Der Tod und der Veteran

Der Tod und der Veteran © 1998 Ruthless@nbnet.nb.ca
Deutsche Übersetzung Veteran © 2004 Peter (Peter_Co@web.de)
Titel des englischen Originals: Death and the veteran

Anmerkung von Peter: Wie man oben sieht, ist es schon einige Jahre her, dass ich diese Geschichte auf einer englischen Webseite gefunden und verschlungen habe. Gleich beim ersten Lesen traten mir die Tränen in die Augen, und

auch heute noch passiert mir das jedes Mal. Irgendwann fragte ich den Autor, ob ich die Geschichte übersetzen und evtl. auf einer deutschen Webseite veröffentlichen könne. Ich bekam die Erlaubnis, und hier ist nun das Ergebnis.
Ich habe mich beim Stil so gut es irgendwie ging an das Original gehalten, daher erscheint die Geschichte etwas ruckartiger, kantiger und ungeschliffener als bei meinen eigenen Geschichten – aber ich finde, dass das auch haargenau zum Inhalt passt.

*-*-*
Die Geräusche meines Elektroheizers weckten mich auf. Im Zimmer war es bitterkalt. Es war Morgen, und ich hatte wieder von dem Skelett geträumt.
Ich hatte keine Ahnung wie spät es war, ich wusste nur, dass der Heizer langsam zum Leben erwachte und dass ich aufstehen musste, um Wasser abzukochen, für den Fall, dass der Strom bald wieder abgedreht werden würde.
Sie drehen den Strom über Nacht ab um Energie zu sparen. Wir bekommen nur am Morgen und am Abend Elektrizität, damit die Leute etwas kochen können. Ich stolperte durch die kalte Dunkelheit. Mein großer Kessel war voller Wasser.
Es war über Nacht eingefroren. Ich schaltete den Heizer unter dem Kessel an und hockte mich dann zitternd vor den Heizkörper, um mich anzuziehen. Das Licht schaltete ich nicht ein. Wenn man zu viel Strom verbrauchte, wurde er schneller wieder abgestellt.
Die rot leuchtenden Heizstäbe gaben genug Licht um in meine Sachen zu kommen. Das Skelett tanzt jede Nacht in meinen Träumen. Es tanzt an mich heran, greift mit fleischlosen Fingern nach meiner einen Hand und zieht mich in den Tanz.
Dürre, weiße Knochen klappern eine absurde Melodie. Das Gesicht besteht nur aus Kiefer und Zähnen, aus einem tödlichen Grinsen. Ich sehe dieses Skelett seit vielen Jahren in meinen Träumen. Ich habe es in Büchern gesehen, in alten Holzschnitten.
In »Der Tod und die Jungfrau« wird ein Mädchen in ihrem Garten überrascht. In »Der Tod und die Hausfrau« wird eine Frau abrupt von ihrem Backofen entführt. In »Der Tod und der Geizhals« wird ein alter Mann aus seiner Bank geholt.
Die Menschen in den Bildern werden von dem Geist in ihrem Tun unterbrochen und sind völlig überrascht, wenn sie davon geführt werden. Aber ich bin nicht überrascht. Das nackte Gesicht hat als Augen dunkle Löcher.
Ich habe so oft von diesem Gesicht geträumt. Ich habe so lange auf den Tod gewartet. Er hat einen langen Weg. Jedes Jahr und jede Nacht kommt er näher. Letzte Nacht träumte ich, dass das Skelett direkt vor meiner Tür stand.
Mein Kalender an der Wand hat keine Blätter mehr. Es gibt keine Blätter mehr zum Abreißen. Heute ist der Tag. Heute kommt das Skelett zu mir. Es war auch der Morgen von Heiligabend, etwa sechs Uhr.
Heute, dachte ich, heute werde ich sterben. Ich werde die Weihnachtsfeiertage nicht erleben. Wenn ich meine Augen schloss, konnte ich das Bild wieder sehen, die kalkweiße, dürre Gestalt, wie sie ihre knochigen, unendlich langen Finger nach mir ausstreckte.
Unbeholfen und eilig zog ich mich an. Ich hatte Angst. Es würde interessant sein. Tot zu sein. Ich hatte eine Frage, auf die ich eine Antwort wollte. Eine Antwort, die ich nur bekommen konnte, wenn ich tot wäre.
Ich bin für niemanden mehr von Nutzen. Es wäre keine Tragödie, wenn das Skelett käme um mich zu holen. Ein Mann mit nur einem Arm ist hässlich und unnütz für jegliche produktive Arbeit.
Ich habe eine Arbeit, als Schreibkraft, zu allem Überfluss. Ich schreibe Protokolle für die Stadt, langsam, einhändig. Im Zimmer wurde es etwas wärmer. Der Heizkörper war mächtig am Arbeiten.
Ich nahm meinen Mantel vom Bett und schlüpfte in ihn. Der leere Ärmel hing herunter, ich hatte ihn zur Tasche umgeformt. Mit dem Mantel, einigen durchgescheuerte Pullovern und den Hemden, in welchen ich geschlafen hatte, war mir wärmer.
Ich wanderte an mein Fenster.
Die Eisschicht an der Innenseite der Scheiben war dick. Ich kratzte mit meinen Fingernägeln bis ich hinausschauen konnte. Weiße Eisflocken fielen hinunter auf den Fußboden. Ich hielt meinen Atem an, um das Glas nicht gleich wieder anfrieren zu lassen.
Draußen lag die Stadt düster und zerklüftet in der tiefblauen Morgendämmerung. Mein Zimmer befindet sich im obersten Stockwerk eines fünfetagigen Gebäudes. In den Gebäuden unter mir war kein Lichtschein zu erkennen.
Strom war kostbar und wurde nur zum Heizen und Kochen verwendet. Das matte Leuchten von Kerzen hinter den verhüllten Fenstern reichte nicht bis in die Dunkelheit hinaus. Es war, als ob immer noch Stromsperre wäre.
Die Häuser waren vom Krieg arg in Mitleidenschaft gezogen. Sie standen inmitten der Hügel nichtbeseitigter Trümmer. Irgendwann, jetzt wo der Waffenstillstand in Kraft war, würde man die Trümmer einebnen.
Wenn mein Traum zutraf, würde ich dies jedoch nicht mehr erleben. Trotzdem war ich froh, noch das Ende des Krieges gesehen zu haben, auch wenn ich nicht mehr erleben würde, wie das Leben wieder in die Stadt zurückkehren würde.
In den dunklen Zimmern und Wohnungen der Stadt würden sich die Menschen jetzt über ihre Elektroheizer beugen, Kerzenstummel anzünden und sich auf den Tag vorbereiten.
Der Strom blieb an diesem Morgen für füunfundvierzig Minuten, genug Zeit, um das Eis in meinem Kessel zum Schmelzen zu bringen, aber nicht genug, um es kochen zu lassen. Normalerweise bekamen wir Strom für mehr als eine Stunde, aber die Heizstäbe kühlten ab und die herrliche Wärme verflog.
Ich saß am Tisch in meinem dunklen Zimmer. Ich schüttete heißes Wasser in die Tasse mit dem Hafermehl. Eine Vierteltasse gefrorenes Hafermehl aus dem Sack in der am weitesten von der Heizung entfernten Ecke, aufgefüllt mit heißem Wasser.
Dies ergab Haferschleim, dünn, aber nahrhaft, mein übliches Frühstück. Ich rührte und rührte.
Einmal war ich verliebt in einen Jungen namens Noel. Er war achtzehn und ich war vierundzwanzig, und es lag ein Menschenleben zurück.
Ich erinnerte mich an Frühstück im Bett mit Noel, die Bettdecke ein schwerer Haufen warmer Federn. Unsere Beine waren ineinander verheddert, die Küsse schmeckten nach Schinken. Es war ein spätes Frühstück, mitten am Vormittag, die Sonne strahlte ins Zimmer.
Wir waren zeitig erwacht, blieben im Bett, unsere Körper ineinander verwoben. So verbrachten wir den Samstag, Noels Zunge spielte mit meinem Brust- und Achselhaar, sein errötetes Gesicht lächelte unter der Decke hervor.
Ich fütterte ihn gabelweise mit den duftenden Köstlichkeiten vom Teller. Schinken, Eier, Kaffee mit Sahne, süße Brötchen, goldene Butter, Orangenstücke so saftig und süß, dass sie in seinem Mund zerplatzten, und Orangensaft, welcher die Finger der Hand herunter rann die ich jetzt nicht mehr hatte.
Und wie meine Finger, so war auch Noel verschwunden. So wie alle jungen Männer. Ich hätte den Haferschleim so essen können wie er war. Er wäre essbar gewesen, wenn auch roh. Aber das Wasser hatte nicht gekocht, und den ganzen Sommer über hatte die Cholera in der Stadt gewütet.
Die Gefahr, dass auch dieses Wasser aus dem städtischen Wasserwagen verseucht war, war groß. Die Cholera zu bekommen bedeutete einen langsamen Tod, ein Dahinsiechen über viele Tage.
Ich saß an meinem Tisch und starrte auf das Essen, bis es an meiner Tür klopfte. Dies rüttelte mich wach und überraschte mich. Wer würde bei mir klopfen, so leise und so zeitig? Es war eine Nachbarin, Mrs. Keitch, eine alte Frau aus dem ersten Stock.
Sie stand vor meiner Tür, in einem schwarzen Mantel, eine weiße Kerze in der Hand, ein nervöses Lächeln vom Licht der Kerze beleuchtet.

»Was ist los?«, fragte ich, »Brauchen Sie irgendwas?«

Ich hatte vorher noch nie mit ihr gesprochen. Ich sprach nie mit irgendeinem meiner Nachbarn. Sie mieden mich, vielleicht weil sie während der beiden schrecklichen Zeiten als die Stadt besetzt war gelernt hatten, alle Männer zu fürchten, die im richtigen Alter waren um Soldaten zu sein.
Wegen meines Traumes erwartete ich an diesem Tag Ärger, und ich rechnete damit, dass nur irgendein Problem sie zu meiner Tür gebracht haben konnte.

Aber Mrs. Keitch sagte: »Ich verkaufe Kerzen. Mr. Anthoni, richtig? Möchten Sie ein paar Kerzen kaufen?«

»So wie diese?«

Die dünne, lange Kerze in ihrer Hand war sowohl ein Musterexemplar als auch ihre Beleuchtung für die dunklen Gänge des Hauses.

»Ich habe sie gespart.«

Sie lächelte beinahe entschuldigend, vielleicht hatte sie Angst, ich würde sie des Hamsterns beschuldigen.

»Aber ich habe gerade gehört, dass heute auf dem Markt Hühnchen verkauft werden. Ich möchte ein Hühnchen kaufen. Würden Sie ein oder zwei Kerzen kaufen?«

Ich gab ihr sechs Dollar und nahm zwei Kerzen. Es waren lange, harte, weiße Kerzen, spröde vor Kälte. Mrs. Keitch klopfte an die Tür meiner Nachbarn um zu sehen, ob sie dem älteren Ehepaar einige Kerzen verkaufen könnte.
Ich schloss meine Tür. Ich legte die Kerzen zur Seite. Es war gut sie zu haben. Vielleicht für heute Nacht, falls ich da immer noch hier wäre, und falls ich nicht zu müde wäre, dann könnte ich eine anzünden und einige alte Briefe lesen.
Noel schrieb mir hunderte von Briefen. Seine Einheit ging nach Osten und er kämpfte auf den schlammigen Böden und harschen Ödländern, die einmal ertragreiche Felder gewesen waren. Ich bekam, denke ich, etwa ein Drittel der Briefe die er an mich geschrieben hatte.
Die meisten gingen verloren bevor sie mich erreichen konnten. Er schrieb auf jedes Papier was er in die Finger bekommen konnte, auf Zeitungsstücke und Formulare, über das Gedruckte hinweg wenn er keine freien Stellen finden konnte.

»Ich liebe dich, liebe dich, liebe dich,« schrieb er.

»Du wirst dir keinen neuen Freund suchen. Wenn ich zurückkomme, werde ich in deine Hosen tauchen, und wenn du mit den Schwuchteln vom Tenshing herumgemacht hast, werde ich das herausfinden. Ich werde die Spuren ihrer Lippen an deinem Penis sehen. Sei also gewarnt!«

Ich habe dutzende seiner Briefe, die ich sorgfältig aufhob. Vor fünf Jahren hörten sie auf, mich zu erreichen. Noel war tot. Es war Zeit zu gehen, nicht zur Arbeit sondern auf den Markt.
Je eher ich dort war, umso weniger würde ich anstehen müssen, so hoffte ich zumindest. Viel Geld hatte ich nach dem Kauf der Kerzen nicht mehr, aber ich würde ein oder zwei Kartoffeln kaufen können, und die würden ein gutes Abendbrot abgeben.
Also ging ich nach draußen. Die Straßen lagen immer noch im Halbdunkel, und die Pfade durch den Schnee waren schmal aber gut ausgetreten. Der Markt füllte sich zeitig. Das war das erste was ich bemerkte.
Da waren mehr Menschen als üblich, aufgereiht vor den vernagelten Ladenfenstern. Ich beeilte mich.

»Schau, Mami!«

Die plötzlich ertönende, hohe Stimme eines Kindes erschreckte jedermann in der Ladenstraße. Alle drehten sich zu ihr um.

»Mami, sieh dir das an!«

Es war ein kleines Kind, dünnes Gesicht, dicht an die Mutter gedrängt. Sein dürrer Arm war ausgestreckt, und die Wangen unter seiner Mütze glühten vor Begeisterung. Dort stand eine Fichte, aufgestellt in einer Schneewehe vor dem offiziellen Lebensmittelladen.
An ihren dunkelgrünen Zweigen leuchtete ein Dutzend gelber Lämpchen. Eine Stromleitung lief vom Baum hinein in den Laden. Der Strom war wieder eingeschaltet. Der Strom ist wieder da, dachte ich verwirrt. Verwirrt nicht wegen des unberechenbaren Stroms, sondern wegen des Baumes.

»Mami, was ist das? Warum sind da Lichter an dem Baum?«

Die Mutter, eine erschöpft aussehende Frau mit bloßen Händen, rot vor Kälte, beugte sich zu ihrem Kind. Sie lächelte.

»Das ist ein Weihnachtsbaum. Erinnerst du dich, was ich dir erzählt habe? Der Baum ist geschmückt, um schön auszusehen, weil Weihnachten ist.«

Das Kind war hingerissen, es stand mit offenem Mund da. Genau wie das Kind starrten auch wir Erwachsenen auf den Baum. Die goldenen Lichter glühten wie kleine Sterne und machten das Grün des Baumes noch deutlicher.
Wie lange war es her, dass ich das letzte Mal einen Weihnachtsbaum gesehen hatte? Viele Jahre. Und hier stand es, das stolze, schöne Symbol der Festtage.

»Der Krieg ist vorbei«, murmelte eine alte Frau.

Niemand beschwerte sich darüber, dass der Händler kostbare Energie verschwendete. Wir standen im Kreis um den Baum herum und starrten ihn an. Jeder der die Straße entlang kam blieb stehen.
Der kleine Baum leuchtete und das Kind lachte. Ein Weihnachtsbaum. Warum nicht? Lange genug hatte es gedauert. Es wäre gut, wieder mit dem Feiern von Weihnachten anzufangen.
Der Laden war voll und angefüllt mit dem Atemnebel der Menschen darin.
Da lag eine ganze Reihe Hühner, gerupft und gefroren, und wartete darauf verkauft zu werden. Ich hatte nicht genug Geld für ein Hühnchen, aber ich kaufte Kartoffeln und Milch. Das würde ein gutes Abendbrot abgeben.
Die Kartoffeln waren nicht mehr so teuer wie vor einem Jahr. Ich kaufte drei Stück. Hühner auf dem Markt, dachte ich, und ein Weihnachtsbaum! Wie an längst vergangenen Feiertagen. In einem Jahr hatte Noel mein bestes Stück mit roten und grünen Bändern umwickelt.
Ich hatte nur ein einziges Jahr mit Noel, nur ein einziges Weihnachten.

„Das ist es was ich mir für Weihnachten wünsche!“, hatte er gesagt und mein geschmücktes Organ an sich gerissen.

»Es ist sogar schon verpackt!“, schwatzte er.

Wie albern er gewesen war, wie ein Kind, zehn Jahre jünger. Und wie vertrauensvoll. Er hatte sich rückwärts in meine Arme fallen lassen, immer darauf vertrauend, dass ich ihn auffangen würde.
Und ich hatte ihn stets aufgefangen und mich zu ihm heruntergebeugt, um sein Gesicht mit lachenden Küssen zu bedecken.

»Mein! Mein! Mein!“, hatte er in seinen Briefen geschrieben.

»Du bist mein! Sag deinem Oberst, dass er dich an einen schönen sicheren Platz hinter den Linien schicken soll, wo du auf mich warten kannst bis all das vorüber ist. Du musst auf mich warten! Ich brauche dich. Ich gehöre zu dir. Ich will dich. Jesus, wie sehr ich dich will! Jedes Mal wenn ich an dich denke, bekomme ich einen Steifen oder ich fange an zu weinen. Oder beides.«

Wenn das Skelett kommt werde ich bereit sein. Ich habe Antworten auf Noels Briefe, und das ist der einzige Weg um sie ihm zu bringen. Ich habe so oft von dem Skelett geträumt, dass ich keine Angst vor ihm habe.
Ich habe nur Angst vor dem Schmerz der mit dem Tod kommt. Aber das Skelett selbst ist nicht so furchtbar. Bewegliche Knochen. Sie sind mindestens genauso absurd wie schrecklich. Meine Träume sind nicht so schlimm während ich sie träume.
Ich hatte nie Angst, wenn ich von dem Skelett träumte, und ich hatte nie Angst, wenn ich vom Verlust meines Handschuhs träumte. Warum ich so sicher bin, dass ich von meinem eigenen Tod träume? Jahrein jahraus hatte ich die gleichen Träume.
Manchmal träumte ich, dass mich eines Tages ein Skelett holen würde, und manchmal träumte ich, dass ich meinen Handschuh verlieren würde. Ich hatte den Traum über den Handschuh bis zu dem Winter, in welchem ich meinen Arm verlor.
Und in der Nacht, bevor ich meinen Arm verlor, träumte ich, dass ich am folgenden Tag endgültig meinen Handschuh verlieren würde. In dem Haus in dem ich wohne leben zwei Kinder.
Ich schätze, sie sind etwa neun und elf Jahre alt, aber das ist schwer zu sagen. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie Mädchen oder Jungs sind. Zu ihren nicht zusammenpassenden Sachen gehören manchmal Kleider und Tücher und manchmal nicht.
Diese zwei Kinder hatten immer Angst vor mir. Sie gingen aus dem Haus und sammelten Holz, Kohlestückchen und alles was brennt. Wenn sie mich im Haus sahen, rannten sie stets mit ihren Körben die Treppe hinauf und schauten ängstlich und beunruhigt auf mich zurück.
Als ich vom Markt zurückkam, standen die beiden vor dem Haus, dampfend wie kleine Drachen, zu sehr in ihre Unterhaltung vertieft um mich gleich zu bemerken. Sie hatten die Arme voll mit Kiefernzweigen.

»Wenn wir sie nur einfach in den Schnee stecken, sehen sie aus, als wenn wir sie nur wegen der Nadeln gesammelt hätten«, sagte der Ältere.

»Wir können keinen Weihnachtsbaum daraus machen. Und der Baum auf dem Markt war in den Schnee gesteckt.«

Die kleinere Figur schleppte so viele Zweige, dass sie aussah, als wollte sie sich selbst als Baum verkleiden.

»Aber so sehen sie nicht wie Weihnachtsschmuck aus. Ich will, dass sie wie Weihnachtsschmuck aussehen.«

Dann bemerkten sie mich und starrten mich an.

»Wenn ihr Schnur habt«, sagte ich, »könnt ihr sie in einem Bogen zusammenbinden und über die Tür hängen. So schmückt man zu Weihnachten.«

»Wie macht man das?«, fragte der Ältere mutig.

Ich zeigte auf den Türrahmen.

»Bindet sie hier und hier an, und bindet sie in der Mitte zusammen.«

Die beiden waren dermaßen in das Problem vertieft, dass sie völlig vergaßen, vor mir Angst zu haben. Sie starrten hinauf auf die Tür.

»Dann schmückt ihr die Zweige. Ihr habt keine Lämpchen? Dann bastelt kleinen Schmuck. Ich habe etwas roten Stoff. Soll ich es euch zeigen?«

Sie nickten eifrig. Ich ging hinauf. Das wäre etwas für Noel gewesen: Weihnachtsschmuck anbringen. Ich ging wieder hinunter mit einem Stück roten Stoff, welcher früher mal ein rotes Hemd gewesen war.
Es war völlig abgetragen, der Stoff war zu zerrissen um noch getragen zu werden. Aber die Farbe war immer noch rot und leuchtend.

»Könnt ihr es zerreißen? In kleine Stückchen?«

»Diese Größe?«

Das ältere Kind riss ein Stück ab, etwa sechs mal sechs Zentimeter groß.

»Jetzt macht kleine Bällchen daraus, steckt sie mit Kiefernnadeln zusammen oder mit allem was ihr finden könnt, und hängt sie dann an die Zweige.«

Sie standen direkt vor mir. Die Kleine zerriss mit ernstem Gesicht den Stoff und versuchte, die Arbeit des Älteren nachzuahmen. Dieser tat was ich gesagt hatte und hatte bald einen kleinen, plumpen roten Ball fertiggestellt, mit einem kleinen Faden um ihn an die Zweige zu binden. Auf ihren Gesichtern breitete sich ein Lächeln aus.

»Danke, Mr. Anthoni!«

Sie stürzten sich auf das Hemd und zerrissen es übermütig, aber vorsichtig.

»Nicht zu klein! Mach die Stücke nicht zu klein!«, rief die Jüngere.
»Keine Bange. Schau, wir können die Nähte als Schnur verwenden und damit die Zweige zusammenbinden!«, antwortete der Ältere.

Ich musste zur Arbeit, und ich musste mich beeilen. Ich war spät dran, durch die Zeit die ich damit vertrödelt hatte, den Kindern zuzuschauen. Es war nicht sehr kalt. Alte Männer zogen Karren mit Benzin, sie hatten zu kämpfen, weil die Räder im Schneematsch steckenblieben.
Meine Balance war nicht sehr gut. Ich konnte nicht beide Arme ausbreiten um mich auf rutschigem Boden abzufangen. Ich schaute nach unten, vorsichtig meine Füße setzend, während ich den grabenartigen Weg durch den Schnee entlangeilte.
Es war Winter, genau wie damals als ich das letzte Mal vom Verlust meines Handschuhs träumte. Ich schlief in einer Unterkunft mit einem Kohleofen. Es erschien mir wichtig, dass ich davon geträumt hatte, endgültig meinen Handschuh zu verlieren, aber was machte es wirklich aus?
Ich war an einem Wendepunkt in meinem Leben angekommen, wie beim Schulabschluss oder gar bei der Geburt. Es war nur ein Traum. Wir bekämpften Partisanen in den Orten am Rande des Küstengebirges.
Der Tag der vor mir lag war angefüllt mit Gefahren: Scharfschützen, das gefährliche Von-Haus-zu-Haus-Gehen und suchen, Minen und versteckte Sprengladungen: Das war viel wichtiger als der Verlust eines Handschuhs, ob nun Winter war oder nicht.
Ich habe nie gefühlt, dass es mich traf. In war in der Mitte einer Gruppe, die eine kurvige Straße entlangging. Gewehrfeuer brach los. Das Echo tönte in meinen tauben Ohren. Ich bekam den Treffer und fiel, ohne irgendetwas zu spüren.
Ich lag am Boden bevor es überhaupt begann. Ich erwachte, und mir war kalt, bitter, bitter kalt. Ich war klebrig, klebrig von Blut und spürte einen brennenden Schmerz. Für vielleicht drei Stunden hatte ich bewusstlos auf der Straße gelegen, zwischen vier toten Soldaten in einer Pfütze aus Blut.
Ich sah meinen Arm auf der Straße liegen. Mein Ärmel endete, Fleischstücke ohne Gefühl darin waren zu sehen. Sie waren gefroren. Ich versuchte aufzustehen, meinen schwachen Körper auf die Knie zu bringen, aber ich konnte nicht.
Mein Blut war gefroren, und ich war an den Boden festgefroren. Meine Brust bewegte sich heftig mit meinen Atemzügen. Der unnachgiebige Boden war hart wie Stein. Er saugte langsam die Wärme aus meinem Körper.
Er hielt mich fest wie Zähne, die sich in mich verbissen hatten. Ich zog an dem verstümmelten, gefrorenen Fleisch. Ich spürte einen brutalen Schmerz an meinem Ellenbogen und zog trotzdem mit all meiner Kraft.
Aber ich war am Boden angefroren, genauso fest, als wenn ich angenagelt gewesen wäre.
Das Blut war aus meinem Arm unter mich geflossen. Mein Mantel war auch gefroren, vom Blut welches er aufgesaugt hatte.
Es war kein frisches Blut mehr zu sehen. Als der zerrissene Muskel gefroren war, hatte das die Wunde verschlossen. Ich konnte treten. Ich konnte die Zehen in meinen Stiefeln bewegen. Ich zitterte vor Kälte, starb durch die Kälte und konnte mich nicht erheben.
Ich lag den ganzen Mittag über zwischen den zerrissenen Körpern der toten Männer. Ich hörte nicht auf, mich zu bewegen. Ich konnte mich ein Stückchen drehen und eine Blick auf den leuchtend blauen Himmel werfen.
Ich versuchte in jeder mir einfallenden Art das gefrorene Blut wegzubrechen. Während ich mich von einer Seite auf die andere warf gelang es mir, meinen verklebten Mantel ein wenig freizubekommen.
Die roten Kristalle brachen und lösten sich vom schwarzen Pflaster. Meine Schulter aber blieb festgewurzelt als wäre sie ein Teil der Straße. Meine Wange fror wenn sie die Straße berührte. Mein Gesicht war eingefroren.
Die Taubheit kletterte von meinem Ellenbogen aufwärts. Jetzt spürte ich dort keinen Schmerz mehr, selbst wenn ich mich heftig bewegte. Und dann hörte ich die Schritte, langsam und vorsichtig im Schnee.
Es war ein Partisan, ein großer Mann mit einem schwarzen Bart, welcher sich aufmerksam durch die Gruppe der toten Männer bewegte. Verzweifelt trat ich nach ihm, und seine Augen richtete sich auf mich.
Ich konnte keine Waffe benutzen, selbst wenn ich eine in Reichweite gehabt hätte. Er bückte sich bei den anderen Soldaten, seine behandschuhten Hände durchsuchten ihre Taschen. Er nahm ihre Gewehre und hing sie sich über die Schulter, und die ganze Zeit grinste er immer wieder zu mir herüber, während ich weiter mit den Füßen ausschlug.
Er kam zu mir um auch mich zu durchsuchen. Er stieß mich hart in die Rippen und zog an meinem Mantel. Dampfender Atem strömte aus seinem Mund. Er richtete keine Waffe auf mich. Warum sollte er auch? Munition war teuer, und ich war hilflos.
Die Kälte würde mich wesentlich billiger töten, wenn ich noch ein paar Stunden hier liegen würde. Als er alle Waffen und die gesamte Munition von den auf der Straße verstreuten Männern aufgesammelt hatte, verschwand der Partisan.
Er kam zurück mit einer Waffe, welche keine Munition benötigte. Er stand über mir und blickte auf mich hinab. Er war enorm groß, dunkel hob er sich gegen den Himmel ab, ein Riese mit einer Axt.
Seine Augen vermaßen mich, als er das Werkzeug anhob. Seine Augen quollen hervor als er zielte. Sie fixierten mich, starrten mich an, hielten mich fest. Ich schlug mit den Füßen um mich, aber ich schrie nicht.
Die Axt raste unaufhaltsam hinunter, ein totes Gewicht, die kalte Luft zerschneidend. Sie landete genau. Er brauchte nur einen Schlag. Er schlug meinen Arm ab. Ein unmenschlicher Schrei entfuhr meiner Kehle.
Der Schmerz wurde dumpf. Seine Hände arbeiteten an meinem Stumpf, und er zog mich von der Straße. Das gefrorene Blut riss von der Straße, es hörte sich an wie ein abreißendes Klebeband.
Ich war erschlafft und ich schrie, während der Mann Stofffetzen straff um das Ende meines Armes wickelte. Ich war abwechselnd bewusstlos und bei Bewusstsein, das Bild des großen Partisanen erschien immer wieder vor meinen Augen, während er meinen zuckenden Körper mit aller Kraft am Boden hielt und meinen Armstumpf verband.
Ich erinnere mich kaum daran, wie er mich von der Straße schleppte, auch nicht an die Zeit im Hospital. Ich wusste, dass der Partisan meinen Arm direkt unter dem Ellenbogen abgeschlagen hatte.
Er war ein gnädiger Feind, denn mit dem geretteten Ellenbogen hätte ich später mit dem Rest meines Armes vielmehr anfangen können also ohne. Aber im Feldlazarett amputierte einer unseren eigenen Ärzten später den Arm wesentlich höher, knapp unter der Schulter, weil der Wundbrand hineingeraten war.
Ich lag einen Monat lang in einem Segeltuchbett, mich vor Schmerzen übergebend, den Geruch von Eiter, welcher unter den Verbänden hervor lief, in der Nase. Ich überlebte. Ich bedauerte nicht, überlebt zu haben.
Aber ich träumte nie wieder meinen wiederkehrenden Traum vom Verlust des Handschuhs.
Deswegen glaubte ich daran, dass meine Träume prophetisch sind, und deswegen hatte ich keine große Angst vorm Sterben.
Woher immer diese Träume kamen, für mich bedeuteten sie, dass da irgendwo mehr war als die Welt wie ich sie sehen konnte. Irgendetwas Gutes schickte mir die Träume als Warnung. Wenn da eine Kraft war, eine gute Kraft, welche mir diese Träume schickte und auf diese Weise für mich sorgte, dann konnte ich daran glauben, dass diese Kraft mich zurück zu Noel bringen würde.

*-*-*

Als ich das vernarbte Beton-Gebäude, welches früher ein Warenhaus war und heute als Rathaus diente, erreichte, parkten LKWs davor. Ich betrat das Gebäude. Es roch nach in Öfen verbranntem Müll, aber die Zimmer waren kalt.

»Wir wurden bezahlt!«

Die einzige Person im Büro war meine Chefin. Unser Büro war zuständig für Volkszählung und die Verteilung der Arbeitskräfte. Martha war Anwältin, vierundsechzig Jahre alt, zu arthritisch um schreiben zu können.
Sie strahlte mich von ihrem Schreibtisch her an, eingewickelt in mehrere Tücher.

»Du beeilst dich besser“, sagte sie.

»Du musst raus zum Flughafen!«

Auf meinem Schreibtisch lag mein Lohn. Normalerweise wurden wir alle zwei Wochen bezahlt, vorzugsweise in Geld und nicht in Naturalien. Da lagen mehrere zerknitterte Geldscheine, mit einer Büroklammer zusammengehalten.
Aber daneben lag noch etwas, etwas was ich nie erwartet hätte dort zu sehen. Da lag ein Netz voller Orangen. Ich nahm das Netz und drehte mich mit einem ungläubigen Lächeln zu Martha. Sie strahlte zurück.

»Kannst du das glauben? Aber jetzt können Flugzeuge sicher hierherkommen und landen. Sie müssen aus Marokko gekommen sein, vielleicht sogar aus den Staaten! Orangen! Eine werde ich meiner Schwester geben, eine dem Mann der mir Feuerholz bring, und eine bekommt mein Neffe …«

Im Netz waren acht Orangen. Nicht nur eine, nein, acht! Sie waren leuchtend rot und rund. Orangen. Beinahe konnte ich den süß-sauren Geschmack der gebrochenen Orangenscheiben schmecken.
Am liebsten hätte ich eine davon sofort aufgerissen und gegessen, aber das konnte ich nicht. Eine Orange zu schälen würde Zeit brauchen. Es braucht zwei Hände, um die leuchtende Schale leicht zu öffnen. Ich hatte nicht die Zeit dazu.

»Warum soll ich zum Flughafen?«

»Es werden Flugzeuge erwartet. Neue Arbeitskräfte. Neue Menschen um verpflegt zu werden. Du musst die Liste anfertigen. Ich kann nicht gehen, ich muss mich mit dem Verantwortlichen für die Lebensmittelzuteilung treffen.«

Es war unsere Aufgabe, die Liste mit den Menschen in der Stadt zu führen. Normalerweise würde Martha die Informationen einholen, und ich würde sie abschreiben. Das Arbeitsamt und das Zuteilungsbüro brauchte die Listen, um die vorhandenen Ressourcen aufzuteilen.
Wir führten auch Todeslisten, um später die Fragen der Überlebenden beantworten zu können. Die Listen waren wichtig. Ich hatte eine gewaltige Sammlung alten Papiers zusammenzutragen, die hingekritzelten Notizen der Feuerwehr und der Rettungskräfte aus den Tagen, als die Stadt zerbombt wurde und brannte.
Als überall Kanonendonner schallte: In diesem Haus, in diesem Stockwerk, sechsköpfige Familie, nur der Familienname bekannt, alle tot. An dieser Adresse vier Familien: drei Überlebende, Mutter und zwei Töchter, gerettet aus der untersten Etage. Dieses Haus war leer als es ausbrannte. Schutzbunker am Soundsovielten: direkter Treffer, alle tot.
Die Überlebenden kümmerten sich. Sie kamen jede Woche um zu sehen, ob es irgendwelche Neuigkeiten gab, ob der Name den sie suchten endlich auf irgendeiner Liste erschien, ob es eine Bestätigung gab. Die Listen waren alles. Ich erinnerte mich an den Tag, an welchem ich Noels Namen auf einer der Listen fand.
MIA; eine Liste die alles aber auch gar nichts aussagte. Missing in Action. Und so studierte ich Liste auf Liste, ich betete, hoffte, gab die Hoffnung auf und hoffte wieder, fand eine neue Liste zum Überprüfen, suchte Woche auf Woche nach einer Bestätigung.
Es dauerte zwei Jahre, bis ich seinen Namen auf der anderen Liste fand: KIA. Killed in action. Und da wusste ich, dass ich zwei Jahre lang gehofft hatte wo keine Hoffnung war.

Noel schrieb mir: »Das ist kein Scherz: Tu dein bestes, um für mich zu überleben. Ich möchte nicht all das was ich gesehen und getan habe für nichts und wieder nichts durchgemacht haben. Ohne den Gedanken daran, dass du auf meine Rückkehr wartest, würde ich liebend gerne sterben und alles hinter mir lassen. Ich lebe einen Albtraum und halte mich fest an der Hoffnung, dass eines Tages alles vorbei ist und ich erwache um wieder bei dir zu sein.«

Also habe ich für ihn überlebt, aber sein Albtraum war stärker. Komm, Tod, tanze mit mir. Nimm meine Hand und führe sie zu Noels Hand. Warum sollte ich mich fürchten? Der Tod konnte unmöglich schlimmer sein als das, was ich bereits durchgemacht hatte.
Was immer mir meine Träume schickte, es würde mir die Antwort geben, welche mir die drei Buchstaben, KIA, nicht geben konnten. Noel, bist du schnell gestorben? Ein halbes Dutzend LKW wartete auf mich, bereit zum Flughafen zu fahren.
Ich kletterte in die Kabine zur Fahrerin. Sie lächelte mich ausgelassen an, mit Zähnen, welchen man die Fehlernährung ansah. Das ausgeleierte Getriebe knirschte und knackte, als die Fahrt zum Flughafen begann.
Noel war ein Clown gewesen, schwer festzunageln, selten ernst. Die Nacht, in der er sich das erste Mal auf mein Bett geworfen hatte, seinen nackten Körper provokativ hin- und her bewegend, in dieser ersten Nacht hatte er das Wort Liebe ausgesprochen.

»Oooh! Ich liebe dich! Komm und nimm mich!«

Sein Hintern war fest und warm und muskulös, tiefe Grübchen an den Seiten, der schönste Hintern auf der Welt. Er benutzte das Wort Liebe so freizügig, dass ich kaum glauben konnte, dass er es wirklich so meinte. Aber dann schrieb er mir all diese Briefe.
Glatte Haut, harte runde Schultern, ein geschmeidiger, heißer Körper. Wir haben gerungen. Es brauchte all meine Kraft und beide Arme, um ihn unter mir festzunageln. So viel warme Haut. Seine Zunge wanderte suchend meinen Oberschenkel hinauf, leckte an meinen Hoden und brachte mich dazu, ganz still zu liegen.
Als sein eifriger Mund den Weg zu meinem Penis gefunden hatte, hatte Noel mich auf dem Bett festgenagelt. Die Kraft meiner beiden Arme hatte nicht ausgereicht, um diesem geschickten Kämpfer mit den vielen jungen Muskeln Paroli zu bieten.
Als wir am Flughafen eintrafen, waren die Flugzeuge noch nicht eingetroffen. Es gab eine Verspätung. Es gab immer eine Verspätung. Auf dem Flugfeld waren einige kleine dunkle Figuren und fegten die Rollbahn.
Am Horizont gingen die schneebedeckten Felder in den Himmel über. Früher stand ein Wald am Rande des Flughafens, aber Baum nach Baum war abgeholzt und verfeuert worden. Jetzt gab es da nur noch Schnee und das gedrungene Gebäude, welches aussah wie ein Bunker und das abgebrannte Terminal ersetzte.
Langsam wanderte ich dorthin. Es gab keinen Platz, um sich hinzusetzen. Die Vertreterin vom Hilfskomitee war da, ein Teenager mit zwei langen Zöpfen. Sie entlud packenweise dünne Decken. Als ich den großen Stapel sah wusste ich, dass man mehrere Flugzeuge erwartete.
Sie arbeitete langsam mit der verbissenen Geschwindigkeit die ich von Leuten kannte, die wussten, dass ihnen viele Stunden Arbeit bevorstanden und versuchten, ihre Kräfte zu schonen, obwohl sie bereits jetzt völlig erschöpft waren.
Jeder arbeitet hier so. Auch ich. Es gab nicht viele energiegeladene Menschen in der Stadt. Monate der Rationierung hatten dafür gesorgt. Ich dachte kurz daran ihr zu helfen, aber ich war müde und zu sehr in meinen eigenen Gedanken versunken.
Ich stand da und blickte in den weißen Himmel, nach den angekündigten Flugzeugen Ausschau haltend. Wird vielleicht ein abstürzendes Flugzeug das Skelett zu mir bringen? Ein plötzlicher Ansturm dunklen Metalls und ohrenbetäubenden Lärms.
Dann die weißen Knochenfinger, die durch Trümmer, Blut und brennendes Benzin nach meiner Hand greifen und mich mit sich ziehen? Ich hoffte es würde kein Flugzeug sein. Wenn es ein Flugzeug wäre, dann würden auch andere Leute sterben, die Crew, die Passagiere, das Mädchen vom Hilfskomitee.
Viel lieber würde ich ganz alleine sterben, aber ich wusste, dass ich dem Skelett nicht entkommen konnte, es hatte also keinen Sinn, die anderen um mich herum zu warnen.
Vielleicht war der Krieg doch nicht vorbei. Vielleicht wurde der Waffenstillstand gebrochen. Vielleicht kamen jetzt die Bomber wieder, und ich würde sterben, während die Stadt explodierte.
Ich schüttelte den Kopf, versuchte den Gedanken von mir abzuschütteln. Das wäre unerträglich. Es wäre viel zu falsch, auch noch das wenige was übriggeblieben war zu verlieren. Aber das Unerträgliche ist bereits passiert, immer und immer wieder, und ich hatte meinen Anteil daran durchgemacht.
Laß das Skelett nur zu mir kommen! Ich bettelte in Gedanken. Nur zu mir, zu niemand anderem!
Es schneite, die Flocken dünn und silbern in der warmen Winterluft. Sie fielen genauso schnell wie die Leute auf der Rollbahn sie wegfegen konnten. Ein weiterer LKW-Konvoi erschien und stellte sich hinter unserem auf.
Die uniformierten Fahrer, alles Frauen, kamen ins Gebäude und wir tauschten die neuesten Gerüchte aus: Die Flugzeuge werden in St.Stephens aufgehalten, aber nur wegen des Wetters, und sie werden bald hier sein.
Die Flugzeuge kommen von einem Camp bei Eirmok. Sie lassen die Cholera-Patienten aus dem Camp hierherkommen. Die Flugzeuge werden wegen Papierkram aufgehalten. Ein Frachtflugzeug wird erwartet. Es werden Militärflugzeuge sein, aber sie werden nicht kommen.
Manchmal stimmten die Gerüchte. Meistens waren sie falsch. Ich verlor mein Interesse an ihnen und begann, wieder an Noel zu denken.
Er wollte sich nicht gleichzeitig mit mir freiwillig melden.

»Wenn wir uns gleichzeitig melden können wir vielleicht zusammen bleiben.« Das hatte ich ihm gesagt.

»Blas mir einen«, hatte Noel zurückgegrinst.

»Nein, Noel, das ist mir ernst. Einer von uns wird bald eingezogen werden, vielleicht auch wir beide. Wir müssen uns jetzt entscheiden. Kannst du auch mal an etwas anderes als an Sex denken?«
»Blas mir einen.«

Er hatte meinen Kopf in beide Hände genommen, starrte kurz in meine Augen und zog dann mein Gesicht nach unten.

»Los. Küss meinen Schwanz.«

»Noel, hör auf!«

Ich hatte mich aus seinen Händen gelöst. »Bitte. Ich will mit dir gemeinsam zum Meldebüro gehen.«

»Ich will nicht.«

»Sei realistisch! Unsere Namen sind auf der Liste! Wir haben weniger als einen gemeinsamen Monat übrig. Ich möchte, dass du mit mir mitkommst.«

»Ich möchte, dass du mir einen bläst. Das ist es, was ich möchte.«

»Warum willst du nicht mit mir mitkommen?«

»Weil ich nicht mit dir mitkommen will.«

Als Noel zur Ernsthaftigkeit gezwungen war, war sein Gesicht blass geworden.

»Ich will nicht zusammen mit dir dienen. Ich will nicht jede Minute des Krieges nach dir sehen müssen, darauf warten müssen, dass dir etwas passiert. Ich will nicht zusammen mit dir im Felde stehen. Ich will es nicht sehen, wenn es dich trifft. Ich will nicht dabei sein …«

Seine Stimme versagte.

»Alles was ich will ist, dass du mir einen bläst. Ist das zu viel verlangt?«

»Nein.«

Ich stimmte zu.

»Das ist nicht zu viel verlangt.«

»Mein Ausbildungs-Sergeant schreit uns immer an: Ihr seid ein Haufen Schwuchteln!«, schrieb Noel in einem seiner Briefe.

»Und stets denke ich: Ja, danke, Sergeant!, aber ich spreche es nie aus, er denkt er beleidigt mich damit. Nebenbei, armer Kerl, als er uns unbewaffneten Nahkampf beibringen wollte, habe ich ihn fertiggemacht. Es wäre schrecklich für ihn herauszufinden, dass er von einer 80-Kilo-High-School-Schwuchtel niedergeworfen wurde.«

Es war Nachmittag als die Flugzeuge endlich ankamen. Sie kamen in Formation, weiß gestrichene, kurze, plumpe Transportflugzeuge, ohne Jagdschutz. Das Besenkommando rannte von der Rollbahn. Die Flugzeuge landeten, eins nach dem anderen.
Sie hatten militärische Markierungen. Es dauerte fast eine Stunde, bis alle Flugzeuge gelandet waren. Es dauerte noch länger, bis sie alle zum Flughafengebäude gerollt waren. Das Besenkommando musste ihnen einen Weg freikehren, und wir mussten warten.
Nur wenige Leute verließen die Flugzeuge und arbeiteten sich durch den Schnee, einer davon kam zu mir.

»Hier, die Passagierliste. Sie sind der Vertreter vom Arbeits- und Verteilungsamt? Wo ist der Vertreter vom Hilfskomitee?«

»Wo kommen sie her?«, fragte ich, während ich dem Mädel zuwinkte.

»Quaow Da“, rief er mir über die Schulter zu.

Ich starrte ihn bestürzt an. Quaow Da? Auf der anderen Seite? Als ich die Männer ins Gebäude kommen sah verstand ich. Sie schlurften langsam, ausgemergelte Menschen, in Lumpen gehüllt, mit fiebrigen Augen.
Ihre Uniformen hatten aufgedruckte Buchstaben. Das leuchtende Orange verblasste unter dem Schmutz, aber trotzdem erkannte ich die Buchstaben, die ich bereits auf Fotos gesehen hatte. POW. Es waren Kriegsgefangene.
Arbeitskräfte? Nicht diese jungen Männer. In der Warteschlange war nicht ein einziger Mann, der fähig gewesen wäre zu arbeiten. Sie waren ausgehungert. Es waren junge Männer, die nicht wie junge Männer aussahen.
Sie waren spindeldürr, abgemagert. Sie sahen genauso aus wie die Leichen im städtischen Leichenhaus, welche an Unterernährung und Cholera gestorben waren. Ich spürte, wie mein Atem zitterte.
Das war alles, was von den wunderbaren jungen Männern von vor zehn Jahren übriggeblieben war. Ich wollte meine Qual hinausschreien. So viele junge Männer, vorbei. Diese erledigten alten Männer waren alles, was von ihnen übrig war.
Aber ich legte meinen Schreibblock parat und begann die Namen zu vergleichen. Sie mochten ausgehungert sein, aber sie lebten, und mehr noch, sie waren wieder frei. Also las ich ihre Namen wie sie in das Terminal kamen, und notierte, wohin sie gehen sollten.
Sie starrten überrascht um sich. Sie humpelten langsam, einige halfen anderen, wieder andere schwankten allein und für sich voran. Es war meine Aufgabe zu entscheiden, wohin sie gehen würden.
Einige müsste ich auf die Liste der Arbeitsfähigen setzen, andere auf die Liste der Arbeitsunfähigen. Aber jeder einzelne von ihnen müsste eigentlich in ein Hospital kommen,
müsste gepflegt und mit Lebensmitteln versorgt werden.
Alle würden neue Kleidung brauchen, einige der abgemagerten Männer in den abgetragenen Sachen waren sogar barfuß. Das Mädel vom Hilfskomitee huschte zwischen den ausgemergelten Gestalten herum und verteilte Decken auf ihren Schultern.
Die Männer sahen sie und die uniformierten Frauen mit ungläubigen Augen an. Im Kriegsgefangenenlager hatten sie jahrelang keine Frauen zu Gesicht bekommen. Die Lippen des Mädchens waren zu einem gequälten Lächeln verzogen, während sie Decken um ausgezehrte Schultern legte und sich die Reihen um sie herum vorwärtsbewegten.
Ich schrieb H, für Hospital, hinter jeden Namen auf der Liste. Dann stoppte mein Stift, und ich schaute auf den Namen des Mannes, der als nächster auf meiner Liste stand: Noel Darlington. Ich hob meinen Kopf.
Klapperdürr, weiß wie Kalk, dunkle, eingefallene Augen in seinem Schädel, so stand Noel vor mir. Mein Skelett war Noel. Er war ein wandelndes Skelett, ein lebender Toter, er sah aus, als wäre er gerade aus seinem eigenen Grab gestiegen. Es war unzweifelhaft Noel.

»Noel …!«

Ich legte meinen Arm um ihn herum und zog ihn an mich.

»Noel. Noel.«

Ich fühlte jede einzelne Rippe. Es war kein Ruf der Freude oder Erleichterung, mit dem er mich begrüßte. Es war ein bestürztes Flüstern.

»Dein Arm! Oh mein Gott, was ist mit deinem Arm passiert?«

Ich konnte ihn nicht loslassen. Ich hielt meinen skelettartigen Liebsten eng an mich gepreßt. Ich zitterte, oder zitterte er und übertrug es auf uns beide? Um uns herum murmelten die Stimmen, ehrfürchtig und glücklich für uns.

»Brüder. Sie müssen Brüder sein! Seht …!«

Ich konnte ihn nicht loslassen. Ich ließ ihn nicht los. Wie ich meine Arbeit beendete weiß ich nicht, ich hielt ihn und er hielt mich. Ich schrieb alle Namen auf. Wir brachten die Männer zu den LKWs. Ich hielt Noel an meiner Seite.
Ich würde ihn nicht ins Hospital schicken und ihn wieder verlieren. Nein! Ich war wild entschlossen, ihn bei mir zu behalten. Er fuhr mit mir im Führerhaus des LKW, meinen Mantel über seiner dünnen Uniform.

»Du hast überlebt.«

Er flüsterte.

»Du hast es getan. Du hast überlebt für mich.«

Die Fahrerin setzte uns vor meinem Haus ab. Mehr konnte sie nicht tun für uns. Ihr faltiges Gesicht war voller Tränen bei unserem Anblick. Sie hatte einem großen Umweg gemacht, um uns nach Hause zu bringen.

»Viel Glück. Viel Glück mit ihm,« rief sie uns nach.

Es dämmerte bereits, federleichter Schnee taumelte durch das blaue Zwielicht. Ich hielt Noel auf seinen Füßen. Mittlerweile war er nicht mehr in der Lage zu laufen. Vor uns leuchteten die Fenster, eine Kerze im Fenster eines jeden Zimmers, groß und weiß, umgeben vom geschmolzenen Reif der Fensterscheiben.
Meine Nachbarn hatten die Kerzen von Mrs. Keitch gekauft und sie zum Weihnachtsfest angezündet. Nur mein Fenster im obersten Stockwerk war noch dunkel. Ich brachte Noel unter die Zweige der Eingangstür.
Die Treppen schafften mich. Er war so leicht. Unter meinem Mantel, da war nichts, um ein Paar Arme damit zu füllen. Aber ich hatte nur einen Arm um ihn zu halten. Es war zu viel. Ich schleppte ihn nach oben, Stufe für Stufe, unsere Schuhe schleiften über den Boden.
Es war schwer. Diese Geräusche lockten meine Nachbarn ins schummrige Treppenhaus; das ältere Ehepaar schaute von oben herab, die beiden Kinder klammerten sich an das Geländer, Mrs. Keitch und der alte Mann vom Erdgeschoß sahen uns an.

»Was ist los?«

»Er kommt nach Hause.«

Sie fragten nicht wer Noel war oder was er für mich war, es war nur wichtig, dass er ein verloren geglaubter Soldat war, welcher endlich nach Hause kam. Ihre vielen Arme griffen nach uns und trugen uns nach oben.

»Ein Gefangenenaustausch, gerade rechtzeitig für Weihnachten!«

Der Elektroheizer in meinem Zimmer glühte. Ich fühlte die Wärme auf meinen Wangen, als wir den Raum betraten. Er musste schon seit längerer Zeit laufen, um das Zimmer dermaßen aufzuheizen.

»Er ist so dünn, der arme Mann!«

Sie legten Noel auf mein Bett und wollten gehen.

»Moment. Ich danke euch.«

Ich griff in die Taschen meines Mantels und holte die Orangen hervor.

»Für euch. Danke.«

Sie blieben in meinem Zimmer, halfen mir, drängten sich um mich in meiner Freude.

»Frohe Weihnachten, Mr. Anthoni!«, flötete das kleinere Kind in seiner hohen Stimme.

Der süß-säuerliche Geruch von geschälten Orangen erfüllte die Luft. Mrs. Keitch brachte ihr Hühnchen, goldbraun gebraten mit knusprigem Fett, und teilte es mit uns allen. Die Mutter der Kinder hatte kleine Püppchen als Geschenke für sie in Küchenpapier eingewickelt.
Sie öffneten die Päckchen in meinem Zimmer und teilten ihre Freude mit uns. Der alte Mann aus dem Erdgeschoß brachte in Folie eingewickelte Schokolade. All diese Gesichter leuchteten vor Freude und feierten mit mir die Rückkehr Noels.
Ich hielt Noel die ganze Zeit dicht an mich gepresst, fütterte ihn mit Orangenscheiben und kleinen Stückchen Hühnerfleisch. Er lächelte und küsste meine Finger. Er hielt seine Wange an mich gedrückt.
Unglaublich, mit so vielen Menschen darin wurde das Zimmer warm, und wir konnten unsere Tücher und Pullover ausziehen. Sogar Noels kalte Haut wurde warm, mit meinen Decken um ihn gewickelt.
Als alle gegangen waren schlief Noel, völlig übermüdet, unter meinem Arm, perfekt warm, und ich lag wach im Dunkeln neben ihm. Ich brauchte keinen Schlaf. Meine Gedanken rasten über all die Dinge, die ich würde tun müssen, um ihn wieder stark und gesund zu bekommen.
Es würde schwer werden, zusätzliche Lebensmittel zu bekommen, aber ich würde einen Weg finden. Ich war mir absolut sicher. Ich würde ihn zu seinem alten Ich zurückbringen. Keine Träume mehr.
Das Skelett war gekommen. Ich küsste ihn. Niemals wieder würde ich träumen, dass das Skelett zu mir käme, denn jetzt hatte ich ihn und würde ihn für immer bei mir behalten. Weit entfernt hörte ich eine Kirchenglocke läuten. Es läutete zwölfmal, Mitternacht.
Es war Weihnachten. Schnee bedeckte die Trümmer der Stadt mit einem weichen, weißen Laken. Mein Zimmer war herrlich warm und mein Liebster lag neben mir in meinem Bett. Ich schloss meine Augen. Noel.

*-*Ende*-*

This Post Has Been Viewed 449 Times

No votes yet.
Please wait...

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.