Erinnerungen

Einleitung:

Etwas unernst hier mein Versuch, sich mit einem sehr ernsten Thema zu befassen.

Im Ernst zum Inhalt: Ich hatte eine ganze Weile mit einem Rollifahrer zu tun (krebskrank) und das alles wird mich auch noch eine Weile innerlich beschäftigen. Und diesen Berry gibt es in der Bekanntschaft wirklich.

Man, bin ich wütend! Nun muss ich hier still liegen – dabei ist mein Terminkalender heute so etwas von voll! Aber wie heißt es so schön: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt: Kaum habe ich in der Frühe meine Wohnungstür verlassen, da bin ich hingeknallt. Mein Kopf war schon auf der Besprechung, hat das Glatteis zu spät bemerkt. Fazit: Hab vom Doktor Ruhe für mein Knie verordnet bekommen. Lust, bei den Schmerzen noch durch die Gegend zu laufen – ich doch nicht. Genug Zeit also, um endlich mal einige Erinnerungen für meinen Sohn aufzuschreiben. Ich habe ihm ja nie alles erzählt… und aufschreiben ist für mich weniger anstrengend, als bei dem Inhalt vor Peinlichkeit ins Schwitzen zu kommen. (Eltern verstehen das…) Dann muss ich ihm nur mal bei Gelegenheit den Text unterschieben. Termine sind vorerst ja keine, so will ich es zumindest versuchen. Das kaputte Bein schön hoch gelegt, die Tastatur irgendwie sehr unbequem auf den Bauch, schon geht es los. Wie schreib ich es denn – aha, werde es wohl als Geschichte verfassen.

Versuch beginnt:

Hallo Leute! Mein Name ist Stefan und Ihr dürft mich ein wenig in meinem Leben begleiten. Ich bin gestern Vierzehn geworden. Und es war eine für mich tolle Feier! Alle Pfleger und die beiden Zivis haben sich den ganzen Tag um mich sehr gekümmert. Von meinen Freunden hier habe ich dann noch ein ganz besonderes Geschenk bekommen: Sie haben für mich ein Geburtstagslied gesungen, sogar selbst komponiert. Das ist gar nicht so einfach – singt Ihr mal laut und deutlich im Liegen. Ja, liegen dürfen wir hier alle – den ganzen Tag, die ganze Nacht, diese Woche, den nächsten Monat und das folgende Jahr. Immer. Für viele der Normalzustand schon seit Geburt. Na gut, ich persönlich kann ja etwas sitzen. Und dann noch die schöne Torte! Mein bester Zivi Eugen hat mir die Kerzen dicht vor das Gesicht gehalten, und ich konnte sie sogar alle auspusten.

Nach dem Mittagessen war gemeinsames Eisessen angesagt, im Ort in der großen Eisdiele. Die mussten wir allerdings extra buchen, weil bei „normalem“ Betrieb gäbe es Schwierigkeiten mit den ganzen Rollis, dem Platz und wegen den Behinderungen der Gäste durch uns. Finde ich schade so, denn wir stehen schon etwas abseits vom Leben, so als Querschnittsgelähmte, und wir sind immer froh, auch mal andere Leute und Orte zu sehen. Immer nur das Pflegeheim ist nicht genug. Es soll ja sehr schön hier sein, auf der Insel Usedom, sagt man, aber meistens sehen wir nur den großen Park und den Strand da gleich hinter der großen Düne. Ich kriege sofort Depressionen, wenn ich die gesunden Kinder dort im Sommer alle schwimmen und toben sehe. Besser ist es in unserem eigenen Bad, auch das ganze Jahr schön warm, wo wir versuchen, unsere Gliedmaßen in Schwung zu halten. Das ist kein unbedingt schöner Anblick, so ein mickriger Körper, der kaum Muskeln hat… Wir haben ja als Gegensatz und Anschauungsstücke die Zivis immer im Blick, weil die uns ständig helfen müssen, im und am Wasser. Allein wäre ich wohl schnell abgegluckert. Wenn Ihr aber glaubt, wir würden alle nur den ganzen lieben Tag unsere Situation beweinen und über unser schlechtes Leben grübeln – da irrt ihr! Wir haben ja noch unsere Köpfe, extra lose Mundwerke und jederzeit einen guten Spruch auf Lager. Das ist fast wie ein Sport mit Worten unter uns. Und wenn man alles, was man mit dem Kopf und den daran befestigten Teilen machen kann, berücksichtigt, ist das Leben schon mal ganz interessant. Musik hören und den Fernseher an ist doch auch nicht so schlecht, oder? Für viele vollkommen Gesunde ist das der ständige und einzige Tagesinhalt. Aber so richtig gesund sind die nicht, finde ich! Kennen wir es hier denn auch anders…

Und nun rolle ich wieder mal so durch die Gegend, äh – Gänge, die Fahrstühle rauf und runter, und kann mich als Spiegelbild an der Glaswand zu unserem Gemeinschaftsraum sehen. Die Abendsonne steht eben günstig. Aufpassen, Stefan, sonst gibt es Bruch! Mein Elektroflitzer ist ganz schön schnell und wenn ich nicht richtig navigiere, habe ich schnell Jemanden über den Haufen gefahren, wie normal auch im Straßenverkehr. Mein Gesicht: Ohren. Viele Ohren. Und gut zu sehen, weil abstehend. Mist. Ziemlich stolz bin ich auf meine langen, gewellten und hell-blonden Haare. Wie ein Engel, höre ich oft. Dann ist da noch ein ziemlich langes Gesicht mit einer dazu passenden langen, schmalen Nase. Augen auch, und zwar dunkelbraun und groß. Die Hände ruhen auf den Hebeln, ziemlich lange und schmale Finger sind da dran. Ja, meine Hände kann ich recht gut gebrauchen, aber leider sind die Arme total ohne Power, und sehr lang und dünn. Auch sonst ist alles nur eher schmal, so als ob ich immer noch elf oder so wäre. Und nur 1,65 hoch, oder besser lang wenn liegend, denn richtig hoch geht ja bei mir alleine nicht. So, Captain Kirk, beame mich wieder auf mein Zimmer!

Nun, ich bin hier schon, seit ich denken kann. Man sagt, ich wäre mal aus dem Fenster gefallen, und deswegen haben mich irgendwelche Eltern hier abgegeben, weil die ein kaputtes Kind nicht haben wollten. Haben sich ein neues Ganzes gemacht, hörte ich mal. Zu denen kann ich aber nichts weiter berichten. Unbekannt verzogen, oder so. Und darum besucht mich nie einer. Und das ist der Punkt, womit ich nicht gut mit klar komme. Das ist das Letzte, und das Mega-Allerletzte, denn alle sonst bekommen Besuch, und ich suche mir dann einen Platz zum ungestörten Schmollen. Und wenn ich sehe, wie eine Mutti ihr Kind küsst, könnt ich heulen. Andere Jungs in meinem Alter würden sich ja vielleicht schämen, so in der Öffentlichkeit und mit bereits fünfzehn, aber mich hat noch nie jemand geküsst oder mir sonst direkt körperlich gezeigt, dass man mich richtig gern hat! Ich meine jetzt nicht nur lächelnd meine Hand schütteln und mir Geschenke verpassen. Sind ja alle hier meist nett zu mir, aber ich denke trotzdem, da wäre noch eine Steigerung möglich… Zimmer eben erreicht und gleich wieder kehrt gemacht. So, geht jetzt bitte. Jetzt ist mal wieder der Punkt, da möchte ich lieber alleine sein!

„Hallo! Guten Morgen. Na, Ihr schon wieder. Bin doch gerade erst aufgewacht. Habe nicht so früh mit Euch gerechnet, aber schön ist es doch mit Euch. Mag nicht so gern allein sein, wie Ihr schon bemerken konntet. Kommt doch einfach mit.“

Heute ist keine Schule, steht seit Tagen an der Wandtafel auf dem Flur. Wegen Handwerkern. Die bauen hier was oder so, keine Ahnung. Nach dem Frühstück nimmt mich Eugen mit nachhause, hat er mir vor 5 Minuten gesagt. Heute ist kein guter Aufenthalt hier für mich und für ihn kaum was zu tun. Abfahrt so in 45 Minuten. „Na, mitkommen? Nö? Bis denne dann.“

Im Rollimobil, einem speziell ausgestattetem Kleintransporter, geht es Richtung Wolgast. Allein nur die Gegend so zubetrachten, bereitet mir schon Freude. Eugen bewohnt mit seiner Freundin ein Ferienhaus, welches seiner Verwandtschaft gehört, und das, bis seine Zivizeit vorbei ist. Fasziniert beobachte ich die Küsserei, die zwischen Eugen und seiner Freundin bei der Ankunft ausbricht. Haben die mich jetzt nicht irgendwie vergessen… Ohne dass ich groß nachdenke, entwischt meinem vorlauten Mund ein kräftig forderndes, „Und ich?!“, was zwei Leuten die Gesundheit retten dürfte, denn jetzt holen beide tief Luft. Oder ist es mein Einwand, der für Entrüstung sorgt… Erst jetzt werde ich wohl als Jemand wahrgenommen, der auch seine Bedürfnisse hat, scheint mir, denn vier Augen sehen mich erst forschend, dann spitzbübisch an. „Moment Mal – Dich nehmen wir als Nachtisch!“ Schon spüre ich Lippen auf meinem Mund und zwei Hände links und rechts auf der Schulter. Ich bin überrumpelt. Chaos im Hirn breitet sich aus. Um das noch völlig unbekannte Gefühl voll genießen zu können, vor allem auch entspannt, müsste ich aber bestimmt noch viel üben, scheint mir, denn ich brauche einige Zeit, um meinen Mund eine dem Kuss entsprechende Form zu geben. „So, nun bin ich dran.“ Eugen.

Kurzschluss im Schaltkasten. Alte Verdrahtung auf den Müll, neue angeklemmt, mit Verbindungskabel in Richtung Sexualität.

Leider kann ich ihn nicht festhalten, was ich automatisch hab tun wollen. Ab jetzt öffnet sich für mich eine neue Sicht: Waren mich umgebende Personen vorher Objekte meiner Umgebung, nur eine Art Zubehör meines Lebens, so sind es nun auch bestimmte Reize auf mich ausübende Personen, sexuelle inbegriffen. (Eine Wertung zwischen den Geschlechtern – dazu ist es in meiner Lage allerdings noch zu früh.)

Als Eugen am Nachmittag mich durch einen großen Elektronikmarkt lotst, bin ich nicht ganz bei mir, denn zu viel Neues gilt es für mich zu verarbeiten, was noch Tage dauern dürfte. Die elektrische Steuerung vom Rolli auf „Aus“ und Arm-Antrieb durch Eugen auf „Ein“ geschalten, besser so. Was mein Aufenthalt mit ihm dort eigentlich bezweckt, verstehe ich nicht. Ich habe mich im Moment um für mich viel wichtigere Dinge zu kümmern, als Computer und anderen Technikkram… Spät am Abend komme ich erst ins Bett. Und bin so etwas von müde.

(edit: Jetzt habe ich so was die Schnauze voll von der Tastatur auf dem Bauch. Habe ein altes Schulheft gefunden, ja, und wie lange schon nicht mehr als eine Unterschrift nur mit der Hand geschrieben…)

„Guten Morgen in die Runde. Habe nicht viel Zeit für Euch. Schule, Ihr versteht…“ Wenn Ihr jetzt nicht folgen mögt – ich habe Verständnis. Nur, warum muss ich meinen Super-Elektro-Rolli-Ferrari tauschen gegen so ein altes Teil? Nur bis zum Abend, wird mir gesagt.

Wenn Ihr jetzt nicht zuschaut, verpasst Ihr was: Ich sitze sehr bequem in meinem Rolli und sehe Internet. Und das ohne großen Monitor – habe eine Videobrille auf. Sieht allein für sich schon ziemlich cool aus, und es gibt keine Schwierigkeiten mit Blendeinwirkungen auf den Monitor, wie sonst oft. Neben mir steht der Techniker-Azubi einer bekannten Firma, der mir den Tag über alles in den Rolli eingebaut hat. Nur WLAN muss da sein, mit dem Netzwerkkabel anschließen hätte ich arge Probleme. Wenn Ihr jetzt aber glaubt, ich werde hier bevorzugt – alle, bei denen es vom Vermögen her Sinn macht, bekommen auch so etwas. Gespendet. Aber ich bin der Erste! Bedienen werde ich alles über ein System mit zwei Mäusen und vielen Sondertasten können, und auch mittels selbst programmierten Funktionen, behauptet der Techniker. Ob ich es kann muss sich erst erweisen. Lernen, lernen, lernen – mir raucht jetzt schon der Schädel von der langen

Einweisung! Monate später:

Ich bin das rollende Auskunftsbüro und habe auf jede Frage die passende Antwort. Glaubt Ihr nicht? Testet selber und fragt mich was! Ich kann es Euch erklären: Mittlerweile bin ich der Internet- und Computerfuchs hier im Haus. Obwohl ich das Ding noch niemals richtig gesehen habe und angefasst schon gar nicht, weiß ich schon ziemlich alles rund um meinen Computer. Und mit den Fragen beantworten – da ist viel Schummeln bei, denn gleichzeitig, wenn mich einer was fragt, lasse ich mir diese im Internet beantworten, etwa von Wikipedia und sehe die Antwort in der Videobrille. Und das Allerbeste ist, ich habe viele neue Freunde gefunden. Vollkommen gesunde, als auch Leute, die noch viel mehr Probleme mit dem Körper haben als ich. Wie zum Beispiel Berry aus den USA. Der hat nur einen Stift im Mund und bedient damit seinen ganzen Computer. Ja, sicher, so schnell ist er dabei nicht, aber er kann damit sogar Bilder malen, richtig coole Serien, die viel Sinn machen und für viel Lachen hier sorgen.

Ein neuer Zivi ist auch da. Robert. Gut, dass der sich mit meiner Technik auskennt, der will auf dem Gebiet sogar mal was studieren. Aber an dem ist was komisch: Während des Nachtdienstes schläft der oft auf meinem Zimmer in dem leeren Bett an der Tür. OK, es ist ja meist nie was richtig los in der Nacht, das finde ich schon gut so. Aber wenn ich mal nicht schlafen kann, höre ich von dort merkwürdige Geräusche, als ob er mit was kämpft, und die Bettdecke bewegt sich. Da ich nicht weiß, wie ich das im Internet eingeben muss, werde ich ihn einfach mal fragen, was es damit auf sich hat.

Robert ist sauer. Stinksauer, glaube ich. Erst wurde er ziemlich rot im Gesicht bei meiner Fragerei draußen während des Spazierganges, dann hat er eine Weile nicht so richtig mit mir gesprochen. Wenn er es mir nicht erklärt – ich verstehe es nicht. Erst nach Tagen ist er wieder so wie vor meiner Befragung. Und dann erklärt er es mir, dabei erstrahlend im tiefsten Rot! Den Rest besorgt das Internet. Gebt doch nur mal die passenden Wörter ein. Ihr wisst schon…

Nun habe ich ein Problem. Ich will es auch probieren, mein Schwanz will es neuerdings sogar unbedingt, aber meine Arme haben nicht genug Kraft dafür. In meiner Not begehe ich einen riesen Fehler. Mein Spruch an seine Adresse: „Wenn Du es mir nicht zeigst, sage ich dem Chef, was Du so nachts in meinem Zimmer machst!“ Und er hat es mir gezeigt. Erst habe ich kaum was bemerkt, und es hat lange gedauert, aber ich bin genau zu dem Erfolg gekommen, wie es im Internet auch beschrieben ist und es jeder Junge mal kennen lernen wird. Einfach nur geil, mega geil, hoch drei sogar. Mit einem sehr bitteren Nachgeschmack allerdings etwas später, denn Robert hat sich auf eine andere Station versetzen lassen und wird mir nun in Hunderten von Jahren noch böse sein, glaub ich. Ich habe jetzt verstanden, dass er so etwas an mir nicht tun darf. Nie durfte. Und ich hätte ihn niemals erpressen dürfen. Mist – aber auch wieder nicht. Ich habe dabei gelernt, in zweierlei Hinsicht. (Edit: Und ich bin heute froh, dass ich alles so gemacht habe – hat es mich letztendlich viel weiter gebracht.)

Ja, was glaubt Ihr denn – was man einmal so schön erlebt hat, soll doch nicht nur blosse Erinnerung sein! Ich habe mich dann mehrere Wochen abgequält mit dem rechten Arm, dann wieder den linken, und so weiter geübt, wie alle Teenager, doch weitaus mühevoller. Und heute hat es endlich geklappt! Das Pflegepersonal wird sich künftig regelmäßig wundern, wenn das die Bettwäsche wechseln muss. Andere nehmen Tempos… Eine Riesen Sauerei! Mir doch egal, ich liebe mein Vergnügen. Ein ganz anderer Nutzeffekt ist nun – ich habe gemerkt, ich kann mehr, als ich eigentlich dachte zu können. Ich kann mich noch entwickeln.

Nach längerer Zeit meines speziellen Übens – aber natürlich habe ich auch andere Sachen in der Zwischenzeit gelernt – das ist doch nicht gesund, was Ihr denkt – kann ich von meinen Hormonen profitieren. Die geben mir Kraft, Ausdauer, verändern mein Aussehen und machen mich angriffslustig. Nun will ich das Leben gewinnen, das ganze. Ich lese viel über meine Krankheit, nächtelang. Auf einer Seite bin ich oft, Professor Woronzow seine in Moskau. Er hat schon mehrfach hoffnungslose Fälle wie mich behandelt und geheilt! Und ich träume jede Nacht, dass er mir hilft und ich richtig gesund werden kann. Aber da ist ein Haken: Da steht auf englisch: „Zahlen Sie bitte den Betrag von 1.000.000 Euro auf mein Konto.“ Erfolgsgarantie allerdings gibt es nicht.

Dann beschließe ich, kriminell zu werden. Ich will mir das Geld beschaffen, mit meinen Mitteln, also über das Internet. OK – als Pornostar bin ich nicht zu gebrauchen, diese Seiten habe ich auch schon entdeckt, Hollywood will mich nicht, und als Popstar bin ich schlecht. Erben steht leider auch nicht an, beim Banküberfall würde man mich nur auslachen. Was bleibst mir also weiter übrig… Mein Motto jetzt: Lieber gesund und zur Not im Knast, alles immer im Rolli!

Über lange Zeit bin ich nicht recht ansprechbar. Alles über Hacken, Anonymisierung, Codes knacken, Firewalls besiegen und letztendlich Geld besorgen lernen, das ist mein großes Ziel. Ich muss aber aufpassen, dass man mir den Rechner nicht wegnimmt, denn man glaubt schon, das Internet fügt mir gesundheitlichen Schaden zu. Diagnose internetsüchtig, im fortgeschrittenen Stadium. Zwischendurch schaue ich mich neuerdings auf speziellen Seiten um, die Jungs in meinem Alter abbilden. Ganz nackt. Habe ich zufällig gefunden und finde ich sehr interessant. Ich glaube, ich bin schwul. Was ich aber natürlich nicht genau weiss, denn mit Mädchen kenne ich mich nicht gut aus mangels Erfahrung – es ist mehr nur so eine Ahnung. Ich lese auch so bestimmte Geschichten…

Ich spreche wirklich mit Keinem mehr. Ist ja auch ganz einfach – mit mir will niemand mehr was zu tun haben. Alle glauben, ich bin der ganz eigenartige Sonderling, dem sein Computer als Umgang reicht. Und es wird Zeit, dass ich das wieder ändere, denn sonst befürchte ich schon selbst, dass ich mich an das Hackerleben gewöhne und nicht mehr zurück kann. Fragt mich mal nach der Jahreszeit – null Ahnung. Letztendlich habe ich etwas mehr als die Summe transferiert. Ich hoffe, dass meine Gaunereien nicht auffliegen, bevor ich behandelt worden bin und warte auf Bescheid aus Moskau.

Als bei meinem Arzt Unterlagen für Moskau angefordert werden, ist helle Aufregung im Haus! Natürlich werde ich als solventer Kunde mit einem Privatflugzeug transportiert werden. In der Billig-Airline ist es aber auch zu schwierig mit mir… Ja, was soll ich nun schreiben: Ich gebe ja zu – meine größte Angst ist die vorm Fliegen. Beim Doktor war ich schon so oft, und sehr intensiv – was soll mich die Behandlung also noch jucken, außer dem Ergebnis. In wenigen Tagen geht es schon los…

Zwischenzeitlich gibt es nichts weiter zu berichten. Ich kann ja nicht mal richtig aus dem Fenster schauen beim Fliegen, und dann erst im Rollitransporter. Da sehe ich leider auch nur hohe Häuser, manchmal. Nach einem Check meiner gesundheitlichen Eignung und dem Ausfüllen sowie Unterschreiben von viel Papier falle ich schon bald in den medizinisch verordneten Schlaf.

Aufwachen schaffe ich auch, wie ich dem scheinbar noch fernen russischen Gemurmel entnehmen kann. Dann ist bald alles wieder wie es immer war, und ich liege in einem speziellen Zimmer für Rollifahrer. Allerdings ganz allein und das in Moskau. Zwischenzeitlich werde ich mit Essen versorgt, kann lesen, TV sehen. Nur einfach so loslaufen, oder mich wenigstens irgendwie anders fühlen als sonst – das will mir nicht recht gelingen, und ich bekomme schon etwas Panik.

Plötzlich wird die Tür aufgerissen und Leute in Uniform stürmen herein und brüllen, „Sie sind verhaftet!“ Die legen mir sogar Handschellen an und ein Bein wird am Bettgestell befestigt – ich kann ja so etwas von gut weglaufen! In einem kahlen kalten Kellerraum lässt man das Rollbett mit mir drin stehen. Ich habe leider vergessen, mich über die russischen Gesetze zu informieren. In Deutschland bin ich minderjährig und wäre fein raus… In großer Angst lässt man mich bestimmt eine Stunde so schmoren, glaube ich. Nun, in die Hose machen geht ja nicht – ihr versteht – ein Glück auch!

Dann kommt ein ganzes Ärzteteam rein, mit Herrn Professor voran. „Ja, Herr Stefan, Sie haben uns ja sehr hereingelegt, aber für alles im Leben muss man bezahlen. Ich verspreche Ihnen, wir werden kein Minus machen. Wir werden Sie ausnehmen wie die sprichwörtliche Weihnachtsgans. Ihre Nieren werden heute schon gebraucht, und, na ja, eigentlich bleiben Ihnen nur einige wenige Knochen. Für alles andere von Ihren Bestandteilen sind die Verträge mit den neuen Eigentümern schon unterschrieben. Und wenn ich den letzten Schnitt mache, bevor Sie ableben – ich werde die Betäubung so einstellen, dass sie wirklich alles mitbekommen. Haben Sie mich verstanden?!“

Und wie ich verstanden habe… Ich bin schon dabei, und verdrehe die Augen pflichtgemäß, muss mich mit meiner selbstverschuldeten Lage abfinden. Da merke ich auf einmal ein Kribbeln in meinen Beinen, so wie ich es manchmal in meinen Armen spüren kann, wenn das Blut nicht richtig fließt. Das war dort noch nie! Sehr, sehr schade, lieber Stefan, aber das wirst du jetzt leider nicht weiter beobachten können. In Erwartung der letzten Spritze schließe ich bereitwillig meine Augen.

Ein Klopfen und Tasten an meinen Beinen ist denn aber was anderes, als ich nun zwangsweise erwarte. Klopfen und Tasten? Ich öffne meine Augen wieder etwas. Moment, diese Weißkittel da – waren das nicht auch die Leute in Uniform?

„Ach, mein lieber Herr Stefan. Wir haben uns das noch mal überlegt, und lassen Sie nun in einem Stück weiter leben. Mir scheint, unsere Operation war etwas erfolgreich und das ist an sich schon ziemlich selten. Wir wollen das gern noch beobachten. Wäre ja sehr schade dann, und ich muss ja auch auf das Renome meines Hauses achten. Erfolge sind dafür immer gut… Zur Not können wir Sie ja später immer noch schlachten.“ Schallendes Gelächter aller Anwesenden folgt nun. Hä??? Von den Weißkitteln in eigentlich nicht für meine Umstände adäquater Verhaltensweise, also laut lachend begleitet, finde ich mich bald in dem schon bekanntem Büro wie bei der Anmeldung wieder. Als ich mit dem Professor alleine bin, lächelt der mich doch sehr freundlich an. Was ist das nun wieder für eine Falle?

Mein Gesicht ist wohl verformt zu einem Fragezeichen. Jetzt scheinbar wieder ernst, beginnt der Professor zu reden. „Bitte machen Sie sich keine Gedanken und verzeihen Sie uns unser Theater, was wir für Sie extra gut aufgeführt haben. Zu unserem größtem Vergnügen, muss ich gestehen. So was wie Sie ist uns auch noch nicht unter gekommen. Ich glaube, Sie nehmen es noch gut mit der hiesigen Mafia auf, und würden dort später gut bezahlte Arbeit bekommen können. Viel lieber wäre mir aber, wenn wir auch künftig in Verbindung bleiben könnten. Ich würde auch gern Ihre Station in Deutschland kennen lernen. Wenn da noch mehr solche Verrückten wie Sie sind… Wir benötigen immer dringend geeignete Testpersonen. Also Chance auf kostenlose Heilung – oder alles bleibt wie es ist, für die schweren Fälle. Bezahlung ist übrigens für Sie kein Thema mehr. Es gibt immer ein paar Reiche, die Gutes mit ihrem vielen Geld ausrichten wollen. Für Sie mit Ihrer besonderen Geschichte könnte ich sogar mehr als genug Stifter finden. Ich wünschte mir, mein Sohn hätte nur ein Zehntel von Ihrer Energie, Stefan. Ach, und bitte, Sie sind für heute Abend bei mir zu Hause eingeladen. In Ihrem Fall dulde ich keine Widerrede. Was ich noch vergaß zu erwähnen: Theoretisch sind Sie nun vollkommen gesund. Nur müssen Sie alles wieder lernen, was Sie als Kleinkind schon mal wussten. Windeln, Krabbelstube, Bauklötzer sage ich nur…“ „Danke, danke, Herr Professor!“

* * *

Nun beginnt mein Knie dermaßen verschärft zu schmerzen, und ich denke, andere Leute könnten ja auch mal was aufschreiben. Mein Lebenspartner wäre jetzt dran, wenn er denn mag. Mir reicht es heute definitiv.

Ich glaube, da kommt er schon. Ich höre seinen Dieseltransporter deutlich schnurren. „Schön, Igor, dass Du schon da bist. Mir ist ja heute was passiert…“ Nach der förmlichen Begrüßung gibt es erst mal die Vorspeise in Form eines langen Kusses. Unterbrochen von einem lauten und bestimmten, „Und ich?!“, fährt uns der Sohn mit seinem E-Rolli leicht gegen die Beine. „Au! Mein Knie!“ Aber woher soll Johannes das mit dem Knie auch wissen. Ich verkneif mir den Schmerz, aber seine Forderung eben, das kommt mir gerade so bekannt vor… Unauffällig schiebe ich den Entwurf meiner Sohnemannsgeschichte in die Schreibtischschublade. Will da morgen noch was ausbessern und überlesen.

Abends kommt Johannes ganz aufgeregt zu uns ins Wohnzimmer gefahren. „Papi und Papi, ich habe jetzt aber eine ganz dringende und wichtige Frage…“ Er hat da so ein altes Schulheft in der Hand…

Aufschreiben hat sich nun erledigt. Morgen fahre ich gemeinsam mit Igor ins Woronzow-Institut zur Arbeit. Noch einen Tag ausspannen, nein.

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