Verbindungen

Vorwort:

Meinem Onkel gewidmet, der mir immer wie ein guter Freund und Vater war, der wie ich in Bützow zur Schule ging. Und meiner alten Heimatstadt.

„Tack“, macht mein neuer Gehstock auf dem Bürgersteig bei jedem zweiten Schritt. Ich bin auf meiner täglichen abendlichen Runde durch Bützow, meiner Heimatstadt seit nunmehr 75 Jahren.

Es ist kurz nach halb Zehn und ich bleibe wie immer an derselben Stelle stehen. Um mich zu erinnern, aber auch um zu verschnaufen. Hier, in diesem grauen Gebäude in der Nähe vom Marktplatz, bin ich mal zur Schule gegangen, habe später lange dort gearbeitet.

Ich höre immer noch das Kinderlachen in meinen Ohren, sehe zahlreiche, ihre Schultaschen schleppenden Kinder, die munter schwatzend auf dem Weg zur Schule sind.

„Guten Morgen, Herr Krause!“, zu Tagesbeginn.

„Guten Morgen“ – fast vierzig Jahre lang.

Nun ist das alte Haus schon lange nicht mehr benutzt. Und ein nicht benutztes Haus bekommt keine neue Farbe, keinen neuen Putz. Grau, alt, hässlich. Selbst für Mäuse ein schlimmer Ort, so ganz ohne weg geworfene Pausenbrote. Die neue moderne Schule ist weit weg, draußen am Stadtrand.

Mir kommt es so vor, als hätte man nur die Kinder aus dem Ort verbannen wollen. Und die Stadt hat jetzt ein großes Gebäude mehr, welches von der Baulichkeit nur einem vorbestimmten Zweck dienen kann, das ungenutzt als hässliches Objekt mitten im Zentrum stehen.

Damals als Schüler bin ich oft erst nach dem ersten Klingeln von zuhause los gelaufen. Bin trotzdem noch pünktlich gewesen, und musste nicht mal die Straßenseite wechseln! Wie immer rege ich mich innerlich auf und gehe lieber schnell weiter. Vorbei an Häusern, Jahrhunderte alt und oft etwas schief und krumm. Nicht nach Norm, aber mit viel persönlicher Note.

Schon als Kind habe ich die dicken, groben Balken bewundert, die an den unmöglichsten Stellen in unserer Wohnung sichtbar waren. Mein Bruder hat das später extra als dekoratives Element in sein Haus eingebaut. Und dann die schiefen Wände und Fenster. Alles sehr stabil, auch noch in fünfhundert Jahren und vielen folgenden Generationen.

Leider mangelt es immer mehr an den Bewohnern. Keine Arbeit, kein Geld, keine Bewohner, und auch keine Heizung im Winter im leeren Haus. Leerstand und Abriss. Wie die Karies frisst sich diese Krankheit durch die Häuser der kleinen Stadt, immer mehr Lücken hinterlassend. Nun, wenn einer kleinen Stadt in fünfzehn Jahren nach der Wende ca. 2700 Bürger „abhanden“ kommen, kann man sich die Auswirkungen vielleicht vorstellen. Ein großes Möbelwerk mit mehreren Betriebsteilen, welches europaweit ausgeliefert hat, existiert lange nicht mehr, und, und, und… Es ist die reine Tristesse und Hoffnungslosigkeit. Wo ist die Zukunft? Tief gebückt und in Gedanken, klappere ich über den Marktplatz. „Tack. Tack. Tack.“

Das Geräusch des Gehstockes verstummt, denn eine Flasche kommt geflogen und ich erschrecke. Mit einem lauten Klirren ist die Pfandflasche hinüber und ich fast vor Schreck tot. Neue Scherben neben den schon vielen anderen im Marktbereich. Nun sehe ich sie. Der „Stolz“ der Stadt, ein ganz besonderer Teil unserer Jugend: Springerstiefel, kahlköpfig, besoffen und laut krakeelend, kein schöner Anblick. Die Flaschen bleiben später mitten auf dem Mark zurück. Günstigstenfalls aufgereiht stehend, oft aber in Scherben. Nicht nur die Häuser gehen kaputt, mit ihnen wohl auch ihre Bewohner. Innerlich. Eltern, schon lange mit Harz-4 lebend, satt aber ohne Zukunft, können ihren Kindern schlecht positive Werte vermitteln. Dabei ging es der Stadt mal richtig gut als Universitätsstadt und Bischofssitz, ganz früher. Ich merke auch bei Familiengeburtstagen, wie die Stimmung im Ort sinkt. Ich habe von der Rettung gehört, die „Experten“ den ostdeutschen Stätten mit Einwohnerschwund zugedacht haben – abreißen! Warum aber nicht viel lieber wieder Möbel bauen hier im Ort, erst mal so als Notlösung…

Ich, wie immer mit Anzug und Krawatte bekleidet, bin der absolute Gegensatz zu den Jugendlichen, nicht nur vom Alter her. Getreu meinem Motto: Wer sich und auch seine Mitmenschen mag, kleidet sich entsprechend niveauvoll, würde ich selbst als Sozialfall nicht auf die Krawatte verzichten wollen. Solche Kleidung am Körper wie bei den Jungs da – das würde meinen Lebensgenuss arg mindern.

Haben wir was falsch gemacht, dass hier alles so gekommen ist? Und wenn, was? Wo sind die ganzen „Jungen Wilden“ hin mit ihrer unbändigen Energie und Lebenskraft, mit ihrem jugendlichen Optimismus, der Lust auf Veränderung? Sind die Besten alle abgewandert, und der „Rest“ blieb hier? Machen die jetzt die USA stark… Ich versuche, mir die ganzen jungen Leute wieder ins Gedächtnis zu rufen, die sich mir mit sehr guten Leitungen und ihrem starken Charakter über die Jahre eingeprägt haben. Es waren doch sehr viele, zu viele für meinen Kopf im Moment. Ganz die Körperhaltung und Gedanken auf Depression eingestellt, mache ich trotzdem meine Runde, und denke, und denke… Vor Tagen habe ich in den Nachrichten gehört, es wurde wieder was angesteckt bei einer Randale auf dem Markt. Mir kam es so vor, als hätte ich Brandstellen auf meinem Körper gespürt, so hat es mich getroffen.

Wieder in meiner Wohnung, sorge ich für Gemütlichkeit. Das ist für mich ein Glas Rotwein (oder zwei) spät am Abend und der neue Mac. Einen Fernseher hatte ich noch nie, denn das wäre für mich arge Zeitverschwendung. Wie immer schaue ich nach neuen Mails und habe etliche Zeit damit zu tun, alle meine Kontakte zu pflegen. Für politische Nachrichten muß auch noch Zeit sein. Oft bin ich aber auch einfach nur am Musik hören. Unter anderem die Auswahl an Musikvideos auf Youtube hat es mir sehr angetan. (Vier Lautsprecher-Boxen und ein hochwertiger Verstärker sorgen für den von mir bevorzugten Klang.) Dann sind noch nicht alle neuen Bücher gelesen. Und mit alten Freunden will ich noch telefonieren. Und noch was schreiben. Also Langeweile ist nicht so mein Ding. Heute könnte ich etwas Melancholisches für meine Seele vertragen. Vielleicht alte Filmmusik? Ich gehe in Gedanken durch, was ich so kenne, aber das habe ich schon zu oft gehört. Meinem Lieblingsurlaubsland entsprechend, bin ich schnell bei italienischen Meistern in meiner Auswahl angekommen. Kurz die Titel angehört, dann dringt mir eine Melodie ins Ohr, die mich sehr berührt. Orchestermusik. Ein Dirigent, nicht mehr jung, scheinbar groß gewachsen, schlank und sehr würdevoll, schwingt seinen Taktstock vor Leuten beinahe jeden Alters. Und auf jedem Gesicht ist eine Verzückung, als würden sie nicht nur ihre Arbeit erledigen – nein, sie machen den Eindruck, als hätten sie momentan das aller schönste Erlebnis in ihrem Leben. Ich lese: Ennio Morricone.

Seine Musik ist von einer so urgewaltigen Kraft, meine Sinne sind dem mehr als aufgeschlossen, aber der Mann auf dem Podest und sein Orchester, dieses Miteinander, und dieses geistige Leuchten, was von dem älteren Herrn auszugehen scheint, der dadurch für mich zu einem, trotz seines Alters, sehr schönem Mann wird – das fasziniert mich sehr. Hatte ich dieses überaus freudige Miteinander mit meinen „Orchestern“, also Klassen, und ich als „Dirigent“ – Lehrer auch schon mal so erleben dürfen? Ich muss mir leider eingestehen, eher sehr wenig. Mehr, wenn ich die Pausen angekündigt habe… Hin und weg von der Musik, lade ich mir alle verfügbaren Stücke herunter und rette sie schnell auf CD.

Nun bin ich so aufgedreht, und wie immer an dem Punkt, wo ich mich unbedingt mitteilen muss. Mein alter Schulfreund, nur einige Häuser weiter wohnend, ist mir oft eine große Hilfe und leiht mir geduldig sein Ohr. Mit der CD in der Tasche, bin ich auf dem Weg zu ihm.

Paul. Er sitzt wie immer in seinem großen TV-Sessel, oder für ihn passender formuliert: Thron. Hat es doch bei seiner massigen Gestalt und Erscheinung etwas Erhabenes, wie er so dasitzt, der alte erfahrene Personaler. Mit einem wachen Blick, der alles aufzusaugen und zu verstehen scheint. Trotz aller Krankheiten und Schmerzen, die ihn plagen, habe ich ihn niemals klagen hören. Nach einem einleitenden Austausch von täglichen Neuigkeiten erzähle ich über die Musikvideos, meine Gedanken, meine Gefühle. Als wir kurz darauf vor dem Monitor an seinem Schreibtisch sitzen, in den Ohren die feinen Klänge, schließt er seine Augen und ich kann sehen, wie er tief bewegt ist. Wir reden und reden über die Situation im Ort, die Jugend, die große Politik. Was uns antrieb, ganz früher mal, und was geworden ist. Unser nicht lösbares Kernproblem ist das Warum. Warum sitzen DIE da fast jeden Abend und benehmen sich so… Dann meint er, „Du, als wir noch ganz klein waren, da waren wir so schlau und haben unseren Eltern Löcher in den Bauch gefragt. Haben wir das vergessen? Lass es uns raus kriegen – wir gehen einfach hin und sprechen mit ihnen. Ich glaube, unser Job ist noch nicht richtig erledigt…“ Nach Stunden von der Konversation erschöpft, schlafen wir, so da sitzend, ein.

Am Abend sind wir unterwegs. Für ihn sehr mühevoll, mein „Tack-Tack“ erfolgt ganz langsam. Fünfe sind schon da. Als wir direkt auf sie zugehen, erlischt das laute Gespräch. Die Frage: „Was in aller Welt können die alten Knacker von uns nur wollen?“, ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Aggressivität ist zu spüren, eine Flasche bewegt sich auf gefährlicher Höhe. Wir zeigen trotzdem keine Angst. Etwas in unseren Augen lässt sie wohl innehalten, von ihrem Reflex der Gewalt. Vielleicht ist da noch etwas Respekt vor unserem Alter, denn wir bekommen Platz angeboten. Springerstiefel, per Internethandel erworben, neben eleganten italienischen Schuhen, in Rom auf dem Corso gekauft. Bügelfalte neben Kampfhose. Kahle Köpfe neben kahlen Köpfen. Fünf rasiert, zwei in Natur. Der eine alte Mann mehr still innehaltend, aufmerksam beobachtend – der andere mit allen seinen Künsten der Sprache sehr aktiv. Er setzt Akzente, regt zum Nachdenken an, korrigiert fast unbemerkt, kanalisiert die Gedanken, wie zuvor in Jahrzehnten geübt und zur Meisterschaft entwickelt.

Was wir von den jungen Leuten hören, versetzt uns in Erstaunen. Die Stadt, die ganzen Ruinen jetzt, die Hoffnungslosigkeit der Eltern, die fehlende Arbeit – ja, genau das, was uns auch bewegt. Nur die Lösungsvorschläge, das geht nun gar nicht. Wir erzählen unsere Gedanken und Sorgen, auch mit welchen Idealen wir mal angetreten sind, vor Jahrzehnten. Was wir erhofften – was wir nun finden. Erstaunt beobachtet Paul den einen jungen Mann, scheint der Anführer zu sein. Eine hohe Stirn, wache, intelligente Augen und eine Mimik, die reichlich Aktivität im Kopf signalisiert.

Paul lässt sich niemals durch das Äußere täuschen, er schaut nach innen. Er sieht Jemanden, vom Antlitz einem bekannten deutschen Dichter in jungen Jahren sehr ähnlich, nur ohne dessen hohe Bildung. Er spürt, dieser Junge hätte unter besseren Umständen seiner Entwicklung ganz andere Wege nehmen können. Man hat sich einfach keine Mühe mit ihm gegeben. Was haben seine Lehrer mit ihm gemacht! Andere sorgen sich um die Lehrstelle, und dann? Und nicht mal mehr ein Kino oder sonst etwas ist im Ort.

Der alte Lehrer läuft zur Hochform auf, borgt sich Energie in der Zukunft. Man denkt: „Ja – wie dieser alte Mann möchte ich auch mal sein, später. Der hat so ein geistiges Leuchten, so eine Würde…“ Sie reden und reden lange. Neugierig werden Fenster geöffnet. Viele Leute kommen, auch die Freundinnen. Es ist was los, dort am Markt, wird erzählt. Wegen seiner Neugier kommt auch der Sohn vom Dönerhändler, die ist jetzt stärker als seine Angst.

„Die Türken“, werden sie hier genannt, dabei ist er doch ein Kurde, und vom südöstlichen Mittelmeer stammend. Zugehörig einem ganz alten Volk und Familie sogar, denn sein Großvater hat ihm einen Stein gezeigt mit einer Inschrift drauf. „Dein Name.

Du findest noch viele davon im Wüstensand“, meinte er. Ein anderes altes Volk mag sie nicht. Nun haben sie die Heimat getauscht. Dort war es im Sommer sehr heiß und trocken, im Winter kalt und feucht, die Tapeten ohne Heizung schimmelnd und überall dieser Muff, hier ist es angenehm. Und Angst hat er jetzt nur noch abends am Markt. Er hat ein markantes Gesicht, eine Schönheit ist er, das Blut in seinen Adern stark und frisch.

Er hört diese Jungs reden, beobachtet den einen interessiert und fühlt sich angezogen und jetzt ohne Angst. Nach Minuten schiebt er seinen Hintern zwischen die Sitzenden, neben ihn. Paul, beobachtend, sieht wie der sich öffnet, und nicht wie sonst gleich schlägt und brüllt. Für ihn ganz deutliche Körpersprache und er schmunzelt.

Ein Mädchen ist von der Schönheit des Kurden entzückt. In ihrem Geist sind alle Lämpchen für Partnererkennung auf Alarm. „DER Vater meiner Kinder!“ leuchtet es rot. Rot für Liebe. Aber sie spürt auch die Gefahr, die gegenseitige Anziehung der beiden Jungen. Sie wird kämpfen müssen.

Alle reden, später wird gegessen, weiter diskutiert. Alle und zusammen. Nach Stunden ist in ihnen eine Erkenntnis gereift: „Wir müssen was tun.“ Oder: „Packen wir es an.“ Wie im Viervierteltakt kreisen diese Worte durch ihre Köpfe, mobilisieren sie. Zusammen können sie es schaffen und wollen unbedingt für sich, für ihre Stadt was tun. Wie richtige Bürger.

Ich beobachte den Jungen mit dem schönen markanten Gesicht. Wäre der mir vor 60 Jahren schon begegnet… 60 Jahre – schon so lange Zeit! Ich spüre eine unendliche Müdigkeit. Eigentlich werde ich hier nicht mehr gebraucht, denn alles redet auch ohne mich. Paul sitzt schon da und schläft vor Erschöpfung…

* * *

Der alte Mann schlurft Richtung seiner Wohnung, seinen Gehstock vergessend, den er nicht mehr braucht. Bevor er sich zu Bett legt, stellt er wieder diese Musik an. Zufrieden und glücklich legt er sich hin, spürt den Geruch, der von dem Laken ausgeht. Er kann es deuten – bald wird er seine Frau wieder sehen. Zufrieden schläft er einen langen Schlaf.

Er weiß: Sein Werk und Lebensaufgabe ist vollbracht.

* * *

Vergessen wir niemals unsere Verantwortung der Gesellschaft gegenüber. Niemand lebt letztendlich für sich allein. Jeder kann was tun und jedes Handeln erzeugt eine Reaktion. Was sie bewirkt, kann laut Chaos-Theorie die Welt verändern. Bestimmt hat das Umfeld des Komponisten seinen Werdegang sehr beeinflusst. Die Liebe, die er mal bekommen hat, können wir heute noch in seiner Musik spüren. So kann sie sogar noch in weiter Entfernung Wunder vollbringen.

Nur wer genügend verrückt ist, zu meinen, er könne die Welt verändern, erreicht das auch. (Henry Dunant)

Passend zur Geschichte:Relient K – Deathbed (Youtube) – Der Text!

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