Blau – Teil 1 – Ein Anfang

Die Erinnerungen eines Menschen beginnen bei den meisten in einem Alter von drei bis vier Jahren.
Manchmal auch früher.
Davor handelt es sich jedoch meist noch nicht um Konkretes an das man sich erinnern kann; eher allgemeine Eindrücke, Emotionen und alltägliche Abläufe.

Meine erste wirkliche, konkrete Erinnerung hat sich bei mir tief eingeprägt.
Sie hat sich so tief in meinem Kopf eingenistet, dass ich selbst heute, neunzehn Jahre später noch immer davon träume und fast täglich daran denke.

Ute würde sagen ich bin besessen.

Wie mir meine Eltern erzählten, war ich zu dem Zeitpunkt der Erinnerung grade einmal vier Jahre alt.

Es ist auch eine meiner schönsten Erinnerungen.

Versteht mich nicht falsch; ich hatte eine tolle Kindheit und Jugend. Meine Eltern haben sich wirklich um mich und meine Geschwister gesorgt.
Zumindest als ich jung war.
Erst in den letzten Jahren wurde es mit ihnen schwieriger. Was nicht zuletzt an dem Ereignis, als ich vier Jahre alt war, liegt.
Eigentlich ziemlich widersprüchlich.
Bevor es mit meinen Eltern jedoch schwieriger wurde, hatten wir laute Geburtstage und familiäre Weihnachtsfeiern. Unsere Freunde waren bei uns immer willkommen. Unsere Probleme waren in unserer Familie immer dazu da, gemeinsam bewältigt zu werden. Früher stärker durch unsere Eltern und später immer selbstständiger.

Und trotzdem hatte ich eines meiner schönsten Erlebnisse mit vier Jahren.

Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern.
Eigentlich an kaum etwas.

In meinen Erinnerungen sehe ich faszinierendsten Augen, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe, über mir. Ich habe auch danach noch nie so viele widersprüchliche Emotionen in einem einzigen Paar Augen gesehen.
So tief, dass man sich darin verlieren kann.
Traurig, ängstlich und doch mit Freude und Hoffnung.
Skepsis und doch verstehend. Alt und doch so lebendig.
Aber vor allem Blau.
Blau mit kleinen grünen Sprenkeln am Rand der Iris, die jedoch kaum auffielen.
Doch ich habe das Gefühl, eine Ewigkeit in diese blauen Augen zu sehen. Auch jede noch so kleinste Farbnuance hat sich mir eingeprägt.
Sie sind so blau, dass selbst der Sommerhimmel über mir zurücktritt.
Es gibt nur noch dieses Blau.

Doch wie gesagt, ich kann mich nicht mehr an alles erinnern. Doch diese Tatsache ist für mich selbst wahrscheinlich auch besser so.

Meine erste und schönste Erinnerung ist gleichzeitig der größte Alptraum meiner Eltern.

Noch heute haben sie Tränen in den Augen wenn sie im Familienalbum die Fotos dieses Tages sehen.
Ja, es gibt es Fotos davon.
Zwar nicht direkt von meinen Erinnerungen.
Aber kurz davor.

Auf den Fotos sitze ich nackt im Gras.
Es ist Sommer, keine Wolke am blauen Himmel. Im Hintergrund sind ein paar Bäume und Büsche zu sehen.
Was nicht zu sehen ist, ist der Badesee. Auf dem Foto müsste er irgendwo links von mir sein. So genau weiß ich das nicht, spielt aber auch keine Rolle.
Was dagegen zu sehen ist, sind bunte Handtücher und Decken. Sie liegen in einiger Entfernung um mich herum; von anderen Badegästen bevölkert.
Ich selbst kämpfe mit einer großen Waffel Eis. Und auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt schon vier Jahre alt war, habe ich mich doch, mit Hilfe der Sommersonne, immer mehr mit dem Schokoladeneis überzogen. Bis ich schließlich mit einer dunklen, klebrigen Schicht bedeckt war.

Und in diesem Augenblick begann ihr Alptraum!

Es war die eine Sekunde in der Eltern einmal nicht aufmerksam sind.

Die eine Sekunde in der sich die Weichen des Schicksals ändern.

Die eine Sekunde in der das eigene Kind mit einem Mal verschwunden ist.

Meine Eltern waren mit Franziska, meiner jüngeren Schwester beschäftigt. Mit 2 Jahren hat sie sich mit Sicherheit noch mehr mit dem Eis überzogen als ich es tat. Und natürlich musste unser Vater dies auch fotografieren; wie sie nicht nur sich selbst, sondern auch unsere Mutter bekleckerte, auf deren Schoß sie saß.
Von mir hatte er ja schon das Foto.

Und ich war für einen Augenblick unbeaufsichtigt.

Ich weiß nicht genau was ich gemacht habe.
Ob mir langweilig war und Unterhaltung suchte, oder ob ich einfach nur das Eis von meiner Haut waschen wollte.

Zumindest war ich auf einmal verschwunden.
Erst war die Aufregung nicht besonders groß. Kinder laufen halt einmal weg wenn sie etwas Interessantes sehen. Und immerhin war der ganze Badestrand mit vielen Familien bevölkert.
Aber nachdem mein Vater den ganzen Strand abgesucht hatte und mich nicht fand, wurden meine Eltern wirklich nervös. Sie fragten immer wieder die Leute, die neben uns am Strand lagen, ob sie mich gesehen hätten. Meine Mutter saß die meiste Zeit mit meiner kleinen Schwester auf der Decke um sie nicht auch noch zu verlieren. Zumal sie zu diesem Zeitpunkt auch wieder im siebten Monat schwanger war.
Doch es blieb nicht bei dieser Gelassenheit. Es war ein Badestrand der wie schon gesagt hauptsächlich von Familien besucht wurde. Und wenn dort ein Kind vermisst wird, sind bald alle in Panik. Wahrscheinlich hatte jeder Kopf: es könnte auch meins sein.

So teilte sich der gesamte Strand schon nach kurzer Zeit in zwei Lager.

Der eine Teil, meist die Frauen, passte auf die kleineren Kinder auf, die sie alle an einem Platz versammelt hatten. Die meisten von ihnen verstanden nicht warum sie auf einmal nicht mehr zum spielen ins Wasser durften und mussten die meiste Zeit von ihren Müttern beschäftigt werden. Und natürlich hatte der Großteil der Frauen auch genug damit zu tun meine Mutter zu beruhigen.

Der andere Teil, zu dem auch mein Vater gehörte, suchte immer verzweifelter das ganze Gelände ab.
Der Strand war eigentlich nicht besonders groß und daher überschaubar.
Die kleinen Imbissbuden lagen schon etwas abseits.
Doch das ganze Areal war von Wald umgeben und nur schwer einsehbar.
Schon nach kurzer Zeit war der halbe Wald mit „Alexander“ Rufen erfüllt.
Der ganze Suchtrupp verteilte sich immer weiter.
Gleichzeitig versuchten sie immer Kontakt, mit den Leuten die in der Nähe vom Badestrand waren, zu halten. Jeder wartete darauf, dass der ältere Mann, der mit seinem Auto zum nächsten Telefon gefahren war, mit den professionellen Suchkräften zurückkam.

Doch ich wurde nicht gefunden.

Zumindest nicht gleich und nicht von meinen Eltern oder den anderen Familien des Badesees.

Als mein Vater zwischendurch wieder zu unserer Picknickdecke kam, um zu sehen ob ich mich dort wieder eingefunden hatte, war mit einem mal ein Schrei zu hören.

„Da drüben! DA DRÜBEN!“, schrie eine der Frauen und zeigte mit ihrem Arm über das Wasser des Sees. Sofort verstummten alle um sie herum und sahen in die gezeigte Richtung.

Etwas mehr als hundert Meter entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite des Sees, zog ein junger Mann in einem schwarz-weißen Neoprenanzug einen kleinen, scheinbar leblosen Körper aus dem See. Er trug ihn ein paar Schritte über die Wiese und legte ihn dort behutsam auf das Gras.
Mein Vater sprang augenblicklich ins Wasser. Mit kräftigen Zügen schwamm er an das andere Ufer.
Meine Mutter wurde in diesem Augenblick völlig hysterisch, während sie und die Anderen zusahen wie auf der anderen Seite ein kleines Kind beatmet wurde.
Einer der anderen Anwesenden setzte sich in eines der Gummiboote und ruderte ebenfalls auf die andere Seite des Sees.
Ein Großteil der Kinder war mittlerweile am weinen oder schreien, weil sie alle, egal wie alt, mitbekamen das etwas nicht stimmte.
Die meisten ihrer Mütter starrten geschockt über den See.

Und ich?

Ich spuckte in diesem Augenblick Wasser aus meinen Lungen und blickte in die blausten Augen der Welt.

*-*-*

All das hätte ich jetzt sagen können.
Aber ich tue es nicht.
Ich sehe wie mich meine Dozentin, Dr. Halbach, erwartungsvoll ansieht nachdem sie mich zu meinen frühesten Erinnerungen fragte.
Auch die anderen siebzehn Kommilitonen im Seminarraum sehen mich erwartungsvoll an. Jeder von ihnen scheint zu hoffen, dass ich viel erzähle. Und je länger ich dies nämlich tue, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie auch noch etwas von sich preisgeben müssen.
Doch ich sage nichts von dem, was mir durch den Kopf geht.
Das geht niemanden etwas an und es weiß auch fast niemand davon.
Stattdessen versuche ich meine Gedanken wieder etwas zu sortieren und fang an, leicht stockend, von einem anderen frühen Kindheitserlebnis zu erzählen.

„Meine erste Erinnerung… da war ich wohl fünf Jahre alt. Zu Weihnachten bekam ich ein Fahrrad geschenkt und hab es im Wohnzimmer ausprobiert. Allerdings war das Zimmer doch etwas klein. Nach einer halben Runde bin ich im Weihnachtbaum gelandet; und noch heute habe ziemlichen Respekt vor diesen Bäumen“, gebe ich halbherzig zum Besten.

„Ah!“, freut sich Dr. Halbach, „da haben wir ja mal etwas außergewöhnliches! Eine Weihnachtsbaumphobie!“

„So würde ich das nicht nennen“, unterbreche ich sie sofort. Immerhin will ich nicht, dass mich meine Kommilitonen für einen völligen Seelischen Krüppel halten, der jedes Jahr, pünktlich zur Weihnachtszeit, einen Nervenzusammenbruch erleidet.

„Ich weiß halt nur, dass so etwas verdammt wehtun kann und zur Weihnachtszeit ziemlich viele Unfälle passieren. Ich bin einfach froh wenn im Januar der Weihnachtsbaum abgebaut wurde, ohne dass etwas passiert ist“, erkläre ich noch.

Meine Dozentin scheint über die Unterbrechung auch nicht besonders glücklich zu sein. Scheinbar wollte sie mich genauso hinstellen wie ich vermutet hatte. Wenn nicht sogar als einen Psychopathen, der sich zum Jahresende in die Weihnachtsversion von „Michael Myers“ verwandelt.
Ich wusste schon immer, warum ich Dr. Halbach von Anfang an nicht mochte. Sie gehört eindeutig zu den Psychologen, die in allen Menschen nur noch Psychosen sehen und nicht mehr unbefangen auf jemanden zugehen können.

Doch zu meinem Glück ist die Zeit des Seminars schon zu Ende, obwohl ich nicht wirklich viel gesagt habe. Die ersten Studenten fangen bereits an ihre Sachen zusammen zu packen. Auch ich stecke meinen Block und Stifte schnell in den Rucksack, den ich mir über den Rücken werfe. Mit meiner Jacke unter dem Arm flüchte ich förmlich vor Dr. Halbach aus dem Seminarraum.

„Alexander!“, höre ich hinter mir.

Zum Glück jedoch nicht von der Dozentin sondern von meiner besten Freundin Ute.
Da ich sie schon seit einigen Jahren kenne, weiß ich auch, dass es nicht hilft ihr aus dem Weg zu gehen. Geschweige denn vor ihr wegzulaufen.

Ich warte kurz im Gang bis sie zu mir aufgeschlossen hat.

„Lass uns zu Paolo gehen, ich brauch einen Cappuccino!“, höre ich sie, als sie an mir vorbeirauscht.
Ich frage mich augenblicklich warum ich überhaupt auf sie gewartet habe, während ich nun meinerseits anfange ihr hinterher zu rennen.
Für die nächsten zehn Minuten bleibt mir nur der Blick auf ihren Hinterkopf. Ihre blonden Locken sind wie jeden Tag perfekt drapiert. Ihre weite und luftige Hose ebenso vollkommen auf die Farbe ihrer Bluse abgestimmt.
Erst als sie zwei Straßen weiter, und damit auch ich kurz nach ihr, unseren Lieblingsitaliener erreicht hat, ist die Verfolgungsjagd beendet.
Wir setzten uns auf einen Platz in einer Ecke, wo wir unsere Ruhe haben. Anderseits gibt es dort aber auch einen guten Blick durch die Fenster auf den direkt davor liegenden kleinen Platz.
Selbst jetzt mitten am Tag ist es hier bei Paolo leicht dämmrig. Dafür hat man jedoch besonders im Sommer das Gefühl in einem angenehm kühlen Raum zu sitzen. Unterstützt wird dieser Eindruck noch durch die groben Wände und gewölbten Decken. Schon als ich das erste mal hier war, hatte ich sofort den Eindruck in einem toskanischem Weinkeller zu sitzen.

„Seit wann ist denn das deine erste Erinnerung?“, fängt Ute das Gespräch ohne Einleitung an. Eigentlich dachte ich das Seminar sei zu Ende. Doch nachdem wir vor anderthalb Jahren gemeinsam mit dem Psychologiestudium anfingen, hat sie scheinbar nur noch ein Ziel. Herauszufinden was es mit dieser Erinnerung von mir auf sich hat. Seit dem habe ich schon oft bereut ihr als Kind davon erzählt zu haben.

„Du weiß ganz genau, dass es nicht das war, woran ich gedacht habe.“

„Aber warum erzählst du es nicht?“

„Weil es niemanden etwas angeht! Und vor allem nicht den anderen siebzehn Studenten die mit im Seminar waren.“

„Aber dafür ist doch dieses Seminar. Zusammen überlegen was für Auswirkungen Erlebnisse der Kindheit haben können! Und außerdem sitzen wir dort doch im selben Boot, das würde doch niemand weitererzählen.“

Ungläubig schaue ich sie an, während wir unsere Capuccinos bekommen.

„Kannst du sich noch an Silke erinnern?“, bringe ich Utes Gedächtnis wieder auf trapp. „Als sie in einem ähnlichen Seminar einmal erzählte, sie hatte als kleines Kind „Penisneid“ gehabt, wusste es bis zur Mittagspause die halbe Uni. Und eine Woche später waren etliche davon überzeugt sie sei transsexuell!“

Noch immer konnte ich nur den Kopf schütteln wenn ich daran dachte was damals los war. Eigentlich hatte ich Studenten für erwachsener gehalten. Ich würde mir so etwas sicherlich nicht freiwillig antun.

„Aber irgendwann musst du doch mal herausfinden warum du davon so besessen bist“, gibt Ute zwischen zwei Schlücken ihres Cappuccinos zum Besten.

„Ich bin nicht besessen!“, presse ich hervor.

„Natürlich nicht…“

Ute winkt der Bedienung hinter dem Tresen und bewegte kurz darauf ihre geschlossene Faust schnell auf und ab. Eigentlich hätte diese Bewegung jeder Einwohner der westlichen Hemisphäre sehr eindeutig zu interpretieren gewusst. Ob Andere Gäste diese Geste sehen ist Ute wie immer ziemlich egal. Und zu ihrem, und vor allem meinem Glück, ist heute einer der Stammkellner hinter dem Tresen der uns schon ziemlich lange kennt. Kurze Zeit später hat Ute einen mit Kakao gefüllten Streuer vor sich stehen.
Dass Kakao nicht auf einen Capuccino gehört hat sie ebenfalls noch nie gestört.

„…und weshalb vergleichst du dann jeden Mann der dich anspricht mit diesen Augen aus deiner Erinnerung?“

„Das stimmt… doch… gar nicht…“, versuche ich mich halbherzig zu rechtfertigen bevor ich ganz abbreche. Im Grunde weiß ich ja, dass Ute Recht hat.

„Was ich vor allem nicht verstehe, warum rettet jemand einem Kind das Leben und verschwindet direkt danach spurlos“, versucht Ute meine Vergangenheit weiter zu analysieren. „Oder er wollte dich eigentlich gar nicht retten. Sondern entführen, und sonst was mit dir machen, und dabei hast du aus versehen zu viel Wasser geschluckt.“

„Ute!“, unterbreche ich ihre Gedankengänge. Sie hatte schon immer die Begabung mir mit so was einen Schauer über den Rücken zu jagen. Und dass der Mann aus meiner Erinnerung nicht der strahlende Retter ist, will ich mir nicht vorstellen.

„Entschuldige. Ich will doch einfach nur, dass du mal wieder etwas fröhlicher wirst.
Lass uns heute mal wieder ausgehen. Ich verspreche auch dich nicht verkuppeln zu wollen.“

„Bei dir bleibt es doch meistens nur bei dem Vorsatz. Im Endeffekt schleppst du alle zehn Minuten einen Mann an, der dann völlig aus den Latschen kippt weil er dachte du willst was von ihm.“

„Ich fand das witzig!“

„Ich nicht und Franco auch nicht, wie du hoffentlich bemerkt hast.
Außerdem geht es heute eh nicht. Ich muss noch zu meinen Eltern. Heute ist mal wieder der Jahrestag und das kann ich meinem Bruder nicht alleine zumuten.“

„Oh, willst du, dass ich mitkomme?“, fragt Ute besorgt. Sie hat sich schon immer gut meinen Eltern verstanden. Aber an dem Jahrestag meines Badeunfalls, der für meine Eltern der Inbegriff allen Übels ist, hab ich sie immer von ihnen ferngehalten.

„Lieber nicht, du weißt nicht wie sie dann sind. Wir sehen uns morgen“, verabschiede ich mich.

Ich lasse ein paar Münzen auf dem Tisch liegen und verlasse schnell das Lokal bevor Ute dagegen protestieren kann. Normalerweise besteht sie darauf den Kaffee zu bezahlen. Sie bekommt jeden Monat immer eine ganze menge Geld von ihren Eltern und muss nicht wirklich darauf achten was sie ausgibt.
Ich muss dagegen von Bafög leben. Nebenbei helfe ich an einigen Tagen in der Woche in einer Kneipe aus. Eigentlich müsste ich das nicht, aber so kann ich mir zumindest ein kleines Auto leisten.

Und in genau diesen bunten Schrotthaufen, der Name kam natürlich von Ute, steige ich nun ein. Fast eine Stunde würde ich zu meinen Eltern unterwegs sein und suche mir entsprechende Musik heraus. Mit einem Mix verschiedener Sommerhits fahre ich schließlich los. Auch wenn ich ein Teil der Stücke nicht wirklich mochte hoffte ich doch, dass etwas fröhlichere Musik meine Laune etwas anheben würde. Immerhin wusste ich ungefähr, was mich bei meinen Eltern erwarten würde und wie sehr es mich im letzten Jahr schon herunter gezogen hatte.

Nach einer knappen halben Stunde lasse ich den Stadtverkehr endgültig hinter mir. Ich biege in die alte Landstraße ein, die noch immer von etlichen Nutzbäumen gesäumt ist und auf einem Großteil der Strecke den Charakter einer Allee bewahrt hat. Im Herbst konnte die Straße deshalb ziemlich rutschig werden, wenn nicht nur die Blätter der Bäume, sondern auch Obst und Nüsse auf dem Asphalt lagen.

Ein neues Villenviertel auf beiden Seiten der Straße kündigt schließlich das alte klassizistische Gutshaus an. Die Allee führt die letzten zwei Kilometer direkt darauf zu. Erst kurz davor macht sie eine scharfe Linkskurve und führt daran vorbei.
Ich folge der Straße weiter und lasse den alten Gutshof hinter mir.

Obwohl ich mich selbst nicht mehr daran erinnern konnte dort einmal gewohnt zu haben, war es immer wieder eigenartig an dem alten Haus vorbei zu fahren. Zu oft hatten mir meine Eltern davon erzählt. Das steinerne Gutshaus war fast zweihundert Jahre lang die Heimat meiner Familie. Und davor stand an gleicher Stelle ein noch älteres Fachwerkhaus, das ebenfalls meine Familie beherbergte.
Nach dem Tod meiner Großeltern hatte das Gutshaus Georg, der Bruder meines Vaters geerbt. Die zum Haus gehörenden landwirtschaftlichen Flächen bewirtschaftete er ebenfalls.
Mein Vater hatte im Haus lebenslanges wohnrecht erhalten. Wir hatten dort unsere eigene Wohnung die sich fast über die ganze obere Etage erstreckte. Mein Vater selbst arbeitete auf dem Hof als Agrartechniker und trug so auch noch zum Anwachsen des Familienvermögens bei.
Ich selbst hatte dort viel Platz zum Spielen. Meist tat ich dies wohl mit meinem Cousin Christian, der fast gleich alt war. Entweder passte seine oder meine Mutter auf uns auf. Beide haben damals nur Halbtags gearbeitet.

Als ich vier Jahre alt war, hatte diese Idylle jedoch ein Ende.

Onkel Georg war mit seiner Frau und seinem Sohn verschwunden.
Stattdessen stand eines Morgens die Staatsanwaltschaft mit der Polizei vor der Türe. Mit düsterem Blick wedelten sie nur mit dem Durchsuchungsbeschluss und durchsuchten stundenlang das gesamte Haus.
Mein Onkel hatte es scheinbar geschafft zwei Hypotheken gleichzeitig auf die Ländereien aufzunehmen und alle Konten zu räumen. Sogar das Geld für die Futtermittel- und Saatgutlieferanten hatte er seit einem Jahr unterschlagen. Nur die Angestellten wurden pünktlich bezahlt, da mein Vater dies sonst mitbekommen hätte.
Es gab also mit einem Mal einen riesigen Berg Schulden und mein Onkel wurde wegen Betrugs und Unterschlagung international gesucht.
Doch auch durch die Durchsuchung wurde die Staatsanwaltschaft nicht wirklich schlauer. Sie fanden zwar einen Buchungsbeleg für einen Flug in eine Südamerikanische Bananenrepublik, aber mehr auch nicht.
Sicher war, dass sie das Flugzeug zumindest bestiegen hatten.
So merkwürdig es sich auch anhört, doch nicht einmal ob sie das Flugzeug am Zielflughafen auch wieder verlassen hatten war bis heute geklärt. Alle Passagiere hatten dort ordnungsgemäß ausgecheckt und waren im Computer gelistet, bis auf drei Personen.
Bis heute gab es kein Lebenszeichen von ihnen.

Das war, fast auf den Tag genau, ein Jahr vor meinem Badeunfall.

Kurz danach mussten meine Eltern den Hof verlassen. Immerhin gab es zwei Banken, denen jeweils Hundert Prozent der Länderreihen gehörten und die sich nun darum stritten.
Erst nach drei Jahren wurden sie sich irgendwie einig. Sie bebauten ein Großteil des Landes und verkauften das Gutshaus an eine Investmentgruppe.
Heute beherbergt es ein Kunstzentrum.
Vor einem halben Jahr bin ich einmal zu einer Ausstellung dorthin gegangen. Auch wenn das Äußere original erhalten wurde, der Innenraum lässt nicht mehr vermuten, dass das Gebäude einmal bewohnbar war. Sämtliche Wände und Böden waren herausgerissen. Die Außenmauern und das Dach wurden nur noch von dicken Stahlträgern im inneren gehalten. Der große Ausstellungsraum, der so entstanden war, beherbergte nun die Bilder und Skulpturen.
Die neue Avantgarde, die in das Neubaugebiet gezogen war, war von der Kunst begeistert. In ihren Anzügen und Sommerkleidern versuchten sie einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit der Kunst zu widmen, während sie mich aus den Augenwinkeln kritisch beobachteten weil ich in verwaschener Jeans, im Haus meiner Ahnen, zwischen ihnen herumlief.

Ich habe meinen Eltern nie etwas von diesem Erlebnis erzählt. Das hätten sie sicher nicht verkraftet.

Meine Eltern waren mit meiner Schwester und mir nach dem Durchsuchen des Gutshofes in ein kleines, schon damals ziemlich heruntergekommenes Einfamilienhaus gezogen. Es stand in einem benachbarten Dorf, das früher sogar einmal zum Gut gehört hatte. Ganz aus der Heimat wegzuziehen kam für sie nicht in Frage.
Auch wenn das vielleicht einfacher gewesen wäre.
Obwohl mein Vater an dem Betrug nicht beteiligt gewesen war, bekam er trotz aller Versuche keine neue Arbeitsstelle. Meist sorgte meine Mutter dafür, dass etwas Geld herein kam indem sie im Supermarkt hinter der Kasse saß.

Und so wurden beide immer verbitterter und gaben ein paar Jahre nach meinem Unfall einfach dem Datum die Schuld. Jedes Jahr hatten sie dann im Sommer die gleichen Depressionen. Eine Zukunft sahen sie für sich schon lange nicht mehr und konnten sich auch kaum darüber freuen als ich den Studienplatz an der Universität bekam.

Mit meinen Gedanken in der Vergangenheit bringe ich das letzte Stück des Weges hinter mich. Ich bekomme nicht wirklich mit, wie ich das Neubauviertel auf der Allee verlasse und die Felder wieder die Straße umgebenen. Am Ende der Fahrt biege ich in das kleine Dorf ein und erreiche schließlich das Haus meiner Eltern.
Ich atme noch einmal tief ein bevor ich aus dem Auto aussteige.

Das Haus sieht aus wie immer.
Heruntergekommen.
Obwohl das so nicht ganz richtig ist. Es sieht eigentlich jedes Mal etwas schäbiger aus wenn ich herkomme.
Der gebrochene Dachziegel liegt noch immer auf dem Dach, das Unkraut wuchert im Garten und der Gartenzaun, von dem mein Vater seit über fünf Jahren sagt, er will ihn streichen, hat mittlerweile kaum noch Farbe.
Auch wenn ich hier aufgewachsen bin, es tut jedes Mal weh wenn ich herkomme. Jedes Mal wird mir wieder bewusst, dass sich meine Eltern schon lange aufgegeben haben.

Ich gehe den kurzen Weg durch den Vorgarten und öffne die Türe mit meinem Schlüssel, den ich nach meinem Auszug behalten hatte.

„Endlich bist du da!“

Mein kleiner Bruder fällt mir förmlich um den Hals.

„Hallo Michael. Was ist denn los?“

„Ich halt das hier nicht mehr aus. Die werden doch von Woche zu Woche schlimmer und dieses Jahr ist es besonders heftig.“ Michael sagt dies ohne mich los zu lassen.

„Was wird immer schlimmer?“, frage ich meinen Bruder während ich mich von ihm löse und auf den Weg zum Wohnzimmer mache, wo ich meine Eltern vermute.
Schon als ich die Türe einen Spalt öffne weiß ich was Michael meinte. Ein süßlicher, abgestandener Geruch nach Alkohol schlägt mir entgegen. Schnell schließe ich die Türe wieder von außen und sehe Michael fragend an.

„Wie lange geht das schon?“ Doch Michael zuckt mir mit seinen Schultern.

„Das ist doch nicht erst heute so, so wie es darin riecht! Seit wann trinken die denn so viel?“

„Weiß nicht genau. So drei oder vier Wochen.“ Seine Stimme hört sich müde an.
Und dann sehe ich es auch.
Er hat Ringe unter den geröteten Augen, sein Gesicht bleich und nicht rasiert, was ich bei ihm noch nie gesehen habe. Michael scheint völlig am Ende zu sein. Doch ich habe nicht darauf geachtet, da ich eigentlich aus Sorge um meine Eltern hergekommen bin.
Ich ziehe meinen kleinen Bruder wieder zu mir heran und lege meine Arme um ihn. Michael drückt sich fest an mich. Ich kann förmlich spüren wie seine Fassade zusammenbricht.

„Ich pack das einfach nicht mehr…“, flüstert er so leise an meinen Hals gelehnt, dass ich ihn kaum verstehe. Erst nach einer Weile lösen wir uns wieder voneinander.

„Warum hast du denn nicht schon längst was gesagt?“

„Was hätte ich denn sagen sollen? Und du bist doch auch froh hier nicht mehr zu wohnen…“

„Was hat das denn damit zu tun, Kleiner? Das heißt doch nicht, dass du alleine bist und das hier alleine durchmachen musst!“, sage ich eindringlich.

„Ich sollte jetzt wohl mal darein gehen. Wartest du hier?“

Michael nickt leicht. Er setzt sich auf die Treppe zum Obergeschoss und umschließt seine angezogenen Knie mit den Armen. Mit glasigen Augen sieht er mich an. Mit einem Mal macht er nicht mehr den Eindruck eines fast achtzehnjährigen, jungen Mannes.

Ich schließe kurz meine Augen und wende mich wieder dem Wohnzimmer zu.
Ich atmete noch einmal kräftig ein, ohne dass es mir bewusst ist.
Als ich die Türe öffne und schnell wieder hinter mir schließe umschließt mich Augenblicklich abermals der Alkoholgeruch.
Meine Eltern sitzen beide auf der Couch. Sie haben noch nicht einmal mitbekommen, dass ich hier bin.
Sämtliche Familienalben und auch lose Fotos liegen verstreut um sie herum.
Wie jedes Jahr.
Doch diesmal stehen auch ziemlich viele leere Bierflaschen herum. Vereinzelt auch Flaschen mit Korn.
Auf dem Tisch und dem Teppich sind etliche eingetrocknete und verklebte Flecke zu sehen.

„Aleksch! Da bischt ja endlich!“, gibt meine Mutter mit schwerer Zunge zum Besten. Sie will aufstehen um mich zu begrüßen. Jedoch schwankt sie augenblicklich so stark, dass sie sich wieder auf das Polster des Sofas sinken lässt.
Auch wenn ich nach Michaels Erzählung schon so etwas erwartet hatte, meine Eltern dann aber selbst so zu sehen, ist ein Schock. Ich ignoriere erst einmal Beide und öffne ein Fenster um frische Luft ins Zimmer zu lassen und wieder klare Gedanken zu bekommen. Erst danach wandte ich mich wieder der Couch zu.

„Was macht ihr da?“, will ich von ihnen wissen, obwohl ich die Antwort schon kenne.

„Die alten Fotosch gucken.“

„Und warum schon wieder?“, frage ich ungehalten.

„Guck ma’ hier, da war allesch noch gut!“ Meine Mutter versucht mit einem Finger auf ein Foto zu zeigen, auf dem ich als Kind im alten Hof spiele.

„Ja, scho wird’sch nie wieder“, mein Vater hat seine Zunge nicht besser unter Kontrolle.

„Vielleicht solltet ihr dann etwas dafür tun, damit es besser wird!“

„Wasch hascht du denn? Schetsch disch zu unsch.“

„Nein!“, entgegne ich sofort. Energischer als ich eigentlich wollte. „Eigentlich bin ich hergekommen, weil ich wusste, dass euch dieser Tag zu schaffen macht. Aber wenn euer bester Freund jetzt Bier mit Klarer ist, bin ich wohl überflüssig und kann ja wieder gehen!“

„Aber was…“ Meine Eltern sehen mich verständnislos an.

„Habt ihr mal an Michael gedacht?“, schreie ich sie mittlerweile an. „Ihr macht ihn völlig fertig! Und Franziska kann ich inzwischen sehr gut verstehen, dass sie sich einen Job weit weg gesucht hat!“

Ich rede mich immer mehr in Rage. „Ihr wollt, dass es besser wird? Dann tut was dafür! Sonst wird es mit Sicherheit immer schlimmer werden!“

„Und das nicht nur für euch“, sage ich etwas ruhiger hinterher. „Ich werde Micha heute mit zu mir nehmen, damit er etwas Ruhe bekommt.
Und wenn ihr euch nicht in den Griff bekommt, verspreche ich euch, dass war das letzte Mal, dass ich hier gewesen bin. Dann könnt ihr den ganzen Tag die alten Fotos angucken ohne gestört zu werden.“

Ohne noch einmal nach meinen Eltern zu sehen, verlasse ich das Wohnzimmer. Die Tür schließe ich sofort wieder hinter mir.
Michael sitzt noch immer so auf der Treppe wie ich ihn verlassen habe und starrt auf die Fliesen unter sich.

„Pack ein paar Sachen zusammen, du kommst heute erst einmal mit zu mir!“

Ich kann gar nicht so schnell gucken wie mein Bruder aufspringt und die Treppe hoch rennt. Von meinen Eltern ist der ganzen Zeit während ich auf ihn warte nichts zu hören. Aber mehr als hoffen, dass sie das Gesagte ernst nehmen, kann ich eh nicht machen.
Keine fünf Minuten später kommt Michael mit seinem Rucksack wieder die Treppe runter gelaufen. Ohne noch ein Wort zu wechseln oder uns von unseren Eltern zu verabschieden verlassen wir unser Elternhaus. Erst als ich die Türe hinter uns ins Schloss ziehe, höre ich ein leises „Danke“ von meinem Bruder.

Die Rückfahrt in die Stadt zu meiner kleinen 1-Zimmer Wohnung am Rand der Altstadt verläuft ebenso schweigend. Es ist bereits achtzehn Uhr als wir vor dem Haus anhalten.
Aufgeregt wie ein Kind zur Einschulung springt Michael im Haus die Steintreppe in den zweiten Stock hinauf wo er vor der Türe auf mich wartet.
In der Wohnung angekommen, läuft er jedoch gleich durch den kurzen Flur in den Wohnraum und lässt sich dort sofort müde auf das breite Bett in der hinteren Ecke fallen. Eine weitere Sitzgelegenheit außer dem Schreibtischstuhl habe ich in meinem Zuhause sowieso nicht stehen.
Eines dieser ausklappbaren Schlafsofas wollte ich beim Einzug nicht haben. Die sehen zwar ganz gut aus, aber ich bin sowieso zu faul so etwas jeden Tag zusammen zu klappen und die Decken wegzuräumen. Und wenn ich in der Nacht von der Arbeit aus der Kneipe komme, will ich auch nicht erst mein Bett aufbauen müssen.

Im Gegensatz zu Michael entledige ich mich erst meiner Jacke und Schuhe. Erst danach folge ich ihm ins Zimmer.

„Willst du noch was Essen?“, frage ich ihn dort.

Nach einem kurzen nicken von Michael machte ich mich auf den Weg in die Küche.
Ein kurzer Blick in den Tiefkühlschrank löst schnell die Frage, was es zu Essen geben wird.
Darin finde ich nur noch eine Fertigpizza.

Aus dem Nebenraum höre ich wie Michael den Fernseher anschaltet und durch die Kanäle schaltet.

Ich schiebe die Pizza erst ein paar Minuten in die Mikrowelle und anschließend noch einmal kurz in den Ofen, damit sie nicht nur heiß und labberig ist, sondern auch noch etwas knusprig wird. Nach langem experimentieren hatte sich das bei mir als schnellste Methode durchgesetzt.
In der Zwischenzeit nehme ich noch zwei Bier aus dem Kühlschrank. Auch wenn mir dabei grade etwas unwohl ist, glaube ich doch, dass Michael jetzt eins gebrauchen kann. Ich öffne sie bereits in der Küche und gehe mit ihnen wieder in mein Wohn-, Schlaf- und Arbeitzimmer.

Michael liegt noch immer in seinen Sachen und mit Schuhen auf dem Bett. Er liegt auf dem Rücken und hält die Fernbedienung des Fernsehers noch immer in der Hand.
Über seine Lippen kommt ein leises schnarchen.

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