uskav passiert, wurde ihm warm, fast heiß. Es war eine seltsame Hitze, und ein seltsamer Geruch, wie von Schwefel, lag in der Luft. Es war, als wenn die Hitze direkt aus der Hölle kam. Aber es war egal, solange Uskav sich konzentrieren konnte, würden sie vor der Kälte geschützt sein.
Der Sturm hielt fast den ganzen Tag an. Uskav hockte zusammengekauert am Boden und murmelte immer und immer wieder die Beschwörungsformel. Gildofal ahnte, dass es dem Uruk seine letzten Kräfte rauben würde und befürchtete, dass es womöglich zum Äußersten kommen könnte. Doch selbst wenn sie diesen Sturm überstehen würden, wären sie kein Stück weitergekommen. Sie hockten in einer lebensfeindlichen Wüste fest. Ihr Wasser reichte bestenfalls noch für zwei große Schlucke, dann waren ihre Vorräte erschöpft.
Als wenn die Welt mit ihnen ein zynisches Spiel trieb, ließ der Wind gegen Abend nach. Nach einer halben Stunde wurde es vollkommen windstill. Uskav stoppte seine Beschwörung, der rot glühende Nebel verlosch. Gildofal sprang auf seine vier Beine. Etwas stimmte nicht. Uskavs Augen waren geschlossen.
»Es tut mir leid, mein elbischer Freund, aber ich kann dir nicht mehr helfen.«, flüsterte Uskav. Seine Stimme stockte.
»Nein, Uskav, das kannst du mir nicht antun! «, Gildofal fehlten die Worte. Dieser Uruk war bereit, alles für ihn zu opfern. Er hatte ihm zum wiederholten Mal das Leben gerettet. So durfte es nicht enden.
»Ich kann mich nicht bewegen. Ich muss mich ausruhen. Doch wir können uns nicht ausruhen. Bevor ich mich wieder bewegen kann, sind wir verdurstet. Nimm das restliche Wasser und rette dich. Rette meine Brüder.«
Mit diesen Worten fiel Uskav in eine tiefe Besinnungslosigkeit. Gildofal heulte. Trotz seines trockenen, rauen Halses und den Schmerzen, die er verursachte, heulte Gildofal auf, wie es nur ein Wolf konnte. Seine Stimme war kräftig und laut. Sie erhob sich in die Lüfte. Eine Laune des Wetters sorgte dafür, dass Gildofals Wolfsgeheul von ein paar Luftschichten eingefangen wurden, die sie weit, viel weiter als eigentlich üblich, über die Einöde trugen.
»Hast du das gehört?«, Gilfea war sich nicht sicher, aber er hatte den Eindruck, aus weiter Ferne das Heulen eines Wolfes gehört zu haben. Sein erster Impuls war es, das Geheul als eine abstruse Macke der Einöde abzutun. Dieser Landstrich konnte einen schon foppen und die Sinne verwirren. Doch irgendetwas in der Stimme dieses Wolfes sagten Gilfea, dass sie von einem Lebewesen stammte. Um genau zu sein, von einem empfindenden vernunftbegabten Wesen. Das Heulen klang wie ein Klagelaut.
»Ja, ich habe es auch gehört. Es kommt aus dem Süden.«, Mithval war gerade dabei, über der Hochebene von Erudor zu fliegen, um seine Flügel wieder geschmeidig zu machen. Den ganzen Tag über hatte ein eiskalter Sturm die kleine Gruppe Drachen und ihre Reiter dazu gezwungen, zusammengekauert am Boden zu hocken. Die Drachen hatten ihre Flügel über ihre Reiter ausgebreitet und sie vor der Kälte geschützt, ab und an spie jeder Drache ein kleines Flammenwölkchen, um etwas Wärme zu produzieren.
Die Gruppe der Reiter und Drachen waren Thonfilas mit Lindor, Roderick mit Caransil und natürlich Gilfea mit Mithval. Seit fünf Tagen waren sie auf der Suche nach dem mutmaßlichen Mörder von Victor zu Lebelfallas. Sie waren heimlich bis ins Elbenreservat von Goldor vorgedrungen, doch war die Spur dort schon alt. Der Elb, den sie suchten, war bereits fort. Roderick, der sich als Neovikinger relativ frei und unauffällig im Königreich bewegen konnte, erfuhr, dass der gesuchte Elb in Richtung Gebirge geflohen sein solle. Aber das sei im Moment nicht mehr wichtig, da man sich schließlich auf einen Krieg mit Harrasland vorbereiten würde. Diese Vorbereitung war es auch, die die weitere Suche schwieriger machte. Der Luftraum über Goldor wurde plötzlich stärker überwacht. Die Drachen mussten schon sehr geschickt manövrieren, um den Suchstrahlen, die den Himmel fächerförmig beobachteten, auszuweichen.
Die Spur drohte kalt zu werden, bis die drei durch Zufall einen Bericht in den Nachrichten sahen, dass der Mörder Lebelfallas, der Elb und Terrorist Gildofal, bei einem Fluchtversuch durch den Stausee am Schattengebirge umgekommen sei. Damit war die Suche nach dem Mörder gescheitert. Es gab keinen Grund, weiter im für Drachen gefährlichen Goldor zu bleiben. Die drei Drachenreiterpaare brachen auf. Bevor sie zwischen den Welten flogen, wollten sie noch etwas Abstand zu Goldor bekommen. Der Übergang konnte angemessen werden und die sechs Freunde wollten keine schlafenden Hunde wecken.
Über der Einöde von Erudor zwang dann ein Eisorkan die Drachen zu Boden. Fliegen war unmöglich.
»Wacht auf!«, rief Gilfea. Er lag zusammen mit den Freunden Thonfilas und Roderick in einem Zelt, das sie nach dem Sturm aufgebaut hatten. Die Drachen sollten sich erholen. Man wollte erst am nächsten Morgen fliegen.
»Was ist denn?«, murmelte Roderick müde.
»Hörst du das?«, flüsterte Gilfea. Roderick, Gilfea und der ebenfalls erwachte Thonfilas lauschten. Einen Moment war es still, doch dann hörten sie es, das Heulen eines Wolfes. Die drei Freunde schauten sich an. Jeder fühlte den Schmerz in der Stimme dieses Wolfes.
»Ich weiß nicht, aber da stimmt etwas nicht. Ich habe noch nie einen Wolf gehört, der so heult. Es klingt eher wie ein Mensch, der weint.«, meinte Roderick, »Wir sollten nachsehen!«
Man überlegte, was man mit dem Lager machen sollte und entschied, dass es reichte, wenn man nur zu zweit auf die Suche gehen würde. Thonfilas blieb beim Lager. Als Roderick und Gilfea das Zelt verließen, warteten ihre beiden Drachen schon abflugbereit und ungeduldig vor der Tür. Sekunden später waren die Drachen mit ihren Reitern in der Luft. Es war zwar schon dunkel und der Vollmond von Wolken verhangen, aber die Drachen konnten auch bei Dunkelheit vorzüglich sehen. Caransil und Mithval schraubten sich hoch in die Luft und begannen dann, systematisch über der Einöde zu kreisen.
»Dort vorne ist etwas!«, machte sich Mithval in den Köpfen der Freunde bemerkbar. Wenig später klang Mithvals Stimme ein wenig hysterisch:»Ähm, Leute, ihr werdet mir nicht glauben, was ich da sehe!«
»Oh, ja«, kicherte Caransil.
Roderick war zu Gilfea aufgeschlossen und warf ihm einen fragenden Blick zu, doch der zuckte nur mit seinen Schultern. Die Drachen sagten auch nichts wirklich Hilfreiches.
»Jungs, lasst euch einfach überraschen!«, meinte Mithval und setzte zusammen mit Caransil zur Landung an.
Feinde?
»Gewöhnungsbedürftig, ausgesprochen gewöhnungsbedürftig!«
T HONFILAS Antwort als man ihn auf U SKAVS Ernährungsgewohnheiten ansprach.
Man sollte Drachen wirklich niemals unterschätzen. Wenn Mithval meinte, man würde nicht glauben, was man zu sehen bekommen würde, dann sollte man dies auch glauben. Kaum waren Roderick und Gilfea von ihren Drachen gesprungen, präsentierte sich ihnen ein Bild, das beide Männer für eine optische Täuschung hielten. Nur half auch mehrfaches ungläubiges Blinzeln nichts. Das Bild wollte sich einfach nicht ändern. Vor ihnen hockte ein verstörter, ängstlicher Elb mit Tränen verquollenen Augen und ein in sich zusammengesackter Ork, oder genauer, ein Uruk. Von einem Wolf war nichts zu sehen.
Als Neovikinger war Roderick ein erfahrener Kämpfer und hatte die Situation für sich sofort analysiert. Blitzschnell hatte er sein Schwert gezogen und stürzte nun auf den Ork zu.
»Keine Angst«, schrie Roderick, »dieses Mistvieh wird dich nicht mehr bedrohen«
Gilfeas Augen waren starr auf den Uruk ausgerichtet. Ihm kam nur ein Gedanke in den Sinn: »Nur ein toter Ork ist ein guter Ork!« Er war wie gelähmt. Der Anblick des Orks brachte die Erinnerung an das Ende seines Dorfes und den Tod seiner Freunde wieder hoch. Hass quoll in ihm auf. Mit einer eisigen Stimme, die ihn selbst überraschte, schrie Gilfea: »Töte ihn! Töte ihn jetzt!«
»Tstststs…«, machte sich Mithval ausgesprochen irritierend bemerkbar.
»Nein!«, schrie plötzlich der Elb flehend und sprang Roderick in den Weg, um sich schützend vor den Uruk zu stellen, »Ihr dürft ihn nicht töten! Ich verdanke ihm mein Leben!«
»Geh aus dem Weg und lass mich meine Arbeit machen!«, entgegnete Roderick und hob drohend sein Schwert.
»Niemals! Vorher musst du mich töten, aber so leicht werde ich es dir nicht machen!«, entgegnete der Elb.
Roderick lachte verächtlich. Womit wollte ihn der Elb bedrohen? Der Typ war unbewaffnet. Doch da hatte sich Roderick zu früh gefreut. In weniger als zwei Augenblicken hatte sich der Elb in einen riesigen Werwolf verwandelt. Er stand auf zwei Beinen, die Zähne fletschend bereit zum Sprung. Roderick wich vor Schreck zurück.
»Diesen Uruk rührt niemand an!«, knurrte der Werwolf und ließ sich auf alle vier Pfoten fallen. Knurrend und lauernd verfolgte er jede Bewegung Rodericks. Der Elb (Oder war er ein Wolf?) meinte es absolut ernst.
Gilfea schüttelte seinen Kopf, um klar zu sehen. Wer hatte jemals von einem Elb gehört, der sich in einen Wolf verwandeln konnte, und einen Ork beschützt? Gegen allen Ekel und Hass, den er gegen den Uruk hegte, hatte Gilfea das Gefühl, dass mehr an der Geschichte dran war, als man auf den ersten Blick sah.
»Roderick, nicht!«, plötzlich erinnerte sich Gilfea daran, dass Mithval darauf bestand, dass sie beide mit auf diese Suche gingen. Eine Frage formte sich in Gilfeas Bewusstsein: »Bist du Gildofal, der Mörder Victor zu Lebelfallas?«
Der Elbwolf bellte wütend und schaute Gilfea scharf an, um schließlich in normaler Sprache zu sagen: »Ich bin Gildofal, aber ich bin nicht Lebelfallas Mörder!«
»Steck dein Schwert weg!«, meinte Gilfea zu Roderick, »Ich fühle, dass die Sache komplizierter ist, als sie aussieht. Einen oder beide zu töten könnte ein Fehler sein, den wir bitter bereuen könnten. Wir müssen sie zu Turondur und Toldin bringen. Über ihr Leben kann nur der Rat entscheiden. Meinst du, wir bekommen den Ork sicher verstaut?«
»In Caransils Klauen wird er sich dreimal überlegen, Unsinn zu machen!«
»Ihr seid unsere Gefangenen!«, meinte Gilfea zu Gildofal, »Ich schlage vor, wir machen uns das Leben gegenseitig nicht unnötig schwer. Ihr benehmt euch und wir werden euch nicht umbringen! Ist das soweit klar?«
Der Wolf hatte sich wieder in einen Elben verwandelt: »Sonnenklar, nur völlig überflüssig! Was denkst du eigentlich, was wir hier treiben? Glaubst du, ihr könntet uns mit dem Tod drohen? Vor eurem Auftauchen waren wir so gut wie tot. Wir haben kein Wasser mehr und keine Nahrung. Der Eissturm hat Uskav seine letzten Kräfte geraubt, nur um mein Leben zu schützen. Er wollte, dass ich das letzte Wasser nehme und fliehe. Aber ich konnte es nicht! Ich verdanke diesem Ork mein Leben. Ich wäre bei ihm geblieben und mit ihm gestorben. Also, bitte, kommt mir nicht mit der Drohung, uns zu töten!«
»Uskav? General Uskav?«, flüsterte Roderick und wurde kreidebleich, was aber in der Dunkelheit des Abends nicht richtig zur Geltung kam, »Der Meister des Mordes. Der oberste Orkgeneral des Königs!«
»Momentan wohl eher: >Uskav, der Besinnungslose<«, bemerkte Caransil trocken,»Lass uns die beiden mitnehmen und hier abhauen.«
»Endlich mal ein vernünftiger Vorschlag.«, gab dann auch noch Mithval seinen Senf dazu.
»Du, Hundchen, kommst mit mir!«, Gilfea zeigte auf Gildofal, »Und ich rate dir, auf keine dummen Ideen zu kommen. Vom Drachen zu fallen wird dir bestimmt nicht gefallen.«
»Bin ich etwa dein Gefangener?«, fragte Gildofal, wobei er seinen aufkeimenden Ärger kaum verbarg. Die Drachenreiter von Daelbar hatte er sich anders vorgestellt; wesentlich freundlicher, gütiger und nicht so kriegerisch.
»Nein!«, entgegnete Gilfea trocken, »Du kannst gerne hier bleiben.«
Gildofal wollte etwas entgegnen, entschied sich aber dann doch dagegen. Wenn er hier blieb, war er tot. Wenn er mit diesem arroganten Drachenreiter mitging, würde er vorerst am Leben bleiben. Die Wahl zwischen diesen beiden Alternativen war eigentlich recht einfach. Mürrisch trottete Gildofal hinter Gilfea her.
»Klettere da rauf und setz dich in den vorderen Sattel!«, forderte Gilfea Gildofal auf. Letzterer erschrak, als der plötzlich vor Mithval stand. In der Dunkelheit waren die Drachen schwer zu erkennen gewesen, außerdem war der Vollmond von Wolken verdeckt. Doch gerade als Roderick, Gilfea und Gildofal die wartenden Drachen erreichten, brach die Wolkendecke auf, das Mondlicht fiel auf die Schuppen Mithvals, das Mithril, dass am Tage verdeckt und verborgen war, nahm das Mondlicht auf, brach es und ließ plötzlich Mithval in einem magischen, überirdisch silbernen Schimmer erstrahlen. Jede Schuppenkante war ein silbern weiß strahlendes Band, das, wenn man es genau betrachtete, in den Farben des Regenbogens schillerte. Elben lieben den Mond und sein Licht. Als Gildofal nun Mithval in seiner ganzen Pracht erblicke, blieb er vor Schreck angewurzelt stehen. Selbst Roderick und Gilfea blieben stehen und staunten.
Mit weit aufgerissenen Augen sah Gildofal Mithval an und sprach, »Aran Galadrisil!«, während Tränen in seinen Augen standen.
Zu Gilfeas Überraschung neigte Mithval seinen Kopf zu Gildofal herunter und sah ihn ernst und mit einem Ausdruck an, den er bei keinem Wesen zuvor jemals beobachtet hatte. Er konnte es nicht richtig beschreiben. Königlich beschrieb es zwar noch am Besten, reichte aber bei weitem nicht aus, um die wahre Erhabenheit dieses Drachens zu beschreiben. »Ich danke dir Gildofal. Es tut gut, die alte Sprache zu hören. Doch verneige ich mich vor dir Gwae Mith’Raca«
Gildofal blieb vor Schreck die Sprache weg. Der Drache hatte zu ihm gesprochen. Seine Stimme war beeindruckend, irden, kräftig, warm und auch fruchtig, voller Güte und Respekt. Der Drache lächelte ihn an. Vorsichtig streckte Gildofal seine Hand aus. Mithval verhielt sich ganz ruhig, um den Elb nicht zu verschrecken, als ihn der Elb schließlich an seiner Wange berührte.
»Ja, ich verstehe!«, sprach Gildofal tief in Gedanken versunken. Schließlich riß er sich los und wandte sich zu Gilfea: »Ich werde keine Probleme machen. Ich gebe mein Schicksal in deine Hände, Reiter des Aran Galadrisil!« Mit diesen Worten kletterte Gildofal auf Mithval und setzte sich in den vorderen Sattel.
»An welcher Stelle hab‘ ich jetzt was nicht mitbekommen?«, murmelte Gilfea, schüttelte den Kopf und versuchte damit, irgend einen Sinn in der letzten Szene zu erkennen.
»Wieso nennt dich dieser Hundeelbe Aran Galadrisil! und wieso hat er Tränen in den Augen, wenn er dich sieht?«, fragte Gilfea seinen Freund und Drachen.
»Och, das ist so ein Elbending.«, entgegnete Mithval und versuchte dabei gar nicht erst, seine Amüsiertheit über Gilfeas Verwirrung zu verbergen.
Der wiederum kletterte in den hinteren Sattel und nahm Mithvals Zügel in die Hand. Sie dienten weniger dazu, den Drachen zu steuern, als etwas in den Händen zum Festhalten zu haben.»Moment mal! Ein wenig Elbisch kann ich auch. Aran, dass heißt König. Er nennt dich einen König? Und Galad ist Licht. Risil? Nein, Isil heißt Mond. Ist das dein Name? König des Mondlichtes?«
»Es ist unser Name, Gilfea!«, Mithvals Antwort war nicht nur eine Stimme in Gilfeas Kopf, es war, als wenn das gesamte Wesen des Drachens mit ihm eins wurde. Plötzlich war da wieder diese Melodie, die Gilfea schon hörte, als Mithval noch in seinem Ei war. Es war die Melodie, der geheime Gesang des Drachens, die beide miteinander verband. Eine Welle unermesslicher Zuneigung und Liebe überflutete Gilfea.
»Ja, ich verstehe. Ich bin Gilfea und ich bin Mithval, so wie du Mithval bist und ebenso Gilfea bist. Wir sind eins. Wir sind Aran Galadrisil!. Mithval, ich liebe dich!«
Die Freude, die der Drache über diese Worte verspürte, konnte man körperlich spüren. Er bebte vor Glück und trotzdem ertönte seine Stimme in Gilfeas Kopf:»Ich liebe dich auch, Gilfea. Du bist meine Seele, die Essenz meiner Existenz.«
Mit diesen Worten erhob sich Mithval in die Lüfte. Er verhüllte seine wahre Form und schlug den Weg in Richtung Lindor und Thonfilas ein. Roderick und Caransil folgten. Caransil hatte den Ork vorsichtig mit einer seiner Klauen aufgehoben, was Roderick ein wenig verärgerte. Er wäre mit dem Ork weit weniger zaghaft umgegangen.
»Was schleppt ihr denn da an? Einen Ork?«, Thonfilas war wenig begeistert, als er sah, was seine Freunde von ihrem Ausflug mitbrachten. Als er dann auch noch hörte, dass dieser Ork kein anderer war, als der leibhaftige General Uskav, gab es für ihn kein Halten mehr. Er zog sein Schwert und rannte auf den Uruk zu: »Ich werde dieses abscheuliche Monster töten!«.
»Nein! Das wirst du nicht!«, fuhr ihn der Drache seines Freundes und Lebensgefährten mit einer zwar höflichen, aber ultimativ festen Stimme an. Roderick war von Caransil herab gesprungen und lief zu seinem Lebensgefährten: »Bitte, Liebster, steck das Schwert weg.« Es war beeindruckend zu erleben, wie sanft und voller Liebe Roderick sein konnte. Die Härte, Kraft und Entschlossenheit des Neovikingers war eine Seite Rodericks, doch die Liebe zu Thonfilas zeigte eine ganze andere, eine, der sich der Elb nicht verschließen konnte. Thonfilas senkte sein Schwert: »Warum?«
»Ich weiß es auch nicht genau!«, begann Roderick, »Diese beiden Wesen, dieser Elb und dieser Uruk, sie sind anders. Kannst du dir vorstellen, dass Caransil freiwillig einen Ork tragen würde? Ich nicht. Ich weiß, dass er sie gerne frisst, aber einen vorsichtig aufnehmen und ihn über viele Kilometer tragen? Ich kann es nicht in Worte fassen, aber hier ist mehr am Werk, als wir wissen. Nenn es eine Ahnung, aber ich traue mich nicht, diesem Ork auch nur ein Haar zu krümmen.«
»Und was ist mit diesem Elb?«, Thonfilas deutete in Gildofals Richtung, er hatte ihn nur kurz einen Blick zugeworfen, um sich sofort auf den Uruk zu stürzen.
»Es ist derjenige, den wir suchen, aber…«, Roderick kam nicht weiter. Als Thonfilas diese Worte hörte, wirbelte er herum und stürzte auf Gildofal zu, der gerade von Mithval herabkletterte.
»Bist du bereit, deinem Schöpfer gegenüber zu treten, Mörder?«, schrie Thonfilas Gildofal an und hob sein Schwert.
»Thonfilas, bitte hör mich an!«, rief Gildofal und fiel vor Thonfilas auf die Knie.
Jener holte gerade zum Enthauptungsschlag aus, stoppte dann aber mitten in der Bewegung: »Woher kennst du meinen Namen? Ich kenne dich nicht. Woher kennst du meinen Namen!«
»Ich kenne dich auch nicht, ich weiß, dass ich dich niemals zuvor gesehen habe. Ich versteh es selbst nicht, aber ich erkenne dich. Ich weiß, wer du bist.«
»Das reicht! Ich werde mir dieses Geschwätz nicht länger anhören!«
Thonfilas hob erneut seinen Arm zum Schlag aus. Alles ging so schnell, dass weder Roderick noch Gilfea einschreiten konnten.
Gildofal sah Thonfilas starr in die Augen, dann schloss er sie und senkte seinen Kopf. Leise, aber laut genug, dass Thonfilas es hören konnte, sagte Gildofal:
»Ich bin der verborgene Ritter. Heimlichkeit ist mein Wesen. Ich kämpfe dort, wo du nicht kämpfen kannst. Ich bin wie eine Münze – Zwei Seiten wie Tag und Nacht. Ich achte die Sonne, doch liebe ich den Mond. Er ist es, der mein Wesen offenbart. Ich bin der… «
Weiter kam Gildofal nicht. Thonfilas ließ sein Schwert fallen, sprang auf Gildofal zu und umarmte ihn. Tränen standen in seinen Augen, als er flüsterte: »Du bist ein Wolfsreiter! Du trägst Victors Bürde. Wieso? Was ist geschehen? Was ist mit Victor?«
Gilfea und Roderick sahen sich verblüfft an. Thonfilas konnte zuweilen etwas sprunghaft sein, aber jemanden erst enthaupten zu wollen und dann wegen eines rezitierten Gedichtes in Tränen ausbrechen, war selbst für ihn ungewöhnlich. Um eine Erklärung für dieses Verhalten zu bekommen, blieb nur, die beiden direkt zu befragen. Stirn runzelnd gingen Gilfea und Roderick, aus entgegen gesetzten Richtungen kommend, auf Gildofal und Thonfilas zu. Jene waren gerade wieder aufgestanden. Thonfilas Augen waren gerade dabei, sich in Gildofals Augen zu bohren.
»Ist da noch mehr von Victor?«, fragte Thonfilas.
Gildofal hielt seinem Blick eine Weile stand. Schließlich schüttelte er traurig den Kopf: »Ich kann es nicht sagen. Ich weiß es nicht. Ich kannte Victor nicht. Als er die Bürde auf mich übertrug, sorgte er dafür, dass ich mich an nichts erinnerte. Erst später, als der Vollmond mein anderes ich erweckte, wurde mir ein Teil enthüllt. Ich kenne dich nicht und trotzdem kenne ich dich. Ich kenne diesen Vers nicht, den ich vorhin aufgesagt habe. Und trotzdem kannte ich den Vers. Ich glaube schon, dass in meinem Kopf Erinnerungen und Gedanken von Victor zu Lebelfallas herumgeistern, doch bleiben sie mir verborgen. Vielleicht, im geeigneten Moment, werden sie sich offenbaren.«
Thonfilas lächelte gequält: »Und ich hätte dich fast erschlagen!«
Gilfea stupste Roderick an: »Süß, die zwei, nicht war?«
Das Haifischgrinsen Gilfeas wurde von Roderick mit gespielter Empörung quittiert. Er wollte etwas entgegnen, als es in seiner Flugjacke piepste. Roderick griff in seine Jackentasche und holte einen kleinen Apparat heraus, mit der er Klerikeraktivität anpeilen konnte: »Leute, ich unterbreche eure Verbrüderungsorgie ja nur ungern, aber wenn sich meine Piepskiste nicht täuscht, sollten wir sofort aufbrechen.«
»Ok, dann lasst uns sofort los fliegen. Hundchen, du kommst mit mir!«, rief Gilfea und schnappte sich sein Gepäck.
»Ich heiße Gildofal!«, entgegnete selbiger genervt, »Ich würde gerne mit Thonfilas mitfliegen!«
»Egal! Du fliegst trotzdem bei mir mit. Mithval ist von den dreien der kräftigste Drache. Wenn wirklich Kleriker in der Nähe sind, werde wir sehr schnell fliegen müssen.«
Das Argument zog. Gildofal kletterte also wieder zu Gilfea auf dessen Drachen. Diesmal platzierte ihn Gilfea aber in den hinteren Sitz. Gilfea brauchte freie Sicht. Caransil griff sich den immer noch besinnungslosen Uskav vorsichtig mit seinen Klauen. In weniger als fünf Minuten waren alle drei Drachen gerade noch rechtzeitig in der Luft. Ein Fluggleiter der unifizierten Technokratie befand sich auf einem Kurs, der den ihren gekreuzt hätte. Es sah nicht danach aus, als wenn der Fluggleiter nach ihnen suchte. Er schien nur zufällig in der gleichen Region unterwegs zu sein. Und dabei sollte es bleiben. Jeder Drachenreiter kannte die Abneigung der Kirche gegen die Drachen. Es war besser, jede Konfrontation zu vermeiden. Die Drachen jagten los. Im Tiefstflug schossen sie über die Einöde in Richtung Daelbar, in der Hoffnung, so nicht entdeckt zu werden.
Der Flug verlief schweigsam. Keiner der Reiter sprach oder rief einem anderen Reiter etwas zu. Die Drachen wiederum versuchten so wenige Geräusche wie möglich zu verursachen. Flüsterleise zu fliegen, war zwar anstrengender, reduzierte aber die Gefahr, entdeckt zu werden.
Gildofal verlor sein Zeitgefühl. Die Sand- und Gerölllandschaft der Einöde glitt unter ihm hinfort. In der Nacht sah alles noch unwirklicher aus. Nirgends gab es eine Wegmarke oder einen Anhaltspunkt, an dem man sich orientieren konnte. War es eine oder waren es fünf Stunden, als sich die Landschaft änderte. Zuerst waren es nur Spuren von Vegetation. Hier ein paar Sträucher, dort mal ein Busch, doch mit der Zeit war der Wandel von einer Einöde in eine Graslandschaft unübersehbar. Als schließlich die ersten Bäume auftauchten, konnte man die Änderung sogar riechen. Obwohl sie in Richtung Norden geflogen waren, genau genommen, nach Nordosten, wurde die Luft milder. Der Winter herrschte zwar auch hier, doch bei weitem nicht so stark, wie auf der Einöde von Erudor. Dies lag natürlich am Athelasmassiv, einer der höchsten und mächtigsten Gebirgsketten der Welt. Es verlief genau in nordöstliche Richtung. Seine Westflanke schützte die Lande vor den eisigen Polarwinden. Diese wurden nach Südwesten geleitet, genau auf die Einöde. Die Drachenreitertruppe befand sich inzwischen aber auf der geschützten Ostseite. Hier gab es eher feuchtwarme Winde aus dem Süden, was zu einer milden und gemäßigten Witterung führte.
War es noch mitten in der Nacht oder bereits kurz vor Sonnenaufgang? Gildofal war kurz davor, im Sattel einzuschlafen, als die Drachen anfingen, über einem Wald zu kreisen. Erst hatten sie ein wenig an Höhe aufgenommen, um dann in Schleifen und Achten den Wald unter sich abzufliegen. Das ging so eine Weile, bis die Drachen plötzlich einer nach dem anderen zur Landung ansetzten. Erst unmittelbar über den Baumkronen, als Gildofal schon dachte, die Drachen würden spinnen und sich auf die Bäume stürzen, entdeckte er ein kleine Lichtung, die die Drachen ansteuerten.
»Hier sollten wir fürs Erste sicher sein.«, verkündete Thonfilas nach ihrer Landung. Die Lichtung war klein. Die Bäume schienen auch zu versuchen, die unbewaldete Grasfläche mit ihren Kronen zu überdecken. Sie reckten sich regelrecht in die Lichtung hinein, was die Drachen zum Verstecken ausnutzten. Kaum waren ihre Reiter abgestiegen, hockten sie sich dicht an den Waldrand. So würde sie niemand zufällig entdecken können. Thonfilas, Roderick und Gilfea schlugen ihr Lager ebenfalls am Waldesrand, direkt neben ihren Drachen auf.
Gildofal kam sich ein wenig deplatziert vor. Die drei Drachenreiter wussten ohne Worte, was sie zu tun hatten, während er nur herum stand und sich irgendwie im Weg fühlte. Da es für ihn keine Aufgabe gab, suchte er sich eine. Gildofal schaute nach Uskav. Caransil hatte den Uruk vorsichtig auf dem Gras der Lichtung direkt bei ihrem Lager abgelegt. Der Ork war immer noch besinnungslos. So langsam dämmerte es Gildofal, was dieser Uruk auf sich genommen hatte, um ihn zu retten. Mit einem dankbaren Gesichtsausdruck deckte er den Ork zu und bettete seinen Kopf auf ein Mooskissen.
»Wir werden hier ebenfalls nicht lange bleiben können, aber für einen Tag sollte es gehen.«, verkündete Roderick, nachdem er die Sicherheitslage überprüft hatte. Währendessen packte Thonfilas den Proviant der Drachenreiter aus und improvisierte so etwas wie ein kleines Picknick im Grünen. Es war zwar noch dunkel und nicht unbedingt die Zeit, um etwas zu essen, aber Gildofal knurrte der Magen. Außerdem hatte er einen Höllendurst. Es war deswegen auch nicht weiter verwunderlich, dass er am Heftigsten bei den wirklich wohlschmeckenden Lebensmitteln und Tränken zuschlug. Nachdem man sich gesättigt hatte, ergriff Thonfilas das Wort.
»Was hat es mit diesem Ork auf sich? Er ist doch ein Uruk, oder? Mir gefallen Orks schon nicht, aber Uruks sind die brutalsten, zähsten und erbarmungslosesten Kampfmaschinen, die ich je gesehen habe. Und wenn ich euch vorhin richtig verstanden habe, ist es sogar General Uskav. Ihr wisst hoffentlich, wer das ist?«
Thonfilas erntete wissendes Nicken von seinen Freunden, nur Gildofal wirkte verunsichert, als er sagte: »Ich weiß, dass Uskav schlimme Dinge getan hat. Er hat es mir gesagt…«
»Er hat dir gesagt, dass er schlimme Dinge getan hat?«, fiel Roderick Gildofal ins Wort.
»Nein, er drückte es weniger höflich aus. Er sagt von sich selbst, dass er ein barbarisches Monster war, das hemmungslos und ohne Erbarmen niedergemetzelt, gemordet und massakriert hat. «
»Oh, da sind wir aber froh! Ein Uruk mit Moral und Fähigkeit zur Selbsterkenntnis!«, höhnte Thonfilas.
Gildofal ging auf Thonfilas ätzenden Zynismus nicht ein. Stattdessen meinte er nur: »Ich verdanke ihm mein Leben!«
»Er hat was?«, kam es aus mehreren Mündern gleichzeitig.
Daraufhin berichtete Gildofal von seiner Flucht. Er erzählte von seiner Rettung aus dem Regenwasserbassin im Pumpenhaus, von der Flucht durch den Stausee und schließlich, wie Uskav bereit war, sich für Gildofal in der Einöde von Erudor zu opfern. Am Ende seines Berichts sahen ihn drei Paar Augen staunend an.
»Ich sehe es in euren Gesichtern. Ihr wisst nicht, ob ihr Uskav trauen könnt. Ehrlich gesagt, ich weiß es auch nicht, aber ich würde ihm eine Chance geben. Bei allem, was er als General Uskav war oder getan hat, er scheint ein anderes Wesen zu sein. Er scheint etwas in sich entdeckt zu haben, das ihn dazu treibt, sich gegen seine Konditionierung aufzulehnen. Er…«
»Ihr solltet mir nicht trauen!«, ertönte eine tiefe und harte Stimme hinter ihnen. Uskav war erwacht. Er stand mehrere Meter entfernt und wartete. »Ich traue mir selbst nicht. Ich fühle, dass in mir etwas böses schlummert, etwas, das mich dazu zwingen will, euch alle als Feinde zu sehen, die ich erschlagen und fressen sollte. Aber ich will das nicht tun.«
»Uskav, du bist wach?«, fragte Gildofal das Offensichtliche.
Der Uruk warf seinem Freund, denn als so etwas wie einen Freund sah er Gildofal, einen anerkennenden Blick zu: »Ja, meine Kräfte haben sich wieder erholt. Nur… Es gibt ein Problem… Ich habe Hunger! Die Beschwörungen haben mich ausgelaugt. Verstehst du, was ich meine? Ich habe wirklichen, richtigen Hunger!«
Gildofal wusste sofort, was Uskav meinte. Der Ork versuchte seine dunkle Seite unter Kontrolle zu halten, doch sein Verlangen nach Fleisch konnte übermächtig werden und vermutlich schon bald die Oberhand gewinnen. Wie weit er sich dann noch zurückhalten konnte und nicht über sie herfiel, war unklar. Allerdings verspürte niemand das Verlangen, es zu erfahren.
»Kein Problem, ich bin gleich zurück!«, tönte es plötzlich und überraschend in den Köpfen von Mensch, Elb und Uruk. Im selben Moment erhob sich Rodericks roter Drache in die Lüfte. Der Neovikinger grinste. Er kannte seinen Drachen und wusste, dass Caransil definitiv kein Vegetarier war. Eher das genaue Gegenteil. Dieser Drache mied alles, was irgendwie pflanzlich war.
Eine Weile kreiste Caransil über dem Wäldchen, um dann blitzartig herabzustürzen. Es gab einen kurzes Quieken, eine Pause und noch ein Quieken. Wenige Momente später tauchte der Drache mit zwei fetten, lebenden Wildschweinen in seinen beiden Klauen wieder auf.
»Ich vermute, du magst dein Schwein lieber frisch?«, meinte der Drache mit einem ziemlich fiesen Grinsen ums Maul, »Ich jedenfalls, mag keine Konserven!«
Zum Entsetzen und Verblüffung aller warf Caransil eines der Wildschweine hoch in die Luft, um es dann mit seinem Maul aus selbiger Luft zu schnappen. Ein fieses Knurpsen von Knochen beendete das panische Quieken des Schweins, als es seine Aufgabe in der Nahrungskette erfüllte. Nachdem sich der Drache seinen Appetithappen verspeist hatte, sah er Uskav frech grinsend an: »Bereit?«
Der Ork konnte nichts mehr sagen. Das heißt, eigentlich sagte sein gieriger auf das andere Wildschwein fixierter Blick schon alles. Dass seine Fänge vor Speichel trieften, rundete das Bild nur noch ab. Caransil wertete dies jedenfalls als ein eindeutiges »Ja!« und ließ das Wildschwein drei Meter vor Uskav auf den Boden plumpsen. Das Schwein grunzte, was dann auch der letzte Laut seines Lebens war. Aus dem Stand sprang Uskav auf das Schwein und schlug ihm seine Reißzähne in den Nacken. Es krachte einmal fies, als die Genickknochen brachen und das Schwein war Orkfutter. Bei all seiner Gier ließ Uskav seine Nahrung immerhin nicht unnötig leiden.
Wer litt, waren Gildofal, Thonfilas, Roderick und Gilfea. Uskavs Art zu fressen war noch ein paar Stufen unappetitlicher, als Caransil. Dafür ging es rasend schnell und endete mit einem gutturalem »Burp!«.
»Ich weiß nicht, wessen Fressgewohnheiten ich unappetitlicher finde, Caransils oder Uskavs.«, meinte dann auch Thonfilas abschließend und erntete von den umstehenden Personen zustimmendes Nicken.
»Entschuldigt, wenn ich euer astethisches Empfinden verletzt haben sollte.«, knurrte Uskav mit einem ironischen Unterton in der Stimme. Maul, Hände und Oberkörper trieften vor Schweineblut. So, wie er vor ihnen stand, entsprach der Uruk jedem Klischee eines Orks. »Es ist meine Natur. Wenn ich wirklich hungrig bin, überkommt mich diese Blutlust. Ich glaube, ich werde mich mal kurz reinigen.« Gildofal lächelte gequält. Inzwischen kannte er den Ork ein wenig und spürte, dass Uskav durchaus stolz darauf war, ein Ork zu sein. Seine Bemerkung war dann auch eher eine Feststellung, als eine Entschuldigung.
Die Lichtung war mit Bedacht ausgewählt worden. Am gegenüberliegenden Ende streifte ein Bach den Waldesrand. Dorthin lief Uskav, sprang in den Bach und wusch sich das Blut ab. Wenig später kehrte Uskav als zwar nasser, dafür aber satter und vor allem sauberer Uruk, zurück.
»Ich glaube, wir haben etwas zu besprechen…«, murmelte Thonfilas mehr zu sich.
Scharmützel
»Sie riecht widerlich!«
Neovikinger RODERICK zum Thema Orkmedizin
»Was machen wir jetzt?«
Mit dieser Frage brachte Thonfilas die Situation auf den Punkt. Nachdem sich Uskav des Schweineblutes entledigt hatte, bat man ihn zusammen mit Gildofal an einer Besprechung der Lage teilzunehmen. Von welcher Seite man es auch betrachtete, der ganze Ausflug hatte eine vollständig andere Richtung eingeschlagen. Die drei Daelbaner hatten geplant, den Mörder Victor zu Lebelfallas zu stellen. Statt eines Mörders fanden sie den Erben Lebelfallas‘ Bürde. Und als ob dies noch nicht reichte, brachte jener Erbe auch noch einen ausgewachsenen Orkgeneral mit, Uskav den Uruk. Die Situation war definitiv eine andere.
»Ich will ehrlich sein.«, fuhr Thonfilas fort, der von Turondur als Anführer dieser Mission bestimmt worden war. Diese Wahl war rein logischen Überlegungen entsprungen. Roderick war ein begnadeter Kämpfer, aber seiner Natur nach kein Typ, der gerne Entscheidungen traf. Gilfea hingegen wusste selbst, dass er mit dem Erfahrungschatz seiner hunderte Jahre älteren Freunde nicht mithalten konnte. Nach einer Pause, sprach Thonfilas weiter.
»Es mag unfair klingen, aber ich vertraue dir nicht. Uskav, du weißt selbst am besten, welche Aufträge Orks normalerweise ausführen. Von einem Uruk, einem General des Königs, möchte ich erst gar nicht sprechen. Ich bin der Meinung, dass du nicht weiter mitkommen solltest«
»Das könnt ihr nicht machen!«
Im Gegensatz zu Uskav, der ganz ruhig blieb, sprang Gildofal, wie von der Tarantel gestochen, auf und fuhr Thonfilas an. Der junge Elb war sichtlich wütend und ballte seine Hände zu Fäusten.
»Das könnt ihr nicht machen!«, wiederholte Gildofal und sah von Thonfilas zu Roderick und Gilfea, als er mit seiner Hand auf Uskav zeigte, »Ich weiß, dass Uskav kein unbeschriebenes Blatt ist. Die Schlachten General Uskavs waren Teil des Geschichtsunterrichts. Ich kann mir ziemlich genau vorstellen, was für barbarische Untaten entweder auf Befehl Uskavs oder durch ihn selbst verübt wurden. Aber ich bin nicht sein Richter. Ich weiß nur, dass ich ihm mein Leben verdanke. Doch mehr noch. Ich habe in meinem bisherigen Leben noch nie ein derart selbstloses Wesen erlebt. Uskav war bereit, sein Leben für mich zu opfern. Also, wenn ihr wollt, dass er zurück bleibt, dann bleibe ich ebenfalls zurück. Ich werde meinen Freund nicht verlassen!«
»Freund?«, flüsterte Uskav leise, während er Gildofal erstaunt anstarrte. Hatte dieser Elb ihn eben wirklich einen Freund genannt?
Thonfilas seufzte. Die Situation war kniffliger, als ihm lieb war. Worauf hatte er sich nur bei dieser Mission eingelassen?
Roderick sah, dass man sich in eine Sackgasse manövriert hatte und versuchte es mit einem anderen Ansatz: »Wo wolltet ihr eigentlich hin? Ich meine, niemand durchquert die Einöde von Erudor einfach nur zum Spaß?«
»Nach Daelbar.«, antwortete Gildofal.
Roderick seufzte. Die Situation blieb kniffelig. Und als ob dies nicht reichte, knackte es plötzlich im Unterholz des umgebenden Waldes. Alle schreckten auf und lauschten. Irgend etwas bewegte sich in ihre Richtung. Es knackte erneut, diesmal von der anderen Seite des Waldes. Etwas war dabei, sie zu umzingeln.
Uskav schnüffelte in der Luft, spitzte seine Ohren und flüsterte plötzlich: »Orks. Etwas mehr als 200. Ein Jagdverband, aber nicht im Dienst eines Herrschers. Dem Geruch nach würde ich sagen, ein Berghöhlenstamm. « Uskav kniff seine Augen zusammen und konzentrierte sich, dabei drehte er seinen Kopf leicht hin und her: »Sie wissen, dass drei Drachen hier sind. Ich kann sie hören. Sie haben… Kurzstreckenjagdlanzen! Verdammt, unter ihnen ist ein Drachentöter, ein Schwarzmagier der Orks!«
Thonfilas brach der kalte Schweiß aus. Was sollte er tun? Mit einer derartigen Situation hatte er nicht gerechnet, als er die Mission plante. Panik nahm von ihm Besitz und verhinderte, dass er einen klaren Gedanken fassen konnte. Was sollte er tun? Roderick und Gilfea warteten auf seine Befehle, er war der Anführer, doch er wusste nicht, was er machen sollte. Seine lange mehrhundertjährige Lebenserfahrung nützte nichts. Thonfilas war kein Krieger. Er war es nie und wollte es auch niemals sein. Sein Dienst für die Drachen und für Daelbar lag nicht darin, auf dem Schlachtfeld zu stehen.
»Gebt mir mein Schwert!«, rief Uskav in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass er gewohnt war, zu befehlen. Thonfilas blickte verängstigt zu Roderick. Roderick nickte, lief zu seinem Gepäck, bei dem auch Uskavs Schwert lag, und brachte es dem Uruk. Der lief sofort in die Mitte der Lichtung und rief: »Sagt euren Drachen, sie sollen sofort starten und so hoch wie möglich fliegen. Sie sollen vor der Mondscheibe bleiben, das Mondlicht blendet die Jagdlanzen! Ihr folgt mir!«
Die Drachen warteten erst gar nicht auf ihre Seelen, sondern starteten sofort. Für ihre Seelen überraschend, schienen die Drachen Uskav in dieser Sache vollkommen zu vertrauen. Der hatte inzwischen die Mitte der Lichtung erreicht und sich dort breitbeinig hingestellt. Sein Schwert vor sich in den Boden gerammt, riss er beide Arme empor und fing an zu brüllen. Sein Gebrüll war nicht nur laut, es war ohrenbetäubend. Zum Erstaunen der Anderen, schien in diesem Gebrüll ein Rhythmus und eine Melodie zu stecken. So unerwartet Uskavs Gebrüll begann, so unerwartet verstummte es auch.
»Stellt euch hinter mich!«, befahl Uskav mit Flüsterstimme, als die anderen vier ihn in der Mitte der Lichtung erreicht hatten. »Macht genau das, was ich euch sage. Oder wir sind alle verloren!«
Eine Weile passierte nicht. Es herrschte angespannte Stille. Selbst der Wind schien seinen Atem angehalten zu haben. Die Bäume gaben nicht das geringste Rascheln von sich, bis schließlich ein Trommelschlag die Stille zerriss. Er kam unmittelbar vom Waldesrand, der hinter ihnen lag. Uskav zischte: »Dreht euch nicht um!« Ein weiterer Trommelschlag, diesmal von rechts, dann von links, von vorn, wieder von rechts, von hinten, von links. Von einer Sekunde zur anderen waren sie von Trommelschlägen umgeben. So sehr sie sich auch anstrengten, konnten sie trotzdem nichts sehen. Der Gegner blieb, bis auf sein Trommeln, verborgen.
Die Trommelei zerrte an den Nerven. Gildofal und Gilfea wären am liebsten losgelaufen, nur gab es keinen Ort, wohin sie hätten laufen können. Und plötzlich herrschte wieder Ruhe. Die Trommeln waren verstummt, was mindestens so Angst einflößend war, wie die Trommelei.
»Zieht eure Schwerter, aber bleibt genau dort, wo ihr seid!«, befahl Uskav leise. Er selbst zog sein Schwert aus dem Boden und hob es über seinen Kopf in die Luft, als er mit lauter und mächtiger Stimme rief: »Ich bin Uskav der Uruk! Ich bin Uskav, Meister des Mordes! Wer wagt es, mich zu fordern?«
Einen kurzen Moment schien man so etwas wie Unruhe oder Aufregung aus dem Wald heraus zu spüren, doch der Moment verging rasch. Direkt Uskav gegenüber quoll ein kleiner Trupp Orks, etwas 40 Mann, aus dem Wald heraus. Die vordersten Drei schienen etwas größer als die anderen zu sein und waren offensichtlich die Anführer. Schneller als es Gildofal, Roderick, Thonfilas und Gilfea lieb war, standen die Orks vor ihnen. Sie waren deutlich kleiner als Uskav, sogar mehr als einen Kopf kleiner, dafür aber untersetzter und deutlich hässlicher. Sie stanken widerlich.
»Der große Uskav, so, so…«, fing einer der Anführer zu reden an, »Wer hätte gedacht, dass ich dich einmal kennen lerne. Was hast du denn da für appetitliche Häppchen bei dir. Ich rieche Elbenfleisch. Mmmmjammm, leckeres Elbenfleisch!«
»Und riechen ist das Einzige, was du tun wirst!«, entgegnete Uskav fest, »Diese Elben und Menschen stehen unter meinem Schutz!«
»Was?«, fragte ein anderer Anführerork, »Willst du alles für dich behalten und nichts deinen Brüdern abgeben?«
»Ich schlage vor, ihr setzt euren Weg fort. Hier gibt es nichts für euch!«, entgegnete Uskav geduldig.
»Oh, ganz im Gegenteil«, meinte der erste Anführerork, »Es sind Drachenreiter. Wenn wir sie töten, fallen ihre Drachen wie reifes Obst vom Himmel. Ich glaube nicht, dass wir auf diese Leckerbissen verzichten werden.«
»Ich denke schon, dass ihr es solltet!«, Uskav blieb nach wie vor ruhig.
»Wer sollte uns daran hindern, uns das zu nehmen, was wir wollen?«, fragte der dritte und letzte Anführerork.
»Ich!«, verkündete Uskav und hob sein Schwert.
»Dann bist du ein Feind! Es wird mir ein Vergnügen sein, dein Fleisch zu fressen!«, fauchte der erste Anführerork und sprang mit gezückter Klinge und brüllend auf Uskav zu, direkt gefolgt von der gesamten Truppe.
Weit kamen sie nicht. Uskavs Schwert blitzte auf. Die Klinge surrte, als sie ihrer Bahn durch die Luft folgte. Schneller als man sehen konnte, lagen sechs Orks, darunter die drei Anführer enthauptet am Boden. Doch das feuerte die anderen Orks erst richtig an. Brüllend fielen sie über Uskav her. Ein Fehler. Nicht einer hatte eine Chance. Dieser Uruk kam einer Naturgewalt gleich. Ein Ork nach dem anderen verlor Arm, Bein, Kopf und somit auch zumeist das Leben. Die drei Drachenseelen und Gildofal konnten dem grausigen Schauspiel nur entsetzt zusehen. In weniger als einer Minute hatte Uskav die gesamte Vortruppe, sämtliche 40 Orks, niedergestreckt oder wenigsten kampfunfähig gemacht. Zwischen den Gefallenen stehend, brüllte er und hielt dabei sein blutiges Schwert in die Luft: »Ich bin Uskav! Zeigt euch, oder flieht ihr Maden! Wer von euch Erdwürmern möchte Bekanntschaft mit meiner Klinge machen?«
Als Antwort kam ein Pfeilregen, der aber ausschließlich auf Uskav gerichtet war. Gildofal blieb vor Schreck fast das Herz stehen, als die Pfeile auf Uskav zuflogen. Doch der schien wenig beeindruckt. Mit einer kaum glaublichen Geschwindigkeit wehrte er die Pfeile mit seinem Schwert ab. Die Klinge wirbelten wir ein Propeller umher. Nur sechs Stück fanden ihr Ziel und steckten in seinen Beinen und Oberarmen, aber dies schien Uskav nicht weiter zu stören. Er lachte: »Was? Ist das alles? Ein paar Pfeile? Habt ihr nicht mehr zu bieten?«
Zwei oder drei Minuten passierte nichts, außer angespannter Stille. Auf der Lichtung war bestenfalls ein leises Rascheln oder Wispern zu hören. Uskav hatte sein Schwert wieder vor sich in den Boden gerammt. Er wartete, er lauschte. Als wenn ihm der Wind eine Botschaft zugeweht hätte, flüsterte er leise: »Sie kommen. Sie haben Angst vor mir, aber die Aussicht auf Elben- und Drachenfleisch ist stärker. Und wieder muss ich gegen meine Brüder kämpfen!«
»Was sollen wir tun?«, fragte Roderick leise. In seiner Stimme klang Angst mit. Dabei hatte er zusammen mit Thonfilas, Turondur und all den anderen Drachenreitern schon Kämpfe bestritten. Aber die waren anders gewesen. Das Verhältnis von Feind und Freund war ausgeglichener und sie konnten aus der Luft von ihren Drachen aus agieren. Bodenkampf war nicht unbedingt ihr Ding. Thonfilas und er konnten mit Schwertern kämpfen. Er sogar weit besser als sein Freund. Als Neovikinger war er quasi mit dem Schwert aufgewachsen. Gilfea hingegen war noch jung. Sein Schwertkampftraining hatte gerade erst angefangen. Und Gildofal? Dem hatten sie ein Schwert es geben müssen, er hatte keins gehabt und dürfte auch noch nie eines in seinen Händen gehalten haben. Die größte Hoffnung lag noch in Uskav. So erschreckend die Vorstellung auch war, ihr aller Leben hing von einem Ork ab.
»Kämpfen, kämpft um euer Leben!«, war alles, was Uskav noch sagte, dann brach das Orkrudel über sie her.
Wenn Gilfea am Anfang noch Angst hatte, dann verschwand diese mit seinem ersten Streich, bei dem er gleich zwei Orks niederstreckte. Noch während er zum Hieb ausholte, spürte er die Kraft, die ihn plötzlich durchströmte. Es war Mithval. Sein Drache wusste, dass seine Seele alle Kraft und Stärke brauchte. Und so kämpfte Gilfea nicht mit der Kraft und Erfahrung eines 20 jährigen Mannes, sondern mit der Kraft und Erfahrung eines 5 jährigen Drachens.
Gleiches galt für Roderick und Thonfilas. Auch ihre Drachen ließen sie nicht im Stich. Der einzige, der auf sich allein gestellt war, war Gildofal. Aber er war nicht allein. Kam er in Bedrängnis, war immer einer der anderen zur Stelle, um ihm beizustehen.
Dir Orks strömten wie eine schwarze Flut in die Lichtung und hielten direkt auf Uskav zu. Er zog die Orks an, wie Licht die Motten. Wenn es Uskav widerstrebte, gegen seine Brüder zu kämpfen, dann war er eine Person mit erstaunlicher Willenskraft, die Wunsch und Realität absolut voneinander trennen konnte. Uskav war ganz der Uruk. Er zeigte nicht das geringste Erbarmen, feuerte sogar Gilfea, Thonfilas, Roderick und Gildofal an, ebenfalls kein Erbarmen zu zeigen. »Tötet sie! Tötet sie alle! Egal wie verwundet ein Ork auch ist, er wird noch im Sterben versuchen, euch niederzustrecken!«
Realität und Dichtung – Gildofal erlebte, wie weit beides auseinander lag. Die Geschichten und Sagen, die er in der Schule von längst vergangenen Schlachten gehört und gelesen hatte, hatten ein völlig anderes Bild erzählt, als die Realität es nun schonungslos zeigte. Orks zu töten, abzuschlachten, hatte nichts Heroisches. Gildofal konnte nichts Edles daran entdecken, ein Lebewesen auszulöschen. Dabei war es egal, dass jeder gegnerische Ork überhaupt kein Problem damit gehabt hätte, ihn, Gildofal, zu erlegen. Es änderte nichts, das Handwerk des Kriegers war ein schmutziges. Nach wenigen Minuten wateten sie in schwarzem Orkblut. Die Wiese unter ihren Füßen war damit getränkt, es klebte an ihren Händen, an ihrer Kleidung. Es tropfte von ihren Haaren und klebte auf ihren Gesichtern. Sie sahen aus, wie Orks. Sie rochen sogar so.
Die Schlacht war ebenso sinnlos wie das Ergebnis traurig. Gegen einen Uruk und seine vier Begleiter hatten sie nicht die geringste Chance. Und trotzdem kämpften sie bis zum letzten Atemzug. Uskav war eine Naturgewalt. Er allein erschlug mehr als die Hälfte der Gegner. Dass er dabei selbst den einen oder anderen Hieb abbekam, schien ihn nicht zu stören. Ganz im Gegenteil, die Schnitte schienen ihn nur noch mehr anzuheizen. Wie ein Berserker tobte sich Uskav aus, um schließlich, als niemand mehr von ihren Gegnern noch aufrecht stand, beide Arme in die Luft zu reißen, sein Schwert in den Himmel zu stechen und ohrenbetäubend zu brüllen, dass es Freund und Feind Angst und Bange wurde. Schließlich beruhigte er sich und ging zu den vier anderen. Die Schlacht war entschieden.
»Du bist verletzt!«, war das erste, was Uskav meinte, wobei er auf eine Schnittwunde in Thonfilas Schulter zeigte. Thonfilas nickte. Die Wunde brannte wie Feuer, was der Elb auch sagte. Uskav nickte: »Wir müssen die sofort versorgen. Orkklingen sind meistens vergiftet.«
Mit diesen Worten schob Uruk sein Schwert in die Scheide und lief weg. Thonfilas wunderte sich schon, wo der Uruk hin wollte, da tauchte er bereits wieder auf und hielt ein übel riechendes Kraut in den Händen.
»Hier, kau dies zu einem Brei, aber schluck es nicht runter.«.
Thonfilas sah den Ork ungläubig an. Das Kraut stank wirklich widerlich. Zögernd nahm er es in seinen Mund und begann zu kauen. Es roch nicht nur widerlich, es schmeckte auch abgrundtief scheußlich. Thonfilas war froh, als ihn Uskav aufforderte, das Zeug wieder auszuspucken. Der Ork nahm den Brei und schmierte damit die Wunde ein, anschließend verband er die Stelle mit einem sauberen Tuch. Zur Thonfilas größter Verwunderung ließ das Brennen in der Wunde sofort nach.
»Das wird das Gift neutralisieren und die Wundheilung fördern. Nimm den Verband nicht ab, auch wenn es anfängt zu jucken!«, womit der Uruk mit dem Thema durch war und sich um andere Dinge kümmerte.
»Uskav?«, Thonfilas schaute beschämt zu Boden, »Ich, nein, wir stehen in deiner Schuld. Ohne dich hätten wir den Angriff dieser Orkmeute niemals überstanden. Ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich hätte deine Loyalität nicht anzweifeln dürfen. Uskav, möchtest du uns nach Daelbar begleiten?«
Der Uruk seufzte, nickte nachdenklich und schaute schließlich Thonfilas direkt in die Augen: »Elb, ich weiß, was ich bin! Ich bin eine Kampfmaschine. Ich wurde gezüchtet, um so etwas…«, Uskav zeigte auf das mit Orkleichen übersäte Schlachtfeld, »…so etwas anzurichten. Du hast allen Grund, an meiner Loyalität zu zweifeln. Aber ich danke dir für deine Worte und ich nehme dein Angebot gerne an. Doch vorher möchte ich mich mit einer Bitte an eure Drachen wenden. Könnten sie meine Brüder verbrennen? Ich weiß, dass jeder von ihnen mich und euch töten wollte und es auch ohne Zögern getan hätte, doch sind es trotzdem meine Brüder. Ich will nicht, dass ihre Körper von wilden Tieren gefressen werden. «
Thonfilas Staunen über die Worte dieses Uruks gingen in Scham über. Wie sehr hatte er Uskav unterschätzt. Er mochte wie ein wildes Tier kämpfen, aber er war kein Tier. Uskav war ein empfindendes Wesen. Er hatte eine Seele und ein Gewissen. Noch ehe Thonfilas fragen konnte, hörte er bereits die Antwort der Drachen in seinem Kopf.
»Die Drachen sagen, dass es für sie eine Ehre sei, deinen Wunsch zu erfüllen. Auch sie respektieren die Würde der Toten.«
Gold
»Du bist mein Sklave, mein Werkzeug! Beuge dich, oder du wirst vernichtet!«
Der schwarze Magier
Und so geschah es. Caransil, der rote Drache Rodericks, bestand darauf, Uskav in seinen Klauen zu tragen. Es schien, als wenn der Drache gewisse Sympathien für diesen Uruk hegte. Roderick konnte nicht widerstehen und fragte.
»Mag sein.«, kam es knapp und schmunzelnd als Antwort.
»Hundchen, du fliegst mit mir!«, meinte Gilfea zu Gildofal und deutete auf den wartenden Mithval.
»Hey, warum rufst du mich immer Hundchen?«, fuhr Gildofal Gilfea säuerlich an, »Ich habe einen Namen!«
»Und der wäre, Hundchen?«, fragte Gilfea, wobei er das letzte Wort deutlich betonte.
»Gildofal!«, entgegnete Gildofal sauer und fragte sich, warum dieser Drachenreiter sich ihm gegenüber wie ein Arschloch verhielt. Fühlte er sich als etwas Besseres, nur weil er ein Drachenreiter war? Ja, er, Gildofal, besaß nicht mehr, als er auf seiner Haut und in seinem kleinen Rucksack trug, alles andere hatte er in Goldor zurückgelassen. War er deswegen weniger Wert? Hatte er nicht etwas mehr Respekt verdient, auch wenn er kein Drachenreiter war und nicht mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel ihm Maul aufgewachsen?
Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr stieg die Wut in ihm auf. Was bildete sich dieser Gilfea eigentlich ein? Dieser Typ dürfte niemals die Schikanen lieber Mitschüler ertragen haben dürfen. Täglich gehänselt und als Elbenschwuchtel beschimpft werden. Nein, er war ja ein edler Drachenreiter. Als Drachenreiter brauchte er sich nicht mit aggressiven jungen Orks rumärgern, die einem tagtäglich das Leben schwer machten. Genau so wenig musste dieser arrogante Arsch von einem Drachenreiter wohl kaum aus seiner Heimat fliehen. »Also«, so dachte Gildofal, vor Wut kochend, »Muss ich mir sowas gefallen lassen?«
Nur widerwillig kletterte Gildofal zu Gilfea auf den Reitsattel. Als Gilfea fragte, ob er bereit zum Abflug war, antwortete er nur mit einem muffeligen Knurren.
Dir Drachen erhoben sich in die Luft. Aus Respekt vor den gefallenen Orks schwebten sie eine halbe Minute still über der Lichtung, bevor sie alle gemeinsam und gleichzeitig das Schlachtfeld mit ihrem Feuer verbrannten. Kein aasfressendes Tier würde sich an den Leichen der Orks gütlich tun.
Der nächste Abschnitt der Reise verlief ereignislos. Die Drachen kannten den Weg. Das Wetter war ruhig. Kein garstiger Wind behinderte sie oder schüttelte sie durch. Die Landschaft glitt so ruhig unter ihnen dahin, dass Gildofal sogar eindöste und erst wieder aufwachte, als sie zur Landung ansetzten. Als er seine Augen aufschlug, fand er sich in einem kleinen grünen Tal wieder, in das der Winter noch nicht vorgedrungen war. Das Klima war mild und angenehm. Die Nachmittagssonne schien noch von Südwesten in das Tal herein und ließ es in kräftigen Farben aufglühen. Gildoal lächelte, für einen Moment war sogar der Ärger über Gilfeas Arroganz vergessen.
Roderick, Thonfilas und Uskav bereitete das Lager, während sich Gilfea um die Drachen kümmerte. Er nahm ihnen die Sättel ab, kraulte sie am Kopf und ließ sie umherfliegen. Wie bereits berichtet: die Drachen liebten Gilfea. Alle waren beschäftig, bis auf Gildofal. Ohne es zu wollen, keimte seine Wut auf Gilfea wieder auf. »Wie dieser Typ mit den Drachen rummacht. Pah! Was für eine Angeberei!«, ärgerte sich Gildofal. Und als wenn dies nicht reichte, schienen Thonfilas und Roderick ihre anfängliche Zurückhaltung gegenüber Uskav aufgegeben zu haben. Sie diskutierten miteinander, schienen Erfahrungen auszutauschen und sogar, ein paar aufgeschnappten Wortfetzen zufolge, den Rat Uskavs als Stratege und Taktiker, der er war, anzunehmen. Gildofal wusste nicht so recht warum, aber irgendwie fühlte er sich plötzlich alleingelassen.
»Was bedrückt dich?«, fragte Uskav. Es war späte Nacht. Gilfea, Roderick und Thonfilas schliefen, während Uskav freiwillig die Nachtwache übernommen hatte. Er saß am Lagerfeuer und lauschte den Geräuschen der Nacht. Gildofal hätte gerne geschlafen, konnte es aber nicht. Wut, Ärger und Unzufriedenheit nagten an ihm. Schließlich war er aufgestanden und war zu Uskav ans Lagerfeuer gegangen. Er hatte sich neben den Uruk gesetzt und einfach in das Feuer gestiert. Bis er schließlich, nach etlichen Minuten, seine Frage stellte.
»Ich weiß nicht.«, begann Gildofal, »Ich sollte vermutlich dankbar sein, dass die drei uns gerettet haben. Aber…«
»Was?«, fragte Uskav ruhig.
»Mir geht dieser Gilfea auf die Nerven!«, platzte es aus Gildofal heraus, »Ständig läßt er mich spüren, dass er etwas Besseres ist. Er ist der tolle große Drachenreiter, mit seinem riesigen großen Superdrachen. «
»Das stört dich?«
»Natürlich stört mich dass. Mag ja sein, dass er schon Großes in seinen hunderten von Jahren geleistet haben mag. Das gibt ihm noch lange nicht das Recht, mich Hundchen zu nennen! Nach allem, was wir durchgemacht haben. Ich fand es beschämend, wie sie dich behandelt haben. «
Uskav sagte nichts. Stattdessen zog er sein neben ihm liegendes Schwert aus der Scheide und betrachtete die Klinge, wie sich die Flammen des Lagerfeuers darauf spiegelten. »Sieht du dieses Schwert?«, fragte er nachdenklich.
»Ja, warum?«
»Weißt du, wie viele Elben, Menschen, Orks oder Zwerge ich damit getötet habe?«, er schwieg eine Weile, dann fuhr er leise fort, »Zu viele, viel zu viele. Vermutlich bin ich ein lausiger Uruk, eine Schande für meine Rasse, aber ich kann mich an jeden einzelnen erinnern. Ich sehe ihre Gesichter in meinen Träumen. Ich bin eine Mordmaschine. Das ist der Zweck meiner Existenz. Dafür wurde ich gezüchtet. Du hast es selbst erlebt. Ich habe gestern mehr als 100 Orks erschlagen und es hat mir nichts ausgemacht. Schlimmer noch, ich genoss es, sie abzuschlachten. Gildofal, ich bin ein Monster! Und obwohl ich weiß, dass mir diese Mordlust von fremder Hand eingepflanzt wurde, schäme ich mich. Ich, ein Uruk, schäme mich dafür, was ich bin.«
Gildofal hörte zu, auch wenn er nicht verstand, was ihm Uskav eigentlich sagen wollte. Nach einer Pause, in der Uskav sein Schwert wieder beiseite legte, sprach er weiter.
»Ich habe es Thonfilas erzählt. Weißt du, was dieser mehrere hundert Jahre alte Elb gesagt hat? Sei du selbst! Es ist deine Bestimmung, Uskav der Uruk zu sein. Und wenn es heißt, eine Mordmaschine zu sein, dann ist es das, was du bist. Niemand weiß, was das Schicksal für dich noch bereithält, aber ich habe das Gefühl, dass man sich an Uskav den Uruk erinnern wird. Uskav, wir akzeptieren dich, die Drachen akzeptieren dich, sogar Gilfea akzeptiert dich, als das, was du bist. Du hast uns, aber vor allem dir selbst, deine Aufrichtigkeit bewiesen. Schäme dich nicht für Taten, die dich andere begehen ließen. Zeige der Welt dein wahres Selbst, den freien Uruk, Uskav, den Aufrechten. Dieser Elb hat mich mit seinen Worten beeindruckt. Wer weiß, vielleicht hat er recht und ich kann noch etwas verändern. Etwas von dem Unrecht wieder gut machen, dass durch meine Hand entstanden ist. Ich will es jedenfalls versuchen.«
In Gildofal bohrte es immer noch: »Findest du es überhaupt nicht anmaßend von diesen Drachenreitern? Wieso ist es so wichtig, dass sie dich akzeptieren, womit haben sie es verdient? Was ist so wichtig daran, dass sogar Gilfea dich akzeptiert? Mit welchem Recht wagt es ein alter Drachenreiter wie er, über dich zu urteilen?«
Uskav lacht auf: »Alt? Für wie alt hältst du Gilfea?«
»Was weiß ich? Wie halt wird ein Drache? Gilfea sieht noch sehr jung aus. Vermutlich ist Mithval noch nicht sehr alt. 100 Jahre? Doch wenn schon. Im Reservat gab es Elben, die waren 2000 Jahre alt. Je älter sie werden, desto mehr bilden sie sich auf ihre Weisheit ein. So wie diese Drachenreiter.«
Uskav lachte: »Gildofal, du bist eifersüchtig! Du bist neidisch auf Gilfea und seinen Drachen! Aber du täuscht dich, Gilfea ist keine 100 Jahr alt. Er ist genau so alt wie du. Er ist 19. Mithval ist gerade mal knapp vier Jahre alt.« Uskav wurde sehr ernst und seine eh schon finstere Urukmine verfinsterte sich noch mehr: »Gilfea hat einen sehr guten Grund, mich zu hassen. Er weiß es nur noch nicht. Meine Vergangenheit als General des Königs hat mich eingeholt. Ich hätte niemals gedacht, dass frei zu sein, so schwer sein kann. Wie auch immer, ich werde zu meinen Taten stehen, und sein Urteil über mich akzeptieren.«
»Was für Taten? Ich verstehe nicht.«, fragte Gildofal verwirrt nach.
»Gilfea und ich sind auf schicksalhafte Weise miteinander verbunden. Mehr möchte ich noch nicht sagen, nicht bevor ich nicht mit Gilfea gesprochen habe. Eins kann ich dir allerdings versichern. Gilfea ist nicht arrogant. Er ist ein herzensguter Mensch. Kein Drache und insbesondere nicht Mithval hätte ihn sonst als Seele akzeptiert. Lass dich von seiner flapsigen Art nicht täuschen. Dieser junge Drachenreiter hat in seinem bisherigen Leben mehr erlebt, als du dir vorstellen kannst.«
»Und warum zieht er mich ständig auf und nennt mich Hundchen?«
Uskav lächelte hintersinnig: »Du hast doch einen Mund. Frag ihn!«
Nachdenklich und verwirrt saß Gildofal noch ein paar Minuten neben Uskav. Schließlich bedankte er sich für Uskavs Rat und legte sich wieder hin. Etwas benommen und verunsichert schlief Gildofal ein und träumte von Drachen, Orks, Elben und Wölfen.
Der nächste Tag brach mit strahlendem Sonnenschein an. Roderick bereitete für Thonfilas, Gilfea, Gildofal und sich das Frühstück, während Caransil für Uskavs leibliches Wohl sorgte. Aus Gründen des guten Geschmacks fand der Verzehr der Jagdbeute durch den Uruk an einer etwas abgelegenen Stelle und etwas früher statt. Uskav war mit seinem Wildschwein bereits fertig, als die anderen mit Essen anfingen. Obwohl er bereits gefressen hatte, leistete Uskav ihnen Gesellschaft und trank noch etwas Kaffee. Überhaupt schien Kaffee dasjenige Getränk zu sein, das von allen vernunftbegabten Lebewesen getrunken wurde, egal ob Elb, Troll, Mensch oder Ork.
»Wenn alles gut verläuft, erreichen wir heute Abend Daelbar.«, verkündete Roderick, »Ich glaube, wir sollten direkt zur großen Ratshalle fliegen. Weder möchte ich, dass es so aussieht, als wenn Uskav unser Gefangener sei, noch möchte ich, dass jemand in Panik gerät. Noch nie hat ein Ork die Stadtmauern von Daelbar von innen gesehen und erst recht kein Uruk. «
»Ich halte das für eine gute Idee.«, pflichtete Gilfea bei, »Nachdem was Uskav für uns getan hat, würde es mir weh tun, wenn man ihn nicht mit dem notwendigen Respekt behandeln würde.«
»Das kann ich nicht!«, meinte Uskav unerwartet. Doch noch unerwarteter war seine nächste Handlung: »Gilfea, bitte höre mich an. Gestern habe ich von Thonfilas erfahren, was dir vor vier Jahren passiert ist.«
Gilfea wurde schlagartig kreidebleich. Er wusste ganz genau, was vor vier Jahren passiert war. Ein Trupp Orks hatte sein Dorf dem Erdboden gleich gemacht und dabei jeden einzelnen Dorfbewohner, egal ob Mann, Frau oder Kind erschlagen.
Ohne Vorwarnung zog Uskav blitzschnell sein Schwert aus der Scheide. Vor Schreck konnte man Roderick aufjapsen hören. Doch statt das Schwert gegen einen anderen zu richten, richtete Uskav es gegen sich selbst. Er ging auf Gildofal zu, kniete vor ihm nieder und bot ihm sein Schwert dar: »Gilfea, mir ist es unmöglich dir in die Augen zu schauen. Scham und Reue verbieten es mir. Ich, Uskav der Urukgeneral des Königs, befehligte die Orks, die dein Dorf zerstörten, die deine Freunde töteten. Wir gehorchten einem Befehl, einem falschen Befehl. Du bist der letzte Überlebende deines Dorfes, mein Leben gehört dir!« Der Uruk schloss seine Augen.
Sämtliche Augen waren auf Gilfea und Uskav gerichtet. Niemand wagte, etwas zu sagen. Thonfilas vergaß vor Schreck sogar das Atmen. Gildofals Magen zog sich zu einem kleinen Klumpen zusammen. Welche zynischen Überraschungen hatte das Schicksal wohl noch für sie auf Lager? Uskav hatte Recht. Gilfea hatte weit mehr erlebt, als sich Gildofal vorstellen konnte. Es war ein schrecklicher, ein grauenvoller Gedanke, seine ganzen Freunde durch brandschatzende und mordende Orks zu verlieren. Einer, den sich Gildofal nicht einmal vorstellen konnte. Die Wege von Gilfea und Uskav hatten sich bereits damals gekreuzt; zu einem Zeitpunkt, als beide, ohne voneinander zu wissen, Todfeinde waren. Doch was waren sie jetzt?
»Eine interessante Situation.«, spukte Mithval in Gilfeas Kopf,»Der Ork, der alle deine Freunde erschlagen hat, legt sein Leben in deine Hand. Was machst du?«
Gilfea stand sprachlos vor Uskav. Sein Blick war versteinert. Wie in Trance ergriff er Uskavs Schwert. Der kalte Stahl glänzte und funkelte in der Morgensonne.»Ich weiß es nicht! Mithval, ich weiß nicht, was ich machen soll. Bitte hilf mir!«
»Was siehst du, wenn du Uskav ansiehst?«
»Ich weiß nicht, was ich sehe. Verdammt, Mithval, ich bin so unsicher. Als wir Uskav in der Einöde fanden, hatte ich Angst, panische Angst, vor ihm. Die Nacht im Dorf… Die Erinnerung daran war wieder da, als wenn es gestern wäre. Ich sah Uskav und ich sah nur Mord und Totschlag. Mithval, ich wollte, dass Roderick dieses Mistvieh erschlug. Als dann dieser Gildofal dazwischen ging, war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich das Richtige wollte. Mir kam es auf einmal falsch und ungerecht vor. Obendrein hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass dieser Ork noch für uns alle wichtig werden könnte. Als dann die Schlacht mit den anderen Orks kam, war ich erleichtert, dass wir Uskav nicht erledigt hatten. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass er gegenüber uns loyal ist. Zu sehen, wie er gegen seine eigenen Brüder kämpfte, nur um uns zu retten, tat mir in der Seele weh. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das nur ein Trick war, um unser Vertrauen zu gewinnen. Aber jetzt dieses Geständnis… Er hätte schweigen können. Hätte er nichts gesagt, ich wäre nie darauf gekommen, dass Uskav bei der Vernichtung meines Dorfs beteiligt war. Aber er steht zu seiner Schuld. Er legt sogar sein Leben in meine Hände. Mithval, ich weiß nicht, was ich tun soll! Ich wünschte, ich würde Uskav hassen und einfach nur als einen grauenvollen Ork sehen. Es würde die Entscheidung einfacher machen. Aber so kann ich es nicht. Es ist einfach, einen Feind zu erschlagen, den man nicht kennt. Weißt du, dass ich während des Kampfes vier Orks getötet habe? Aber Uskav ist kein Unbekannter mehr. Nein, ich kann es nicht.«
»Und erneut zeigst du mir, dass du die beste Seele bist, die sich ein Drache wünschen kann.«
»Moment, mein geschuppter Freund, so einfach ist es auch wieder nicht. Ich weiß immer noch nicht, was ich tun soll. Mir geht eine Frage nicht aus dem Kopf. Warum?«
»Frag ihn doch.«
»Warum eigentlich nicht?«, fragte sich Gilfea und nahm Uskavs Schwert, nur, um es vor sich in den Boden zu rammen. Dann wandte er sich an Uskav: »Warum? Warum habt ihr mein Dorf angegriffen? Und vielleicht kannst du noch eine andere Frage beantworten: Wer war der schwarze Magier, der mit Meister Arbogast kämpfte?«
Uskav schlug seine Augen auf und sah Gilfea an. Für einen Ork, insbesondere einen Uruk, vollkommen untypisch, konnte man Panik in Uskavs Gesichtszügen sehen. Uskav flüsterte, als er sprach: »Sprich nicht von ihm! Er ist ein Diener der Finsternis.«
Gilfea spürte, dass Uskav bei der Erwähnung dieser Figur Qualen empfand, obwohl das eigentlich unmöglich war. Trotzdem musste er wissen, was es mit diesem Magier auf sich hatte: »Sag mir alles, was du weißt! Uskav, ich will dich nicht töten. Ich will und kann über deine Taten nicht richten, aber ich muss wissen, was es mit diesem Magier auf sich hat!«
Uskavs Gesicht war schmerzverzerrt. Niemand, der ihn sah, zweifelte daran, dass dieser Uruk physischen Schmerz empfand, obwohl er nur vor Gilfea kniete. Stockend, die Augen vor Qual fest zusammengepresst und seine Hände zu Fäusten geballt, fing Uskav zu berichten an: »Ich weiß nicht viel. Ich weiß auch nicht, wie er hieß oder wer er war. Ich weiß nur, dass ich ihn niemals wieder treffen möchte. Drei Wochen vor dem Angriff auf dein Dorf rief mich mein König zu sich. Er teilte mir mit, dass ich mit einem Trupp meiner zuverlässigsten Männer auf eine geheime Mission gehen würde. Meine Anweisungen würde ich von Kardinal Sylvester erhalten. Noch am gleichen Tag gab mir Sylvester drei Umschläge mit geheimen Befehlen. Den ersten sollte ich erst öffnen, wenn ich mit meinem Trupp außerhalb der Grenzen des Königreiches wäre. Man gab mir eine Marschrichtung und ich lief mit meinem Trupp los. Der erste Umschlag enthielt eine Ortsbeschreibung. Dort sammelten wir uns und trafen ihn! Der zweite Umschlag«
Uskav stockte. Seine rechte Hand zitterte vor Schmerz: »Der zweite Umschlag enthielt die Anweisung, jeden seiner Befehle, ohne sie zu hinterfragen, auszuführen. Was wir taten. Er übernahm die Führung. Eine Weile schienen wir planlos umher zu irren, bis wir schließlich zu deinem Dorf kamen. Dann erteilte er seine Befehl: Tötet alle, bis auf den Schriftgelehrten und seinen Schüler, die gehören mir! Wir taten, was uns befohlen wurde. Wir konnten gar nicht anders. Er war ein Magier, seine Stimme brannte in unseren Köpfen wie Feuer. Zögern oder zweifeln lösten stechende, krampfartige Schmerzen in uns aus, so, als wenn jemand mit einer glühende Klinge in dein Fleisch bohrt.«
Diese Schmerzen schienen immer noch zu wirken. Uskav krümmte sich vor Schmerz und war zur Seite umgekippt. Er konnte sich noch nicht einmal mehr auf seinen Knien halten. Trotz der Qualen, sprach, flüsterte, er weiter: »Dann ging etwas schief. Der alte Dorfgelehrte besiegte ihn, soweit man ihn überhaupt besiegen kann. Er wurde seiner physischen Gestalt beraubt und kehrte an jenen dunklen Ort zurück, von wo er geschickt wurde. Aber er lebt noch, ich kann es fühlen. Ein Teil seines Willen ist immer noch in mir und will mich dazu zwingen, zu schweigen!«
Uskav hatte seine Augen so fest zusammengepresst, dass aus den Augenwinkeln Tränen liefen. Die Nägel seiner Fingerkrallen stachen in das Fleisch seiner Handflächen. Der Uruk bebte, doch er sprach weiter: »Am Ende, als alle tot waren, öffnete ich den dritten Umschlag. Ich las den Befehl und wurde zum Deserteur. Es war ein Glück, dass der Magier nicht mehr präsent war. Unter seinem Einfluss hätte ich mich des dritten Befehls nicht widersetzen können. Ich sollte meinen Trupp töten. Alle Orks, die für mich gekämpft hatten, sollte ich mit einer Beschwörungsformel töten. Ich tat es nicht. Ich offenbarte meinen Männern den Befehl und befahl ihnen schließlich, zu fliehen. Sie folgten nur widerwillig. Meine Orks, meine Männer, sie waren mir treu ergeben. Sie wollten nicht fliehen sondern mir beistehen. Aber am Ende taten sie das, was ich ihnen sagte. Es sind gute Männer. Orks der Klasse 4!«
»Wenn das stimmt, dann trägt Uskav keine Schuld. Auf der anderen Seite, zu behaupten, einfach nur Befehle ausgeführt zu haben, ist zu einfach. Er hätte wissen müssen, dass die Befehl unethisch sind.«
»Wir reden von einem Uruk! Orks züchtet man nicht, um Fragen der Ethik zu klären. Außerdem glaube ich nicht, dass sich Uskav wirklich gegen diesen schwarzen Magier hätte wehren können.«
»Dann verstehe ich nicht, warum dieser Magier die Drecksarbeit nicht allein gemacht hat. Wenn er einem Trupp Orks magisch beherrschen kann, warum dann nicht die Dorfbewohner?«
»Weil er ein Magier der schwarzen Künste war, wie die Orks auch. Orks sind ein Produkt dieser Magie. Wenn dieser Magier diese schwarzen Kräfte beherrscht, könnte er mit einer Handbewegung jeden Ork vernichten, nur dadurch, dass er ihnen den schwarzmagischen Hauch nimmt, der die Orks zum Leben erweckt. Da deine Freunde im Dorf normale Menschen waren, konnte der Magier dies bei ihnen nicht. Er müsste sie angreifen, etwa mit einem Feuerball. Doch das wäre anstrengend und würde die Gefahr mit sich bringen, dass man ihn doch überwältigt.«
»Und was mach ich jetzt mit Uskav? Ihm den Kopf abschlagen? An Caransil verfüttern?«
»Nur das nicht. Uruks verursachen Sodbrennen. Hast du mal einen Drachen mit Sodbrennen erlebt?«
Gilfea seufzte und sah auf den Uruk hinab, der verkrampft vor Schmerz am Boden lag. Ohne groß darüber nachzudenken, kniete sich Gilfea hin und berührte Uskav mit seinen Händen. Es war ein Fehler, den Schmerz teilen zu wollen. Gilfeas Geist war offen und ungeschützt. Uskavs Schmerz traf ihn mit ihrer ganzen Wucht und rissen ihn buchstäblich von den Füßen. Die Erfahrung war mit jener vergleichbar, als Gilfea Lindors Schmerzen teilte, die die Jagdlanzen verursacht hatten, doch in einem entscheidenden Detail anders. Lindors Schmerz war an ein physisches Trauma gebunden, nämlich die Stelle, an der die Lanze seine Schuppen durchschlagen hatte und ihr Gift frei setzte. Uskavs Schmerz war psychisch. Gilfea sah den Auslöser. Er stöhnte laut auf, denn er konnte den Magier sehen und hören, wie er in Uskavs Geist wütete. Dieser Ork war stark, unheimlich stark. Gilfea war, trotz oder gerade wegen der geteilten Schmerzen, von Uskavs Willenstärke beeindruckt. Dieser Uruk trug einen inneren Kampf aus, der wahrlich mörderisch war. Der Magier hatte etwas in Uskavs Geist zurückgelassen. Einen Befehl, eingebunden in eine Art zweites Bewusstsein, das versuchte, die Kontrolle über Uskavs zu gewinnen.
Gilfea fühlte eine Gefahr. Uskavs Verfassung war nicht die allerbeste. Das zweite Bewusstsein bemerkte diese Schwäche und drohte, die Oberhand zu gewinnen. Das durfte auf keinen Fall geschehen. Es würde Uskav, den Uskav, den sie kennen gelernt hatten, vernichten und eine dumpfe, hirnlose Kampfmaschine zurücklassen. Gilfea wusste, was zu tun war. Er musste kämpfen!
»Mithval, hilf mir!«
»Und ich dachte schon, du würdest nie fragen!«
Gildofal, Thonfilas und Roderick wurden Zeugen eines Kampfes. Es war ein stiller Kampf. Das einzige, was sie sahen, war Gilfea mit geschlossenen Augen, wie er vor Uskav hockte und seine Hände auf ihn gelegt hatte. Die Hände begannen zu glühen. Ein goldenes Licht ging von ihnen aus. In dem Maße, wie dieses Glühen anschwoll, wurde Uskav von heftigen Krämpfen geschüttelt. Sonst sah man nichts. Sie wussten nicht, was genau passierte und machten sich große Sorgen. Umso verwunderter waren sie, als plötzlich die drei Drachen, Lindor, Caransil und allen voran Mithval anfingen zu summen. Ein warmes, kräftiges, tiefes Summen, das so golden und rein klang, wie das Leuchten von Gilfeas Händen. Uskavs ganzer Körper wurde von ruckartigen Krämpfen durchgeschüttelt, dass Gilfea arge Mühe hatte, den Kontakt nicht abbrechen zu lassen.
Was in Wirklichkeit geschah, war ein Gefecht. Und obwohl es sich nur im Geist von Uskav und Gilfea abspielte, war es nicht weniger gefährlich. Der fremde Wille in Uskavs Geist war stark, extrem stark und auf keinen Fall bereit, das Feld kampflos zu räumen. Es ging um seine Existenz und damit war ihm jedes Mittel recht. Er ging so weit, Uskav, seinen Wirt, die Hülle seiner Existenz, zu vernichten. Die Krämpfe, die Uskavs Körper schüttelten, waren äußeres Zeichen seines Todeskampfes. Doch Uskav war stark und sehr intelligent. Als er spürte, dass Gilfea ihn im Kampf gegen das fremde Bewusstsein half, konzentrierte er sich voll und ganz darauf, seinen Körper am Leben zu erhalten.
»Dieser Körper gehört mir!«
»Nein, es ist Uskavs Körper! Gib ihn frei!!«
»Uskav ist ein Nichts! Ein Sklave! Ein Werkzeug! Geh, oder ich werde dich auch vernichten, wie diesen Verräter!«
»Ich werde nicht zurückweichen! Ich werde dich aus Uskavs Geist vertreiben!«
»Dann trage die Konsequenzen und stirb!«
Magie prallte auf Magie. Der fremde Wille war blitzschnell und schlug erbarmungslos zu. Ein magischer Hieb sauste auf Gilfea zu und hätte seinen Geist fast empfindlich getroffen, wenn er nicht ebenso schnell einen Verteidigungsschild um sich aufgebaut hätte. Der größte Teil des Angriffs wurde abgewehrt, der Rest drang allerdings doch zu Gilfea vor. Doch statt zurückzuweichen, stachelte es den jungen Drachenreiter nur noch stärker an. Gilfea sammelte alle seine Energie, öffnete sich für Mithval und die anderen Drachen und wurde plötzlich von einem Schwall magischer Drachenenergie durchströmt, dass ihm davon fast schwindelig wurde. Das dunkle, fremde Bewusstsein bemerkte von dem nichts. Es sah nur, dass Gilfea scheinbar geschwächt war und vermutete, dass dies eine Folge seines Angriffs war. Er wollte kurzen Prozess machen und Gilfeas Schwäche ausnutzen, bevor sich dieser erholen konnte. Er setzte alles auf eine Karte, sammelte all seine Kraft und schlug zu.
Uskav stöhnte auf. Er riss Augen und Mund weit auf. Gildofal, Roderick und Thonfilas zuckten vor Schreck zusammen und wichen von Uskav und dem immer noch vor ihm hockenden Gilfea zurück. Uskav röchelte, gab unheimliche gurgelnde Geräusche von sich. Ein dunkler Schatten lag auf seinem Gesicht, als wenn eine Art Dunst oder Rauch auf ihm liegen würde. Von irgendwoher kam ein Windstoß, obwohl es absolut windstill war, und griff nach dem Dunst, verwirbelte ihn und riss ihn mit sich. Die drei sahen, wie dieser dunkle Rauch hoch gewirbelt wurde. Und während der Windstoß ihn verwirbelte und auseinander zog, schien es, als wenn man ihn ihm die Form eines Totenschädels erkennen konnte. Ein eisiger Schauer lief den dreien über die Haut, als auch noch ein lang gezogenes, kreischendes Seufzen aus dem Dunst heraus erschallte. Der Wind lebte nochmals auf und zerriss den Dunst in kleine Fetzen, die sich sofort auflösten.
Gilfea hatte nur auf den Angriff des fremden Bewusstseins gewartet. In dem Moment, als es zuschlug, ließ Gilfea seine und die gesamte Energie der drei Drachen frei. Es war wie ein goldenes Feuer. Es verbrannte nicht nur den Angriff des fremden Willens, er fraß sich sogar bis tief in diesen Willen vor und vernichtete ihn.
»Puh!«, war der erste Laut, den Gilfea von sich gab. Benommen schüttelte er seinen Kopf und stand auf.
»Ompf!«, knurrte Uskav, als er langsam zu sich kam. Der Ork sah sich um, orientierte sich und stutzte. Auf seinem Gesicht machte sich ein erstaunter, fast ungläubiger Ausdruck breit. »Er ist weg!«, schrie Uskav plötzlich, »Er ist weg! Ich… ich… Ich fühle mich frei! Da ist nichts! Keine Stimmen! Kein strafender Schmerz! Kein zwanghaftes Verlangen! Ich bin frei!«
Hundchen
»Du bist mein Sklave, mein Werkzeug! Beuge dich, oder du wirst vernichtet!«
Der schwarze Magier
Der Kampf gegen das fremde Bewusstsein in Uskav und der Sieg darüber veränderte vieles. Uskav fühlte sich das erste Mal in seinem Leben frei, wirklich frei. Gilfea hingegen begann diesen Uruk zu bewundern. Da er selbst erlebt hatte, unter welchem extremen Einfluss dieser Ork gestanden hatte, konnte er ihm verzeihen. Uskav war nicht für seine Handlungen verantwortlich zu machen. Ganz im Gegenteil war es fast unglaublich, welche Willenstärke dieser Uruk besaß, um sich so lange diesem fremden Willen erwehren zu können. Uskav hatte Gildofal mehrfach das Leben gerettet, er hatte ihr aller Leben gerettet. Gilfea entschied, dass Uskav eine Chance verdiente. Mehr noch, Uskav und Gilfea hatten ein gemeinsames Ziel. Sie würden sich für das ihnen angetane Leid rächen.
»Hundchen, kommst du?«, fragte Gilfea Gildofal, als es schließlich darum ging, den letzten Abschnitt der Reise nach Daelbar anzutreten, und trieb Gildofal damit auf die Palme. »Gut«, dachte sich Gildofal, »Er musste mit ansehen, wie sein Dorf zerstört wurde. Er hat sogar einem der Mörder verziehen. Ja, er ist ein edler Mensch, selbstlos und gut. Warum muss er sich mir gegenüber wie ein Arschloch verhalten?« Missmutig kletterte er in den Sattel hinter Gilfea. Mithval erhob sich in die Lüfte. Die Drachen waren unterwegs. Roderick und Thonfilas hatten Uskav angeboten, bei ihnen im Sattel mit zureiten, doch der Uruk zog es vor, von den Krallen Caransils gehalten zu werden.
Der Flug zog sich bis zum Nachmittag hin. Die Sonne hing bereits tief am Himmel, als plötzlich die goldene Halle Daelbars auf ihrem Berg am Horizont erschien. Die Drachen näherten sich von Westen mit der Sonne im Rücken, so dass die Halle wie eine zweite Sonne hell aufstrahlte.
»Das ist fantastisch!«, entfuhr es Gildofal. Nach und nach konnte er mehr und mehr Details der Stadt ausmachen, die ihn aus dem Staunen gar nicht mehr rauskommen ließen. Daelbar war mit Abstand einer der schönsten Orte, die er jemals in seinem Leben gesehen hatte.
»Ja, sie ist wirklich schön!«, bestätigte Gilfea und ließ Mithval in die Höhe steigen. In dieser Gegend kannte der Drache jeden Strauch, jeden Baum, Hügel, Hang, See oder Niederung. Er wusste, wo er die Thermik finden konnte, die ihn höher und höher trug, ohne dass es dabei eines Flügelschlags bedurfte. In eleganten Bahnen, noch so kleine Winde ausnutzend, erreichte er die Stadtmauer von Daelbar, zog direkt über das große Tor hinweg, begab sich in einen Sturzflug, fing sich ab und sauste mit wahnwitziger Geschwindigkeit über den See im Talkessel der großen Drachenstadt. Am Ende schoss er wie ein Pfeil wieder empor, dem Himmel entgegen. Die Flugbahn verlief parallel zu einem der Hügel Daelbars. Immer steiler wurde der Aufstieg, bis plötzlich und zu Gildofals totaler Überraschung, der Flug mit einem geschmeidigen Satz auf einer Rampe endete. Mithval war direkt vor seiner und Gilfeas Höhle gelandet.
»Das war fantastisch!«, schrie Gildofal und war völlig aus dem Häuschen. Er musste sich eingestehen, dass er Gilfea um Mithval beneidete. Mit diesem Drachen fliegen zu dürfen, war ein Traum.
»Kommst du, Hundchen?«
Mit einem Schlag war Gildofals gute Laune verpufft. Sauer, maulig und knurrend folgte er Gilfea, obwohl er gar nicht wusste, wohin. Während er der Quelle seiner Wut hinterher trottete, schaute er sich noch einmal nach Mithval um. Der Drache lockerte gerade seine Knochen, reckte und streckte sich und entdeckte Gildofals Blick. Gildofal wollte es kaum glauben, aber der Drache schien breit zu grinsen und eine Art Kichern von sich zu geben. Gildofal schüttelte den Kopf und tat, was er gesehen und gehört hatte, als Sinnestäuschung ab. Verwirrte, angesäuert und maulig, folgte er Gilfea in dessen Haus.
Wie er feststellen musste, war »Haus« nicht unbedingt der richtige Begriff für Gilfeas Wohnung. Die Tür führte zwar in so etwas wie ein Haus, doch hatten die Häuser, die Gildofal kannte, keine riesige Halle in ihrem Inneren, in der ein Drache hauste.
»Du kannst deine Sachen dort in die Ecke legen. Hunger?«, rief Gilfea Gildofal entgegen.
»War das wieder eine Provokation von dem Arschloch?«, fragte sich Gildofal. Was für Sachen sollte er schon in die Ecke stellen? Außer seinem kleinen Elbrucksack besaß er nur noch die Kleidung auf seiner Haut.
»Wenn du duschen willst, das Bad ist da hinten!«, meinte Gilfea und schnüffelte an sich selbst, »Fünf Tage in der Wildnis und man ist nicht sonderlich gesellschaftsfähig.«
»Danke, aber ich habe nichts zum Anziehen.«, meinte Gildofal und schämte sich dabei ein wenig.
»Ach so, warte mal!«, Gilfea musterte Gildofal von oben bis unten, »Meine Sachen dürften dir nicht passen, als Elb bist du etwas größer. Aber ich denke, Thonfilas hat deine Statur. Spring unter die Dusche, wenn du fertig bist, bin ich mit Kleidung zurück.«
Gilfea verließ seine Wohnung, um zu seinem Nachbarn zu gehen, während Gildofal unter die Dusche kletterte. Der Elb war verwirrt. Er wurde aus Gilfea nicht schlau. Mal war er richtig nett, wie eben gerade, dann war er wieder ein arroganter Arsch und brachte Gildofal zum Kochen. Was sollte er von diesem Typen halten?
Die Dusche tat gut. Richtig gut. Es war, als wenn nicht nur der Dreck seiner Flucht, sondern auch die Schmerzen, die Qual und die Verzweiflung, die ihn mehrfach überkommen war, abgewaschen und hinfort gespült wurde. Das Gefühl war so angenehm, dass Gildofal sich viel Zeit ließ und die Zeit dabei vergaß. Als er schließlich mehr als erholt war, trocknete er sich ab, band sich das große Badehandtuch um seine Hüften und schaute vorsichtig in Gilfeas Wohnraum.
»Hey, hat unser Hundchen schön geduscht?«, begrüßte ihn Gilfea und deutete auf einen Stapel Kleidung, »Die sind für dich. Ein Flohhalsband ist allerdings nicht dabei!«
Gildofal platzt der Kragen: »Jetzt reichts! Was fällt dir eigentlich ein, mich wie ein Haustier zu behandeln? Meinst du, nur weil du einen Drachen reiten darfst, dass du was Besseres wärst? Ich hab es satt! Ich habe deine herablassende Art satt. Ihr Drachenheinis haltet euch ja für sowas von edel und gut, dass wir kleinen Würmer dankbar sein können. Mann, ich muss hier raus!«
Gildofal rannte los. Gilfea wiederum war zu geschockt, um antworten zu können. Das Einzige, was ihm in den Sinn kam, war Gildofals spärliche Bekleidung und der Umstand, dass der Elb so auf die Strasse rennen wollte.
Gilfea fand seine Sprache wieder und äußerte seine Bedenken: »So wie du bist?«
»Was?«
»So, wie du bist, willst du auf die Straße?«
Gildofal knurrte wütend und wirbelte herum. Sein Badetuch wirbelte nicht. Es löste sich von Gildofal Hüften und enthüllte den Elb. So wie er erschaffen wurde stand er einige Meter von Gilfea entfernt und lief, vor Wut und Peinlichkeit, knallrot an. Da er damit beschäftigt war, sich so schnell wie möglich das Handtuch wieder umzubinden, entgingen ihm der verklärte Blick Gilfeas und dessen mehrfaches heftiges Schlucken.
Gilfea war hin und weg. Dieser Elb war einfach ein Traum. Gilfea mochte Elben, doch war ihm bisher nie in den Sinn gekommen, dass er sich in einen verlieben könnte. Dass es kein generelles Problem darstellte, wenn Elb und Mensch zueinander fanden, konnte man an Roderick und Thonfilas sehen. Aber für Gilfea war es eine neue Erfahrung. Gildofal löste in ihm Gefühle aus, die er nicht erwartet hatte. Insbesondere juckte es ihm in den Fingern, diesen Elb aufzuziehen. Er meinte das nicht böse, aber Gildofal sah einfach süß aus, wenn er einen Flunsch zog. Umso entsetzter war Gilfea, dass er offenbar Gildofals Gefühle verletzt hatte. Dabei war das gar nicht so gemeint. Gilfea war einfach nur von dieser anderen Seite des Elben, seiner Wolfsgestalt, ungemein fasziniert. Fasziniert, aber auch gleichzeitig beunruhigt. Als Wolf, insbesondere wenn er in voller Größe auf zwei Beinen vor einem stand und seine Zähne fletschten, war Gildofal sehr bedrohlich.
»Entschuldige, Gildofal, ich, ich habe das nicht so gemeint. Ich wollte dich nur aufziehen… Scheiße, dass hab ich wohl verbockt!«, gestand Gilfea kleinlaut und mied dabei Gildofals Blick.
»Ja, ja! Hättest du mir auch noch ein Stöckchen zugeworfen, damit ich das zum Spaß apportieren darf?«
»Nein!«, Gilfea seufzte, »Ach ich weiß auch nicht… Ich hab das wirklich nicht böse gemeint. Ehrlich nicht! Ich…«, Gilfea wollte Gildofals Freundschaft und wusste, dass, wenn er sie gewinnen wollte, ehrlich sein musste: »Du hast mir Angst gemacht.«
Vor Schreck ließ Gildofal das Handtuch fallen: »Du hattest Angst vor mir?«
»Als du dich in einen Wolf verwandeltest und auf zwei Beinen vor uns standst, hätte ich mir fast in die Hosen geschissen. Ich hab dich nur aufgezogen, weil ich Angst vor dir habe.«
Der Typ war gar nicht so arrogant, wie Gildofal dachte. Er hatte nie darüber nachgedacht, dass er als Wolf bedrohlich wirkte. Aber auf der anderen Seite, war das nicht der Zweck der Aktion gewesen? Als er sich schützend vor Uskav stellte, wollte er schließlich drohen. Er hatte mit seinen Zähnen gefletscht und tief aus seiner Kehle geheult.
»Was bist du eigentlich genau? Ein Werwolf?«, fragte Gilfea so ausgesprochen schüchtern, dass Gildofal schmunzeln musste.
»Ein Lycanthrop. Ein Werwolf verwandelt sich bei Vollmond in einen Wolf, ob er will oder nicht. Er wird dann zum Monster, zum wilden Tier, das Freund und Feind nicht unterscheidet. Ich bin ein Lycanthrop und kann frei entscheiden, wann ich Wolf oder Elb sein will. Und ich behalte meinen Verstand. Auch als Wolf bin ich immer noch Gildofal.«
Gilfea kam aus dem Staunen nicht heraus. Er verglich es mit seiner Beziehung zu Mithval. Sie waren zwei Wesen, die zu einem Geist mit zwei Bewusstsein verschmolzen waren. Gildofal war etwas völlig anderes. Er war offenbar ein Bewusstsein mit zwei Körpern. Sehr, sehr schüchtern wagte Gilfea eine Frage zu stellen, die ihm seine Neugier aufnötigte: »Würdest du…«
»Wie? Du willst, dass ich…«, rief Gildofal erstaunt, was Gilfea prompt falsch verstand und hastig losredete: »Vergiss, was ich gesagt habe. Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich war nur neugierig… Nein vergiss es sofort wieder!«
Gildofal musste lachen. Die Situation war schon arg merkwürdig. Da stand er, halb nackt, im Wohnzimmer eines Drachenreiters. Der Drache lag keine 20 Meter entfernt hinter einem Vorhang in seiner Höhle und genau an dieser Stelle sollte er sich in einen Wolf verwandeln? Dieser Gilfea hatte etwas… Gildofal konnte es nicht sofort in Worte fassen…Unschuldiges. Gilfea, obwohl er nach Aussage Uskavs 19 Jahre alt war, schien sich ein gutes Stück kindliche Unbefangenheit bewahrt zu haben. Was nicht hieß, dass dieser Drachenreiter nicht wusste, wie man mit einem Schwert umgehen und Orks erschlagen konnte.
»Du möchtest es wirklich gerne sehen?«, fragte Gildofal freundlich und lächelnd nach.
»Ja.«, antwortete Gilfea schüchtern.
Gildofal nickte und tat es. Stück für Stück, er ließ sich extra viel Zeit, verwandelte sich der Elb in einen riesigen Wolf. Eben noch stand er auf seinen zwei Beinen, nun stand er auf vier Pfoten. Das Handtuch war ein weiteres Mal von ihm heruntergerutscht und enthüllte ein wirklich majestätisches und prächtiges Tier der Gattung canis lupo superior. Vorsichtig, damit sich Gilfea nicht erschreckte oder Angst bekam, ging Gildofal langsam auf den Drachenreiter zu. Seine Stimmbänder beließ er elbisch und meinte schließlich: »Und, holst du jetzt ein Stöckchen zum Apportieren?«
»Puh!«, stöhnte Gilfea, »Hast du dich mal selbst gesehen? Ich glaube, du hast nicht die geringste Ahnung, wie beeindruckend du als Wolf aussiehst. Warte, bleib so, wie du bist!«
Gilfea holte eine Kamera und machte ein paar Aufnahmen. Anschließend ging er auf Gildofal zu.
»Entschuldige, aber ich kann einfach nicht widerstehen!«, sprachs und fing an, durch Gildofals Fell zu streichen und ihn zu kraulen. Der Wolf namens Gildofal wollte eigentlich etwas entgegnen, stellte aber plötzlich fest, dass sich Gilfeas Hände in seinem Fell verdammt gut anfühlten.
»Du bist richtig flauschig. Ich hätte erwartet, dass du ein ähnlich talgiges Fell wie ein Hund hast, aber das hier ist ganz weich und, nu ja, eben flauschig.«
Gildofal verwandelte sich zurück und band sich schnell das Handtuch wieder um. Während er das tat, meinte er leicht amüsiert: »Warum will mich eigentlich ständig jeder als Wolf kraulen. Selbst mein Vater konnte sich nicht zurückhalten.«
Gilfea schmunzelte über Gildofals Bemerkung: »Weil du wirklich ein prachtvolles Tier bis.«
»Ich bin kein Tier. Ich bin ein Elb in Wolfsgestalt.«, entgegnete Gildofal verärgert.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen.«, beeilte sich Gilfea schnell, sanft und defensiv, die Missstimmung zu vertreiben, »Du musst verstehen, aber jemanden wie dich, habe ich vorher noch nie gesehen. Hier, schaue dir die Bilder von dir an. Das bist du als Wolf.«
Zögerlich schaute sich Gildofal die Bilder an, die Gilfea mit seiner Kamera geschossen hatte. Was sollte schon großartig zu sehen sein? Ein Wolf, mehr nicht. Doch Gildofal wurde eines Besseren belehrt. Die Bilder zeigten einen stolzen, ja fast majestätischen Wolf. Er trug ein schön gezeichnetes, glänzendes helles Fell, ähnlich dem eines Husky. Seine Haltung war fast aristokratisch. Aber am beeindruckendsten waren seine Augen. Zwei helle, wasserklare, strahlende Lichter, die ihm eine fast magische Aura verliehen. Gildofal war von sich selbst beeindruckt: »Das bin ich?«
»Ja, das bist du!«, stimmte Gilfea zu, »Hast du dich noch nie als Wolf gesehen?«
»Ja und nein. Ich habe mich im Spiegel meines Zimmers gesehen, aber das war nur in schwarz und weiß. Als Wolf verliere ich die Fähigkeit, Farben zu sehen. Dafür kann ich aber bei fast völliger Dunkelheit noch sehr gut sehen.«, Gildofal betrachtete die Bilder von sich etwas genauer und musste schließlich lachen: »Ich seh wirklich sehr flauschig aus.«
Gilfea schmunzelte, zum Lachen war ihm nicht zumute. Ihm wurde etwas bewusst.
»Hey, Drachenreiter, was schaust du so traurig drein?«, zu Gilfeas Entsetzen hatte der Wehrwolfelb etwas bemerkt, »Stimmt etwas nicht?«
»Nein, es ist… Es ist nicht so wichtig. Nur ein unangenehmer Gedanke, der sich in Erinnerung gebracht hat.«, log Gilfea und setzte eine gequält fröhliche Miene auf, »Alles in Ordnung!«
Das war es natürlich nicht. Innerlich schrie Gilfea auf. Dieser Elb, dieser lycanthropische Elb, raubte ihm den Verstand, ließ seine Knie weich werden und seinen Puls rasen. Gilfea begriff, dass er sich, ohne es zu merken, in Gildofal verliebte. Als er ihm sein Fell kraulte, war dies zugegebenermaßen sehr nett und auch flauschig, aber die Bilder, die ihm dabei durch den Kopf gingen, waren andere. Es waren Bilder, wie er Gildofals Brust, Schultern, Arme, Hüften streichelte. Gilfea sah sich, wie er die runden Knospen von Gildofals Brustwarzen küsste und an ihnen leicht knabberte. Und dann war da Gildofals Gesicht, seine hypnotischen Elbenaugen, seine süße Nase und der schöne volle Mund mit diesen Lippen, die zu rufen schienen: »Küss mich!«
Erst jetzt bemerkte Gilfea, dass Gildofal immer noch, nur mit einem Handtuch bekleidet war. Der Anblick war unerträglich.
»Gilfea ist verliebt! Gilfea ist verliebt!«, kicherte Mithval aufs Stichwort in Gilfeas Kopf.
»Gar nicht war!«, maulte Gilfea.
»Hey, vergiß nicht, mit wem du redest.«
»Du ja wohl eher mit mir.«, Gilfea versuchte, diese, von ihm unerwünschte Unterhaltung, in eine andere Richtung zu lenken.
»Nicht ablenken, Kleiner!«, doch sein Drache ließ sich nicht beeindrucken.
»Ok, du hast Recht. Er ist lecker und, ja, ich befürchte, ich habe mich in ihn verliebt. Beim Pisspott der Päpstin, was mach ich denn jetzt?«
»Sag es ihm!«, meinte Mithval kurz und knapp.
»Und wenn er nicht so empfindet wie ich? Er ist ein Elb und Lycanthrop.«
»Was tut das zur Sache?«, Mithval, der Bodenständige.
»Niemand außer dir, Thonfilas und Roderick weiß, dass ich… Was ist, wenn er sauer reagiert, sich ekelt und mich vor allen bloßstellt?«
»Und wenn schon. Dir würden sofort hunderte Jungs zu Füßen liegen. Einer niedlicher als der andere. Ich habe schon immer gesagt, du bist viel zu schüchtern. Wenn es mit deinem Schoßhündchen nichts wird, find ich immer noch, dass du es mit dem Assistenten von Professor Secundus G’Plas versuchen solltest. Der ist wirklich süß!«
»Hallo? Hallo! HALLO!«, brachte sich Gildofal mit wachsender Lautstärke in Erinnerung, »Hey, du, Drachenmännchen, bist du noch da?«
Gilfea lief rot an, blinzelte verlegen und setzte ein schiefes Lächeln auf: »Es war… Mein Drache … Mithval!«
Gildofals Augen wurden riesig vor Erstaunen: »Ihr könnte im Geist miteinander sprechen?«
»Yo! Hundchen, können wir!«, ertönte plötzlich Mithvals Stimme, tief, erdig und deutlich amüsiert, in Gildofals Schädel. Der Elb ließ vor Schreck die Hose fallen, die er gerade, als letztes der für ihn bereitgelegten Kleidungsstücke, anziehen wollte.
»Dein Drache … er … er …«, stammel- und stotterte Gildofal, »Er hat zu mir gesprochen! In meinem Kopf! Er nannte mich Hundchen!«
Gilfea musste unfreiwillig lachen:»Ich habe es gehört.«
»Diese Stimme!«, Gildofal war sichtlich beeindruckt, »Was für ein Klang! Was für eine Wärme in dieser Stimme steckt. Du bist ein sehr beneidenswerter Mensch, einen solch edles Wesen dein Eigen zu nennen!«
Gilfea schüttelte sofort verneinend seinen Kopf und wedelte abwehrend mit seinen Händen: »Nein, nein, Mithval gehört mir nicht!«
Gildofal schaute verwirrt drein: »Aber ich dachte, ihr Drachenreiter fangt euch…«
Gilfea Kopfschütteln wurde heftiger und er gleichzeitig amüsierter: »Nein, nein, nein. Das ist eine Lüge, die die unifizierte Technokratie verbreitet. Wir Drachenreiter werden von den Drachen erwählt.«
»Wie? Erwählt? Ich dachte, ein Drache muss zugeritten werden?«
»Zureiten? Mich? Seh ich wie ein Pferd aus?«, fragte Mithval und wieherte, was aber eher wie ein Kichern klang.
»Du verstehst nicht. Lass es mich dir erklären.«, begann Gilfea und fixierte Gildofal mit seinem Blick, »Schau mich an! Ich bin ein Drache! Ich bin die Seele von Mithval! Wir sind eins!«
Und dann tat Gilfea etwas, was er noch nie vorher getan hatte. Für einen kurzen Moment, öffnete er die in ihm verborgene magische Energie, die ihn zur Seele seines Drachen machte. Nur ein klein wenig hob er den Deckel von diesem kostbaren Schatz, aber weit genug, dass seine Augen begannen, mit jenem rotem Feuer zu glühen, das nur Drachen besaßen.
Gildofal wich einen Schritt zurück. Er wusste nicht so recht, ob er sich fürchten sollte oder nur über alle Maßen beeindruckt war: »Du und Mithval, ihr seid ein Wesen?«
Eiertanz
»Ich sollte dir doch ein Flohhalsband besorgen.«
GILFEA zu Gildofal, als dieser sich gedankenverloren hinter seinen Wolfsohren kratzte
»Yap!«, antwortete Gilfea fröhlich und stellte sein Augenleuchten wieder ab, »Sind wir, na ja, und auch wieder nicht. Es ist verwirrend und etwas kompliziert. Du kannst Mithval und mich als ein Wesen mit zwei Körpern und zwei Persönlichkeiten betrachten. Es ist… ähm, kompliziert und schwierig zu beschreiben.«
Gilfea fühlte sich etwas hilflos. Wie erklärt man die besondere Bedingung zwischen einem Drachen und seiner Seele?
»Aber, wie…?«, stammelte Gildofal.
»Aber, wie was?«
»Ich dachte immer, Drachenreiter würden sich einen Drachen fangen und ihn dann zähmen. Aber du sagst, ihr seid ein Wesen, wie ist das möglich?«
Gilfea nickte, als er verstand, was Gildofal wissen wollte: »Du hast sicherlich schon einiges über Daelbar gehört? Leider ist, was man in Goldor über uns erzählt alles andere als wahr. Daelbar ist die Republik der Drachen und ihrer Freunde. Es ist der Ort, an dem jeder Drache eine Heimstadt findet, wenn er nicht das Leben in der Wildnis vorzieht. Daelbar ist aber auch der Ort, zu dem viele Drachen reisen, um ihre Eier zu legen. Dracheneier sind zu kostbar, als dass man sie dem Risiko der klassischen Brutpflege in Vulkanschloten aussetzen sollte. Niemand weiß genau, wann der Zeitpunkt gekommen ist, dass ein Drache aus seinem Ei schlüpft. Meistens dauert es zwei bis vier Wochen. Unsere Betreuer in Daelbar haben ein Gefühl dafür entwickelt, wann es soweit ist. Es soll aber auch schon Fälle gegeben haben, bei der ein Drachenei Jahre lang gewartet hat.«
Nach Gildofals Gesichtsausdruck zu urteilen, hatte Gilfea mit seiner Erklärung den jungen Elb in seinen Bann geschlagen. Er lauschte fasziniert jedem Wort und vergaß sogar, die Hose anzuziehen, die er zwar wieder aufgehoben hatte, seitdem aber immer noch in einer Hand festhielt: »Warten, worauf?«
»Auf die richtige Seele.«
Gildofal flüsterte: »Seele?«
»Jeder Drache braucht eine Seele. Die Seele ist wie ein Anker für ihn. Sie verknüpft sein magisches Wesen mit der realen Welt. Ich bin Mithvals Seele, ich gebe ihm Halt und Stabilität. Ein Drache schlüpft erst aus seinem Ei, wenn er weiß, dass es jemanden gibt, der seine Seele werden könnte. Findet er keinen geeigneten Kandidaten, stirbt er. Findet er aber einen, dann vereinigt sich der Drache mit ihm. Aus zwei Wesen wird ein einziges.«
»Und was ist, wenn derjenige, den sich der Drache sucht, gar nicht vereinigt werden will?«
Gilfea und Mithval hatten diese Frage ein wenig befürchtet. Gilfea spürte aber, dass Mithval wollte, dass er dem Elb die ganze Wahrheit erzählte: »Es passiert fast immer freiwillig. Ich persönlich kenne nur eine Ausnahme, bei der die Vereinigung nicht freiwillig war. Der übliche Weg ist folgender: Hier in Daelbar gibt es die Drachenreiterschule. Jeder, der sich berufen fühlt, ein Drachenreiter werden zu wollen, kann sich bewerben. In dieser Schule wird dem Anwärter oder der Anwärterin alles beigebracht, was sie wissen müssen. Und, viel wichtiger noch, in vielen Gesprächen geklärt, ob die Motive, warum ein Kandidat Seele eines Drachens werden will, die richtigen sind. Versteh mich nicht falsch. Es wird niemand von der Schule abgelehnt oder rausgeworfen. Das ist nicht die Art der Drachen. Wenn ein Kandidat ungeeignet ist, wird man versuchen, es ihm zu erklären.«
»Und wenn er es trotzdem nicht einsieht?«
»Dann wird er sehr, sehr schwer enttäuscht werden. Die Drachen spüren bereits in ihren Eiern, ob ein Kandidat der richtige ist, oder nicht. Ein ungeeigneter Kandidat würde nie von einem Drachen erwählt werden. Aber dies passiert so gut wie nie. Deswegen sprechen die Lehrer mit den Kandidaten. Was meinst du, was das für eine Enttäuschung ist, wenn du dich Jahre lang darauf vorbereitest, ein Drachenreiter zu sein, und dann wirst du von keinem Drachen erwählt? Dass ein Kandidat eine solche Enttäuschung erfährt, das versuchen die Lehrer Daelbars zu verhindern. Aber es gibt noch etwas anderes, was die Lehrer versuchen zu vermitteln, nämlich welch einschneidende Veränderung ihr Leben erfährt, sollten sie den Weg einer Drachenseele wählen. Man gibt sehr viel auf, aber man gewinnt auch unendlich viel. «
»Warum hast du dich entschieden, ein Drachenreiter zu werden?«
»Das hat er nicht!«, ertönte plötzlich und sehr unerwartet Mithvals voluminöse Stimme in Gildofals Kopf,»Ich habe mich mit Gilfea vereinigt, ohne ihn zu fragen. Und selbst wenn ich ihn gefragt hätte, wäre das Ergebnis das Gleiche, denn Gilfea hätte die Tragweite dieser Entscheidung nicht verstanden. Um so dankbarer bin ich, dass mir meine Seele meine Schande verziehen hat.«
»Sag‘ das nicht, Mithval. Ich habe deine Entscheidung, dich mit mir zu vereinigen, niemals als falsch empfunden. Ich bin deine Seele! Es gibt nichts zu verzeihen. Wir sind eins!«
»Warst du das gerade in meinem Kopf?«, Gildofal kam aus dem Staunen nicht mehr raus, »Ich konnte dich hören, so wie deinen Drachen. Halt, du und der Drache, ihr seid der Drache, oder? Ich versteh nichts mehr. Aber warum konnte Mithval dich nicht fragen?«
»Weil ich im Sterben lag.«, meinte Gilfea kurz und bündig, »Mithval hat mich und sich damit vor dem Tod gerettet. Drachenjäger hatten seine Mutter abgeschossen. Bevor sie kamen, um ihr den Rest zu geben, konnte Mithvals Mutter noch ihr Ei legen und es verstecken. Ich fand es im Kessel eines Kraters und bewachte es. Tagelang hielt ich Wache. Leider war die Wache über meinen eigenen Körper nicht so gut, wie die über Mithvals Ei. Ich stürzte und zog mir schwere Prellungen zu. Vor Schmerzen konnte ich den Krater nicht mehr verlassen. Ich war am Verdursten. Kurz vor dem Ende rettete mich Mithval. Er schlüpfte und vollzog die Vereinigung. Durch sie wurde ich geheilt. «
»Wow!«, Gildofal, der seine Hose nicht nur weiterhin in der Hand hielt, sondern sogar damit herumgestikulierte, ließ sich auf einen Stuhl fallen, »Das ist eine der härtesten Geschichten, die ich je gehört habe. Du bist ein außergewöhnlicher Mensch, Gilfea. Die Geschichte mit deinem Dorf, deine Vereinigung mit Mithval, selbst, dass du Uskav verziehen hast. Deine Partnerin muss sehr stolz auf dich sein.«
Gilfea wurde heiß: »Ähm, ich habe keine Partnerin.«
»Nicht? Hey, dir müssten die Frauen doch nur so zu Füßen liegen. Du hast einen tollen Drachen, siehst gut aus, ich meine…«
Hatte dieser Elb gerade gesagt, er würde gut aussehen? Bedeutete das etwas, oder war es einfach nur eine Feststellung.
»Es ist etwas schwierig.«, stammelte Gilfea, »Als Elb wirst du es vielleicht nicht verstehen, aber ich bin kein Mensch mehr. Eigentlich bin ich noch ein Mensch, aber ich bin eben auch ein Drache. Mein Leben ist unwiderruflich mit Mithvals verbunden. Sollte einer von uns sterben, stirbt auch der andere. Das heißt aber umgekehrt, dass ich so lange leben werde, wie Mithval lebt und Drachen leben lang.«
Gildofal nickte: »Ich verstehe, was du meinst. Meine Eltern haben mir von Elben erzählt, die ihre Unsterblichkeit aufgaben, weil sie sich in einen Menschen verliebt hatten. Diese Möglichkeit habt ihr nicht. Für dich käme nur eine Drachenreiterin oder eine Elbin in Frage.«
Gilfea wurde noch heißer: »Elbin nicht. Ihr Elben seid unsterblich. Drachen sind dies nicht. Wenn unsere Zeit gekommen ist, verlassen wir die Welt und kehren zurück, wo wir hergekommen sind.«
»Aber es müsste doch bestimmt eine nette Drachenreiterin geben, die dir gefällt?«
»Ok, du hast es nicht anders gewollt.«, seufzte Gilfea und wusste ziemlich genau, warum es ihm so schwer fiel, zu sagen, was er sagen wollte, »Ich bin schwul!«
Gildofal ließ vor Schreck die Hose fallen. Der Elb hockte auf seinem Stuhl und glotzte den Drachenreiter mit weit aufgerissenen Augen an. Gilfea zuckte mit seinen Schultern und meinte mehr zu sich selbst: »Na, das war wohl ein Schuss in den Ofen.«
Von einer Sekunde auf die andere fing Gildofal zu lachen an. Laut und hemmungslos lachte er los, dass sich Gilfea schon Sorgen um dessen Geisteszustand machte.
»Entschuldige, Gilfea, aber ich lache nicht über dich!«, Gildofal jappste nach Luft und versuchte, sich wieder einzukriegen, »Es ist nur so, dass ich mein Leben lang als Elbenschwuchtel beschimpft wurde. Am Liebsten natürlich von meinen geschätzten orkschen Mitschülern, die es liebten, mich zu verarschen und aufzuziehen. Ich habe es gehasst. Alles, was ich als Schüler sein wollte, war deswegen ein Mensch. Ich ließ mich sogar Jonas rufen, weil Gildofal so elbisch und schwul klang. Mann, hätten dich meine Mitschüler gesehen, niemand wäre jemals auf die Idee gekommen, Schwuchtel als Schimpfwort zu verwenden. Was sagen deine Freunde dazu? Was sagt Mithval?«
Gilfea wurde wieder nervöser, entschied sich aber, die Sache konsequent fortzuführen, egal wohin die Reise gehen würde: » Außer Thonfilas und Roderick weiß es niemand. Mithval weiß es natürlich zwangsläufig, er wusste es bereits, bevor ich es wusste. Er findet es cool und will mich ständig mit irgendwelchen Typen verkuppeln. «
»Außer Roderick und Thonfilas bin ich der einzige, der es weiß? Warum?«
Gilfea entschied sich die Wahrheit zu sagen, zumindest einen Teil davon: »Du hast gefragt.«
»Auch eine Antwort. Aber Roderick, das ist doch dieser kühle Neovikinger, wieso wissen er und Thonfilas über dich Bescheid?«
»Ähm, das…«, stammelte Gilfea.
Gildofal begriff sofort: »Nein! Sag nicht die beiden…?«
»… sind ein Paar, genau das!«, vervollständigte Gilfea Gildofals Frage.
»Wow! Die beiden sind sogar zusammen!«, stöhnte Gildofal, »Das hätte ich niemals gedacht. Ein Neovikinger und ein Elb, ich glaub es nicht. Die zwei lieben Gegensätze, oder? Aber warum nicht. Und was ist mit dir? Also keine Partnerin… Das war ziemlich spitzfindig von dir. Ich frage noch mal. Gibt es jemanden, dem dein Herz gehört?«
Gilfea seufzte: »Ja und nein.«
»Was heißt das denn jetzt wieder?«, Gildofal überlegte, musterte dabei Gilfea und meinte schließlich: »Ja, es gibt jemanden, aber, nein, ihr seid nicht zusammen. Stimmts?«
Gilfea nickte, sagte aber nichts.
»Oh, ich ahne was los ist. Er weiß noch nichts von seinem Glück. Du hast ihm noch nichts gesagt.«
Nicken und Schweigen.
»Du weißt nicht, wie er reagiert, weil du befürchtest, er würde dich nicht ebenfalls lieben?«
Schweigen und ein Jein-Nicken.
»Moment, du befürchtest, dass … Natürlich, du weißt nicht, ob er ebenfalls schwul ist?«
Heftiges Nicken und Schweigen.
»Und du hast Angst zu fragen, weil du nicht weißt, wie er reagiert. Was ist er. Ein Mensch?«
Kopfschütteln in Kombination mit anhaltendem Schweigen.
»Ein Elb?«
Nicken und Schweigen.
»Ein Drachenreiter?«
»Nein, er ist kein Drachenreiter. Ich weiß auch nicht, ob er überhaupt einer sein will. Was ist mit dir, könntest du dir vorstellen, ein Drachenreiter zu werden?«
»Junge, das war frech!«, kicherte Mithval ausschließlich in Gilfeas Kopf.
Gildofal traf die Frage völlig unerwartet und musste erst einmal seinen Kopf schütteln, um selbigen wieder klar zu bekommen: »Du bist die Seele eines Drachens, hältst du mich für einen geeigneten Kandidaten? Ein lycanthropischer Elb als Seele eines Drachens? Ich habe schon als Kind für Drachen geschwärmt und von ihnen geträumt. Ich stellte mir vor, wie ich auf dem Rücken eines riesigen Drachens durch die Lüfte flog, im Kampf für die Gerechtigkeit. Ein kindischer Traum, den ich später, als ich älter wurde, lächerlich fand. Und jetzt kommst du und fragst mich, ob ich mir diesen Kindheitstraum erfüllen möchte. Ui, das ist alles etwas viel. Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht. Meinst du, irgend ein Drache würde überhaupt auf die Idee kommen, ausgerechnet mich zu erwählen?«
»Nicht irgendeiner, sondern der Drache, der auf dich wartet, solltest du diesen Weg für deinem Leben wählen.«, verkündete Mithval leicht feierlich.
Eigentlich wollte Gildofal etwas zu Mithvals letzter Bemerkung erwidern, doch dazu kam es nicht, da es genau in jenem Moment an der Tür klopfte. Thonfilas kam mit der Nachricht, dass man Gildofal in der großen Halle des Rates von Daelbar erwartete. Roderick, Caransil und Uskav wären bereits vorgeflogen und man solle sofort nachkommen. Uskav hätte dem Rat ein paar sehr beunruhigende Dinge berichtet. Jetzt ginge es darum, etwas von Gildofal zu erfahren. Der junge Elb stimmte selbstverständlich zu.
»Du solltest dir aber eine Hose anziehen.«, meinte Thonfilas zum Abschluss seiner Ausführungen.
»Sehr witzig!«, Gildofal verdrehte die Augen und kletterte, endlich, in die Beinkleider.
»Hat er was?«, fragte Thonfilas, über Gildofals Reaktion belustigt, nach.
Gilfea schmunzelte und meinte nur: »Frag nicht! Es ist eine lange Geschichte.«
Kaum war Gildofal mit seinen Ankleidearbeiten fertig, verließen die drei auch sofort die Drachenhöhle, um sich zur großen Ratshalle zu begeben. Auf der Startrampe warteten bereits Lindor und Mithval auf ihre Passagiere.
»Flugtaxi gefällig?«
Der Flug war kurz, aber für Gildofal nicht umso weniger atemberaubend. Es war eins, stundenlang über eine Landschaft dahin zugleiten. In Daelbar herrschte reger Flugbetrieb, überall starteten und landeten Drachen und flogen hierhin und dorthin. Dann war Daelbar auch nicht irgendeine Landschaft, sondern eine Stadt mit ganz außergewöhnlicher Thermik. Hier zu fliegen, schien eine anspruchsvolle Aufgabe zu sein. Umso beeindruckender waren Toldins und Mithvals Flugkünste. Die beiden Drachen flogen in perfekter Formation zwischen den Hügeln und Bergen Daelbars umher, um sich am Hang mit den stärksten Aufwinden in die Höhe tragen zu lassen. Es wurde zwei, dreimal gekreist, dann steuerten sie die große Halle des Rates von Daelbar an. »Beeindruckend« war alles, was Gildofal als Kommentar zu goldenen Kuppelhalle einfiel.
Fast ein wenig eingeschüchtert, aber auf jeden Fall tief bewegt, durchquerte der Elb zusammen mit seinen Begleitern den Torweg ins Innere des Ratsgebäudes. Wie schon Gilfea vor vier Jahren, so überkam auch Gildofal ein Gefühlssturm. Gildofal war zwar nicht, wie Gilfea, emphatisch begabt, aber trotzdem fühlte er etwas in der Luft. Als wenn sie mit Emotionen oder Energie aufgeladen wäre.
Schließlich gelangte er in den Plenarsaal wo gerade Uskav dabei war, von der Schlacht mit den Orks zu berichten. Anschließend schilderte er, wie er durch Gilfea und die Drachen Caransil, Lindor und Mithval, von der seinen Geist unterdrückenden fremden Persönlichkeit befreit wurde.
Gilfea hörte zu und nickte an verschiedenen Stellen zustimmend, dabei sah er sich im Plenum um. Es waren wenige Ratmitglieder anwesend, und die, die anwesend waren, waren ausnahmslos Drachen und ihre Seelen. Gilfea wunderte sich und fragte leise Roderick, der dicht neben ihm stand.
»Dies ist eine geheime Sondersitzung. Da bei uns jedes Ratsmitglied das Recht hat, anwesend zu sein, funktioniert die allerdings ein wenig anders. Statt Ratsmitglieder auszuschließen, verzichten sie von sich aus auf die Teilnahme. Wer zu einer geheimen Sondersitzung kommt, weiß, dass er über dessen Inhalt außerhalb dieser Halle nicht reden darf. Wer dies nicht kann oder will oder Angst hat, Dinge zu erfahren, von denen er nichts wissen will oder darf, nimmt einfach nicht teil. «, erläuterte Roderick das etwas ungewöhnliche Konzept. Gilfea war erstaunt. Obwohl er schon ein paar Jahre in Daelbar lebte, verblüffte ihn die Stadt immer wieder.
Als Uskav mit seiner Schilderung endete, ergriff der Drache Toldin das Wort: »Uskav, wir danken dir für deinen Bericht und die Offenheit deiner Worte. Ich will dich nicht beleidigen, deswegen bin ich ebenso offen zu dir, wie du zu uns. Als ich von Lindor, Caransil und Mithval erfuhr, dass ein Ork, sogar ein Uruk, die Grenzen unserer Stadt überqueren würde, empfand ich dies als Zumutung. Und ich war nicht der einzige, der so empfand. Vielen Bewohnern, egal ob Elb, Drache oder Mensch, wurde in der Vergangenheit durch Orks Leid zugefügt, Leid, welches schwer zu vergessen ist und bei vielen zu Verbitterung geführt hat. Durch deine Schilderung und die Berichte deiner Wegbegleiter wurden unsere Vorbehalte dir gegenüber in Nichts verwandelt. Mehr noch, ich muss mich bei dir entschuldigen, in dir nicht die Person Uskav sondern nur den feindlichen Ork gesehen zu haben.«
»Ihr müsst euch für eure Vorurteile nicht entschuldigen. Ich weiß, was und wer ich bin. Immerhin, ihr habt mich weder in Ketten gelegt noch erschlagen. Meine orkschen Brüder hätten anders gehandelt.«
»Nun denn, ich spreche für den gesamten Rat. Uskav, sei unser Gast. Die Stadt Daelbar läd dich ein.«, verkündete Toldin, während sich Mithval fragte, wie es diesem Drachen immer wieder gelang, dieses feierliche Timbre in seine Stimme zu kriegen.
Uskav verbeugte sich vor dem Rat. Danach ergriff Turondur, Toldins Seele, das Wort: »Kommen wir zu dir Gildofal. Deine Geschichte scheint mindestens so interessant zu sein, wie Uskavs.«
Gildofal zuckte vor Schreck zusammen, als man ihn unerwartet ansprach. Er war der Diskussion mit Uskav nicht wirklich gefolgt, da er sie aus erster Hand kannte. Als nun sein, Gildofals, Name fiel, riß es ihn aus ganz anderen Gedanken. In seinem Kopf spukte immer noch die Unterhaltung mit Gilfea umher. Dieser Drachenreiter war schwul?
Es dauerte zwei Sekunden, bis sich Gildofal orientiert und herausgefunden hatte, wer ihn überhaupt angesprochen hatte. Es war ein Elb, so wie er. Oder auch nicht so wie er. Die Elben, die er kannte, waren bodenständige Leute. Dieser Elb war ein Aristokrat, vom Auftreten her ein Fürst unter den Elben. Obwohl er vorher noch nie einen Hochelben gesehen hatte, sah er, dass in den Adern Turondurs königliches Blut floss.
»Ich bin Gildofal.«, stellte sich Gildofal dem Rat vor, »Was möchtet ihr wissen?«
Gildofal sprach zwar zum Rat, blieb mit seinem Blick aber auf Turondur fixiert. Etwas an ihm irritierte ihn. Es war nicht sein Aussehen, das war eben hochelbisch, es war etwas anderes. Gildofal überlegte. Er fühlte, dass da etwas zutiefst unelbisches an Turondur war, es war… sein Geruch! Gildofals Augen weiteten sich. Dieser Hochelb roch anders. Er kannte diesen Geruch, er war ihm vertraut, es war… Gildofal zögerte, dachte angestrengt nach. Was war das für ein Geruch? Es roch nach Wolf, nach Lycanthrop!
»Bist du dir sicher?«, fragte Uskav Gildofal nach der Ratssitzung. Sie standen am Rand des Vorplatzes der Ratshalle. Die Kuppel war auf dem höchsten Berg Daelbars erbaut worden. Da es sich um einen fast kreisrunden Tafelberg handelte, bot er sich optimal für diesen Zweck an. Die Kuppelhalle bildete den Mittelpunkt. Zwischen ihr und dem Rand des Plateaus hatte man einen grünen Park angelegt, der in regelmäßigen Abständen von kleinen Plätzen mit Start- und Landerampen unterbrochen war. Gildofal und Uskav standen an der Brüstung der Einfriedungsmauer dieses Parks. Der Elb ließ seinen Blick über Daelbar streifen und sich von dessen Geschäftigkeit beeindrucken.
»Ich bin mir absolut sicher. Ich konnte es riechen.«, Gildofal war sich nicht sicher, was er von Turondur halten sollte, »Findest du es nicht auch interessant, dass das Thema überhaupt nicht erwähnt wurde?«
Uskav nickte zustimmend: »Ja, man hat dir ein paar Fragen zu deiner Flucht gestellt und das war es dann aber auch schon. Ich hatte jedenfalls fest damit gerechnet, dass sich dich zu Lebelfallas befragen würden. Stattdessen hatte ich sogar den Eindruck, dass man dem Thema gezielt auswich.«
Gildofal zuckte mit den Schultern: »Wer weiß schon, was diese Drachen denken. Sie sind… unheimlich. Trotzdem mag ich sie, besonders Mithval. Er ist ein ziemlicher Quatschkopf. Wusstest du übrigens, dass unsere drei Retter schwul sind?«
»So, sind sie das?«, Uskavs Überraschung hielt sich in Grenzen.
»Du klingst nicht überrascht?«
»Nein, bin ich auch nicht. Du magst es nicht bemerkt haben, aber Roderick hatte Thonfilas mehr mit >Liebster< angesprochen. «
»Du achtest sehr auf Details, oder?«, Gildofal musterte Uskav aufmerksam. Der Uruk hatte sich verändert. Seit er von seinem fremden Bewusstsein befreit wurde, schien er freundlicher, offener, fast unorkischer zu sein, obwohl letzteres bei seiner Erscheinung den meisten Leuten nicht direkt in den Sinn gekommen wäre. Uskav war, bei aller Veränderung seines Geistes, immer noch ein echtes Monster, allerdings eines, das sogar lachen konnte. Ein lachender Uruk war sicherlich nicht sehr orktypisch.
»Es ist meine Art, derartige Details zu bemerken.«, Uskav zuckte mit seinen breiten Schultern, was ganze Berge von Muskeln in Wallung brachte, »Immerhin weiß ich jetzt, warum dich dieser kleine Drachenreiter die ganze Zeit angehimmelt hat.«
Gildofal wurde heiß: »Wer?«
Uskavs Lippen umspielte ein bösartiges Grinsen: »Was, du hast es nicht bemerkt? Gilfea himmelt dich an. Mein lycanthropischer Freund, du hast einen Verehrer.«
»Ach du Scheiße!«, meinte Gildofal, worauf Uskav schallend loslachte.
»Wie man hört, fühlt sich zumindest unser erster orksche Bürger wohl.«, Roderick, Thonfilas, Gilfea, Turondur und ein junger, in dunkler Klerikerkleidung gehüllter Mann, den sie nicht kannten, kam auf sie zu. Turondur sprach weiter: »Wie ich höre, wollt ihr bei uns bleiben?«
»Ja, diese Stadt ist ein Traum.«, antwortete Uskav, »Außerdem glaube ich, dass wir die gleichen Ziele verfolgen. Die Drachen und ihre Reiter kämpfen für Frieden und Freiheit. Ich kämpfe für die Freiheit meiner Brüder. Wir Orks sind ein versklavtes Volk, auch wenn unsere Ketten magisch und geistig sind. Sie von diesen Fesseln zu befreien, würde nicht nur den Orks den Frieden bringen.«
»Uskav, mit jedem Wort, das du sprichst, beeindruckst du mich mehr.«, Turondur war ganz in seine Rolle des Ratsvorsitzenden verfallen, »Deine Freunde haben wirklich nicht untertrieben.«
»Freunde? Welche Freunde?«, fragte Uskav verwirrt. Er wusste gar nicht, dass er welche hatte.
»Wir sind deine Freunde!«, meldete sich Roderick zu Wort, »Thonfilas, Gilfea und ich betrachten dich als einen Freund.«
Für einen langen Moment war der mächtige General Uskav sprachlos. Alles was er konnte, war den dreien einen dankbaren Blick zuwerfen.
»Kommen wir noch mal aufs Thema zurück. Du willst für die Freiheit deiner Leute kämpfen? Wie?«, fragte der unbekannte Junge, dem plötzlich einfiel, dass Uskav ihn noch nicht kannte: »Oh, entschuldige, ich bin Franciscus, Guldurs Seele.«
»Ein Kleriker? Hier in Daelbar?«
Franciscus lächelte gequält: »Sagen wir lieber, ich wurde von Priestern der Kirche erzogen, bis ich endlich fliehen konnte.«
»Ihr wollt wissen, wie ich kämpfen will? Seht mich an, ich bin ein Uruk.«, bemerkte Uskav das Offensichtliche und zog demonstrativ sein Schwert, um süffisant hinzuzufügen, »Oder geht es vielmehr darum, dass ihr auf meine strategischen und taktischen Fähigkeiten anspielt?«
Turondur begann breit zu grinsen: »General Uskav, wärt Ihr bereit den Oberbefehl zu übernehmen?«
»Ich bin kein General mehr. Außerdem, Oberbefehl über was? Ihr habt keine Armee.«, Uskav war hundertprozentig bei der Sache.
Thonfilas erläuterte: »Wie haben aber ein Problem. Unser Kampf mit der Orkmeute auf dem Weg nach Daelbar hat uns unsere Schwächen gezeigt. Wir sind zwar in der Lage, uns gegen Angriffe zu verteidigen. Aber unsere ganze Stärke hängt von den Drachen ab. Im Luftkampf kann nichts und niemand mit uns konkurrieren, aber was ist am Boden? Ohne dich hätten weder Roderick noch ich eine Chance gegen die Orks gehabt, von unserem jungen Gilfea ganz zu schweigen. Wir brauchen jemanden, der uns zeigt, worauf es im Kampf ankommt, wie man die Pläne des Gegners erkennt und durchkreuzt. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass uns allen ein großer Krieg bevorsteht. Etwas Dunkles braut sich zusammen, dessen Finger bereits die Ränder Daelbars vorsichtig abtasten. Diese Stadt wird belauert und bewacht. Wir brauchen jemanden, der weiß, was zu tun ist. «
»Ihr wollt wirklich, dass ich euer General werde?«
»Das war unsere Idee.«, gestand Turondur.
»Ok!«, meinte Uskav knapp, machte eine kleine rhetorische Pause, um dann fortzufahren: »Ich brauche ein Team. Ich wäre froh, wenn mir Roderick und Thonfilas zur Seite stehen könnten?«
»Es wäre mir eine Ehre!«, kam prompt Thonfilas Antwort. Roderick beließ es bei einem zustimmenden Nicken.
Uskav schüttelte seinen Kopf: »Ihr seid doch verrückt. Immerhin, es ist eine Herausforderung. Wie sehen die Drachen die Sache?«
»Die finden die Idee genau so verrückt und sind allein deswegen schon dafür.«
Man erörterte noch ein paar Details, dann war alles geklärt. Turondur lud alle für den nächsten Tag zu sich zum Essen ein, dort könne man sich dann noch etwas besser kennen lernen. Für Gildofal war es ein langer Tag gewesen. Erst der lange Flug, dann die Ankunft in Daelbar, die Gespräche mit Gilfea und schließlich die Besprechung mit dem Rat. Er fühlt sich müde und war sehr froh, dass Turondur seine Einladung für den nächsten Tag ausgesprochen hatte. Eigentlich gab es nur noch eine Sache, die Gildofal für diesen Tag plante: ins Bett gehen und schlafen. Überhaupt, ein Bett! Was für ein Traum von einem Gedanken. Seit er das Reservat verlassen hatte, hatte er kein wirkliches Bett mehr gesehen.
Müde schaute er über die Brüstung auf die Stadt. Es war ein klarer und auch recht milder, sogar sonniger Wintertag gewesen, doch war dieser, wie alle Tage im Winter, früh zu Ende gegangen. Die Sonne war längst hinter den Bergen verschwunden. Überall in Daelbar flammten Lichter auf und ließen die Hügel funkeln und glitzern. Diese Stadt kannte keine Dunkelheit. Sie war ein leuchtender Stern dort, wo sonst nur Finsternis herrschte. Gildofal ahnte, dass er sich hier sehr wohl fühlen konnte.
Eine ungeklärte Frage gab es dann allerdings doch noch. Wo sollte er schlafen? Uskav war von Roderick eingeladen worden, in dessen Höhle bei Caransil zu schlafen, da er, Roderick, die Nacht eh bei Thonfilas verbringen würde. Der Uruk nahm das Angebot an. Wie es aussah, schien ihn etwas mit Caransil zu verbinden. Denn statt in Rodericks Raum zu schlafen, baute er sich ein Nachtlager direkt in der Höhle des Drachens.
Und Gildofal? »Du kannst erst einmal bei mir schlafen.«, bot Gilfea an, »Ich habe ein Gästezimmer in meiner Höhle.«
Gildofal stimmte dankend zu. Nachdem auch diese Frage geklärt war, verabschiedeten sich Turondur und Franciscus von der Gruppe. Roderick flog direkt mit Thonfilas auf Lindor, während Caransil sich Uskav mit seinen Klauen krallte. Gildofal und Gilfea blieben noch einen Moment auf dem Berg des Rates.
»Woran denkst du?«, fragte Gilfea leise, als er sah, dass Gildofal nachdenklich über die erleuchtete Stadt schaute.
»Es ist so viel passiert. Vor ein paar Wochen war ich ein ganz normaler Durchschnittsschüler. Und jetzt stehe ich am Rand des Machtzentrums der wohl wichtigsten Stadt unserer Welt, und weiß nicht mehr, wer ich bin.«
Statt sofort zu antworten, stellte sich Gilfea an Gildofals Seite und schaute ebenfalls über die Stadt. Mit leiser Stimme begann er schließlich zu reden: »Ich weiß, was in dir vorgeht. Ich habe es selbst erlebt. Du denkst, du hast ein schönes, einfaches Leben und plötzlich aus heiterem Himmel, reißt man dich mit Gewalt daraus heraus. Du weißt nicht, was mit dir geschieht. Alles um dich herum ändert sich und ist in Aufbruch. So fühlte ich mich, als ich vor vier Jahren hier mit Mithval ankam.«
»Wird es besser?«
»Ein wenig. Ich habe ein paar Freunde. Einige, wie Franciscus, hast du bereits kennengelernt.«, meinte Gilfea nachdenklich.
»Und was ist mit Roderick und Thonfilas? Sind das keine Freunde?«
Gilfea lächelte: »Nein, sie sind meine Familie, so etwas wie meine großen Brüder.«
»Weil sie, wie du, schwul sind?«
Gilfea zuckte zusammen: »Nein, die beiden gehörten zu der Gruppe von Drachenreitern, die Mithval und mich nach Daelbar holten. Es waren sieben Drachen und ihre Reiter. Diese sieben sind ein eingespieltes Team. Ich bin immer wieder verblüfft, wie sie ohne viele Worte perfekt zusammenarbeiten können. Turondur mit Toldin gehört ebenfalls dazu. Alle sieben haben mir von Anfang an das Gefühl gegeben, in Daelbar willkommen zu sein.«
»Na ja, bei deinem Drachen.«, Gildofal wusste nicht, warum er das sagte.
»Denkst du das wirklich?«, Gilfea war ein wenig entsetzt.
»Nein…«, gestand Gildofal leise, »Nicht wirklich. Es ist nur… Ich fühle mich einsam. Ich weiß nicht, was kommen wird.«
»Du bist nicht allein.«, sprach Gilfea zu Gildofal in seinem Geist.
Drachenkinder
»Bist du ein Uruk oder ein Waschlappen?«
NARSUL zu USKAV am ihrem ersten gemeinsamen Flugtag.
Obwohl Gildofal hundemüde war, lag er in seinem Bett und bekam kein Auge zu. Tausende Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Er hatte sein Ziel erreicht. Er war in Daelbar. Und nun? Sollte er ein Drachenreiter werden? Warum war Turondur nicht auf darauf eingegangen, dass er ein Lycanthrop war? Hatte sich Gilfea wirklich in ihn verliebt? Wie sollte er damit umgehen? Das Thema brachte ein paar sehr spezielle Erinnerungen zurück. Gildofal musste an Krotos und seine Spießgesellen von Orks denken, die ihn ständig als Elbenschwuchtel verarscht hatten. Es hatte dazu geführt, dass er hasste, was er nicht kannte. »Schwuchtel« war ein Universalschimpfwort an seiner Schule gewesen. Wobei Gildofal nie so recht klar war, was Krotos eigentlich immer so aufbrachte. Was hieß schwul denn wirklich? Das man sein eigenes Geschlecht bevorzugte? Und wenn ja, was war daran so schlimm? Gildofal musste einsehen, dass er Krotos Lieblingsschimpfwort nie hinterfragt hatte.
Aber was war mit Gilfea?
Gildofal wühlte in seinem Bett umher, fand aber keine bequeme Stellung. Daran war das Bett völlig unschuldig. Gilfea! Wie kommt dieser Drachenreiter auf die Idee, sich ausgerechnet in mich zu verlieben? Diese Frage nagte an Gildofal und ließ ihn keine Ruhe finden. Entnervt stand er auf und öffnete ein Fenster. Die hereinströmende Luft war kühl und erfrischend. Vielleicht, so hoffte Gildofal, beruhigt es auch meine Nerven.
Irgendwann, spät in der Nacht, war Gildofal dann doch eingeschlafen. Am nächsten Morgen wurde er von einem Aufschrei geweckt.
»Brrr! Mann, Typ, es ist Winter! Frierst du gar nicht?«, rief Gilfea, als er seinen Kopf in Gildofals Zimmer steckte, um ihn zum Frühstück zu rufen. Als er Gildofal in Eigenfellbekleidung im Bett liegen sah, schüttelte er nur seinen Kopf und meinte: »Frühstück ist fertig. Das gibt es aber vom Teller und nicht aus einem Napf!«
Müde öffnete Gildofal seine Augen und versuchte sich zu orientieren. Napf? Frühstück? Kälte? Winter? Gildofal versuchte aufzustehen, geriet aber in Koordinationsschwierigkeiten mit seinen Gliedmaßen. Das Ende vom Lied, mit einem lauten Gepolter landete Gildofal auf allen vieren vor seinem Bett und merkte erst dort, am Boden liegend, dass er sich über Nacht in seine Wolfsform verwandelt hatte. Ein Blick auf das immer noch geöffnete Fenster brachte die Erklärung. In der Nacht war es sehr kalt geworden, statt von der Kälte aufzuwachen, hatte Gildofals Körper einfach für Wärme gesorgt. Und sein Fell hielt erstaunlich gut warm.
Gildofal machte sich fertig. Wechselte seine Form, wusch sich und zog sich frische Kleidung an, die ihm Gilfea bereitgelegt hatte. Erfrischt und munter tauchte er in Gilfeas Küche auf und wurde von appetitanregenden Düften empfangen.
»Du kannst kochen?«, fragte Gildofal.
Gilfea zuckte mit seinen Schultern: »Ich bin allein. Was bleibt mir übrig? Außerdem macht es Spaß. Lembas?« Gilfea hielt Gildofal einen Korb mit frischen Lembas hin.
»Du machst Lembas?«, Gildofal kam aus dem Staunen nicht raus. Vor ihm standen Speisen aufgetischt, die einem Elbenhaushalt alle Ehre gemacht hätten. Alles war frisch und duftete verlockend.
»Thonfilas Einfluss. Er hat mir beigebracht, wie man kocht. Da er mit Leib und Seele Elb ist, koche ich jetzt ebenfalls elbisch.«
Gildofal nahm einen Happen und war erstaunt. Die Lembas rochen nicht nur gut, sie schmeckten einfach vorzüglich. Das elbisch gewürzte Wasser, das in einem großen Krug auf dem Tisch stand, verströmte einen feinen Honigduft und kribbelte in Gildofals Kehle. Gildofal konnte nicht anders, als Gilfea anzulächeln. Der lief rot an und nahm schnell einen Happen Lembas zu sich.
»Meintet ihr beiden das wirklich ernst?«, fragte Gildofal plötzlich.
»Wir beiden?«, fragte Gilfea zurück.
»Du und Mithval. Meint ihr, ich könnte wirklich ein Drachenreiter werden?«
Gilfea musterte Gildofal sehr ernst, aber auch mit einem leichten Anflug von Freude: »Es gibt wenig, was ich ernster meinte. Willst du denn?«
Gildofal seufzte: »Ich konnte letzte Nacht kaum ein Auge zumachen. Ich fühlte mich aufgewühlt und verwirrt. Der Gedanke, die Seele eines Drachens zu werden, ist gleichzeitig faszinierend, wie Furcht einflößend.«
»Wovor hast du Angst?«
»Meinem Drachen nicht gerecht zu werden.«, Gildofal spielte mit seiner Gabel, »Ich habe dich beobachtet. Wie du mit Mithval umgehst, ist dermaßen von Liebe und Zuneigung geprägt, dass ich nicht weiß, ob ich das könnte. Du merkst es vermutlich gar nicht, aber es gibt so vielen kleine Gesten zwischen dir und Mithval, dass man eure Verbundenheit fast physisch greifen könnte.«
Gilfea sah verträumt und glücklich drein: »Ist das wirklich so? Vielleicht hast du Recht. Aber die Verbindung mit Mithval ist wirklich etwas Einzigartiges. Wenn du wirklich ein Drachenreiter wirst, wirst du es erleben. Aber täusch dich nicht, Seele eines Drachens zu sein, stillt nicht das Verlangen nach Liebe zu einem anderen Wesen.«
»Na ja, bevor ich ein Drachenreiter werde, gehen ja noch Jahre ins Land.«, stöhnte Gildofal beim Gedanken, vier weitere Jahre die Schulbank drücken zu dürfen. Das andere Thema ließ er unkommentiert.
»Ich habe eine Idee. Vor zwei Wochen haben ein paar Drachen Eier gelegt, die müssten eigentlich die Tage schlüpfen. Wir könnten hingehen. Du hättest die Möglichkeit, dich mit den zukünftigen Drachenreitern zu unterhalten und mit ansehen, wie solch eine Verbindung zwischen Reiter und Drache geknüpft wird. Die Zeremonie steht jedem offen. Vielleicht hat sogar Uskav Interesse daran, mitzukommen. Es wär für ihn sicherlich interessant zu sehen, was er als General Daelbars verteidigt.«
Gildofal war von der Idee begeistert. Insbesondere mit anderen Drachenreiterkandidaten sprechen zu können, erschien ihm eine gute Gelegenheit zu sein, um ein paar Fragen zu klären, die er Gilfea nicht stellen wollte. Ganz überraschend war Uskav von dem Vorschlag ebenfalls sehr angetan und begründete seine Begeisterung fast mit den gleichen Worten wie Gilfea. Wenn er die Freiheit Daelbar verteidigen sollte, dann wollte er auch wissen, worin die Freiheit Daelbars bestand. Und das hieß, er musste alles über die Drachen und ihre Seelen lernen.
Es zeigte sich, dass Gilfea mit seiner Einschätzung, dass die neuen Eier »die Tage« schlüpfen sollten, falsch lag. Ein Anruf in der Drachenreiterschule klärte ihn darüber auf, dass die Zeremonie für den heutigen Tag angesetzt war. Die Fachleute, die sich um die Eier kümmerten, waren der Meinung, dass das Massenschlüpfen unmittelbar bevorstand. Auf diese Information hin machten sich Gildofal und Gilfea direkt nach dem Frühstück zur Drachenschule auf. Uskav wollte sie dort treffen.
Vor den Toren der Schule wurden sie bereits von einem der Lehrkräfte erwartet. Gilfea kannte Lehrmeister Quaskav noch aus seiner eigenen Schulzeit und freute sich, ihn wieder zu sehen. Dies galt offenbar auch für Meister Quaskav, der Gilfea fröhlich begrüßte: »Hallo Gilfea, wie geht es dir und deinem Quatschkopf von Monsterdrachen?«
Mithval, der sich damit beschäftigte von Zinne zu Zinne der hohen Schulmauern zu hüpfen, kicherte laut und deutlich, als er Quaskavs Bemerkung hörte, während Gilfea nur mit den Schulter zuckte und meinte: »Sie sehen es ja selbst. Immer nur Flausen im Kopf!«
»Ihr müsst nämlich wissen,«, begann Meister Quaskav zu Gildofal und Uskav gewandt, »dass Gilfea permanenten den Unterricht störte. Die ganze Klasse konzentrierte sich auf eine Aufgabe und plötzlich prustete unser Gilfea laut los und das nur, weil Mithval ihm mal wieder einen blöden Witz erzählt hatte. Er konnte natürlich nichts dafür, dass er lachen musste, aber für alle anderen war es zuweilen etwas anstrengend.«
Uskav und Gildofal bedachten Gilfea mit skeptischen Blicken, doch der zuckte nur mit den Schultern und setzte eine vollkommen unschuldige Mine auf: »He, schaut mich nicht so an. Ihr wisst doch, was Mithval für ein Quatschkopf ist.«
Obwohl die Bewohner von Daelbar bereits darüber informiert waren, dass ein Ork, sogar ein ausgewachsener Uruk, von nun an ein Teil der Bevölkerung war, sorgte Uskavs erscheinen für etliche erstaunte Gesichter. Jeder wollte Uskav mit seinen eigenen Augen sehen. Der Ork nahm es gelassen und zeigte sich von seiner professionellsten Seite, was aber den Eindruck, den er hinterließ, noch verstärkte. Durch jeden Klassenraum, jeden Fachsaal, den sie betraten, ging ein Raunen und alle Augen lagen sofort auf Uskav.
»Sitzt eine Morthorondspinne auf der Schulter oder waren glotzen mich alle an?«, scherzte sich Uskav, als sie vorübergehend unter sich waren.
»Nein, das nicht, aber hast du dich in letzter Zeit mal im Spiegel betrachtet?«, grinste Gildofal, »Deine neues Outfit ist sehr, ähm… figurbetont.«
Was eine schamlose Untertreibung war. Dabei musste Gildofal selbst schlucken, als er Uskav an jenem Morgen wieder gesehen hatte. Der Uruk hatte sich deutlich verändert. Die wohl auffälligste Veränderung an Uskav war olfaktorischer Natur. Er stank nicht mehr nach Tod und Verderben. Neben dem Geruch hatte sich auch seine Erscheinung verändert. Seine wilden, struppigen Haare waren gewaschen und zu Dreadlocks verarbeitet worden, die lang und akzentuierend seinen Rücken hinunter liefen. Der schäbige und abgenutzte Kampfanzug des königlichen Heeres war verschwunden. Stattdessen hatte sich Uskav für eine eher körperbetonte Bekleidung entschieden. Er war ein Uruk und wollte dies offenbar auch zeigen. Er war eben ein zwei Meter zehn großer Berg aus Muskeln, Sehnen und Knochen, welche es galt, optimal zur Geltung zu bringen. Möglicherweise fand Uskavs Körperkultur nicht bei jedem Anklang, aber egal, wie man seine Erscheinung bewertete, jeder blieb staunend stehen und glotzte dem Uruk sprachlos nach. Möglicherweise lag dies an der für Daelbaner ungewöhnlichen Materialkombination, aus der sich Uskavs Kleidung zusammensetzte. Leder und Stahl dominierten das Bild. Statt eines Hemdes oder eines T-Shirts zierte ein glänzendes Kettenhemd aus Edelstahlringen Uskavs Brust, welches locker an ihm herunterhing. Der Silber grau glänzende Stahl stand in einem interessanten Kontrast zu seiner eher schwarz-dunklen Haut. Passend dazu trug Uskav Figurbetonende lederne Beinkleider, an dessen Gürtel sein Schwertgehänge befestigt war.
»Warum soll ich leugnen, was ich bin. Ich bin ein Uruk.«, war alles, was Uskav als Kommentar dazu abgab.
Der Tag an der Schule war interessant und aufschlussreich. Gildofal fand mehrfach die Gelegenheit, mit Drachenreiteranwärtern zu sprechen. Selbst die drei Kandidaten des Tages zögerten nicht, auf alles zu antworten, was er wissen wollte. Natürlich waren sie aufgeregt und jeden plagte ein Rest Zweifel, ob sie der Aufgabe wirklich gewachsen wären. Trotzdem waren sie sicher, dass sie das Richtige taten. Alle hatte lange Gespräche sowohl mit Drachenreitern, als auch mit den Drachen selbst geführt. Die Aussage war immer die gleiche. Kein Drachenreiter hatte jemals bereut, die Seele eines Drachens zu werden. Und jeder Drache war sich sicher, dass er die für sich richtige Seele gefunden hatte. Je mehr Gildofal hörte, desto sicherer wurde er in seiner Überzeugung. Ja, auch er wollte ein Drachenreiter, die Seele eines Drachens, werden. Es war ebenso seine Bestimmung, wie es seine Bestimmung war, ein Lycanthrop zu werden.
»Wenn ihr dann kommen wollt? Es ist soweit, die Drachenbabys werden in wenigen Momenten schlüpfen.«, mit diesen Worten kam Meister Quaskav auf Gilfea, Uskav und Gildofal zugelaufen. Der Lehrer führte sie in den Hof zur Besuchertribüne auf der einen Seite und den Eiern auf der anderen. Die drei Kandidaten waren bereits anwesend. Gilfea wusste, was jetzt passierte. Der Direktor hatte bereits seine formelle Ansprache gehalten und gefragt, ob sie wirklich bereit waren. Das war das übliche Ritual. Die wirklich ernste Frage, ob sie bereit waren, stellte ihnen ihr Lehrer jetzt, direkt vor der Wahl.
»Da liegen aber mehr als drei Eier.«, bemerkte Gildofal und sprach Meister Quaskav darauf an.
»Ja, wir sind auch etwas verwirrt. Wir hatten eigentlich nur mit drei Eiern gerechnet. Die nächsten Kandidaten werden erst in einem halben Jahr soweit sein, dass sie als Seelen in Frage kommen könnten. Aber plötzlich waren es fünf Eier. Wir haben die Dracheneltern gefragt. Na ja, Gilfea kennt ja den etwas eigentümlichen Humor unserer geschuppten Freunde. Sie meinten nur >Überraschung<. Vermutlich sind es Schläfereier.«
»Du weißt doch was, oder?«, fragte Gilfea Mithval. Jener hockte auf einer Zinne hoch über dem Hof und schaute auffällig unauffällig auf die Szenerie herab.
»Ich doch nicht!«, kicherte Mithval, womit der Wahrheitsgehalt seiner Aussage absolut klar war.
Und dann begann es. Das erste Ei fing an zu wackeln und bekam Risse. Einen Augenblick später ploppte ein Stück der Schale ab und die Nase eines kleinen Drachens wurde sichtbar. Sekunden später begannen zwei weitere Eier, dem Vorbild des ersten zu folgen. Die Kandidaten begaben sich in die Mitte des Hofes und warteten. Sie waren aufgeregt. Gilfea erinnerte es daran, wie seine Freunde von ihren Drachen erwählt wurden, an das strahlende Gesicht Xus, als sie von einem blauen Seedrachen erwählt wurde oder an den entsetzten Gesichtausdruck von Franciscus, als sich Guldur ihm als Golddrache offenbarte.
»Sagtest du nicht, dass es nur drei Kandidaten gibt?«, riß Gildofal Gilfea aus seinen Gedanken.
»Was? Wieso? Was meinst du?«
»Dort an der Wand! Die zwei Eier in der Ecke, sie haben eben Risse bekommen.«
Gilfea folgte der Richtung, in die Gildofals Finger zeigte und tatsächlich, zwei Eier, von denen man nicht erwartete, dass aus ihnen in nächster Zeit etwas schlüpfen würde, bekamen nicht nur Risse, die ersten Schalenstückchen platzten bereits ab. Die mit der Pflege der Eier betrauten Brutpfleger hatten die neue Situation ebenfalls entdeckt, und begannen hektisch zu werden. Niemand wusste so recht, was man machen sollte. Es gab keine Kandidaten, außer den drei Schülern.
Mithval kicherte. Gilfea schaute zu seinem Drachen hoch und sah einen albernen schmunzelnden Drachen, der sich offenbar köstlich amüsierte. Als wenn das nicht reichte, begann Gildofal neben ihm plötzlich sehr blass auszusehen.
»Ich glaube es nicht, aber er ruft mich!«, stammelte der Elb.
»Wer?«, fragte Gilfea.
»Eariglin! Er fragt mich, ob ich seine Seele werden möchte.«, Gildofal schaute Gilfea unsicher und ängstlich an, »Was soll ich tun?«
Gilfea nahm Gildofals Hände in die seinen: »Tu das, was du für richtig hältst! Sei du selbst und nur du selbst. Wenn es wirklich dein Wunsch ist, ein Drachenreiter zu werden, dann tu es.«
»Ich habe Angst!«, stammelte Gildofal.
»Du brauchst keine Angst zu haben.«, ertönte eine warme, melodische Stimme in Gildofals Kopf. Sie erinnerte an Mithval und war trotzdem vollkommen anders,»Ich biete dir an, meine Seele zu werden. Aber ich dränge dich zu nichts. Entscheide frei und ohne Druck. «
»Was geschieht mit dir, wenn ich kein Drachenreiter werden will?«
»Nichts! Ich werde mich auflösen und die Erinnerung an mich wird verblassen und schließlich ganz verschwinden. Deine Entscheidung soll frei und ohne Reue sein.«
Gildofal standen Tränen in den Augen: »Ich will!«
»Dann komm zu mir!«
Gilfea merkte, dass Gildofal etwas verwirrt war und Schwierigkeiten hatte, die Besuchertribüne zu verlassen. Er nahm daher Gildofal an die Hand und führte ihn in die Mitte des Hofes. Dort wurden sie bereits von einem kleinen grauen schmunzelnden Drachen erwartet.
»Danke Gilfea, dass du mir meine Seele bringst!«, bedankte sich das Reptil.
»Sei nett zu ihm.«, meinte Gilfea mit einem Grinsen um die Nase.
Der Drache blinzelte Gilfea zu, wandte sich dann aber an Gildofal:»Bist du dir sicher, dass du es wirklich willst?«
Statt sofort zu Antworten, ging Gildofal auf den kleinen Drachen zu, hockte sich vor ihn hin und streichelte ihm über die Schuppen: »Ich wüsste nichts, was ich lieber täte.« Gildofal war dem Drachen verfallen. Kaum hatte er das kleine Wesen erblickt, war er dessen Charme erlegen. Obwohl noch gar nicht klar war, was für ein Drache Eariglin werden würde, empfand er bereits jetzt eine unendliche Zuneigung.
Der Drache nickte und sah Gildofal an. Seine Augen begannen rot zu glühen. Das Glühen wurde heller, verließ die Augen des Drachens und hüllte sie beide ein. Gildofal fühlte, wie eine ungeahnt starke Energie ihn umschloss und in ihn eindrang. Alles um ihn herum war rot. Alles strahlte. Selbst, als er seine Augen schloss, war das Glühen zu sehen. Es war in ihm und breitete sich aus. Und plötzlich war er da, Eariglin, der Drache war in ihm, füllte ihn aus und wurde eins mit ihm. Es war ein fantastischer Moment. Gildofal fühlte sich plötzlich unendlich glücklich. Was dieser kleine Drache ihm gab, war ein Geschenk, für das er mehr als dankbar war. Obwohl Gildofal sich im Moment der Vereinigung jenseits von Raum und Zeit befand, gelang es ihm, Eariglin zu umarmen.
»Danke!«, meinte Gildofal.
»Nein, ich danke dir, Gildofal, Seele von Eariglin!«
Das Glühen um Drachen und Seele verpuffte und zerstob in myriarden kleiner glitzernder Sternchen. Zurück blieb Gildofal, der einen leuchtend blauen Drachen seinen Armen hielt.
»Nett!«, kommentierte Gilfea den blauen Drachen, als sich hinter ihm eine tiefe Stimme räusperte.
»Ähm, könnte mir jemand sagen, was ich jetzt machen soll?«, knurrte Uskav mit einer für einen Uruk ausgesprochen untypischen Verlegenheit in seiner Stimme, »Ich glaube, ich bin soeben ein Drachenreiter geworden. «
Gildofal, Gilfea und sogar Eariglin wirbelten zum Ursprung der Stimme herum. Dort stand ein sichtlich verunsicherter Uruk, der ein feuerrotes Drachenbaby in seinen Armen hielt.
»Darf ich euch vorstellen.«, fuhr der Uruk fort und sah, noch urukuntypischer, verträumt seinen Drachen an, »Dieser schuppige Winzling ist Narsul«
»Hallo Leute«, grinste Narsul.