Es war kurz vor Ende des letzten Jahrtausends, also zu einer Zeit, in der Digitalkameras gerade die Türen der Versuchslabore verlassen hatten und frisch auf den Markt kamen. Jedenfalls waren sie für mich als armen Studenten zum damaligen Zeitpunkt unerschwinglich. Aber mein größtes Hobby ist nun einmal die Photographie und ich nannte – Oma sei Dank – eine ziemlich gute (und teure) Fotoausrüstung mein eigen. Alles in allem, so knappe fünf Kilo inklusive passenden Koffer, die ich da mit mir rumschleppen musste, wenn ich meinem zweiten Hobby, dem Reisen frönte. (Unter uns gesagt, ich habe sogar mal ein Stativ mit auf das Kleine Matterhorn geschleppt, nur um eine einzige Rundaufnahme zu machen.)
Das Erlebnis, über das ich euch berichten will, ereignete sich auf meinem ersten Tripp nach New York. Ich, Christoph Alexander von Waldendorf, hatte mein Jura-Studium in München gerade beendet und wollte noch etwas erleben, ehe ich mich in die Beschaulichkeit des Allgäus zurückziehen müsste. Die Vergabestelle in München hatte mich dem Landgericht Kempten zugeteilt, wirklich toll; ich hätte kotzen können.
Am Nachmittag des zweiten Urlaubstags hatte ich den gesamten Skulpturenpark vor den Vereinten Nationen abgelichtet und mir beim deutschen Fleischer in Grand Central einen kleinen Imbiß gegönnt. Den Abschluss des Knipsmarathons dieses Tages in der Stadt, die niemals schläft, sollten ein paar Schnappschüsse auf der 5th Avenue bilden.
Besonders war ich an St. Patricks Kathedrale interessiert. Das neugotische Gotteshaus aus Stein und Marmor, seit 1879 dem Schutzheiligen der Iren geweiht, ist Sitz der Erzdiözese New York und mit 2200 Plätzen zwar nicht mehr in den Top-Ten der Kirchen der Welt. Wer aber dem Trubel zwischen Rockefeller Center, Olympic Tower und dem Kaufhaus Saks entgehen will, der ist zu jeder Zeit willkommen: Ruhe kann man hier finden.
Ich also aus dem Bahnhof an der 42.sten Straße raus, dessen Halle größer ist als das Kirchenschiff von Notre Dame in Paris, und rechts hoch in Richtung Fünfter Avenue. An der Ecke steht die New York Public Library, zu deren Kostbarkeiten unter anderem ein von Jefferson handschriftlicher Entwurf der Unabhängigkeitserklärung gehört. Eine originale Gutenbergbibel und Handschriften von Galilei lasse ich jetzt mal unerwähnt, ist ja europäisches Kulturgut.
An den steinernen Löwen, die den Eingang zu der 1911 im Beux-Arts-Stil gebauten Bibliothek flankieren, kann man nicht nur Lesehungrige photographieren; da pulsiert das Leben. Mir hatte es ein ungefähr 180 cm großer Bodybuildertyp mit mittellangen, blonden Haaren und Nickelbrille angetan, den ich zuerst unabsichtlich, dann aber mit gewissem Verlangen, auf das Cellulaseacetat bannte. Was er las, konnte ich nicht sagen, aber er strahle inmitten all des Trubels, der um ihn herrschte, eine gewisse Ruhe und Gelassenheit aus. Jedenfalls, ich hatte um diesen Lesetempel mit seinen über 9 Mio. Bestandsbüchern und dem angrenzenden Bryant Park mehr Bilder gemacht, als eigentlich geplant. Das Ergebnis war: mir sind schlicht und ergreifend einfach die Filme ausgegangen.
Leicht genervt blieb mir daher nur der Rückzug in Richtung Hotel, die Kathedrale musste bis zum nächsten Tag warten. Der Weg hin und zurück zu meiner Filmlagerstätte hätte die Lichtverhältnisse derartig geändert, dass man nur noch mit Stativ hätte vernünftig knipsen können, aber das lag wohlbehalten in meiner Münchener Studentenbude.
Ich spulte den Film zurück und verstaute selbigen nebst Kamera in den schützenden Schaumstoff meines Photokoffers und schulterte das Aluminiumtragegerät. Meinen wertvollsten Besitz klemmte ich unter meinem rechten Arm ein und machte mich auf den Weg über eine der teuersten Einkaufsstraßen der Welt. Ich wollte mir aber wenigstens einen optischen Eindruck vom Sakralbau verschaffen, also keine Metro, sondern den Weg zum YMCA an der 63.sten Straße West per pedes!
An der Ampel überprüfte ich noch einmal den Sitz des Tragegurtes, ließ die rechte Hand baumeln und machte mich, wie so viele andere um kurz nach fünf auf den Weg in Richtung Central Park. Wohl noch wütend über meine eigene Unachtsamkeit, zu wenig Filme eingepackt zu haben, war ich doch mehr mit mir selber als mit meinem Umfeld beschäftigt. Ich blickte auf den „Lachs-Tower“, den kleinen Bruder und Vorläufer des Empire State Building. Jedenfalls sind gewisse Parallelen zwischen dem Salmon-Tower und dem Empire-State-Building unverkennbar, der gleiche Architekt war am Werk.
Nun kann es passieren, dass ein Unterarm, wenn dessen Träger in die eine Richtung geht und dabei, zum Schutz vor irgendwelchen Taschendieben, die es ja auch im Big Apple geben kann und soll, ein Behältnis unter Zuhilfenahme des Oberarmes an den Körper presst, dass ein solcher Unterarm in leichtes Schwingen gerät.
Dieses Schwingen an sich ist ja nicht schlimm, sondern nur eine natürliche Reaktion auf die Bewegung, aber da besagte Bewegung nicht vor der unteren Extremität, sprich Hand und Fingern, halt macht, kann das Ganze zu einer Reizung der Merkel-Zellen führen. Auf Deutsch: Man kann irgendetwas berühren. Während in der freien Natur dies eher Sträucher und Gräser sind, sind dies in einer Stadt eher Schilder, Stromkästen und – je mehr Einwohner ein urbanes Gebilde hat – auch Menschen.
Ungefähr in Höhe des „Tripple-F“ (FRED F. FRENCH BUILDING)spürte ich, dass mein kleiner rechter Finger, der eh immer leicht abgespreizt ist, menschliche Haut berührte. Die Abspreizung liegt jedoch nicht darin begründet, dass ich schwul bin, sondern ist auf ein Missgeschick beim Handball zurück zu führen. Beim Versuch, einen Sieben-Meter zu halten, traf der 450 Gramm schwere Ball mit voller Wucht auf den kleinen Kameraden. Das Ergebnis war ein dreifacher Bruch mit einhergehendem Bänderriss, und ebenjener ist nicht ganz korrekt verheilt.
Ich maß der flüchtigen Berührung keine allzu große Bedeutung zu, ich saß ja eh mit mir über mich und meine Vergesslichkeit zu Gericht. Der Körperkontakt wiederholte sich allerdings kurze Zeit später in der Höhe der Benetton-Filiale und dann erneut, als ich die ersten Schaufenster von Saks passierte. Ich schaute kurz nach der Quelle des Kontakts: mittelgroßer Ami, ungefähr mein Alter, Gesicht und Haare allerdings unter Brille und Basecap verborgen, man sah nicht viel, leider.
Ich blieb an der Kreuzung zur 50.sten stehen, schaute auf die europäisch anmutende Fassade der Kathedrale, zuckte seufzend mit den Schultern und kreuzte auf die andere Straßenseite, um mir das Gotteshaus näher anzuschauen. Lange blieb ich jedoch nicht stehen, ich wechselte die Trageseite meiner Fototasche und setzte den Weg fort. Das Schwingen der Hand war diesmal auf der linken Seite.
Am Olympic Airways Building erfolgte ein erneuter Hautkontakt, ich kümmerte mich nicht darum. Bei Cartier eine erneute Reizung der Merkel-Rezeptoren, diesmal schaute ich nach der Quelle: Das Basecap kam mir bekannt vor, aber die blaue Mützen mit den drei Buchstaben NYC sah man hier öfters. Die Proportionen der bebrillten Störungsquelle gefielen mir jedenfalls.
Auf der anderen Seite sah ich eine 666, das Tishman Building, in dem die NBA ihre offizielle Verkaufsstelle hat. Basketball interessiert mich weniger, also legte ich einen Zahn zu. Die Störquelle folgte weiter, wie ich feststellte. Ich grinste innerlich.
Vor der Dunhill-Filiale stoppte ich. Mein Verfolger tat ebensolches. Ich schaute ihn an, zwar nicht direkt, ich bediente mich der Reflexion des Schaufensters. Das Spiel setzte ich beim Nachbarladen, ESCADA, fort. Daneben hat ein Deutscher Modeschöpfer namens Boss seine Verkaufsstelle. Mein Schatten kniete sich nieder und tat so, als ob ihn sein Schuh zumachen wollte. Ich blickte auf die italienischen Treter, es waren Slipper.
Nach dem Coca-Cola-Haus und einigen weiteren (un-)absichtlichen Handkontakten warf ich einen genüsslichen Blick in die Auslagen von Tiffany’s. Dort wird zwar viel, aber kein Frühstück serviert, jedenfalls nicht für Otto-Normal-Verbraucher.
Ich wechselte erneut die Straßenseite. Wenn mein Verfolger mir jetzt nacheilen sollte, wollte er was, da war ich mir sicher. Allerdings ging ich nicht allein über die Straße, ich geriet in eine japanische Reisegruppe, die im Gegensatz zu mir, ihre Produkte fototechnischer Art um den Hals trugen. Fast schon betrübt hielt ich nach meinem Schatten Ausschau, sah ihn allerdings nicht. Mist!
Ich blieb an der Ampel vor Bergdorf Goodmans stehen, schulterte meinen Aluminiumkoffer wieder auf die rechte Seite. Allerdings erfolgte die Aktion mit mehr Schwung als unbedingt notwendig. Ich traf mit der unteren Ecke des Photokoffers meinen Nebenmann in der Magengegend, so etwas wie „Argh!“ drang an mein Ohr. Ich drehte mich um und sah jemanden, der, leicht nach vorn gebeugt, sich mit der rechten Hand den Bauch hielt.
Man hat ja schon von den horrenden Schadensersatzansprüchen in den Staaten gehört und ich war leicht panisch. „Sorry, so sorry!“, konnte ich nur stammeln. Mehr als eine verwaschene 7/8 Jeans, hellgrünes Shirt und Basecap sah ich nicht. Langsam kam mein Unfallopfer wieder zu sich, er streckte sich. Ich sah in eine Sonnenbrille und erkannte meinen Schatten wieder.
„Hi.“ Er grinste mich an. „Are you ok?“ „Yeah, I am all right. Are you always so impetuous?” Ich grinste. „If I can’t see the eyes of my opposite.”Er nahm Basecap und Brille ab und schüttelte sein blondes Haupt. Das konnte nicht wahr sein! Vor mir stand mein Modell von der Bibliothek. Von Nahem sah er sogar noch besser aus als durch den Sucher meiner Kamera.
„I am Christopher.“ Ich hielt ihm meine Hand hin und er ergriff sie. „Chester.“ „Nice to meet you, Chester!“ „I am pleased as well, Chris.“ Wir hielten uns immer noch an den Händen. „Photographer?“ Er deutete mit der linken Hand in Richtung Koffer. Ich lächelte. „No, only a tourist.“ „But with a heavy hobby.“ Seine Lachfältchen traten deutlich hervor, er hatte wunderschöne graugrüne Augen, in die ich stundenlang hätte abtauchen können.
In diesem Moment rammte uns ein dickbäuchiges Etwas. Der grauhaarige Mittfünfziger, hinter dem wir beide, Chester und ich, uns hätten ausziehen können ohne gesehen zu werden, grummelte nur so etwas wie „Damned faggots!“ und zog von dannen. Wir standen ja noch immer Hand in Hand vor der mittlerweile wieder roten Ampel. Quasi eine menschliche Barriere inmitten der pulsierenden Fünften Avenue.
„What are you going to do?“ Ich schmunzelte. „Nothing, merely holding hands with you!” Erschrocken ließ er meine Hand los und änderte seine Gesichtsfarbe in leichte Rottöne. Ich grinste in ein fragendes Gesicht. „To be honest, I was on my way to my hotel to have a rest – and to prepare for the night at Christopher Street.” „Where do you stay?” Ich deutete, mehr oder minder durch das vor uns liegende Plaza, in Richtung Central Park. „YMCA‘s.“ Chester blickte auf seine Uhr und griente mich an. „OK, let’s move! We have more then three hours, at nine I will meet some friends at Sheridan Square.”
Tja, das war die Geschichte, wie ich Chester William Milles den Dritten kennen lernte. Was wir dann da im sechsten Stock des roten Backsteinbaus an der 63.sten Straße West taten, ist eine andere Geschichte, die ich euch vielleicht das später einmal erzähle.