9. Erstes Kennenlernen
„Du bist ja schon wach?!“, flüsterte Falco vorsichtig und ging ein paar Schritte Richtung Bett.
Der Junge hatte die Decke bis zu seinem Kinn hochgezogen und Falco konnte sehen dass er mit angezogen Beinen in die hinterste Ecke des Bettes gerutscht war.
„Wo bin ich? Warum liege ich im Bett? Wo sind meine Sachen?“, fragte der Junge mit ängstlicher Stimme und kaum hörbar.
Falco schauderte.
Zwar hatte er sich gewünscht, dass der Junge bald aufwachen und wieder gesund werden würde. Aber als er den Jungen nun so liegen sah und die Angst in seiner Stimme hörte, wusste er gar nicht wie er reagieren sollte. Vorsichtig setzte er sich in den Sessel, der neben dem Bett stand und versuchte den Jungen so aufmunternd wie möglich anzusehen.
„Also…“, begann er vorsichtig an zu erzählen. „…ich bin Falco und habe dich gestern am Morgen total durchnässt in unserer Scheune gefunden. Als wir dich nicht wach kriegten, haben wir unseren Hausarzt Dr. Wagner angerufen, der dich dann untersucht und hierher gebracht hat.“
Der Junge schaute Falco nachdenklich an.
„Wir?“
„Ja … ich … und … Jarek. Jarek hilft zurzeit auf unserem Hof aus. Dr. Wagner sagte, du hast dich stark unterkühlt und brauchst viel Wärme und Ruhe“.
Wieder schien der Junge zu überlegen. Falco hatte den Eindruck, dass der Junge noch etwas sagen wollte, doch es kam kein weiterer Ton über seine Lippen.
„Darf ich dich etwas fragen?“, ergriff Falco deswegen vorsichtig das Wort.
Er blickte dabei den Jungen an und wartete auf dessen Antwort. Nach einiger Zeit schließlich nickte er langsam.
„Wie heißt du?“
Der Junge bedachte Falco mit einem undefinierbaren Blick in die Augen. Doch als Falco den Blick mit einem leichten Lächeln erwiderte, wandte der Fremde seinen Blick hastig ab und betrachtete stattdessen verlegen seine Hände.
Es schien es, als hätte er seinen eigenen Namen vergessen, so angestrengt wie er nachdachte, doch nach ein paar Minuten antwortete er leise:
„Jonas“
„Jonas, ich glaube es ist eine gute Idee, wenn ich Dr. Wagner anrufe, damit er noch mal nach dir sehen kann“
Jonas zuckte zusammen.
„Dr. Wagner ist ein ganz lieber Arzt, du brauchst keine Angst vor ihm zu haben“, versuchte ihn Falco zu beruhigen, dem das natürlich nicht entgangen war.
„Ich kannte ihn schon als ich noch ein kleines Kind war – er ist wirklich super lieb.“
Statt einer Antwort starrte Jonas wie hypnotisiert auf seine Hände. Es dauerte einen Moment, bis er ganz zaghaft nickte.
Falco lächelte ihn an und meinte: „Dann lasse ich dich einen Moment alleine, um Dr. Wagner anzurufen. Ich bin gleich wieder bei dir – okay?“
Dieses Mal nickte der Junge sofort, also stand Falco vorsichtig auf und bedachte Jonas beim Verlassen des Zimmers noch einmal mit einem aufmunternden Blick.
10. Wer ist denn Jonas?
Auf dem Weg in die Küche konnte er hören, dass dort schon jemand arbeitete und als er dort angekommen war, traf er auf seine Mutter. Sie war gerade damit beschäftigt, die Einkäufe auszuräumen. Der ganze Küchentisch stand voll mit Tüten und Lebensmitteln, also konnte sie noch nicht allzu lange wieder zurück sein.
Als sie Falco bemerkte, sah sie auf und lächelte, „Guten Morgen Falco! Hast du gut geschlafen?“
„Jonas ist aufgewacht!“
„Jonas?“, fragte seine Mutter.
„Ja, Jonas! – Du erinnerst dich an den Jungen, den ich gestern gefunden habe?“
Heike konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Natürlich hatte sie gewusst oder zumindest vermutet, wenn Falco meinte.
„Ich wusste nicht, dass er Jonas heißt“, antwortete sie stattdessen.
„Er ist vorhin aufgewacht und völlig verängstigt. Ich habe schon einige Zeit gebraucht, bis er mir zumindest seinen Namen gesagt hat. Und jetzt wollte ich gerade Dr. Wagner anrufen.“
„Das ist eine gute Idee“, erwiderte Heike. „Geh ruhig wieder hoch zu Jonas. Ich werde Dr. Wagner anrufen und ihn bitten, dass er vorbeikommt.“
„Okay“, rief Falco ihr zu und war schon wieder auf dem Weg nach oben.
Leise betrat er das Zimmer, in dem Jonas seit gestern lag und setzte sich wieder in den Sessel. Jonas beobachtete ihn dabei nur ängstlich.
„Meine Mom ist vom Einkaufen zurück, sie ruft Dr. Wagner gerade an“, erzählte Falco.
Es verging einige Zeit, aber Jonas blieb stumm. Als Falco gerade ansetzte, um etwas zu sagen, ging langsam die Tür auf und seine Mutter schaute ins Zimmer.
„Hallo Jonas“, sagte sie und lächelte freundlich. „Dr. Wagner wird gleich hier sein, um noch einmal nach dir schauen. Falco hat es dir bestimmt schon erzählt.“
Jonas nickte.
„Wenn du Hunger hast, kann ich dir gerne Frühstück hochbringen“, wieder lächelte sie Jonas an.
Jonas nickte abermals.
„Gut“, sagte sie. „Deine Sachen habe ich übrigens gestern noch gewaschen, die hängen gerade zum Trocknen auf der Leine. Falco, sei doch bitte so lieb und such für Jonas so lange etwas von dir zum Anziehen heraus. Die Größe sollte ja ungefähr passen.“
Sie lächelte Jonas erneut aber kurz lieb an und schloss danach wieder die Tür.
Wieder war es einige Minuten still. Falco sah zu Jonas, der immer noch auf seine Hände starrte. Um das Schweigen, welches ihm unangenehm war, zu brechen, erzählte er einfach darauf los.
„Dass ich Falco heiße, habe ich ja vorhin schon erwähnt. Vor ein paar Wochen bin ich 16 Jahre alt geworden und ich gehe in die 10. Klasse auf der Realschule. Aber momentan haben wir ja leider Sommerferien.“
Falco machte eine kurze Pause.
„Leider?“, fragte Jonas vorsichtig.
„Ja, leider kann ich in den Ferien meine Freunde nicht sehen, weil sie alle Zelten gefahren sind. Ich wollte eigentlich auch mit, aber ich muss hier auf dem Hof bleiben und meinen Eltern bei der Ernte helfen.“
„Was für ein Hof?“
„Ein Hof, also eher ein Gutshof – mein Papa hat ihn vor ein paar Jahren geerbt und wir sind damals von der Stadt hierher aufs Land gezogen. Er war damals total heruntergekommen und wir haben die letzten Jahre versucht, alles wieder in Ordnung zu bringen.“
Falco nahm die Wasserflasche und schenkte sich ein Glas ein.
„Möchtest du auch etwas trinken?“, fragte er Jonas freundlich.
Als dieser nickte, füllte er auch das zweite Glas und reichte es Jonas. Dieser ergriff das Glas zaghaft und sah Falco dankend an.
„Mein Papa hat damals seinen Beruf aufgegeben und nun bewirtschaften wir die Ländereien. Eigentlich macht es viel Spaß, es ist hier viel besser als vorher in der Stadt“
11. Erste Gespräche
Plötzlich klopfte es an der Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten, wurde sie auch schon geöffnet und Dr. Wagner betrat das Zimmer.
„Hallo – ich bin Dr. Wagner“, begrüßte er Jonas mit ruhiger Stimme. Als er sah, wie verängstigt der Junge in seinem Bett lag, ergänzte er schnell: Du kannst aber ruhig Felix zu mir sagen, wenn du möchtest.“
„Falco, bist du so lieb und ziehst die Gardinen ein wenig auf und lässt uns dann alleine.“
Jonas schaute erst Dr. Wagner und danach Falco an, der bereits aufgestanden war und die Vorhänge zur Seite schob.
Falco bemerkte den beunruhigten Blick natürlich und sagte in einem aufmunternden Ton: „Ich suche dir nur schnell ein paar Klamotten heraus und warte dann vor der Tür. Wenn du möchtest, kannst du rufen und ich bin sofort wieder bei dir.“
Erneut lächelte Falco den Jungen an und verließ dann das Zimmer. Auf dem Flur wartete bereits seine Mutter, die wie angekündigt ein Tablett, auf dem das Frühstück für Jonas angerichtet war, dabei. Da auch sie den Arzt nicht stören wollte, stellte sie es auf den kleinen Tisch vor dem Gästezimmer ab.
„Jonas scheint ja wirklich sehr verängstigt zu sein. Hast du etwas aus ihm herausbekommen?“, fragte sie.
„Nicht viel, eigentlich gar nichts“, antwortete Falco. „Ich habe ihm erzählt, wie ich ihn gefunden habe und wo er jetzt ist. Also, dass er auf unserem Hof ist. Weiter bin ich gar nicht gekommen, weil Dr. Wagner dann schon da war.“
„Das habe ich befürchtet. Als ich ihn vorhin dort im Bett liegen gesehen habe, habe ich mir schon so etwas gedacht. Ich habe mit Felix gerade schon gesprochen, er will auch versuchen, etwas aus ihm herauszubekommen.“
„Dann bin ich ja mal gespannt. Ich werde erst mal was zum Anziehen für Jonas suchen“, meinte Falco und verschwand in Richtung seines Zimmers.
Dort angekommen öffnete er seinen Schrank und blieb unschlüssig davor stehen. Noch während er überlegte, welche Kleidung er für Jonas nehmen sollte, schweiften seine Gedanken wieder ab.
Jonas ging ihm irgendwie nicht aus dem Kopf. Zum einen fühlte er immer noch dieses Kribbeln im Magen, wenn er ihn sah. Ein Kribbeln, welches so neu, so unbekannt für ihn war und mit dem er nicht umzugehen wusste. Immer wieder fragte er sich selbst, was nur mit ihm los war.
In seinem Kopf sah er immer noch, wie verängstigt Jonas im Bett gelegen hatte. Am liebsten hätte er ihn in den Arm genommen, um ihm zu helfen, um ihm Schutz zu geben. Aber er hatte zuviel Angst davor gehabt, dass Jonas diese Geste falsch verstehen könnte und ihn von sich wegstoßen würde.
‚Was ist bloß mit dem Jungen los?‘ fragte sich Falco erneut, ohne jedoch zu einer Antwort zu finden. ‚Warum hatte er durchnässt und ganz alleine in der Scheune geschlafen? Und warum hatte er solche Angst?‘
Eine ganze Zeit lang stand er abwesend vor seinem offenen Schrank und dachte nach. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte sich einfach keinen Reim auf seine Fragen machen. Als plötzlich das Geräusch eines Autos an sein Ohr drang, schreckte er auf und eilte zum Fenster. Von dort konnte er beobachten, wie sein Vater den Wagen einparkte und im Haus verschwand.
Erneut wandte sich Falco seinem Schrank zu, überlegte diesmal nur kurz und nahm eine seiner besseren Jeans heraus, dazu ein passendes Shirt. Dann griff er noch nach frischer Unterwäsche sowie einem Paar Socken und machte sich auf den Weg zurück in den ersten Stock.
Schon von Weitem sah er, dass seine Mutter noch immer vor dem Gästezimmer wartete und fragte erstaunt: „Ist Dr. Wagner immer noch bei ihm?“
Seine Mutter wollte gerade zur Antwort ansetzen, als auch schon die Tür aufging und Dr. Wagner heraus schaute. „Ihr könnt jetzt rein kommen, wenn ihr wollt.“
Heike nahm das Tablett wieder an sich und ging in das Zimmer, gefolgt von Falco mit der frischen Kleidung im Arm.
„Jonas, ich habe dir etwas zum Essen mitgebracht, ich hoffe Kakao ist okay oder trinkst du lieber Kaffee?“, fragte Heike und stellte das Tablett auf dem Tisch.
„Kakao ist in Ordnung“, erwiderte Jonas leise.
„Also, Jonas scheint es soweit wieder besser zu gehen“, fing Dr. Wagner an zu erzählen.
„Er hat die Unterkühlung gut überstanden und ich denke, er wird noch einen Tag etwas kürzer treten müssen. Dass er im Bett bleibt, ist nicht unbedingt mehr erforderlich, aber er soll sich warm halten.“
Der Doktor verabschiedete sich dann noch von Jonas und versprach, in den nächsten Tagen noch einmal nach ihm zu sehen. Falls er sich nicht gut fühlen sollte, sollten sie ruhig anrufen.
„Heike, ich warte gleich noch in der Küche auf dich“, sprach er an Falcos Mutter gewandt und verließ den Raum.
12. Alles vom Anfang…
„Jonas, ich habe es vorhin ganz vergessen.“, meinte Heike fast verlegen zu dem Jungen, „Wie du bestimmt schon mitbekommen hast, bin ich Falcos Mutter. Du kannst aber gerne Heike sagen.“
Sie lächelte ihn dabei freundlich an. „Ich gehe noch runter in die Küche, um Felix auf Wiedersehen zu sagen.“ Nach einem Zwinkern in Falcos Richtung, ging auch sie aus dem Zimmer.
Ich dagegen legte die Sachen auf das Sofa und setzte mich wieder in den Sessel.
„Geht es dir besser?“, fragte ich Jonas
„Ja, etwas. Dr. Wagner … Felix war ganz nett“, antwortete dieser und er schien nicht mehr ganz so ängstlich zu sein.
Auf alle Fälle brachte er nun schon mehr als drei Worte hervor. ‚Das ist ja schon mal ein Anfang‘, dachte sich Falco.
„Ach, ich habe dir ein paar Sachen von mir mitgebracht, ich hoffe die passen dir einigermaßen. Wir haben ja eine ähnliche Statur.“
Bei diesen Worten wurde Falco etwas rot im Gesicht. Hatte er Jonas doch schon fast nackt gesehen und Falco war sich sicher, dass die Kleidung passen würde. Aber Gott sei dank schien Jonas das nicht bemerkt zu haben.
„Ich würde vorschlagen, du ziehst dich erst mal um. Gleich nebenan ist das Bad, da kannst du dich duschen und eine neue Zahnbürste liegt auch schon bereit. Ich bin mal kurz unten und komme dann wieder hoch.“
„Duschen ist eine gute Idee. Und danke Falco, für die Sachen“, sagte Jonas.
Zum ersten Mal schaute er mich nicht mehr so verängstigt an und mir war so, als ob ich ein kurzes Lächeln auf seinen Lippen gesehen hätte.
„Bis gleich“, rief ich noch und ging dann runter in die Küche.
Dort saßen meine Eltern noch mit Dr. Wagner zusammen, der gerade von Jonas erzählte.
„… noch ein paar Tage Ruhe und er wird wieder fit sein. Was mir aber viel mehr Sorgen macht als sein physischer Zustand ist seine seelische Verfassung. Er war erst sehr schweigsam und es hat mich einige Anstrengungen gekostet, bis er mir etwas erzählt hat. Leider hat er mir auch noch nicht alles erzählt, aber *was* er erzählt hat, ist schon sehr heftig.“
„Angefangen hat alles vorgestern Nachmittag, da ist er…“
Fortsetzung folgt…