Alles was bleibt – Teil 7

7. Sieg oder Niederlage

Benn hatte mich heute Morgen nicht angesehen beim Frühstück. Ich merkte, dass er sich unwohl fühlte. Als Bärbel und Fred verschwanden um sich fertig zu machen, blieben wir noch sitzen.

„Es tut mir leid…“, Benn flüsterte die Worte und sah dann mich an.

In seinem Blick lag so viel Begehren, Liebe und eine Traurigkeit, die ich nicht verstand.
„Was tut dir leid? Der Kuss?“

Benn nickte.

„Ich hätte es nicht zulassen sollen. Aber ich konnte nicht anders, als diesen zu erwidern.“

„Himmel Benn, wir waren uns doch einig, dass wir warten, bis das eine geregelt ist. Bitte gib jetzt nicht schon auf.“

Flehend sah ich ihn an und kurz zögerte er ehe er zustimmend nickte.

„Ok Luka, aber denke bitte nicht, dass ich deine jetzige Situation ausgenutzt habe. Ich wollte es nicht, aber das Herz schreit ja und das Bauchgefühl sagt erst NEIN und dann JA. Ich…“

Während Benn redete, war ich aufgestanden. Bevor er es mitbekam, stand ich vor ihm und dann bückte ich mich und gab ihm einen kurzen Kuss auf dem Mund. Allein seine Lippen kurz zu berühren löste ungeahnte Gefühle in mir aus.

„Nein ich möchte das nicht hören und glaube mir es gehören immer noch zwei dazu… Und ich bin der zweite, der das nicht als Fehler, sondern als ein Anfang für ein neues Leben sieht!“

Benn sah auf und strahlte mich an.

*-*-*

Nun stand ich schon zum zweiten Mal in dieser Straße vor dem Haus, wo ich geborgen hätte aufwachsen sollen. Aber das war nie passiert. Dafür hatte eine fremde Frau gesorgt, die das Leben von mir und vier anderen Menschen für immer verändert hat.
Die einen litten immer noch an dem Verlust des Kindes und der andere, der ich war musste erst verkraften, dass das Leben, das ich führte, eine große Lüge war.
Bärbel, Fred, Benn und ich standen nun vor diesem Haus. Etwas Bammel hatte ich schon. Waren meine Geschwister auch da? Ich hoffte nicht, denn ich wollte erst mit meinen Eltern reden, bevor ich den nächsten Schritt auf meine Geschwister zumachen wollte.
Bärbel drückte die Haustürklingel und als ob sie hinter der Tür gestanden hatten, wurde die Tür aufgerissen. Meine Mutter stand dort und lächelte uns entgegen.

„Hallo…“

Bärbel ging als erste hinein und ich folgte als letzter hinter Benn und Fred. Als ich dann bei ihr war nahm sie mich sofort in den Arm.

„Schön dass du gekommen bist. Wir hatten schon Angst das du einen Rückzieher machst.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Keine Angst, ich muss da genauso durch wie ihr.“

Sie sah mich an und nickte verstehend.

„Komm Micha wartet schon auf dich!“

Ich lächelte und folgte ihr durch den Hausflur in ein großes Wohnzimmer. Dieses war wundervoll eingerichtet. Eine riesige Couch stand an der einen Seite. Auf der gegenüberliegenden Seite war ein riesiger Fernseher an der Wand angebracht, unter diesem stand ein Sideboard, auf dem eine Playstation und zig Spiele und Filme standen.
Eine große Terrassentür die geöffnet war, führte auf eine große Terrasse, wo schon die anderen an einem großen Tisch saßen. Micha stand in der Terrassentür und sah erwartungsvoll zu mir.
Ich löste mich von Ilse und ging auf ihn zu. Auch er nahm mich in die Arme und drückte mich an sich.

„Schön, dass du da bist, Großer…!“

Ich sah mich um und konnte meine Geschwister nicht sehen. Ein Stein fiel mir trotzdem vom Herzen, da ich gehofft hatte dass sie heute nicht dabei sind. Als ob Ilse meine Gedanken erraten hatte, wandte sie sich wieder zu mir.

„Lars und Lisa sind bei Freunden. Wir haben ihnen noch nichts gesagt, obwohl sie beide nach unserem Auftritt gestern was ahnen.“

Ich lächelte erleichtert. Ich setzte mich dann mit ihnen zu den anderen an den Tisch. Meine biologischen Eltern sahen mich erwartungsvoll an. Micha war dann der erste und schob mir ein Braunes Buch zu. Beim näheren Betrachten entpuppte es sich als ein Bilderalbum.
Ich öffnete es vorsichtig. Auf der ersten Seite war ein Foto von einem Baby zu sehen das von einem jungen Mann gehalten wurde. Der Mann lächelte strahlend in die Kamera wobei er das Baby zärtlich an sich drückte.
Auf der nächsten Seite waren Fotos von dem Baby mit Frau und Mann zu sehen.

„Das bist du mit uns. Da wo wir dich noch hatten. Und das ist das letzte Foto von dir bevor du verschwandst.“

Ilse zeigte darauf. Ihre Stimme zitterte und ich merkte wie meine Augen anfingen zu brennen.
Das da war ich als Baby. Das Baby sah glücklich aus und strahlte die Frau auf dem Foto an.
Micha hatte einen Arm um Ilse gelegt.
Fred merkte wohl das mit mir nicht alles in Ordnung war denn er legte seine Hand auf meine Schulter. Ich blätterte weiter und sah Zeitungsartikel. Baby entführt!, prangte mir die Schlagzeile entgegen.
So ging es weiter jede Seite enthielt Zeitungsartikel zu dem vermissten Baby, da ging es wohl um mich.
„Wir haben alles gesammelt. Wir haben selbst versucht herauszubekommen wo du verblieben bist. Hier der Artikel war einer in dem wir um Hilfe baten. Aber nichts, rein gar nichts haben wir heraus gefunden.“

„Wie bin ….. ich….. eigentlich…“

„Ilse hat dich im Garten im Kinderwagen schlafen gelassen. Sie war nur kurz in der Küche. Als sie raus kam war kein Mucks von dir zu hören.“ erzählte Micha.

„Ich dachte, du schläfst daher habe ich den Rest der Wäsche auf die Leine gehangen. Dann…
dann wollte ich nach dir schauen…“

Ilse fing an zu weinen.

„Aber da war… kein Baby…“, hauchte sie.

„Sie hatte sie beide schon einige Tage beobachtet und hatte dann an diesem Tag ihre Chance gewittert und hat sich das Baby geschnappt. Das hat sie mir erzählt, als ich sie fragte wo sie das Baby entführt hatte.“

Bärbel vervollständigte die Geschichte, in der ich die Hauptrolle spielte.

„Entschuldigung will jemand Kaffee oder irgendetwas anderes trinken?“

Bärbel und Benn waren die ersten.

„Kaffee wäre wunderbar.“

„Ich nehme Cola…“

Fred wieder. Ich sah ihn spöttisch an und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
Ilse stand auf.

„Darf ich helfen?“, wandte ich mich ihr zu.

„Natürlich, wenn du möchtest.“

Ich nickte bestätigend und folgte dann Ilse in die Küche. Ilse machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen.

„Die Cola steht im Kühlschrank.“

Ich ging auf diesem zu und öffnete diesen um die Colaflasche herauszuholen.

„Luka, das muss dich doch erschlagen? Das Ganze!“

„Es ist schwer alles zu verstehen, was passiert ist. Aber es kann keiner ändern.“

„Und was willst du machen? Ich meine nach der Schule!“

„Ich will studieren und zwar in die Richtung Medizin.“

„Bärbel sagte mir dass du ein sehr guter Schüler bist. Ich bin so froh dass es dir gut geht. Ich hatte solche Angst all die Jahre.“

Mittlerweile hatte sie die Kaffeemaschine eingeschaltet und drehte sich zu mir.

„Ich habe mir all die Jahre die Schuld gegeben. Nicht auf dich aufgepasst zu haben und…, und …“

„Es ist nicht…“, ich musste schlucken: „… deine Schuld. Sie hatte ja wohl alles geplant.“

„Aber …“, sie seufzte, „wie fangen wir bloß an all das nachzuholen was wir nicht miteinander hatten.“

„Ich weiß es auch nicht. Es ist schwer, das alles zu verarbeiten. Ich brauche Zeit! Um ehrlich zu sein, ich habe Angst vor all dem. Habe Angst, meinen besten Freund zu verlieren.“

„Ich, wir hatten gehofft, dass du hierher ziehst!“

„Ich brauche Zeit, um das Ganze zu verarbeiten. Euch kennenzulernen war ein erster Schritt. Ich habe nur Angst dass Lars und Lisa mich nicht mögen und ich möchte mich in eure Familie nicht drängen.“

„Wir konnten dich siebzehn Jahre nicht aufwachsen sehen. Ich hatte gehofft dass alles einfacher sein wird, aber es wird nicht so sein? Versprich mir das wir dich öfter sehen können…“

Ich trat zu Ilse.

„Das mit dem sehen werden wir hinbekommen. Gebt mir nur die Zeit das alles zu verarbeiten. Ich brauche diese Zeit! Bitte!“

„Natürlich geben wir dir die Zeit die du brauchst.“
Dabei nahm sie mich in die Arme und drückte mich.

„So komm der Kaffee ist fertig.“

Wir lösten unsere Umarmung und ich nahm die Gläser und die Flasche Cola und ging nach draußen zu den anderen. Benn, Bärbel und Micha waren in ein Gespräch vertieft. Fred sah etwas gelangweilt aus, aber als er mich sah lächelte er freudig.

„Na endlich, ich vertrockne hier wie ein Fisch auf dem trockenem.“

Ich lachte auf und stellte die Gläser und die Flasche Cola auf dem Tisch ab. Fred langte sofort zu. Ilse die mit einem Tablett hinter mir herkam, verteilte Kaffeetassen und danach schenkte sie Kaffe aus.
Micha sah zu Ilse als sie sich setzte.

„Alles in Ordnung?“, fragte er sie.
Sie nickte.

„Es ist alles so schwer. Erst die ganze Zeit, diese Ungewissheit lebt er oder ist er Tod… Und jetzt haben wir Gewissheit er lebt und sitzt heute hier bei uns… Mir zerbricht es das Herz wenn er wieder geht… Micha ich schaff das nicht.“

Hilfesuchend sah sie ihn an und ich konnte nicht mehr hinsehen. Ich verstand ja was in ihnen vorging. Nur was sollte ich machen? Ich konnte doch nicht einfach hier einziehen und mein Leben neu gestalten. Irgendwie war das alles zu viel. Benns Hand legt sich auf meine und drückte leicht zu.

„Kommst du klar?“

„Bennie, ähmm entschuldige, Luka, es tut mir leid…“

Ilse sah zu mir mit einem flehenden Blick.

„Bitte bleib noch etwas…, BITTE!“

Ich sah Benn an und er sah mich liebevoll an. Stark bleiben das schaffst Du schon. Mein Mantra ging mir im Kopf rum. Ich nickte und sah dann zu Micha, der Ilse in den Armen hielt.

„Also wie soll es jetzt weitergehen?“

Micha sprach das aus was alle an dem Tisch dachten. Bärbel räusperte sich und sah in die Runde.

„Also von meinem Standpunkt aus, sollte erst einmal Luka im Mittelpunkt stehen. Daher wäre das was Luka möchte sehr wichtig bei den Entscheidungen, wo er zukünftig lebt und wohnt.“

Sie sah mich fragend an.

„Und Luka was möchtest DU?“

Die Frage war ausgesprochen und ich war doch etwas überfordert. Ich wollte meinen richtigen Eltern nicht weh tun, aber auf der anderen Seite es ging hier um mich und ich war keine Pflanze die man einfach mal umsetzte und sagte He hier ist jetzt dein Platz und nur noch hier. Ich schluckte und sah auf die Tischdecke.

„Also wenn es ginge würde ich in meiner jetzigen Schule das Abitur machen. Fred seine Eltern haben angeboten, dass ich bei ihnen wohnen könnte, wenn nichts dagegen spricht! Würde das gehen?“

Ich richtete meinen Blick erst fragend zu Bärbel und dann zu meinen Eltern.

„Für mich wäre das ok Luka. Aber was ist mit deinen Eltern, willst du sie nicht sehen wollen und auch deine Geschwister wollen dich doch kennen lernen.“

Ich wandte mich an Bärbel.

„Ich… könnte ja die Wochenenden her kommen und diese hier verbringen, damit wir uns besser kennen lernen.“

„Das wäre ein Anfang. Was halten sie von dem Vorschlag?“

Die Frage galt meinen Eltern und Bärbel sah zu ihnen, auch ich sah Micha und Ilse an.

„Was denkst du Ilse?“, wandte sich Micha an Ilse.

Sie sah darauf zu mir und lächelte.

„Es wäre ein Anfang. Ich bin damit einverstanden und Du?“

„Ich auch! Lieber das als dass wir ihn wieder verlieren und wir müssen Luka die Zeit lassen die er braucht.“

„Also dann sind wir uns einig. Luka, du kannst auch jederzeit deinen Freund Fred mitbringen. Er ist uns genauso willkommen.“

Micha sah mich strahlend an. Ja wir hatten einen Anfang gefunden und ja es war die beste Lösung für mich, für uns alle.

„Ich werde aber die nächsten Besuche erst mal noch aussetzen. Luka soll erst mal mit seinem Bruder und seiner Schwester die Zeit verbringen und da will ich nicht stören.“

Fred wieder mal, er wollte mir wohl jetzt auch den Freiraum geben. Ich hob schon an um eine Standpauke zu halten, aber Fred fiel mir ins sogenannte Wort das mir leider im Halse stecken blieb.

„Keine Widerworte Luka, die ersten zwei, drei Wochenenden wirst du dich hier alleine rumschlagen.“

„OK ok dann machen wir es so… Aber ich kann auch mal ein Wochenende zwischendurch ausfallen lassen?“

„Ja aber nicht am Anfang… Wir wollen uns schließlich richtig kennenlernen…“

Ich nickte strahlend, das war ein Deal, der mir gefiel.

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