Samstagabend, acht zehn Uhr , etwas später………draußen.
Jerome
Ich mache eine kurze Pause und schaue in die Runde, die Pärchen halten sich alle, sogar Torsten und Sigrid, an den Händen, sitzen dicht bei einander und schauen auf mich. Sie zeigen auf diese Weise
deutlich, wer zu wem gehört aber auch, wer schwul ist und wer nicht. Tom und Micha, vor allem aber Matthias, schauen sehr aufmerksam von Paar zu Paar und es wird ihm gerade klar, dass hier mehr schwule Jungs zusammen sitzen, wie er in seinem bisherigen Leben gesehen oder kennen gelernt hat. Was er gerade dabei denkt oder empfindet, ist auf seinem sehr hübschen Gesicht nicht abzulesen. Wie ein Pokerspieler verzieht er keine Miene und so ist es nicht möglich, an einer Reaktion irgendetwas abzulesen.
„Ich fange jetzt einfach mal an mit der Vorstellung“, sag ich, „dann geht es links von mir weiter, mit Sergej, bis alle, die schon länger dazu gehören, durch sind. Dann fangen wir mit Chris und Robin an, dann Tom und Micha, Marvin, Sergejs Geschwister Boris und Marianne, die heute mit einiger Verspätung eingetroffen sind und zum Schluss ist Matthias dann an der Reihe.“
Ole
Jerome hat die Fete quasi eröffnet, von unserer Party bei Armin zur heutigen eine Verbindung hergestellt und will nun, dass sich alle in der Runde, die die schon länger dabei sind zuerst, vorstellen, damit die neuen wissen, wer wir sind, wer zu wem gehört und was es sonst so über uns zu sagen gibt. Er selber fängt an.
„Mein Name ist Jerome Remmers, ich bin achtzehn Jahre alt, habe gerade mein Abitur gemacht und ich bin schwul“, fängt er an. „Vor etwa sieben Monaten hatte ich einen Autounfall und verlor dabei meine Füße und Teile der Unterschenkel.
Dank neuartiger Prothesen ist es mir möglich, wieder normal zu gehen, so dass es nach außen niemanden auffällt, dass ich schwer behindert bin. Der Rollstuhl ist mir ein sehr vertrautes Transportmittel, das auch heute, trotz der Prothesen, ab und zu zum Einsatz kommt. Seit zwei Monaten fast, bin ich mit Sergej Radic zusammen, ich liebe ihn sehr und er mich auch und wir sind sehr glücklich. Kennen gelernt habe ich ihn in der Klinik und das konnte halt so nur geschehen, weil ich diesen Unfall hatte.
Das hat mich längst mit dem Verlust meiner Füße versöhnt und wenn ich die Wahl hätte zwischen einem Leben mit Füßen, aber ohne Sergej und einem Leben mit Sergej ohne Füße, dann würde ich mich ohne zu zögern für das letztere von beiden Entscheiden.“
WOW, was für eine Ansage, zuerst ist es ganz still, dann steht Sergej auf, umarmt ihn und küsst ihn lange. Beifall kommt auf und dann applaudieren alle, sogar die neuen klatschen mit. Jerome setzt sich und Sergej bleibt stehen.
„Hi, mein Name ist Sergej Radic, ich stamme aus Dresden und bin das älteste von fünf Kindern. Ich bin nach Bremerhaven gezogen vor gut drei Jahren, um hier eine Ausbildung zum Hotelkaufmann zu machen.
Zusätzlich zu meiner Ausbildung habe ich hier am Klinikum in der Cafeteria bedient, um etwas Geld nebenbei zu verdienen. Dort habe ich Jerome kennen gelernt und obwohl ich vorher nie für einen Mann oder Jungen was empfunden habe, habe ich mich, unbewusst wohl schon beim ersten Treffen ihn in verliebt, was bedeutet, dass auch ich schwul bin.
Es war eine turbulente Zeit und es dauerte auch, bis ich begriff, was da mit mir geschehen ist. Zusammen sind wir nach Dresden gefahren und meine Familie hat es gut aufgenommen. Als Souvenir haben wir dann Kevin mit gebracht, an den ich jetzt das Wort weiter gebe.“ Auch hier gibt es einen kurzen Applaus und Sergej setzt sich.
Kevin steht auf, und eine leichte Röte liegt auf seinem Gesicht wie immer, wenn alles auf ihn schaut.
„Hi, ich bin Kevin“, sagt er, „ noch Balzer aber bald wieder Weiden, so, wie meine Mutter hieß, als sie mich geboren hat.“ Alle, die Kevin kennen, außer Wolfi, gucken erstaunt, denn dies ist neu für uns alle, leuchtet aber auch allen ein, denk ich. „Ich bin siebzehn Jahre alt, schwul und mit Wolfi, der eigentlich Kai Wolf heißt, zusammen. Wir hatten beide in der Zeit, bevor wir uns kannten, unter einem sexuellen Missbrauch zu leiden und haben uns bei Armin zum ersten Mal gesehen und uns da wohl auch ineinander verliebt. Es hat ein bisschen Zeit und viele Gespräche gedauert, bis wir mit uns und den Gefühlen im Reinen waren und er ist jetzt der wichtigste Mensch in meinem Leben. Martin und Kai, die hier bei der Familie Remmers arbeiten und bei denen ich jetzt wohne, haben alles Erforderliche eingeleitet, mich zu adoptieren, so dass ich nun neben Wolfi auch noch zwei Väter habe, die mich lieben. Die beiden sind schon über fünfzehn Jahre ein Paar. Ihr seht also, dass hier ein ganz schön schwules Fleckchen Erde ist und das hier Küsse unter Männern genau so normal sind, wie unter hetero sexuellen Paaren, von denen wir ja nun auch schon Vier unter uns haben.“
Er setzt sich und der kurze Applaus zaubert ein süßes Lächeln auf sein Gesicht. Nun ist wohl Wolfi dran.
„Hallo, ich bin Kai Wolf, bin zwei und zwanzig und studiere in Bremen. Hier zu dieser Clique bin ich gekommen, weil wir neben Armin eingezogen sind und er mich freundlicher Weise zu der Party in ihrem Keller eingeladen hat. Dass er damit meinem und auch Kevins Glück auf die Sprünge geholfen hat, war wohl Fügung des Schicksals, trotzdem bin ich ihm auf ewig dankbar. Wie mein Schatz bereits gesagt hat, gibt es auch in meiner Jugend ein übles Erlebnis, das mich sehr lange beschäftigt hat und das erst seit ich mit meinem Schatz fest zusammen bin jeglichen Schrecken für mich verloren hat. Wir sind glücklich und freuen uns, hier dazu gehören zu dürfen. Auch das ist einer der großen Glücksfälle in meinem Leben und ich denke, mit dieser Meinung bin ich nicht allein.“
Nun ist die Reihe an Mike und er steht auf, nach dem der kurze Applaus für Wolfi verklungen ist
„Hi, ich bin Mike Schulz, achtzehn Jahre und habe gerade mit Ole und Paul zusammen Abitur gemacht, wir waren in der gleichen Klasse. Auch ich gehöre zu den schwulen Jungs in diesem Kreis und seit fast sechs Monaten bin ich mit Dirk hier fest zusammen und wir sind glücklich dabei. Zu den Freunden sind wir ebenfalls über Armins Party gekommen und ich schließe mich Wolfi an und sage, dass es passt, alles und das wir, mein Schatz und ich froh sind, solche Freunde zu haben.“
Während wieder kurz geklatscht wird, zieht Dirk sich an ihm hoch, küsst ihn und drückt ihn dann runter auf die Bank mit dem Po.
„Hallo, ich bin Dirk“, sagt er und nach einer kurzen Pause, „Schneider, aber Dirk reicht mir.“ Torsten gackert und Sigrid stupst ihn an. „Ich geh noch zur Schule, mit Armin und Denise in eine Klasse und von der Penne her kenne ich halt auch meinen Schatz Mike, mit dem ich dann zusammen gekommen bin. Anfangs gab es Probleme zu Hause, aber auch manchmal zwischen uns beiden. Seit wir hier dazu gehören, leben wir bewusster schwul, verstecken uns nicht mehr überall und weil das hier bei Jerome zu Hause niemanden stört, wenn zwei Jungs sich küssen, sind wir auch so gerne hier und mit unseren tollen Freunden zusammen.“
Auch er bekommt kurz Beifall, als er sich wieder setzt.
Frank ist jetzt an der Reihe und erhebt sich.
“Ich bin der Frank, Merten mit Nachnamen, bin Zwanzig und habe vor ein paar Tagen meinen Zivildienst auf Grund einer Armverletzung vorzeitig beendet. Als ebenfalls Schwuler habe ich Ole im Krankenhaus kennen gelernt und jetzt sind wir fest zusammen. Es ist meine zweite und wie ich hoffe auch letzte Beziehung, denn mit Ole möchte ich alt werden. Wir werden zusammen in Bremen studieren und mit einigen hier in einer WG zusammen leben. Gute Freunde zu haben, ist eine tolle Sache und auch ich fühle mich bei euch und mit euch sehr wohl.“ Als er sich setzt, gebe ich ihm einen Kuss und es gibt auch für ihn Beifall.
Nun kommt wohl die Reihe an mich.
Jerome
Ole ist nun dran und er steht bereit. Rico ist auch aufgestanden und macht den Grill an, das der richtig heiß wird.
„Hi, ich bin Ole Jensen, fast achtzehn“, sagt er, „schwul und mit Frank zusammen, wie ihr es ja eben schon gehört habt. Meine Mama arbeitet hier bei Jeromes Oma, aber zusammen gekommen mit den meisten Freunden sind auch wir auf der Party bei Armin.
Mein Vater starb bei einem Unfall, so dass ich mit meiner Schwester Marie und meiner Mutter und neuerdings auch Frank zusammen wohne. Ich werde in Bremen Jura studieren und mit Frank und einigen anderen aus diesem Kreis in einer WG in Bremen wohnen, die Jerome gehört. Deren Umbau steht kurz vor der Vollendung. Ich mag alle meine Freunde sehr und bin froh, sie in meinem Leben zu haben.“
Beifall wird auch ihm zu teil und jetzt ist die Reihe an Torsten. Er steht auf und räuspert sich, dann fängt er an.
Mein Name ist Torsten Sieber, ich bin gerade sechzehn Jahre alt geworden, nicht schwul und seit einigen Tagen mit Sigrid zusammen. Ich komme aus Beverst und habe nach einem Skatboardunfall im Krankenhaus gelegen, als Ole nach einem Fahrradunfall dazu kam. Frank war dort als Zivi und nach anfänglichen Schwierigkeiten wegen meiner anerzogenen Abneigung gegen Schwule haben wir uns angefreundet und ich habe von ihnen gelernt, dass Schwul sein nichts ist, was man sich aussucht und das schwule Jungs genau so OK sind, wie andere. Ich bin froh, das Ole zu mir ins Zimmer gelegt wurde, durch ihn habe ich all die tollen Freunde kennen gelernt und natürlich Sigrid auch. Alle haben mich in der Reha besucht und es war ein tolles Wochenende dort in Bad Schwartau.“ nun kommt Sigrid an die Reihe und dann wohl Natascha. Sigrid fängt an.
„Ich bin Sigrid Gut, bin fast sechzehn und meine Mama arbeitet hier bei Remmers. Natascha und ich sind schon längere Zeit befreundet. Wir gehen auch zusammen reiten auf einem Hof hier in der Nähe. Mit ihr war ich auch auf der Party bei Armin und wurde auch Mitglied in dem dort entstandenen Freundeskreis. Nun bin ich mit Torsten zusammen, er ist mein erster fester Freund und ich mag ihn sehr.“ Nach kurzem Applaus ist nun die Reihe an Natascha, Marie wird dann die nächste sein und mit Armin und Denise sind die Leute der ersten Stunde dann durch. Bevor Natascha anfängt, frage ich, ob noch alle was zum Trinken haben. Nachdem Kevin und Sergej die Getränkewünsche der anderen erfüllt haben, geht es weiter mit meiner Schwester.
„Hi, ich bin Jeromes Schwester Natascha und heiße folge richtig dann auch Remmers.“ Torsten gackert wieder kurz. „Ich werde bald sechzehn und bin in Paolo hier verliebt, den Zwillingsbruder von Enrico, der da am Grill hantiert. Die zwei sind ebenso wie Paul, Rolf und Noah, etwas später zu uns gestoßen, die Gründe werden sie dann selber erzählen. Seit der Freundeskreis besteht, ist Jeromes und mein Leben interessanter und vielseitiger geworden, davor war hier nicht viel los und echte Freunde gab es nur wenige, Sigrid halt und Noah vor Jeromes Unfall aber sonst war da nichts. Ich bin gespannt auf neue Leute, neue Freunde, wenn es dann passt und was ich dazu tun kann, werde ich machen.“ Nun ist Armin dran und Denise wird folgen und Marie noch, dann sind die Leute der ersten Stunde durch und es kommen all die an die Reihe, die später dazu gekommen sind.“
„Hallo, ich bin Armin Schneider, nicht verwandt mit Mike, bin achtzehn und geh in die letzte Klasse am Gymnasium. Ich bin mit Denise zusammen seit meinem Geburtstag im April und ich freue mich, dass aus der Idee mit der Party zum Kennen lernen eine so tolle Freundschaft entstanden ist. Dass der Kreis noch größer geworden ist und vielleicht noch weiter wächst, freut mich, weil alle, die bisher dazu kamen, prima zu uns passen und ich hoffe das für alle, die sich uns noch anschließen wollen.“ Kurzer Beifall, dann hat Denise die volle Aufmerksamkeit.
„Ich bin Denise Blank und bin am sechzehnten Juni achtzehn geworden. In einer Beziehung bin ich mit Armin und auch ich bin froh, hier dazu zu gehören.“ Kurz und schmerzlos, so kennen wir sie. Trotzdem bekommt auch sie Applaus. Nun ist Marie dran, die einzige unter uns mit einer negativen Partner Erfahrung bis jetzt.
„Hi, Leute, ich bin Marie Jensen, die Schwester von Ole und ich bin am neunten Juni sechzehn geworden. An der ersten Party war ich mit Heiner in einer Beziehung, die dieser aber beendet hat, nach dem eine neue Schülerin an unsere Schule gekommen ist. Seit ein paar Tagen bin ich nun verliebt und mit Marvin zusammen, der von seiner Freundin ebenso wie ich, ab serviert wurde. Seine Ex Freundin ist jetzt mit meinem Ex Freund zusammen. Seit ich jetzt Marvin zum Freund habe, bin ich nicht mehr traurig, dass Heiner Geschichte ist. Auch ich würde mich über Zuwachs freuen, wenn er denn zu uns passt und wir zu ihm.“ Wenn wir in der Reihenfolge der Zuwächse fortfahren, ist jetzt Paul dran, dann die Zwillinge, Noah und dann Rolf. Auch Marie hat, wie alle vor ihr, Beifall bekommen und ich frage jetzt mal: „Hat jeder noch zum Trinken und sollen wir eine Pause machen und Rico grillt erst mal was?“
„Es ist besser, wenn jeder jetzt sagt, was er zuerst essen will und ihr dann weitermacht“, sagt Rico, „ich grill dann, das dauert etwa zwanzig Minuten und dann essen wir die erste Runde. Danach können sich dann alle Neuen vorstellen und ich grille die zweite Runde, was meint Ihr? Wenn ich an der Reihe bin, kann ich auch vom Grill aus reden.“
Dieser Vorschlag bekommt Beifall von allen und so geht Rico kurz rum und notiert, wer Steak, Wurst oder Fisch essen möchte. In der Zeit geht Chris mit Robin auf dem Arm zu einem der Dixie Klos und hilft ihm beim Pinkeln. Auch Dirk und Marvin nutzen die Gelegenheit und pinkeln an dem von Martin gekennzeichneten Platz in die Büsche. Als alle wieder an ihrem Platz sitzen, geht es mit Paul weiter.
„Hallo, ich bin Paul. Paul Gruber und bin nach dem mich mein Vater halb tot geschlagen hat, weil ich schwul bin, von Ole, Jerome und den anderen quasi gerettet worden und bin dann bei Jeromes Oma ins Gästezimmer eingezogen, wo ich zur Zeit wohne, bis es nach Bremen zum Studium und in die WG geht. Ich habe durch meine Freunde hier viel Hilfe erfahren und dann auch Rolf kennen gelernt, mit dem ich jetzt zusammen bin. Alles hat sich so gut entwickelt und ich bin allen, die mir in der Not bei gestanden haben, zutiefst dankbar.“ Er setzt sich, bekommt auch Beifall und jetzt käme dann wohl Enrico, der mit Schürze und Mütze am Grill steht. Der Grill steht so, dass er uns anschauen kann, aber er lässt die Sachen auf dem Rost nicht aus den Augen.
„Ich heiße Enrico Scarlotti und bin der jüngere der Scarlotti Zwillinge und ich bin auch der, der auf Jungs steht, das heißt, eigentlich nur auf einen. Ich habe gerade meine Ausbildung zum Koch abgeschlossen und arbeite im Hilton. Mein Vater ist homophob und hat mir das Leben zur Hölle gemacht bis mich Jerome und seine Freunde anlässlich eines Essens in unserem Lokal in Bremen, spontan gerettet haben und Paolo ist auch mit, weg von zu Hause. Mit großer Hilfe der Familie Remmers und Dr. Morbach haben wir jetzt eine Wohnung hier in Bremerhaven, mit Möbeln und allem was man braucht. Auf dem Geburtstag von Jeromes Mutter habe ich mich in Noah verliebt und er sich auch in mich und jetzt sind wir ein Paar und das ist einfach toll. Ich habe mit der Fahrschule angefangen und später werden wir ein eigenes Auto kaufen.“ Auch er wird beklatscht und nun kommt Paolo an die Reihe.
„Ich bin Paolo, der um vier Minuten ältere Zwillingsbruder von Rico, was wohl auch unschwer zu übersehen ist.“ leises Lachen, nur Torsten gackert wieder kurz. „Wir sind beide achtzehn Jahre alt und ich bin mit Rico von zu Hause weg, als sich durch Jeromes Eingreifen die Möglichkeit bot, abzuhauen aus dem für Rico unerträglich gewordenen Umfeld. Ständig wurde er traktiert und gequält von seinem Vater und alles nur, weil Rico Jungs mag. Hier, in diesem Umfeld bei Remmers, stört das niemanden und es ist alles easy hier. Ich habe mich dann in Natascha verliebt und sie sich in mich. Wir sind nun alle glücklich, Rico mit Noah und ich mit Natascha, wir haben einen guten Job und keine Sorgen mehr, dank Jerome und seiner Familie.“ Kurzer Beifall, dann geht der Blick zum ersten Rolli, zu Noah.
„Mein Name ist Noah Schroer und ich kenne Natascha und Jerome schon länger, hatte aber auf Jeromes Wunsch hin keinen Kontakt mehr, nach dem Unfall bis zum Geburtstag von Tante Lis, wie ich sie immer genannt habe. Mein Vater ist ein sehr guter Freund von Jeromes Vater und er arbeitet dort auch in einer leitenden Position.
Als Jerome mir dann Sergej als seinen Schatz vorstellte, habe ich mich den beiden gegenüber ebenfalls als schwul geoutet. Bis dahin ohne Freund verknallte ich mich heftig in einen kleinen, lockigen Italiener und zwar den, der gerade dort am Grill steht. Rico, ich liebe dich.“ Rico eilt hinter Noahs Rolli und küsst den nach oben gewandten Mund zärtlich. Beifall kommt auf und aus den Augenwinkeln sehe ich auch Matthias heftig klatschen. Rolf schließt jetzt mit seiner Vorstellung den Kreis. Später dann, nach dem ersten Gang Essen, kommen die Gäste an die Reihe. Ich und nicht nur ich, wir sind wohl alle gespannt.
Rico hat echt gezaubert. Was da auf die Teller kommt ist echt perfekt, Fleisch und vor allem der Fisch……göttlich, dazu die Salate von Frau Gut und Frau Jensen……einfach super…alles.
Ich geh zu Chris und Robin, setze mich auf die freie Seite des Kleinen, der auch Fisch, ein Lachsfilet mit feiner Soße und etwas Nudelsalat auf dem Teller hat. Dirk hat Musik angemacht, Linkin Park, das hören wohl alle gern im Moment.
„Gefällt es euch?“, frag ich die beiden. „Ja sehr“, kommt es fast synchron. „Schmeckt dir das Essen oder hast du einen anderen Wunsch?“,frag ich Robin. „Hier und jetzt ist es ganz toll, aber es gibt etwas, was ich irgendwann mal essen möchte“, sagt er. „Du machst mich neugierig“, sag ich, „was ist denn das außergewöhnliche Essen?“ „Pizza“, sagt er, und schiebt eine Gabel mit Fisch in den Mund. „Aber nicht hier“, sagt er, „ weit weg von hier.“ Ich schau Chris an und der zuckt mit den Schultern.
„Ich habe einen Facebook Freund, in Amerika, der wohnt in der Nähe von New York und er heißt Winston. Er ist farbig, fünfzehn, so wie ich und wir arbeiten zusammen an einem Computerspiel. Er schwärmt von Pizza Hut in New York, Taco Bell heißt das. Achtzehnte, Ecke vierzehnte Straße ist das, schreibt er. Dort, so sagt er, machen sie die beste Pizza der Welt. Winston will mit mir dorthin, Pizza Hawaii essen. Ich habe gesagt, dass er sich das abschminken kann, weil ich eh nicht kommen kann.“
Chris guckt gequält und ich kann auch nichts sagen jetzt. Meine Augen suchen Ole und als ich ihn sehe, gehe ich zu ihm. Der Kleine isst ruhig weiter und lauscht der Musik.
Sergej
Jerome hat bei Chris und Robin gesessen, ich stehe bei Tom und Micha. Wolfi und Kevin stehen bei Matthias.
Jetzt nimmt Jerome Ole zur Seite und redet auf ihn ein. Er kritzelt Ole mit einem Stift was auf die Hand und dann geht Ole, nach dem er mit Frank geredet hat, in Richtung Haus davon. Meine Augen suchen Jerome und schauen ihn fragend an. Er schüttelt leicht den Kopf und geht dann zum Grill, wohl gucken, ob noch Fisch gut ist. Rico legt ihm noch was drauf und dann kommt er zu mir. Frank steht nun auch bei Matthias, Kevin und Wolfi und alle unterhalten sich untereinander, essen und trinken.
Es dauert etwa fünfzehn Minuten, als Ole zurück kommt, er hat unter anderem sein MacBook dabei. Jerome übergibt er ein großes Kuvert und einen Hut, den kann er nur bei Carl August geholt haben. Ich schaue auf Oles Hand, aber Jeromes Gekritzel ist fein säuberlich abgewaschen. Ole gesellt sich zu Frank und Jerome bittet nun alle, wieder Platz zu nehmen, damit wir die Vorstellungen der Neuen auch noch hören können. Der erste Hunger ist gestillt und auch Rico sitzt jetzt erst mal mit einem Bier neben Noah. Die zwei tauschen des Öfteren kleine Küsse und sehen sehr glücklich aus.
Chris ist wohl der, der jetzt den Anfang macht und auch er steht auf. Er stellt sich hinter Robins Rollstuhl und legt dem kleinen die Hände auf die schmalen Schultern. Er flüstert Robin was ins Ohr, der schaut hoch und schüttelt den Kopf, Chris nickt ihm zu und fängt an.
„Mein Name ist Christian Wegmann, für meine Freunde Chris und bitte nicht Chrissi, das mag ich nicht gern. Ich bin zwanzig Jahre alt, beende am Freitag der nächsten Woche meinen Zivildienst im Klinikum Mitte, den ich auf der Chirurgie gemacht habe. Dort habe ich unter anderem Noah und Rolf als Patienten und Paul und Enrico, Jerome und Sergej als Besucher kennen gelernt. Da ich nur Frühschicht mache, wegen Robin, habe ich die Nachmittagsbesucher nicht kennen lernen können.
Da ich früh morgens auch eingeteilt war, Patienten zu waschen, ist es Noah wohl schnell klar geworden und Rolf wohl auch, das mich Jungs, vor allem wenn sie dann nackt da liegen, nicht kalt lassen, mit anderen Worten, dass ich auch schwul bin. Das wusste bis dahin nur meine Mutter und mein Bruder sowie mein Hausarzt. Ein Pfleger auf der Station glaubte das aber auch zu wissen und schikanierte mich des Öfteren mit Worten. Dem wurde aber, von Jeromes Einschreiten ausgehend, gestern durch den Chefarzt ein drastisches Ende gesetzt und der Mann wurde versetzt. Mein Leben wird in hohem Maße von Robin bestimmt, den ich sehr liebe. Er ist krank, wie einige wissen und seine Lebenserwartung ist nicht so hoch. Eine vielleicht noch mögliche Operation, die nur in den USA gemacht werden kann, ist so teuer, dass die Kassen das nicht bezahlen.
Ich werde in Bremen studieren, wenn ich den Platz kriege, allerdings wollte ich Medizin studieren, nur das geht in Bremen nicht und wegen Robin, der mich braucht, kann ich nicht weg und will es auch nicht.“
Alle Gesichter sind sehr ernst und der Applaus ist verhalten, aber viel länger als vorher immer. Nun kommt der Kleine dran, Dirk macht die Musik ganz aus, weil Robin nicht so laut reden kann.
„Ich bin der Robin, auch Wegmann, aber das konntet ihr euch ja denken, oder? Ich brauche kein Mitleid und weil das hier die erste Party meines Lebens ist, auch keine trübseligen Gesichter. Sagt alle mal „ Cheeese“.
Das mit dem Herz, das ist halt so und da die OPs nicht gemacht werden können, werde ich halt kein Opa. Ich weiß nicht, ob ich schwul oder heterosexuell bin, ich glaube eher, ich bin asexuell aber das ist auch nicht wichtig. Ich habe mit Menschen normal wenig Probleme und mir ist es eigentlich auch Wurscht, wer wen warum liebt. Werdet glücklich, mit wem auch immer, dann es ist OK.
Ich bin Computerfreak, bin mit einem Facebookfreund aus den USA dabei, ein Computerspiel zu programmieren und wir werden es wohl auch hinkriegen irgendwann. Wenn einer mal sein Passwort nicht mehr weiß, lasst es mich wissen, ich bin auch ein guter Hacker, wenn es sein muss. Ansonsten finde ich euch alle cool und toll und ich bin froh, dass ich hier sein darf.“ Der Applaus ist so, wie alles vorher zusammen und alle sind aufgestanden.
Nun kommt die Reihe an Tom und Micha und der ältere, Tom, fängt an.
„Ich heiße Tom Kiefer und bin achtzehn und habe noch zwei Schwestern. Ich habe vor zwei Wochen meine Facharbeiterprüfung als A und E Schweißer gemacht und arbeite bei Lloyd in der Werft. Wir beide, Micha und ich wohnen in derselben Straße und kennen uns von klein auf, beste Freunde halt. Vor etwa vier Monaten haben wir dann plötzlich mehr für einander empfunden und als uns das dann so richtig klar war, dass wir uns ineinander verliebt haben, waren wir absolut im Stress und es hat fast sechs Wochen gedauert, bis wir es akzeptiert haben. Wir sind zu Hause noch nicht geoutet und da wir eh immer alles zusammen gemacht haben, fällt das wohl auch keinem auf, wenn wir uns nicht auffällig verhalten. Wir hatten Jerome und Sergej im Park angesprochen, weil sie sich an der Hand hatten und dann haben wir lange geredet. Mein Vater arbeitet in der Stadtverwaltung, Mama ist seit drei Jahren krank, Multiple Sklerose.“ Er setzt sich, es wird geklatscht und Micha steht auf.
„Ich heiße Micha Gelz, bin noch sechs Wochen siebzehn und habe fünf Geschwister. Mein Vater hat vor vier Jahren die Biege gemacht, keiner weiß wohin und so sind wir mit Mama allein. Ich komme jetzt ins dritte Ausbildungsjahr als KFZ Mechatroniker beim Autohaus Schmitt und Koch und es läuft jetzt wieder alles bestens.
Wir waren froh, dass wir im Park mit Jerome und Sergej geredet haben und wie Wolfi sein Auto gekauft hat bei uns, hat Jerome uns für heute eingeladen. Das alle hier so locker mit dem Schwul sein umgehen, ist neu und gefällt uns gut, allerdings muss man es erst mal verinnerlichen, damit man sich einfach küssen kann.“ „Mach doch“ ruft Robin und lacht und dann trauen sich die beiden endlich. Außer Boris und Marianne ist jetzt ist nur noch Matthias übrig und ich nicke ihm aufmunternd zu. Er steht auf, wirkt etwas schüchtern und schaut zunächst vor sich auf den Boden. Dann gibt er sich einen Ruck, hebt die Augen und beginnt.
„Mein Name ist Matthias Kruschke, ich bin fast zwanzig und wie Chris bis Ende nächster Woche als Zivi im Klinikum Mitte auf der Urologie tätig. Gemobbt wurde ich nicht, wohl auch, weil niemand weiß außer meiner Familie, dass ich schwul bin. Meine Eltern gehören zu den freien Evangelikalen und sind fromm und Bibeltreu.
Ein Magazin unter meiner Matratze hat mich verraten, sie hatten wohl einen Verdacht und haben in meinem Zimmer gesucht. Der Krach war fürchterlich und ich sollte in eine Therapie gesteckt werden. Vor Angst und Verzweiflung bin ich zu meinem Patenonkel gerannt, der Bruder meiner Mutter. Sie haben keine Kinder und sie nahmen mich sofort und gerne auf, so als wäre ich ihr eigenes Kind. Es geht mir gut dort und ich fühle mich beschützt und geborgen.
Einen Freund oder eine Beziehung hatte ich noch nie und auf Grund der religiösen Erziehung hatte ich lange Schuldgefühle und Reste davon sind manchmal immer noch da. Zuerst wollte ich nicht mit herkommen, jetzt bin ich froh, es doch getan zu haben. Hier ist das Schwul sein wirklich absolut OK, habe ich das Gefühl und das ist total neu für mich.
Ich wollte jetzt nach dem Zivildienst eigentlich ein Jahr pausieren, laufen und auch ein bisschen reisen und dann erst im nächsten Jahr mit dem Studium beginnen, wo, weiß ich noch nicht, aber auf jeden Fall Medizin und Sport, später dann Sportmedizin, das wäre so mein Traum, vielleicht noch ein oder zwei Jahre ins Ausland zum Studium, mal sehen. Es kann ja auch vieles anders laufen, man weiß nie, was kommt. Ich habe keinen Schlafsack oder so was dabei, weil ich nicht bleiben wollte. Jetzt möchte ich schon hier bleibe, wenn es geht.“
Jerome sagt nach Abklingen des Applauses, dass wir genügend Sachen für alle da haben. „Ich muss aber der Tante und dem Onkel Bescheid sagen, dass ich hier bleiben möchte. Geht jemand mit mir hin und zeigt mir, wo die sitzen?“
Jerome bittet uns zu warten, bis sich Boris und Marianne auch vorgestellt haben, was wir natürlich machen.
Die Beiden fassen sich kurz, nennen ihren Namen und ihr Alter und das sie zu Besuch da sind, um von hier aus mit dem Schiff nach Dresden zurück zu fahren.
Als sie fertig sind, sage ich zu Matthias: „Komm, ich gehe mit dir zum Haus und zeig dir, wo sie sitzen.“ Wir beide gehen den Weg zum Haus und dort dann von außen auf die Terrasse, wo die Grillpartie der Erwachsenen voll zu Gange ist. Alles sitzt und isst und er geht zu dem Platz, an dem seine Familie sitzt. Sie reden miteinander und der Onkel gibt ihm den Autoschlüssel.
Matthias winkt mir, ich geh zu ihm und er sagt: „Meine Tante hat mir, als ich laufen war heute Morgen, eine Tasche gepackt, in der Hoffnung, dass ich hier bleiben möchte. Die müssen wir jetzt am Auto holen“, sagt er, „Komm, wir gehen durchs Haus“, sag ich und er folgt mir durchs Haus bis an die die Haustüre. Ein Daimler steht dort und auf den geht er zu und öffnet den Kofferraum, entnimmt eine mittlere Reise oder Sporttasche, und kommt, nachdem er den Wagen wieder versperrt hat, hoch zu mir an die Haustüre und wir gehen zurück auf die Terrasse. Er bringt den Schlüssel weg.
Lis winkt mir und ich gehe zu ihr. „Läuft alles gut?“, will sie wissen und ich gebe ihr einen kurzen Abriss, was gelaufen ist, schwärme von Ricos Grillkünsten und sage, dass alle über Nacht bleiben und das wir dann morgen am späten Vormittag wohl auch runter zum schwimmen möchten, wenn es geht. „Kein Problem“, sagt sie, „das weißt du doch, passt mir bitte auf den Robin auf, den könnt ihr bestimmt in den Whirlpool setzen, wenn er nicht ins Becken darf, fragt seinen Bruder.“ Matthias ist fertig und ich gehe mit ihm zurück zu den anderen. Muke läuft und auch das Feuer brennt.
Als wir zurück kommen, ruft Jerome noch mal alle zusammen. Martin kommt und schaut nach dem laufenden Stromaggregat. Er spricht kurz mit Jerome und knuddelt Kevin und Wolfi kurz, bevor er wieder geht.
Jerome bittet um Gehör und als es ruhig ist, sagt er: „Ihr wisst, das bei solchen Partys oft irgend welche Partyspiele gemacht werden und da ich von gängigen Partyspielen keine kenne, weil das auch erst meine zweite Party ist, habe ich mir eins ausgedacht, mit dem Sinn, das ein oder andere Detail über Euch, Eure Wünsche und Vorstellungen von der Zukunft zu bekommen.
Ole war so nett und hat die dafür erforderlichen Sachen besorgt und ich bitte euch jetzt auf zu passen, wenn ich es erkläre. Ich habe einen Hut, in dem dreiundzwanzig Zettelchen mit einer Nummer von eins bis drei und zwanzig sind. Jeder zieht einen Zettel und merkt sich seine Nummer. Bevor es dann losgeht sagt jeder seine Nummer und ihr setzt euch bitte in der Reihenfolge der Nummern links von mir beginnend hin.
In den Hut kommen jetzt wieder Zettel mit den Nummern von eins bis dreiundzwanzig. Dann stelle ich eine Frage, ziehe dann eine Nummer und der, wo gezogen wird, muss die Frage beantworten und kann das dann auch für alle verständlich erklären in maximal zwei Minuten. Sollte eine Frage euch gar nicht zusagen, kommt die Nummer noch mal in den Hut und ihr kommt später noch mal an die Reihe.
Ich verspreche, das es keine peinlichen Fragen sind, die ich stellen werde, sondern alles Sachen, die alle mehr oder weniger wissen möchten.
„Sergej, geh bitte einmal mit dem Hut rum und lass jeden eine Zahl ziehen.“, sagt er zu mir und ich gehe rum.
Es dauert eine Zeitspanne, bis dann alle auf dem Platz mit der gezogenen Nummer sitzen.
Jerome
Die anderen Zettel sind jetzt im Hut und was keiner weiß, außer Ole und mir, ist, das auf den Zetteln im Hut keine Nummern sind und ich so mit immer den oder die fragen kann, die ich möchte.
Das klingt jetzt gemein, ist es aber nicht, sondern ich verfolge schon einen Zweck damit.
Alle sitzen jetzt durcheinander, die Pärchen sind getrennt und alle harren der Fragen, die da kommen sollen. Drei und zwanzig Fragen, hoffentlich fallen mir genügend ein, ich muss mir halt Mühe geben, und mit einfachen Sachen anfangen.
„Was ist dein absolutes Lieblingsessen?“ frage ich, dann greife ich in den Hut und öffne einen Zettel. „Sieben“, sag ich, das ist der Furzknoten. „Schwarzwälder von Frau Jensen“, kommt es, wie aus der Pistole geschossen. „Den habe ich das erste Mal in der Klinik gegessen, das beste was je an Kuchen meine Lippen passiert hat, der ist einfach galaktisch“, schiebt er nach.
Das ging ja schon mal gut.
„Du hast einhundert tausend Euro gewonnen, was machst du mit dem Geld?“ stelle ich als nächste Frage und greife dann in den Hut. „Neunzehn“, sage ich, das ist Micha. Der zögert ein bisschen und sagt dann: „Als erstes den Führerschein bezahlen, dann würde ich einen Audi A Drei kaufen, neu, versteht sich. Der Rest käme auf ein Konto, für später. Vielleicht, wenn mein Schatz das auch will, würde ich noch zwei echte Ringe kaufen für uns.“
Tom strahlt ihn an und freut sich sehr, das sieht man deutlich. Ich denke, das sie ganz gut zu uns passen.
„Welchen Beruf möchtest du später mal ausüben?“, lautet meine nächste Frage und ich wähle Marie aus. Die die Nummer zwanzig gezogen hat.
„Also ganz genau weiß ich das noch nicht“, sagt sie, „wenn ich ein gutes Abi habe, kann ich ja alles machen. Auf jeden Fall will ich was mit Kindern machen, Kinderpsychologin wäre eine Option, mal sehen, es ist ja noch Zeit bis dahin.“
„Gibt es ein Land außer Deutschland, in dem du gerne leben möchtest?“ lautet meine nächste Frage und die stelle ich an Sergej, der die neun gezogen hat. Der guckt mich an und sagt dann: „Mit dir würde ich in jedem Land leben, in dem Frieden ist, aber wenn, dann wäre Kanada eine Option, aber nur, wenn du mitkommst.“ Ich liebe ihn und genau das sagt jetzt mein Blick, den ich ihm zu werfe.
„Wenn du einen Wunsch frei hättest, was wäre das erste, das du dir wünschen würdest?“, lautet meine nächste Frage und ich ziehe einen Zettel. „Elf“ sag ich wohl wissend, dass Chris jetzt an die Reihe kommt. „Das Erste und einzige, das ich mir wünsche ist, das Robin operiert werden kann und gesund wird“, sagt er „Alles andere würde sich dann schon ergeben und ich könnte dann auch wo anders als in Bremen studieren. Mama und ich wären nicht mehr in ständiger Sorge und Robin könnte endlich normal leben, so wie andere Teenies auch. Es wird wohl aber immer ein Traum bleiben, fürchte ich.“ Er schaut traurig aus und ich komme in Versuchung, ihm zu sagen, was wir vorhaben. Nur schwer kann ich es mir verkneifen aber es ist noch zu früh.
„Wenn du ein Haustier anschaffen dürftest, was würdest du dir aus suchen, welche Rasse und welches Geschlecht, Farbe und so weiter sollte es haben?“ Sigrid hat die vierzehn und die rufe ich jetzt auf.
„Eine weiße Araberstute hätte ich für mein Leben gern, leider habe ich weder das Geld dazu, noch einen Platz für so ein Tier unter zu stellen. Deshalb habe ich zu Hause seit zwei Jahren eine weiße Katze, die Lilly heißt, zum knuddeln und schmusen, obwohl seit neustem ja auch Torsten zum Schmusen da ist ab und zu.“ Der Furzknoten strahlt und gibt Sigrid einen Kuss
Es fängt an zu dämmern und Rico, der schon seit fünfzehn Minuten wieder am Grill steht, ruft: „Gleich gibt es den zweiten Gang, macht eure Teller klar. Jerome, mach bitte mal eine Pause.“
„OK, Leute, Pause zum Essen, später geht es weiter.“, und zu Sergej, der jetzt zu mir kommt, sag ich: „Kümmere dich um Robin, fahr ihn zum Grill und lenke ihn ab, ich werde jetzt mit Chris reden.“ „OK“, sagt mein Schatz, gibt mir einen Kuss und schnappt dann den Robin mit dem Rolli, bevor es Chris tut und fährt rüber zu Rico an den Grill. Ich gehe auf Chris zu, der Sergej und dem Rolli hinter her schaut, nehme ihn am Arm und ziehe ihn ein Stück von den Anderen weg.
Erstaunt über mein Verhalten sieht er mich an und fragt: „Was ist denn los, hab ich was verkehrt gemacht oder warum stehen wir jetzt hier abseits?“ „Nein“, sag ich, „du hast nichts verkehrt gemacht. Ich will nur mal erst mit dir allein reden. Ich war gestern mit Natascha bei dem Doktor Wesekamp.“ „He, wie so das?“, fragt er erstaunt, „was willst du oder ihr denn von dem?“ „Wir haben uns nach Robin erkundigt“, sag ich, „wie es aussieht, ob eine Operation in seinem Alter jetzt noch gemacht werden kann und auch, wie die Erfolgsaussichten, bzw. das Risiko ist.“ „Der darf euch ja gar nichts sagen ohne Mamas Genehmigung“, sagt er, „ und warum sollte Mama dir so eine geben?“ Ich gehe auf seine Frage nicht ein und sage weiter: „Am Montag hole ich dich um halb Elf in der Klinik ab, wir, mein Vater, Natascha, Du und ich, wir haben um elf Uhr einen Termin Links der Weser bei Doktor Brunner.“ „Was soll das alles, Jerome, was geht hier ab?“, will er, jetzt schon eher etwas sauer, wissen und fasst meinen Arm.
„Du kannst deinen Studienplatz in Bremen vergessen, das wird nix“, sag ich.“Lenk jetzt nicht ab“, sagt er, „was ist bei Brunner, was wird hier gespielt? Mach mich nicht sauer,“ „Im Gegenteil, Junge, im Gegenteil“, sag ich, „vorhin hast du deinen größten Wunsch geäußert, vor allen Anwesenden, hier und jetzt geht er zumindest zum Teil in Erfüllung, denn ob Robin operiert wird, entscheiden die Ärzte drüben, nicht wir und ob alles gut geht, auch das wissen wir nicht.“ Er starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an, fängt an zu taumeln. Schnell greife ich zu und lege die Arme um ihn, verhindere, dass er fällt, lasse mich mit ihm runter auf die Knie sinken. Gequält schaut er mich an und sagt leise: „Gell, du verarscht mich hier gerade aufs Übelste, du bist so ein Schwein, was habe ich dir getan, das du das mit mir machst.“ Ich halte ihn, er fängt an zu weinen, will sich los machen von mir. Ich muss viel Kraft aufwenden, um ihn fest zu halten.
Ich schüttele ihn, dreh sein Gesicht in meine Richtung und sage dicht vor seinem Mund: „Ich würde nie jemanden auf diese Art und Weise verarschen und dich und Robin schon mal gar nicht“, sag ich, „Begreife doch, was ich dir gerade schonend bei bringen will. Du fliegst mit Robin nach NewYork, zur Untersuchung und wenn die drüben sagen, Ok, wir machen das, dann wird er operiert. Du wirst bei ihm bleiben, solange, bis alles Machbare getan ist und ihr zurück fliegen könnt nach Hause.“
Seinen Blick jetzt werde ich wohl nie mehr vergessen, sich wandelnd von Wut über ungläubiges Staunen hin zu grenzenloser Freude und alles in zwanzig Sekunden. Er fällt mir um den Hals, sagt stöhnend: „Kneif mich, bitte kneif mich ganz fest“ und ich kneife ihn in durch das Shirt die Seite, fest. „Au“, sagt er laut an meinem Ohr, geht auf Distanz zu mir und sieht in meine Augen. Und wieder laufen Tränen, aber jetzt richtig heftig, Freudentränen, denk ich, das ist gut. Es nimmt die gewaltige Anspannung weg, unter der er stehen muss. Ich glaube, zum Psychologen bin ich nicht geeignet, so, wie ich ihm das jetzt vermittelt habe.
Nach dem er sich beruhigt hat und er seine Tränen weg geputzt hat, stehen wir auf und gehen wieder zurück in den Lichtkreis des Feuers und ich frage ihn, ob Robin diese Nachricht wohl verkraftet. „Robin ist viel stärker, als wir alle glauben“, sagt er, „er ist der deutlich stärkere von uns beiden und er muss mich immer wieder aufrichten und nicht ich ihn.“
„Ich möchte es ihm auf spielerische Art und Weise beibringen“, sag ich, „mit Hilfe des Notebooks und seinem Freund Winston, meinst du, er schafft das? Ich will nicht, das er uns umkippt hier.“ „ Robin kippt davon nicht um, ich werde bei ihm sein und ihn halten, wenn er schwanken sollte“, sagt Chris, „besser hier mit allen zusammen, als später allein mit ihm im Zimmer.“ „OK“, sag ich, „lass uns zurück gehen. Willst du jetzt auch noch was essen?“
„Nein, im Moment kriege ich keinen Bissen runter“, sagt er. Wir gehen zurück ans Feuer. Die meisten sitzen schon wieder in der Runde auf ihrem Platz.
Ich mache weiter mit dem Spiel, frage nach Hobbys, Sportstars, die man treffen möchte, oder sogenannte Promis, nach Traumautos und vielen anderen Dingen. Als vorletzter ist nun Matthias dran, den ich nach der Frage: Was möchtest du unbedingt in den nächsten zehn Jahren erreichen, auf rufe, er hat die Nummer17.
„Zehn Jahre sind eine lange Zeit und ich möchte natürlich in zehn Jahren glücklich sein. Was da alles dazu gehört, ist ja bei jedem bestimmt verschieden. Ich möchte dann Arzt sein, Sportmediziner, gerne Vereinsarzt eines großen Sportclubs, möchte dann wohl auch einen Mann an meiner Seite, der mich und den ich liebe. Ich würde gern in der Stadt, nicht unbedingt auf dem Land leben und einen Hund möchte ich haben, einen Labrador. Wenn mein Partner einverstanden wäre, würde ich auch gern ein Kind adoptieren, aber dazu wäre ja auch noch etwas später Zeit.“
„Nun ist nur noch Robin über, dann sind wir durch mit unserem Spiel, von dem ich hoffe, dass es euch gefallen hat. So Robin, jetzt kommt deine Frage“, sage ich und nicke Ole und auch Chris zu. Es liegt, warum auch immer, eine gewisse Spannung in der Luft. Das Feuer wirft flackerndes Licht auf uns und alle schauen jetzt auf den kleinen Mann im Rollstuhl, der mich ansieht und auf die Frage wartet. Es ist ganz still, nur die Musik läuft leise im Hintergrund und das Summen des Aggregats ist ebenfalls leise zu hören. Ich schau ihn an und frage ihn dann:
„Wen möchtest du gerne einmal in deinem Leben unbedingt treffen und was möchtest du dann mit der Person bei eurem Treffen unternehmen?“
„Ich habe einen Facebookfreund in den USA, er heißt Winston, ist fünfzehn und farbig. Wir basteln zusammen an einem Computerspiel und haben auch so viel Kontakt. Er hat neulich gesagt, das er geträumt hat, ich käme nach New York, würde dort operiert und dann wollten wir zusammen ins Pizza Hut gehen, ins Taco Bell, hat er gesagt, Achtzehnte, Ecke vierzehnte Straße, da gäbe es die beste Pizza der Welt, sagt Winston.“
„Was für eine Pizza willst du denn dann essen dort?“ frage ich ihn. „Winston schwört auf Hawaii, ich weiß nicht, müsste erst mal dort in der Karte gucken.“ sagt er. Ich greife nach dem Kuvert, welches Ole mir hin hält und hole eine ausgedruckte Speisekarte des Lokals heraus. Alle gucken verwundert, als ich Robin die Karte hinhalte und sage: „Schau mal rein, ob du was passendes findest.“ „Und dann“, sagt er, „was soll das?“ „Mach es doch bitte mal, alle wollen wissen, was du mit Winston essen würdest“, bitte ich. „OK, wenn es schön macht“, sagt er und blickt dabei genervt zu Chris, der ihm lächelnd zu nickt.
Nach kurzem suchen entscheidet er sich für eine „New Primo Meat Pizza“ und reicht mir die Karte zurück. „Du hast Chris vergessen, der wäre doch bestimmt auch dabei, oder nicht?“, frag ich und halte die Karte wieder hin. “Ich nehme das gleiche“, sagt Chris, „und ein Bier dazu.“ Robin guckt Chris an und schüttelt den Kopf. „Spinnt ihr jetzt alle?“, fragt er. Ich muss grinsen, Ole reicht mir das MacBook und ich halte es Robin hin.
„Hier, geh ins Internet, als Gast und guck, ob Winston online ist“, sag ich. „Oh, ein heißes Teil“, sagt er und klappt das Ding auf, „voll der Hammer.“
Alle haben sich jetzt um uns gescharrt und gucken zu, wie er sich einloggt. Vor der Eingabe des Passwortes sagt er: “Augen zu oder umdrehen.“ Torsten gackert, als alle schön gehorchen.
„Winston ist on“, sagt er, „und jetzt?“ Auf der Facebookseite ist ein Bild von Winston, ein hübscher Kerl und der schreibt jetzt auch gerade was. Robin schreibt zurück. „Ich habe geschrieben, dass wir Party machen und er findet das cool“, sagt Robin.“Frag ihn mal, ob die Pizza, die du und Chris essen wollen, auch gut ist“, sag ich. Er tippt die Frage ein. „Winston will wissen, warum ich das frage“, sagt Robin. „Schreib ihm, dass du bald nach New York kommst und dann mit ihm ins Taco Bell zum Essen gehst“, sag ich.
Er beginnt wieder zu Tippen, hört auf und seine Blicke bohren sich in meine. „Sagt wer?“,fragt er. Ich ziehe Natascha am Arm zu mir in sein Blickfeld und sage: “Wir“, mehr nicht. Er wird etwas blass und seine Augen suchen Chris, der hinter ihm steht und dessen Tränen nun auf Robins Gesicht tropfen und so auf diese Art meine Worte für den Kleinen bestätigen.
Es ist still und der Kleine hat die Augen geschlossen, zwischen den zarten Wimpern drängen jetzt auch Tränen ans Licht und seine schmalen Schultern zucken. Chris beugt sich runter und umschlingt ihn und beide weinen nun ein bisschen zusammen. Still und leise setzen sich alle wider hin und warten ab.
Ole legt Holz nach, Dirk hilft ihm, das Feuer ist ziemlich runter gebrannt. Ich sage zu Sergej, dass wir den Teig für das Stockbrot noch aus der Kühlung holen müssen, die Stöcke hat Heinz in der Nähe des Grills abgelegt. Sergej geht gleich los, den Teig holen. Ich bringe die Stöcke in den Kreis. Sie sind lang genug um von der Bank aus den Teig in das Feuer zu halten.
Ich geh jetzt zu den beiden Wegmanns, streiche beiden sanft durch die feinen, blonden Haare und gebe jedem zwei Tempos zum trocken machen. Sie putzen sich gegenseitig die Tränen ab und das sieht jetzt so lieb aus, dass ich schlucken muss. Ihr brüderliches Verhältnis ist schon außergewöhnlich, was wohl aber auch daran liegt, dass Chris immer Robins Wohl an die erste Stelle gesetzt hat und dieser ihn dafür abgöttisch liebt. Wenn er wirklich gesund wird, wird er sich von Chris abnabeln müssen und das wird für beide nicht so leicht. Das wird aber das kleinere Übel sein denk ich und wenn Chris zum studieren fort geht und dann auch mal einen Partner findet, dann wird es wohl automatisch so kommen, das jeder sein Leben leben kann.
Matthias betrachtet uns, die zwei und mich und sein Gesicht drückt Freude aus, das hat ihm gefallen und der Eindruck, den er von uns mit nach Hause nimmt, wird bestimmt kein schlechter sein.
Sergej kommt mit dem Teig und ich trenne die beiden Brüder mit den Worten: „Zur Feier des Tages werden wir jetzt alle Stockbrot backen, also los ihr zwei, freuen könnt ihr euch später immer noch und vergesst um halb elf nicht, eure Mama an zu rufen. Die ahnt zwar schon was, wird sich aber bestimmt auch freuen, wenn sie hört, das ihre Söhne nach New York fliegen, zum Pizza essen.“
„Oh Schreck“, ruft Robin, „Winston, er wartet ja noch auf eine Antwort.“ Das Notebook, mittlerweile zugeklappt, liegt immer noch auf seinem Schoß und er klappt es auf. Winston ist noch online und so schreiben die beiden jetzt intensiv mit einander.
„Darf ich dich umarmen, ohne das Sergej eifersüchtig wird?“, fragt Chris. Ich winke Natascha und als sie da ist, nimmt er uns beide in die Arme und sagt mit zitternder Stimme: „Ich weiß nicht, ob ich euch jemals genug danken kann für das alles hier. Ich kann mich nicht erinnern, einmal so gefühlt zu haben wie heute Abend, Danke, dass ihr das macht, ihr könnt nicht ermessen, was das für mich bedeutet. Robin schafft das, er ist stark, stärker als wir und er wird leben, das fühle ich. Er wird leben, weil es euch gibt. Danke. Wenn irgendwann mal meine Hilfe gebraucht wird, lasst es mich bitte, bitte wissen, damit ich euch zeigen kann, dass ich auf immer in eurer Schuld stehe.“
„Du stehst nicht in unserer Schuld, du nicht und Robin nicht, ihr seid tolle Brüder, du hast alle deine Wünsche und Träume zurück gestellt für ihn. Ihr seid gute, tolle Menschen und ich, nein wir, werden alles tun, was Geld und Freundschaft für Robin tun können. Wir haben halt alle Möglichkeiten und es ist jetzt, das fünfte Mal, das Not, Unfall und andere schlimme Dinge Gutes ausgelöst haben. Meine Füße haben mir Sergej gebracht, Berger hat uns Kevin gebracht, Paul wurde fast tot geschlagen, Enrico wurde übelst gemobbt und Noah und Rolfs Unfall haben uns mit einander bekannt gemacht. Es ist alles Schicksal und wir, Natascha, Oma und Frieda, Papa und Mama und alle Freunde hier, wir helfen, wann immer es sein soll. Wir können nicht die ganze Welt retten, aber wenn es nötig erscheint, sind wir da.“
„Winston möchte euch sehen“, ruft jetzt Robin dazwischen, „Ole, hat das Ding Skype.“ Ich muss grinsen, der Kleine hat alles gut weg gesteckt, besser wie Chris, der immer noch sehr aufgewühlt ist. Aus den Augenwinkeln sehe ich Matthias, der sich zu uns gestellt hat und reges Interesse an unserer Unterhaltung hat. Ob Chris sein Interesse geweckt hat, mal abwarten, zusammen passen könnten sie meiner Meinung nach schon, aber ob jeder für sich bereit ist, sich auf was einzulassen, ich weiß nicht. Chris, total auf Robin fixiert und Matthias, für sich immer noch im Zweifel, was sein Schwul sein angeht, mal sehen, ob das Erleben schwuler Normalität heute Abend was ins Rollen gebracht hat.
Nun erscheint mit Oles Unterstützung Winstons Gesicht auf dem Monitor. Meine Fresse, der ist ja echt hübsch, der Knabe und der hat ein Lächeln, da würde Blendax richtig Kohle zahlen für Zahnpastawerbung. Nach einander, Chris zuerst, treten wir alle nach und nach vor die Kamera des Notebooks, nur Kevin fehlt und auf meine Frage an Wolfi höre ich, dass er seine Gitarre holen will. Als er zurück kommt, wird er von Robin virtuell auch nach New York gepostet. Der Kleine ist total aus dem Häuschen und als Chris dann sagt, dass es Zeit ist, Mama anzurufen verabschiedet er sich von seinem Freund in den USA und vertröstet ihn auf morgen Abend. Wir lassen die Beiden allein, gehen zum Grill, wo Enrico für die, die möchten, immer noch Sachen grillt, meist Fisch, das hat er drauf, aber so was von.
Es herrscht jetzt eine sehr positive Stimmung am Feuer und als Kevin ein paar Akkorde anklingen lässt, verstummen die Gespräche schnell. Ole macht das Radio aus und Kevin fängt an mit den Klassiker “Blowin in The Wind“ und als er singt, überläuft es mich, so gut ist das. Wer hätte das vermutet, wohl keiner außer Wolfi, denk ich, der bestimmt schon mal dabei war, als Kevin gesungen hat. Der Refrain wird mit gesummt oder gesungen. Applaus kommt auf, als das Lied zu Ende ist.
„Ich kann nicht so viele moderne Lieder, die Betreuerin im Heim, die mir das beigebracht hat, war schon etwas älter und überzeugte Pazifistin“, sagt er.
Dann fängt er an erneut zu singen. „Sag mir, wo die Blumen sind……,“ ebenfalls ein Anti Kriegslied, das aber fast alle kennen, wohl von der Schule her.
Kevin singt mit viel Gefühl und ich denke, wenn er so liebt, wie er singt, ist Wolfi ein glücklicher Mensch und wird nichts vermissen in seiner Beziehung.
Wolfi
Ein interessanter, mit Überraschungen gespickter Abend, mit tollem Essen, der mir wieder einmal gezeigt hat, das hier auf Remmers Areal alles anders, besser, ehrlicher ist, als es sonst ist in dieser verlogenen Welt. Wenn ich an Papas Ansichten in Bezug auf diese „Reichen“ zurück denke und das mit der Realität hier vergleiche, dann bin ich froh, dass ich hier sein darf und dazu gehöre. Sicher sind nicht viele so von diesen reichen Bonzen, aber diese Familie ist einfach eine positive Ausnahme in Bremens Schikimiki Welt und sicher auch sonst
Was hier heute Abend wieder gelaufen ist, ist doch Wahnsinn und hat Menschen, die es echt verdient haben, durch das Eingreifen Jeromes und Nataschas mit neuer und unerwarteter Hoffnung erfüllt. Wenn ich bedenke, was sie für Kevin, Paul oder Enrico und jetzt für den kleinen, extrem kranken Robin tun oder getan haben, dann bin ich froh, sie zu kennen und zu mögen.
Mein Schatz spielt Gitarre und singt, er kann das gut und er tut es mit viel innerem Einsatz. Chris hat Robin jetzt neben Kevin geschoben und mit glockenheller und reiner Stimme singt der Kleine jetzt mit, sie singen „San Francisco“ von Scott Mac Kenzie und sie singen mit Seele, Gefühl und mit tollen Stimmen, einfach toll. Ich wusste nicht, dass mein Schatz das so drauf hat und der Robin mit seiner Engelsstimme. Chris schaut entgeistert, diese Seite seines Bruders ist ihm offensichtlich auch neu.
Zwischendurch reden sie mit einander, stimmen sich ab und singen dann erneut, bei einigen Liedern singen auch die mit, die Text und Lied kennen und ich wundere mich, was Kevin alles drauf hat, was man meinem Gesichtsausdruck wohl auch ansieht. Auch einige Lieder von Elton John gibt er zum Besten und bei Zweien singt auch der Kleine mit. Ich wusste bis heute nicht, das Kevin Elton John mag oder hört und Chris geht es wohl mit Robin nicht anders. Ein Abend voller Überraschungen und die Stimmung jetzt nach alledem, einfach Klasse. Nach reichlich Applaus tritt nun erst mal Ruhe ein, Enrico fragt, ob noch wer Hunger hat und auch Getränke werden neu geholt.
Chris
Immer noch nicht ganz fertig mit den Ereignissen heute Abend, rufe ich um halb elf Mama an. Auf die Frage, wie es uns gefällt hier sage ich: „Gut Mama, Robin singt gerade mit Kevin zur Gitarre und es geht ihm so gut, wie schon lange nicht mehr. Er hat schon mit Winston geskypt und sie haben sich verabredet, im Taco Bell, du weißt schon, die Pizzabude in New York, von der Robin öfter gesprochen hat.“
„Chris, setzt Robin keine Flausen in den Kopf, es gibt kein Treffen mit Winston und auch kein NewYork, begreift das endlich“ sagt Mama und sie klingt nicht gut dabei.
„Wir haben schon die Pizza ausgesucht aus der Speisekarte vom Taco Bell, Mama“, sag ich jetzt. „Bist du jetzt auch total über geschnappt, was soll der Scheiß, du weißt genau, das ihr Robin keine Flöhe ins Ohr setzen sollt. Ich will nicht, das er sich Hoffnungen macht, wo es keine gibt.“
„Mama“, sag ich, „du hast am Freitag zwei Schreiben aufgesetzt, Dr.Wesekamp und Dr. Brunner von der Schweigepflicht entbunden, warum?“, will ich jetzt wissen. „Ich habe mich wohl von diesem Jungen, Jerome heißt er glaub ich, der mit den Prothesen, überfahren lassen, in der absurden Hoffnung, es könnte so was wie ein Wunder geschehen“, sagt sie kleinlaut.
„Ich habe mit Jerome, seiner Schwester Natascha und mit ihrem Vater am Montag um Elf einen Termin bei Dr. Brunner in Bremen, glaubst du immer noch, das Jerome dich überfahren hat? Sobald Brunner einen Termin hat für Robin, fliegen wir rüber zur Untersuchung und dann werden die Ärzte dort entscheiden, ob dein Sohn operiert wird.“ Stille am anderen Ende, dann Schluchzer, dann…….tut tut tut, sie hat aufgelegt. Sie schafft das, sie hat so viel weg gesteckt in dem langen Kampf ums überleben, in spätestens zehn Minuten ruft sie zurück, will alles genau wissen, da wette ich. Zurück im Kreis setze ich mich einen Moment allein den Sängern gegenüber.
„Störe ich, oder darf ich mich zu dir setzen?“, fragt eine Stimme schräg hinter mir. Ich dreh den Kopf, sehe Matthias und sage: „Ja, komm ruhig, setz dich.“ Das Brett biegt sich etwas, als er neben mir Platz nimmt, etwa fünfzig Zentimeter Platz ist zwischen uns. „Darf ich dich was fragen?“, kommt es jetzt leise von Ihm. „Ja, warum nicht“, sag ich, „ Frag nur.“ „Was hat dein Bruder denn genau und warum wurde es nicht vorher schon operiert?“, fragt er jetzt.
„Da du heute das erste Mal mit uns zusammen bist, kannst du natürlich nicht wissen, was hier gerade passiert ist“, sage ich und dann erzähle ich ihm praktisch unser Leben mit all der Scheiße, die gelaufen ist, aber auch mit all den guten Dingen, die Robin und ich zusammen erlebt haben und er begreift, das Robin eigentlich mein ganzes Leben bestimmt hat und es wohl auch noch eine Weile bestimmen wird.
„Wie läuft denn das jetzt ab, gibt es da einen Plan?“, will er wissen. „Robin wird, wenn die Untersuchung positiv ist, über einen Zeitraum von sechs Monaten etwa mehrere Male operiert, mit Pausen zum Heilen dazwischen. Ich werde mit ihm rüber fliegen, Jeromes Eltern haben in New York eine Wohnung und auch eine Firma ist da, die Jeromes Vater gehört. Die Leute drüben werden uns unterstützen, sagt Jerome, wir kriegen eine Fahrer und auch sonst alles was wir brauchen. Wenn alles klappt, was ich mir sehr wünsche, dann kommen wir zurück und ich kann im Sommer nächstes Jahr Medizin studieren, voraussichtlich in Hamburg, zumindest einen Teil, mal sehen. Erst muss Robin aber gesund werden, sonst läuft das nicht. Es ist praktisch alles offen im Moment und ich warte jetzt ungeduldig auf Montag.“
„Was passiert denn genau am Montag?“, will er wissen und ich spüre schon, dass sein Interesse echt ist, das er Anteil nimmt an Robins Schicksal, was ihn mir noch sympathischer macht, als er es ohnehin schon war seit dem er hier aufgetaucht ist. Ich meine, ihn auch schon mal in der Klinik gesehen zu haben, da sind aber so viele Zivis und wir waren auch nur einmal am Anfang alle in einem Raum. Die Urologie, im Krankenhausjargon wird sie die Unterwasserstation genannt, liegt am entgegengesetzten Ende der Klinik, so dass man sich kaum über den Weg läuft. Er ist sehr hübsch, wohl aber auch sehr verschlossen und das er mich angesprochen hat, wundert mich jetzt gerade schon.
„Am Montag fahren wir, Jerome, sein Vater, Natascha und ich, in das Klinikum Links der Weser, zu Dr. Brunner“, sag ich zu ihm und seh ihn dabei an, „das ist der Oberarzt im Herzzentrum und er hat Robin immer behandelt und weiß alles über ihn und sein Herz. Der hat oder muss Verbindung aufnehmen mit der Klinik in New York und sich um einen Untersuchungstermin kümmern. Zu diesem Termin werden wir dann wohl in die Staaten fliegen, die Vorbereitungen wegen Visa und so müssen auch ab Montag beginnen. Das alles zum Termin fertig ist. Dann, nach Abschluss der Untersuchungen wird entschieden, ob und wann die erste OP stattfindet, erst dann ist absehbar, wie es weiter geht.“
„Fliegst du allein mit oder kommt deine Mutter mit?“, will er wissen. „Mutter kann nicht so lange weg und sie würde ihren guten Job verlieren, sie bleibt zu Hause. Ich werde wohl allein mit fliegen, wer hat schon sechs Monate Zeit, um mit uns dort zu sein und mich zu unterstützen“, sag ich zu ihm. „Ich“, sagt er, sonst nichts und schaut jetzt zum ersten mal richtig in mein Gesicht.
„Duu?? Warum solltest du das wollen, du kennst uns doch gar nicht“, sage ich, erstaunt und verwundert. „Es ist ja noch ein paar Tage hin bis zum Abflug, Zeit genug, sich besser kennen zu lernen“, ist seine Antwort und sein Blick ist fest auf mich gerichtet.
„Habt ihr ein Problem, ihr Beiden?“, fragt Jerome, der unbemerkt zu uns gekommen ist. „Nein, eigentlich nicht, nur Matthias hat sich gerade angeboten, mich und Robin nach Amerika zu begleiten“, sag ich zu ihm.
„Das ist eine gute Idee“, sagt Jerome, „du wärst nicht allein in der Zeit, die Robin in der Klinik ist und wenn er in der Wohnung ist, kann immer jemand bei ihm sein. Platz genug ist da und auch Zimmer für jeden, ums saubermachen braucht ihr euch auch nicht zu kümmern, es ist schon fast wie Urlaub, wenn die Behandlungen nicht wären.“
„Ich müsste erst mal Robin fragen“, sag ich, „der muss schon damit einverstanden sein. „Dann tu das“, sagt Jerome, „am besten gleich, dann weiß Matthias, wo er dran ist und kann sich darauf vorbereiten. Ich denke, es wäre gut, wenn ihr euch besser kennenlernt. Wenn du möchtest, Chris, können wir ihn dann Montag mit zu Dr. Brunner nehmen, dann weiß er mehr über das, was drüben eventuell auf euch zu kommt.“
„Das geht mir jetzt alles ziemlich schnell“, sag ich, „gestern kannte ich Matthias noch gar nicht und jetzt soll ich mit ihm und Robin ein halbes Jahr zusammen wohnen, ich weiß nicht“, sage ich skeptisch.
„Ich hole Robin her, lasst ihn entscheiden“, sagt Jerome und geht rüber, um Robin mit dem Rollstuhl her zu bringen.
„Was soll das?“, fragt der Kleine mich, „Kevin und ich wollen noch ein bisschen singen.“ „Gleich darfst du wieder hin“, sag ich. „Was gibt es denn so dringendes?“, will er wissen. Ich erzähle ihm von Matthias Angebot, uns in die Staaten zu begleiten und sage auch, dass er das jetzt entscheiden soll. Er schaut jetzt Matthias an, scannt ihn ab und der schaut zurück. Dann, auf einmal, fängt der Kleine an zu lächeln, schaut zu mir und dann sagt er: OK, wir holen ihn mit.“ Dann guckt er hoch, zu Jerome, der hinter ihm steht und sagt: „Bitte fahr mich zu Kevin zurück.“
Ich muss wohl gerade nicht sonderlich klug aussehen denn im wegfahren sagt er: „Mund zu und guck wieder normal, es ist alles OK, regelt denn Rest untereinander.“ Jerome lacht und schiebt ihn weg. „Und Jetzt?“ frag ich.
1 Kommentar
Huhu Niff, hach so eine schöne Fortsetzung, sehr gelungen. Und ich würde wetten, dass es da ein neues Paar gibt😀😀
LG Andi