Aschenbrödels Bruder – Teil 23

Als ich wieder auf meinen Wecker schaute, war es bereits kurz nach elf, von draußen her schien die Sonne. Wilde Träume hatte ich keine, nur beschäftigte mich, dass ich nicht um meinen Vater trauerte. War er mir schon vorher so fremd geworden.

„Worüber denkst du nach?“

Ich fuhr zusammen, weil ich nicht an Lucas gedacht hatte, der neben mir lag.

„Oh, doch so weit weg, entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Hast du nicht, eher mich vor unnötigen Gedanken gerettet.“

„Unnötig?“ Hast du wieder an deinen Vater gedacht?“

Ich schaute ihn an, bevor ich mich in seine Arme kuschelte.

„Bin ich jetzt irgendwie abnormal, weil ich nicht um meinen Vater trauere?“, fragte ich brummelnd gegen seine Brust.

Er drückte mich sanft von sich weg, bis er mir wieder in die Augen schauen konnte.

„Benjamin, du bist der süßeste, gefühlvollste und humorvollste Kerl den ich je kennen gelernt habe, du bist weder abnormal oder verrückt. Das du um deinen Vater nicht trauerst ist ja wohl klar, weil der Mann der auf dich schoss, hat nichts mehr mit dem Mann, den du als deinen Papa kanntest zu tun.“

Jetzt wurden meine Augen doch glasig, gerührt über Lucas Gesagte eben.

„Wenn du trauerst, dann um den Mann, den du vor langem mal verloren hast, als er sich noch normal benommen hat.“

Er legte seine Hand an meine Wange und wischte mit dem Daumen eine Träne weg.

„Und komm nie auf den Gedanken, dass du schuld seist, am Tod deines Vaters. Alles was passiert ist, dafür ist er alleine verantwortlich.“

Ich drückte mich wieder fest an ihn.

„Danke!“

*-*-*

Als wir herunter kamen war heftiges Treiben im Esszimmer. Constanze und Sabine deckten gemeinsam mit Marianne den Tisch ein.

„Benjamin, würdest du zum Mittagessen bitte etwas anderes anziehen, als diesen Jogginganzug? Constanzes Eltern und Benjamins Mutter kommen zum Essen, heute ist der vierte Advent!“

Da hatte ich wohl gestern etwas versäumt. Ich wusste nicht wie lange die Erwachsenen noch beisammen gegessen waren. Meine Mutter verschwand mit Marianne in der Küche.

„Und was soll ich bitte anziehen?“, fragte ich.

„Jeans… Pulli oder Hemd, so wie ich“, antwortete Lucas hinter mir.

Ich wollte gerade zur Tür raus, als Sabine meinen Namen sagte und ich mich noch mal umdrehte.

„Benjamin, Mum hat vorhin erzählt, dass es Alfred soweit gut geht und wir ihn heute Mittag besuchen könnten.“

„Gute Idee und freut mich zu hören“, meinte ich, „dann kommen wir wenigstens etwas raus.“

Ich lief wieder die Treppe hoch. Alle machten so, als wäre nichts passiert. Was war passiert? Ein Mensch hatte unser Leben verlassen, ohne den wir wahrscheinlich besser dran gewesen wären.
Ohne ihn wäre ich aber auch nicht auf der Welt. Mitten auf der Treppe hielt ich inne und schaute hinunter. Aus dem Esszimmer war Gelächter zu hören und aus der Küche geschäftiges Treiben.
Waren wir so abgestumpft, dass wir jetzt einfach weiter machten, als wäre nichts gewesen, oder vielleicht war es auch besser so, dass wir weiter machten, weil alles andere verkehrt wäre?
Die Tür zum Esszimmer wurde aufgezogen und Lucas kam heraus. Verwundert schaute er zu mir hoch.

„Was ist?“, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf und lief weiter zu meinem Zimmer. Drinnen angekommen, schälte ich mich aus meinem Jogginganzug und öffnete meinen Schrank. Eine Jeans war schnell gefunden.
Plötzlich spürte ich, wie sich zwei Arme um mich legten.

„Was ist los mit dir Kleiner? Bist du wieder so in deinen Gedanken gefangen?“

Ich atmete tief durch, nickte und schmiegte mich an ihn.

„Wie wär es mit dem Grünen?“

„Hä?“

„Ich meine das grüne Hemd da“, sagte Lucas und zeigte in meinen Schrank.

„Das habe ich schon lange nicht mehr angehabt.“

„Ein Grund mehr, um es anzuziehen“, meinte Lucas und zog es heraus, „nobles Teil, das Muster gefällt mir.

Er zog den Bügel heraus und hielt es mir hin. Ich schlüpfte hinein und bevor ich etwas machen konnte, begann Lucas mir das Hemd zu zuknöpfen. Dabei lächelte er die ganze Zeit.

„Danke, dass du da bist“, sagte ich leise.

„Nicht dafür! Du hast jetzt einen Freund und bist nicht mehr alleine und Benjamin, wenn irgendetwas sein sollte, dann sag mir Bescheid, okay?“

Ich nickte und mir wurde klar, wer bei uns den Ton angab.

„Eigentlich knöpft man das Hemd ja auf…“, grinste Lucas und gab mir einen Kuss.

Auch ich musste grinsen und schlüpfte noch schnell in die Jeans. Unten klingelte es.

„Das wird meine Mutter sein“, meinte Lucas und verließ mein Zimmer.

Ich schloss meinen Schrank und wollte ihm folgen, doch an der Tür kam er mir bereits wieder entgegen.

„War dieser Dr. Specht, wollte unbedingt mit deiner Mutter reden.“

„Heute ist Sonntag, der vierte Advent, was kann so wichtig sein, dass er heute auch kommt?“

„Weiß ich nicht, er wollte zu deiner Mutter.“

„Willst du unten helfen, oder…“

„…die sind schon fertig“, fiel mir Lucas ins Wort und schob mich wieder ins Zimmer zurück.

Kaum waren wir drinnen, legte er seine Arme um mich und begann mich zu küssen. Ich schloss meine Augen und alles um mich herum verschwand, nur noch Lucas und ich.

„Die sind ja nur noch am Knutschen.“

Constanze.

„Ja, genau, wir rackern uns da unten ab und die Herren vergnügen sich.“

„Neidisch?

„Pff – auf was sollen wir neidisch sein?“, kam es von Sabine.

„Interessant!“

„Was soll daran interessant sein?“, fragte Lukas.

„Die beiden möchten keinen so gutaussehenden Freund wie ich haben.“

„Wie kommst du denn da drauf.“

„Weil sie nicht neidisch sind.“

Für die Antwort bekam ich zwei spitze Zungen der Mädels zu sehen. Lucas legte den Arm um mich und schob mich zum Zimmer raus.

*-*-*

„Also ich kann nichts mehr essen“, meinte Constanzes Vater.

„Geht mir genauso“, meinte Lucas und rieb sich den Bauch.

„Da bin ich ja froh, dass ich die Rolle der bösen Stiefmutter habe“, meinte ich.

„Wieso?“, wollte meine Schwester wissen.

„Ich habe keine Hebefiguren, so muss ich ihn“, ich zeigte auf Lucas, „nicht hochheben.

Alles am Tisch grinste.

„Du findest mich also fett!“

Gespielt empört schaute er mich an.

„Naja…“, das brachte die anderen zum Kichern, „hier und da… winzige Fettpölsterchen…“

„Benjamin Debruggen…!“

„Ja, so heiße ich“, grinste ich ihn an.

„Wer liegt denn die letzten Wochen nur im Bett und macht eins auf krank?“

Lucas funkelte mich an, aber ich wusste genau, dass er nicht sauer war, so spielte ich das Spiel mit.

„Da stürzt man die Treppe hinunter, bricht sich fast die Knochen und der sagt, ich spiel nur… tzis“

„Du weißt, aber schon warum ich so viel Krafttraining mache, oder?“

„Du und Krafttraining…, warum?“

„Deine Kleider sind zu schwer, vielleicht solltest du mal ein kleines Schwarzes anziehen.“

Spätestens jetzt brüllte der ganze Tisch vor Lachen.

„Geht leider nicht, Sabine will mir ihrs nicht geben“, setzte ich in einem sehr zickigen und süffisanten Ton noch dran.

Constanze purzelte vom Stuhl vor Lachen.

„Hört auf ich kann nicht mehr.“

*-*-*

„Meinst du, das wird ihm nicht zu viel, wenn wir jetzt einfallen?“, fragte Sabine.

„Ich weiß es nicht“, meinte Lucas.

„Benjamin, geh du nur rein…“, sagte Constanze.

„Meint ihr wirklich?“

Fragend sah ich die drei an. Sie nickten.

„Komm, lass uns in die Cafeteria gehen“, meinte Sabine und hängte sich bei Constanze ein.

Die drei zogen los und ich stand nun alleine vor der Tür. Sachte klopfte ich an, drückte den Griff hinunter und trat ein. Alfred lag mit nacktem Oberkörper, aber einem dicken Verband um den Bauch im Bett.
Die Augen hatte er geschlossen, so trat ich leise an ihn heran.

„Ich schlafe nicht“, sagte Alfred plötzlich und öffnete die Augen.

„Hallo… Bernhard“, sagte ich leise und lächelte.

Er lächelte ebenfalls.

„Hallo Benjamin…“

„Darf ich mich zu ihnen setzten?“, fragte ich und deutete neben ihm aufs Bett.

Er nickte. So setzte ich mich neben ihm auf das Bett.

„Warum hast du das getan?“, fragte ich und es war mir egal, dass ich ihn plötzlich duzte.

Lange sah er mich an.

„Weil… weil ich nicht noch jemand verlieren wollte…, den ich sehr, sehr gern habe.“

Mit großen Augen schaute ich ihn an und spürte, dass ich rot wurde.

„Sieh mal Benjamin…, ich habe dich von klein aufwachsen sehen, auch viel mit dir unternommen, weil deine Eltern nicht konnten, so habe ich dich besser kennen gelernt, irgendwann lieben…“

„Du hast dich in mich verliebt?“, fragte ich verwirrt.

Er lachte kurz, hielt sich aber dann den Magen. Dann griff er nach meiner Hand.

„Nein Benjamin, dass verstehst du falsch. Lieben eher wie ein Sohn, du bist mir ans Herz gewachsen.“

„Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll…“

„Du musst nichts sagen.“

„… bleibst du…, bleibst du bei uns?“

„Die Entscheidung liegt bei deiner Mutter, nicht bei mir…, ich würde gerne bleiben“, lächelte er.

*-*-*

Auf der Heimfahrt war ich die ganze Zeit nachdenklich. Eher mechanisch schloss ich auf und die drei folgten mir ins Haus. Als wir uns unserer Jacken entledigten, hörten wir Stimmen aus dem Esszimmer.
So lief ich hin und wollte die angelehnte Tür aufziehen.

„Ich weiß nicht, Frau Debruggen. Aber es gibt genügend Hinweise, dass ihr Mann direkt am Tod von Herr Hammert beteiligt war.“

„Es war also kein Selbstmord…“, hörte ich Mum sagen, „… mein Mann hat Lucas Vater auf dem Gewissen?“

Total geschockt, drehte ich mich um und sah direkt in Lucas Gesicht, in die weit aufgerissenen Augen. diese sonst herrlich blauen Augen, schienen grau geworden zu sein.

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4 Kommentare

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    • Andreas Pieper auf 23. Dezember 2015 bei 16:23
    • Antworten

    Lieber Pit,
    seit dem ersten Dez. mache ich morgens so ca. 6 Uhr als erstes den PC an,
    um den nächsten Teil zu lesen,
    und abends nach feierabend noch einmal.
    EInfach klasse was und wie Du schreibst.
    Schon jetzt vielen lieben Dank
    gesegnete Weihnachten
    und alle Gute für das neue Jahr
    ANDREAS

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  1. Vielen herzlichen Dank, da macht das Schreiben noch mehr Spaß! Gruß Pit

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    • Andy auf 23. Dezember 2015 bei 08:23
    • Antworten

    Da denkt man der Schrecken hat ein Ende, da wird noch einer draufgesetzt! Einfach genial, wie du es immer wieder schaffst, den Spannungsbogen zu spannen👍 Mach weiter so, Pit. Es macht immer wieder Spaß, deine Stories zu lesen.

    LG Andy

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    • Gerd auf 23. Dezember 2015 bei 00:20
    • Antworten

    Heftig u d wieder ganz toll geschrieben
    Ich bin ja jetzt auf den Showdown zum Schluß gespannt

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