Blau – Teil 2 – Déjà-vu

Am nächsten Morgen weckt mich das leise Klingeln meines Weckers. Meist brauche ich keine große, oder besonders laute Stimulation um aufzuwachen. Mit einem schnellen Griff schalte ich ihn aus und hoffe, dass Michael nicht davon wach geworden war. Doch der liegt noch immer schlafend neben mir. Außer ein paar schmatzenden Lauten, die er von sich gibt, rührt er sich nicht.
Umständlich krieche ich aus dem Bett.
Das ist halt das Problem wenn das Bett in einer Ecke an der Wand steht. Doch normalerweise stellt sich dieses Problem für mich nicht, da ich ja eh alleine schlafe. Abgesehen von mir ist mein kleiner Bruder der einzige, der bisher in diesem Bett geschlafen hat.
Bevor ich mit diesen Gedanken noch in Depressionen verfalle, mache ich mich auf den Weg ins Bad. Bereits nach einer halben Stunde verlasse ich es frisch geduscht wieder. Trotzdem habe ich nur noch Zeit schnell etwas in der Küche zu essen bevor ich auch schon los muss.
An der Wohnungstüre halte ich jedoch kurz inne.
Ich beschließe Michael noch eine kurze Nachricht zu schreiben. Ich ziehe schnell ein Blatt aus meinem Drucker und schreibe, dass er sich heute lieber ausruhen und nicht zur Schule gehen soll; und dass ich am Nachmittag wieder zusammen mit ihm zu unseren Eltern fahre um zu sehen wie es dort aussieht.
Erst als ich den Zettel auf den Tisch in der Küche platziert habe, verlasse ich meine Wohnung.

Zwanzig Minuten und eine kurze Straßenbahnfahrt später sitze ich mit Ute in der ersten Vorlesung des Tages.

„Guten Morgen meine Damen und Herren.“ Wie jedes Mal betritt Professor Bernhardt den Saal mit den gleichen Worten. „Wie ich hörte, hatten einige von Ihnen gestern wieder ein interessantes Seminar bei Frau Dr. Halbach.“

Es ist schon seit Jahren ein offenes Geheimnis an der Universität das sich die beiden nicht ausstehen können.
Und während er dies sagt, bin ich mir sicher, dass er mich dabei anlächelt.
Zu Professor Bernhardt hatte ich, im Gegensatz zu den meisten anderen Studenten, von Anfang an einen guten Draht. Die meisten halten ihn für ziemlich verschroben, was er zugegebener Maßen auch ist.
Mittlerweile hat er sich sogar zu meinem Mentor entwickelt, zu dem ich jederzeit kommen kann, wenn ich Fragen oder Probleme habe. Oder wenn einer von uns beiden einfach nur reden will.
Er weiß auch von meinem Badeunfall. Und neben Ute ist er der einzige, der weiß wie sehr es mich noch immer beschäftigt.

Ich kann mich noch heute an jedes Wort dieser Unterhaltung erinnern.
Wir saßen in seinem dunklen Büro. Es hatte zwar große Fenster, dafür aber auch alte Holzvertäfelungen, die fast das gesamte Licht schluckten. Dazu kamen alte Holzregale, in denen sich die Böden unter der Last der Bücher durchbogen.
Professor Bernhardt saß in einem Tweed-Anzug wie Freuds Reinkarnation hinter seinem antiken Schreibtisch.
Ich hatte es mir in einem Sessel, hinter einem kleinen Tisch, wo ich einige Ausdrucke für ihn sortieren sollte, bequem gemacht.

„Warum haben Sie eigentlich die ganze Zeit Ihre Pfeife in der Hand, wenn Sie sie doch nicht anmachen?“, fragte ich ihn damals.

„Wie Sie vielleicht wissen, darf mit den neuen Verordnungen in Öffentlichen Gebäuden nicht mehr geraucht werden“, sagte er hinter einer dampfenden Tasse Tee. Er nahm einen Schluck und stellte den Tee wieder auf die Untertasse. Dann griff er wieder bedächtig langsam nach seiner Pfeife, die er kurz in einen eigentlich nicht benutzten Aschenbecher gelegt hatte, und drehte sie in seiner Hand.

„Ich meinte eher warum Sie Ihre Pfeife trotzdem immer dabei haben.“

Er sah mich an und schien eine Weile nachzudenken.
„Sie sind der erste, der mich dies fragt“, sagte er ohne seine Augen von mir zu lösen.
Ich versuchte in dieser Zeit zu erahnen was er dachte. Seine Augen waren eigentlich das einzige was man von seinem Gesicht sehen konnte. Der gesamte untere Teil war durch einen dichten, grauen Bart verdeckt, der fast bis auf seine Brust reichte.

„Wahrscheinlich weil sie mir durch ein Gesetz nicht verbieten können an einem Stück Holz zu lutschen. Und meins sieht nun einmal aus wie eine Pfeife“, fuhr er mit blitzenden Augen fort.

Das war für mich der Augenblick, in dem ich wusste, dass ich mit ihm reden kann.
Und das Tat ich dann auch.

„Das ist interessant“, sagte er eine halbe Stunde später, nachdem ich das Wichtigste aus meinem Leben vor ihn ausgebreitet hatte. Später fuhr er mit seiner dunklen, rauchigen Stimme fort, „aber keineswegs ungewöhnlich. Sie hatten eine Grenzerfahrung, die mit Sicherheit nicht angenehm war. Sondern schmerzhaft und Angst einflößend.
Sie sind fast gestorben.
Und dann gab es mit einem Mal etwas was Sie faszinierte und was vielleicht sogar schön war. Ich denke einfach, Sie haben mit dieser Erinnerung alle anderen überlagert um nicht an die Schmerzen erinnert zu werden.
Das ist wie gesagt durchaus nicht ungewöhnlich.
Aber mehr werde ich jetzt nicht dazu sagen. Das sollte jemand machen bei dem Sie keine Prüfungen ablegen wollen.“

Ich sortierte die Blätter weiter und fragte mich wie man beim drucken von Texten so ein Chaos anrichten konnte.

„Und dass Sie sich zu Männern hingezogen fühlen, hat mit Sicherheit auch nichts damit zu tun“, sagte er nach einer Weile.

Er war der erste, der wusste dass ich schwul bin, und das, bevor ich mich bei irgendjemanden geoutet hatte.

Ich schüttle diese Erinnerungen von mir ab und höre wieder auf das was Professor Bernhardt grade im Vorlesungssaal sagt.

„Bei mir geht es heute um die Große Kunst des Verdrängens. Was, unter uns gesagt, auch viel mehr Menschen machen, als ihr Erlebtes in Psychosen auszuleben und zu verarbeiten“, mit diesen Worten legt er seine Pfeife aus der Hand mit der er schon die ganze Zeit herumfuchtelt.

„Ich weiß wirklich nicht warum du ihn so magst“, flüstert mir Ute zu bevor Professor Bernhardt seine Sicht der Dinge darlegte.

Anderthalb Stunden und etliche beschriebene Din-A4 Seiten später verlassen wir wieder den Vorlesungssaal. Diesmal ist es Ute, die voraus rennt und es nicht abwarten kann ins Freie zu kommen.
Weitere vier Stunden später haben wir dann unseren Uni-Alltag hinter uns.

„Sehen wir uns heute Nachmittag bei Paolo?“, frage ich sie als wir in der Sonne auf dem Hof stehen.

„Kommst du nicht gleich mit?“

„Ich will erst mit Michael wieder zu unseren Eltern.“

„Okay, dann erst heute Nachmittag. Bis dann“, verabschiedet sich Ute und macht sich auf den Weg zu ihrer nächsten Capuccino-Dosis.
Ich selbst mache mich wieder auf den Weg zu meiner Wohnung, die ich nach einer kurzen Fahrt mit der Straßenbahn auch erreiche.
In der Wohnung liegt, im Gegensatz zu sonst wenn ich aus der Universität komme, ein Duft von Tomate und Basilikum. Ich bekomme augenblicklich Hunger als ich durch die Tür trete. In der kleinen Küche steht Michael vor dem Ofen und beobachtet dessen Inhalt.

„Was ist denn da drin?“

„Ein Auflauf!“

„Ich hatte genug Sachen für einen Auflauf?“

„Sicher, ich musste nur etwas suchen.“

Ich wasche mir kurz die Hände und decke den kleinen Tisch, an dem nur zwei Stühle Platz haben. Der Duft der Kräuter verstärkt sich noch mehr, als Michael die Glasform aus dem Ofen holt und ein Stück des Auflaufs auf jeden Teller legt.

„Wow, riecht das gut“, lobe ich sein Essen. Ich puste leicht auf meine Gabel und kann es kaum erwarten, das erste Stück zu probieren. „Ich wusste gar nicht, dass du so was kannst.“

Michael stochert in seinem Stück herum. „Ich hatte viel Zeit zum üben.“

„Wie meinst du das?“

„Die letzten Wochen hab ich eigentlich immer das Essen gemacht. Und vorher auch ab und zu.“

Geschockt sehe ich in an. „Ich versteh noch immer nicht, warum du nichts gesagt hast!“

„Was hätte das denn gebracht?“

„Das kannst du vorher nicht wissen. Wir werden doch auch nachher erst sehen, ob mein Besuch gestern etwas gebracht hat.“

„Und wenn nicht?“

„Dann finden wir eine andere Lösung“, versuche ich aufmunternd zu sagen. Ob es mir gelingt, kann ich nicht sagen; wie diese Lösung aussehen sollte, weiß ich selbst nicht.
Den Rest des Essens bringen wir schweigend hinter uns. Zum Schluss lassen wir sogar den Abwasch stehen und verlassen meine Wohnung.

Mit meinem Auto fahren wir wieder zu unseren Eltern.

Michael strapaziert während der gesamten Fahrt meine Nerven, indem er mindestens alle zehn Minuten die CD wechselt um dann im Schnelldurchlauf einzelne Passagen anzuhören. Da ich jedoch weiß, dass es mit seinen Nerven grade auch nicht zum Besten steht, versuche ich es so gut es geht zu ignorieren.
Als wir eine Stunde später vor unserem Elternhaus anhalten, haben wir nicht ein einziges Lied komplett gehört. Nebeneinander sitzen wir im Auto und sehen auf das Haus.

„Was machen wir, wenn es so ist wie gestern?“

„Ich habe keine Ahnung“, gebe ich ehrlich zu.

„Und ich dachte große Brüder müssten so etwas wissen“, versucht Michael zu scherzen. Doch seine Stimme klingt ein klein wenig höher als gewöhnlich.

„Lass uns erst einmal rein gehen. Es bringt nichts uns vorher Gedanken zu machen.“

Michael steigt aus dem Wagen und geht den Gartenweg entlang. Ich folge kurz hinter ihm.
Als er die Haustüre öffnet, bleibt er kurz stehen. Er dreht sich wieder zu mir um, in seinem Gesicht hat er einen fragenden Ausdruck.
Erst als er einen Schritt zu Seite tritt und ich ihm in den Flur folge weiß ich was er gemeint hat. Im Haus liegt ein Geruch, der irgendwo zwischen Chlor und Zitrone liegt.

„Oh hallo Jungs, da seid ihr ja wieder.“ Unsere Mutter kommt mit Schürze aus der Küche. In ihren mit Gummihandschuhen bedeckten Händen hält sie einen Eimer und eine Scheuerbürste. „Ich wollte grade den Teppich im Wohnzimmer reinigen.“

Michael und ich stehen mit offenen Mündern im Gang. Keiner von uns ist grade in der Lage etwas zu sagen.

Etwas verlegen lächelt sie uns an. „Euere Reaktion zeigt mir ja schon, wie schlimm wir wirklich waren. Ich möchte mich bei euch entschuldigen.“

„Wir möchten das“, unterbricht sie unser Vater der nun ebenfalls zu uns kommt. „Und besonders bei dir, Michael. Wir haben es dir wohl wirklich nicht leicht gemacht.“

„Oh…Okay…“, kommt es von meinem Bruder, der, wie auch ich, noch immer von der hundertachtzig Grad Wende unserer Eltern völlig sprachlos ist.

„Und…ähm…“, unsere Mutter zögert kurz bevor sie weiter spricht. „Wir wollten fragen, ob Michael heute noch einmal bei dir schlafen kann?“

„Wir wollen dich nicht los werden; aber neben dem ganzen aufräumen haben wir auch viel zu reden“, wirft unser Vater sofort ein, bevor einer von uns dies missverstehen konnte.

„Von mir aus gerne“, bestätige ich.

„Klasse! Ich komm dann am besten gleich von meinem Judotraining bei dir vorbei“, freut sich Michael.

„Das geht leider nicht. Ich muss heute arbeiten. Du kannst aber danach ins „Eck“ kommen und den Schlüssel haben oder auf mich warten.“

„Das ist ja noch besser, dann kann ich dich ja als Gast herumscheuchen“, lacht mein kleiner Bruder.

„Übertreib es bloß nicht! Ich kann dich auch rauswerfen lassen!“, rufe ich ihm hinterher als er bereits die Treppe zu seinem Zimmer hoch rennt.

„Und was habt ihr jetzt vor?“, frage ich meine Eltern.

„Das haben wir noch nicht ganz geklärt“, höre ich von meinem Vater. Sie stehen beide etwas verloren vor mir und mir wird klar, dass sie es wirklich ernst meinen und viel zu bereden haben.
Ich störe dabei genauso wie Michael.

„Ähm… also… ich wird dann mal wieder los.“

„Ich freu mich, dass ihr neu anfangen wollt“, sage ich noch bevor ich das Haus wieder verlasse und meine Eltern etwas erwidern können.

Die Benzinrechnung für diese Woche verdrängend steige ich wieder in mein Auto.
Wieder eine Stunde später betrete ich wieder meine Wohnung. Ich habe nur noch Zeit, um noch einmal kurz zu duschen und mich dann umzuziehen. Ich entscheide mich für eine enge Jeans und ein schwarzes, ärmelloses Shirt das ziemlich eng sitzt.
Mit meiner Jacke unter dem Arm laufe ich zur Straßenbahn. Ich will Ute nicht zu lange warten lassen, da sie unausstehlich wird, wenn sie alleine länger als zehn Minuten alleine in einem Lokal sitzt.
Zwei Stationen weiter verlasse ich die Bahn wieder, laufe eine kurze Treppe hinauf und die Straße zu „Paolo“ weiter. Erst kurz davor werde ich langsamer und gehe den Rest des Weges um wieder zu Atem zu kommen. Vor den schmalen Schaufenstern angekommen, habe ich mich auch wieder ganz gut erholt.
Ein kurzer Blick in das Innere, auf unseren Stammplatz, lässt mich jedoch sofort bereuen, dass ich mich überhaupt beeilt habe.
Ute ist nicht alleine. Bei ihr am Tisch sitzt ihr Freund Franco.
Mit Franco ist Ute jetzt seit fast einem halben Jahr zusammen. Ursprünglich kommt er aus Argentinien, lebt mit seinen Eltern, die zum Botschaftspersonal gehören, aber schon seit einigen Jahren in Deutschland. Seit zwei Jahren studiert er an unserer Universität Politwissenschaften.

„Hallo ihr beiden“, begrüße ich sie.

„Ah! Der Zweitmann ist auch endlich da“, bekomme ich von Franco zu hören.

„Da muss ich dich leider enttäuschen“, entgegne ich, während ich die Karte, die ich eigentlich auswendig kenne, studiere. „Das, was Ute und mich verbindet, geht weit über ein gewöhnliches, sexuelles, rein-raus Verhältnis hinaus.
Daher bist mit Sicherheit du der Zweitmann.“

Ute zwinkert mir einfach nur zu.
Franko dagegen bringt seine Kaffeetasse zum Mund und nuschelt undeutlich über den Rand, dass sich nach etwas anhört wie „Frauen!“, „was mach ich überhaupt hier“ und „da können echte Männer ja einpacken“.
Unser Verhältnis war schon immer recht ambivalent. Aber meist kamen ganz gut miteinander zurecht.

„Wie war eigentlich das Treffen mit deinen Eltern?“, fragt Ute.

„Es war erstaunlich. Sie waren wie ausgewechselt.“

„In wieweit?“

„Na ja, es war kein Alkohol mehr zu sehen, sie waren am saubermachen und sie wollten sogar alleine sein und haben mir zu verstehen zu geben, dass ich erst einmal gehen soll.“

„Sie wollten, dass DU gehst? Dann meinen sie es wohl wirklich ernst.“

„Das denk ich auch.“

„Und wenn ihr irgendwelche Hilfe braucht…“

„Ich weiß“, unterbreche ich sie mit einem Lächeln.

„Und verrätst du uns, warum du sich so aufgetakelt hast?“, wechselt Ute gleich wieder das Thema. „Du läufst doch sonst nicht in so knappen Sachen herum.“

„Ich muss nachher noch arbeiten.“

„Und deshalb machst du dich zurecht als wolltest du jemanden aufreißen?“, fragt Franco weiter.

„Das bringt mehr Trinkgeld.“

„Nicht wirklich, oder?“, will Ute vom mir wissen.

„Doch natürlich. Hier gibt Franco Giulia ja auch immer mehr Trinkgeld als Nina.“

„Was hat denn das damit zu tun?“ Ute stand scheinbar völlig auf dem Schlauch, was für sie ziemlich ungewöhnlich war.

„Giulia hat die größere Oberweite“, erkläre ich.
Franco hat wenigstens den Anstand etwas verlegen zu sein, während Ute nicht so recht wusste was sie damit anfangen soll.

Grade als sie scheinbar etwas sagen wollte, lenkt Franco vom Thema ab. „Wenigstens wissen wir jetzt was wir heute Abend machen.“

„Stimmt das ist eine gute Idee!“, begeistert sich auch Ute.

„Und das wäre“, will ich wissen.

„Wir begleiten dich…“ „…und gucken dir beim Arbeiten zu“, kommt es von beiden gemeinsam.

„Oh nein! Bitte nicht. Michael wollte auch ins „Eck“ kommen, weil er heute wieder bei mir schläft. Und du bist mit Abstand die schlimmste Kundin, die ich kenne“, versuche ich Ute davon abzubringen.

„Und wenn ich keinen Capuccino bestelle?“

„Das hilft nicht! Du darfst nur keinen Kakao haben wollen!“, empöre ich mich bei der Erinnerung an ihre „Streuergeste“.

„Jetzt tu doch nicht so geschockt. Was glaubst du denn wie Franco und ich uns kennen gelernt haben?“

Fragend sehe ich von einem zum Anderen.

„Ich hab damals für einen Tag in einem Café ausgeholfen, weil jemand krank war. Und was soll ich sagen, ich hab es falsch verstanden!“, erklärt Franco breit grinsend.

„Nee oder? Also…ihr… du hast…“ stammle ich herum.

„Du hattest Recht Alexander kann man wirklich leicht in Verlegenheit bringen.“

„Und er sieht dabei so niedlich aus“, setzt Ute noch hinter her.

Resigniert lasse ich meinen Kopf auf die Tischplatte fallen und versuche das Kopfkino wieder abzustellen. Ute und Franco tun jedoch alles, damit dies nicht funktioniert. Zusammen schwelgen beide in Erinnerungen und ich bin froh bisher nie gefragt zu haben wie sie sich kennengelernt haben.
Nach einer Weile höre ich nicht mehr auf das was sie sagen.
Stattdessen driften meine Gedanken wieder in meine eigene Vergangenheit ab.
Der Himmel, der über den Dächern zu sehen ist, ist fast so Blau wie vor neunzehn Jahren.
Vor meinen Augen sehe ich ihn wieder.
Seine Blauen Augen.
Wie er sich über mich beugt.
Ich glaube sogar fast ihn riechen zu können.
Aber vor allem seine Augen.
Nicht einmal seine Jeans und sein enges schwarzes T-Shirt können von seinen Augen ablenken.

Verwirrt schließe ich mehrmals meine Augen und öffne sie wieder. Irgendwas stimmte mit dieser Erinnerung nicht.
Verwirrt konzentriere ich mich wieder auf die Gegenwart. Lasse meine Augen über den Platz gleiten.
Wie immer hetzten viele Menschen über das Pflaster. Die meisten einfach nur auf dem Weg von der Einkaufstraße zu einem nahe gelegenen Parkhaus.
Doch in der Mitte des Platzes steht ein junger Mann. Zumindest soweit ich sehen kann, dass er jung ist. Er hat mir den Rücken zugedreht und scheint jemanden zu suchen. Immer wieder wendet er seinen Kopf von einer Seite zu anderen.
Was mich jedoch erstaunt ist, dass er eine dunkelblaue Jeans trägt und ein enges schwarzes T-Shirt dazu. Die Gleichen Sachen die ich grade in meinem Tagtraum gesehen habe.
Seine dunkelbraunen Haare sind kurz geschnitten. Auffällig sind jedoch vor allem seine Silber-schwarzen Turnschuhe, die einen Schnitt haben wie ich ihn noch nie gesehen habe.

Noch immer verwirrt hebe ich meinen Kopf von der Tischplatte und starre weiter aus dem Fenster.

„Ist alles in Ordnung?“, fragt mich Ute. Doch ich höre sie nur wie durch Watte. Immer noch starre ich nur auf den Fremden, der sich noch immer umsieht.
Nur langsam dreht er sich zu mir. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich endlich sein Gesicht sehen kann.
Und dann sehe ich sie.
Es trifft mich ein Schlag.
Aber auch der Entfernung bin ich mir sicher, dass dies die gleichen blauen Augen sind, die ich vor neunzehn Jahren gesehen habe.

Mit einem Schrei springe ich von meinem Stuhl auf.

„Das ist er!“

Ute lässt vor schreck ihren geliebten Kakaostreuer fallen, als ich meinen Stuhl umschmeiße und zur Tür renne.
Ich glaube, dass mir Ute etwas zuruft und mir folgt.
Ganz sicher bin ich mir jedoch nicht, da ich mich nicht umdrehe.
Ich stoße die Türe auf, die mit einem Knall an einen der Blumenkübel stößt, der neben dem Eingang steht. Mit einem Scheppern zerplatzt dieser und die Erde ergießt sich auf den Gehsteig.
Doch das alles bekomme ich nur am Rand mit. Meine ganze Aufmerksamkeit gilt dem Fremden, der durch den Lärm nun auf mich aufmerksam geworden ist.

„He! Du!“, rufe ich ihm zu. Doch er steht nur weiter auf dem Platz und sieht mich verwundert an während ich weiter auf ihn zu renne.
Nur noch zehn Meter bin ich von ihm weg als er sich plötzlich umdreht und selbst anfängt zu rennen.
Ich folge ihm zu einer der Straßen die von Platz wegführen. Als ich sie erreiche, ist er schon ein ganzes Stück weiter.
Er ist erheblich schneller als ich.
Ich renne ihm weiter hinter her und versuche so gut es geht mit seinem Tempo mitzuhalten.
Nach hundert Metern biegt er in eine kleine Gasse auf der rechten Seite ein, die in die verwinkelte Altstadt führt.
Ich versuche noch schneller zu laufen.
In diesen Gassen kann er mich sonst schnell abhängen.
Hinter mir lasse ich eine fluchende Menschenmenge zurück die ich entweder angeschrienen, habe damit sie zu Seite gehen, oder einfach angerempelt habe.
An der Gasse abgekommen, greife ich nach dem Regenrohr, halte mich daran fest um die Kurve zu bekommen.
Ich sehe ihn grade noch in eine Gasse auf der Linken Seite laufen.
In der kleinen abschüssigen Straße werde ich immer schneller und habe schließlich mühe die Füße Richtig voreinander zu setzten.
Kurz vor der Kreuzung rutsche ich dann auch mit meinen Schuhen über das Pflaster weil ich eigentlich gar nicht langsamer werden will. Mit einer Mischung aus rutschen und laufen biege ich dann auch in die nächste Gasse.
Und wieder sehe ich ihn nur noch um eine Ecke verschwinden.
Auch diese Straße verläuft weiter nach unten und ist sogar noch steiler. Nach der Hälfte muss ich notgedrungen langsamer werden, da über die komplette Breite der Gasse eine Stufen verlaufen.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend renne ich auch sie herunter.
Nach nicht einmal hundert Metern habe ich dann die Gasse erreicht.
Als ich um die Ecke laufe, brauche ich etliche Meter um zu begreifen.
Ich bin in einer kurzen Sackgasse.
Und sie ist völlig leer.
Die Wände der Häuser haben keine Türen oder Fenster.
Die Straße war wahrscheinlich zum erreichen des Hinterhofs gedacht. Doch nachdem in einer angrenzen Straße eine Neubau errichtet worden war, endete die Gasse vor einer hohen Betonwand.
Unsicher sah ich mich um.
Es gab nichts, wo man sich verstecken konnte.
Kein Kellerfenster durch das man hätte klettern können.
Die Gasse war leer.

Ein klingeln riss mich aus meinen Gedanken.
Es dauerte eine weile bis ich realisierte, dass dies mein Handy war. Ich zog es aus meiner Jeans uns sah dass es Ute war.

„Wo bist du?!“, höre ich sie direkt am anderen Ende.

„Irgendwo in der Nähe des Flusses, glaub ich.“

„Kannst du dir vorstellen wie sauer Paolo ist? Warum bist du überhaupt weggerannt?“

„Ich hab ihn gesehen. Er war es.“

„Du weißt, dass das nicht sein kann!“

„Das war er!“, bestehe ich weiter auf meiner Meinung.

„Dass kann nicht sein. Er war doch höchstens so alt wie du selbst. Wie soll er dich dann vor neunzehn Jahren gerettet haben?“, sagt Ute betont ruhig.

„Ich weiß. Aber er war es“, beharre ich weiter, bevor ich das Gespräch einfach beende.

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