Dienstreise ins Glück

Es gab Zeiten, in denen der Zivildienst 13 Monate dauerte. 1997 gehörte dazu. In dieser Zeit spielt die folgende Geschichte. Genauer gesagt – in einem winzigen Zeitraum innerhalb dieses verlängerten Jahres der Zivizeit.

Auch diese Geschichte beruht in Ansätzen auf wahren Begebenheiten – die Zivildienstschule zum Beispiel gibt es wirklich, auch wenn der Ortsname ein bisschen verfremdet ist. Der Personen-Widererkennungswert allerdings liegt bei null, Zufälle ausdrücklich ausgenommen, aber die sind ja nicht beabsichtigt.

Ich war in einem kirchlichen Krankenhaus auf der Station für Inneres untergebracht, was für die Story nicht für Belang ist, aber wenigstens erwähnt werden sollte. Übrigens muss niemand denken, dass in einer kirchlichen Einrichtung dieser Art in jedem Krankenzimmer drei Kruzifixe installiert sind und der Pfarrer die Operationen durchführt. Ärzte, Patienten, Krankenschwestern und –brüder sind normale Menschen „wie du und ich“, lediglich die Verwaltung wird von der Institution gesteuert, die an höhere Mächte glaubt.

Ich hatte genügend Zeit, in den ersten zehn Wochen meines Dienstes auf Station in alle alltäglichen Prozesse auf einer solchen Station hineinzuschnuppern, wobei das Wort schnuppern in manchen Fällen durchaus wörtlich zu nehmen war. Von der Betreuung von Pflegefällen über das Managen einer Stationsküche bis hin zum hausinternen Patiententransport reichte die Bandbreite der Tätigkeiten. Hey, eigentlich könnte darüber ein extra Werk verfasst werden.

Nachdem ich also die ersten zweieinhalb Monate abgeleistet hatte, stand mein Einführungslehrgang auf dem Programm. Ein Dienstausflug der Kategorie äußerst sinnlos: In der bereits absolvierten Zeit war ich nun wirklich in alles wichtige mehr als eingeführt, aber den gesetzlichen Anforderungen muss schließlich Genüge getan werden.

Der zentrale Anlaufpunkt für Zivis am Anfang ihrer Karriere (na ja, Anfang…) war die Zivildienstschule im brandenburgischen Schlöhne. Da es bei einem Krankenhaus mit fünf Etagen und angrenzendem Altenheim nicht nur einen Wehrersatzdienstleister gibt, versuchte ich, bei den Kollegen, die dieses Abenteuer schon hinter sich hatten, Informationen rund um diese Reise zu erhaschen.

Interessant war, dass die Kollegen meines Zivi-Jahrganges ihren Dienst zwar einen Monat später angetreten hatten, der Einführungslehrgang bei ihnen aber bereits komplett absolviert war. Carsten, den ich schon sehr lange aus meiner Schulzeit kannte und der im zum Haus gehörenden Altersheim Dienst tat, berichtete mir, das die Zivildienstschule vom Ort Schlöhne selbst rund zwei Kilometer entfernt liegen würde. Schlöhne selbst, so warnte er mich vor, sei mit viel Wohlwollen als ruhiges Dorf zu bezeichnen. „Die Phrase „tote Hose“ hat dort ihren Ursprung“, erklärte Carsten nach seiner Rückkehr in die Zivilisation. Er hatte direkt eine Woche vor mir das Vergnügen, zu diesem Lehrgang delegiert worden zu sein. Die Zivildienstschule selber – mitten im Wald, ein abgeschotteter Gebäudekomplex. Aber, seinen Spaß würde man trotzdem haben. Wenn man improvisieren könnte.. Soviel zum Bericht vom Carsten. Na dann – rein ins Dorf – Vergnügen im Wald.

Zum besseren Verständnis: 1997 war es alle andere als selbstverständlich, mit einem Handy in der Tasche rumzulaufen, und da ich zu dieser Zeit trotz meiner 20 Jahre aus gewissen Gründen vorübergehend ohne Führerschein war (wer sein Geld schon mal mit Pizza-Taxi-Fahren verdient hat, weiß, was ich meine!), würde meine Mobilität vor Ort äußerst eingeschränkt sein.

Immerhin: Rund 200 Zivis, natürlich alle männlich, fünf Tage lang in einem Gebäudekomplex untergebracht – es würde sich der ein oder andere netten Anblick bieten, ebenso wie vielleicht die ein oder andere Gelegenheit. Wenn die bekannte Zehn-Prozentregel griff, würde es ca. 19 weitere Leute geben, denen es überhaupt nichts ausmachen würde, mal eine Woche keine weiblichen Wesen vors Auge zu bekommen. Gelegenheit für mich, eventuell das Glück meines Lebens zu finden. Allerdings befanden sich meine Hoffnungen auf einer Skala von null bis 100 im unteren einstelligen Bereich.

Pünktlich Montag früh zum angeordneten Abreisetermin stand ich am heimischen Hauptbahnhof und wartete, ob nicht vielleicht andere Reisende aus meiner Heimatstadt so aussehen würden, als müssten sie eine Woche auf einem isolierten Grundstück im Grünen zubringen. Nein.

Nach 45 Minuten Fahrt hielt der Nahverkehrszug in Würmersfelde. Einen der zusteigenden Passagiere hatte ich sofort im Verdacht, dass gleiche Reiseziel wie ich zu haben. Er setzte sich direkt auf die gegenüberliegende Sitzbank. Nachdem der Zug den Bahnhof verlassen hatte, fragte er mich sofort: „Auch nach Schlöhne?“. Ich nickte, und augenblicklich war der Bann gebrochen. Mein neuer Bekannter begann sofort, wie ein Wasserfall zu erzählen. Unter anderem erfuhr ich, wo er seinen Zivildienst verrichtete, wo, wann und wie er sein Abitur erreicht hatte und warum seine Freundin ihn hatte sitzen lassen. Den Grund allerdings konnte ich mir bei seiner fesselnden Art zu erzählen auch selbst an zehn Fingern ausrechnen: die Dame hätte taub sein müssen, um es länger mit ihm auszuhalten. Das mich vor allem dieser Fakt zu hundert Prozent null interessierte, band ich ihm nicht auf die Nase – außerdem hatte ich überhaupt keine Gelegenheit dazu.

Nachdem ich bestens über ihn informiert war, gab ich notgedrungen einige stichpunktartige Informationen über mich heraus, wobei ich den einen oder anderen Fakt für mich behielt.

In Fellendorf mussten wir umsteigen, hatten aber fast eine Stunde Aufenthalt. Das Wetter spielte prima mit, grau in grau, leichter Westwind sprühte uns feinste Regentröpfchen ins Gesicht. Außerdem erweckte der Bahnhof dringend den Verdacht, von diversen politischen Umwandlungen verschont geblieben zu sein. Nachdem wir ausgekundschaftet hatten, wo unser Anschlusszug abfahren würde, begaben wir uns auf die Suche nach einem Kiosk. Tatsächlich entdeckten wir eine Möglichkeit, unseren Kaffeedurst zu stillen.

Mein Würmersfelder Bekannter wollte unbedingt noch irgendwelche Zeitungen mitnehmen. Im hinteren Foyer des Etablissements entdeckte er dann auf einem Tisch eine Anzeigenzeitschrift, in der er sofort lebhaft zu blättern begann, ganz zum Unmut der Kiosk-Inhaberin. „Wollen sie bitte die Zeitung bezahlen, ehe sie sie lesen?“, erkundigte sich unwirsch die Dame. „Aber die lag doch dort hinten auf dem Tisch!“, versuchte mein sparsamer Kompagnon sich zu rechtfertigen. „Da haben sie ja überhaupt nichts zu suchen!“, klärte uns die Dame auf. Zähneknirschend zahlte er das Blatt, um Lektüre für die weitere Zugfahrt zu haben. Ich knirschte nicht, vielleicht hätte ich dadurch meine Ruhe.

Wir begaben uns zu einer Wartehalle, deren inneres und äußeres Aussehen einen imposanten Eindruck machte. Von außen sah sie aus, als hätte schon König Barbarossa Unterschlupf gesucht. Die Wände im Inneren glichen einer Kontaktbörse genauso wie einer politischen Diskussionsbühne, eine Art festmontiertes Internetcafe, nur ohne Bedienung und Online-Anschluss. Fußballfans aus halb Deutschland hatten sich hier verewigt, die uns wissen ließen, wer denn auf- oder absteigen würde. Politische Statements, für fast jede bekannte Partei, natürlich auch mit nicht druckreifen Notizen für die politische Gegnerschaft. Durchreisende hatten Angaben zu ihrer Reiseroute vermerkt. Bayern, Preußen, Saarländer – die halbe Nation schien diese Wartehalle auf dem Fellendorfer Bahnhof zu kennen.

Nachdem wir alle Notizen gründlichst studiert hatten, war es an der Zeit, den Bahnsteig zu wechseln. Während wir auf den Regionalexpress nach Crossberg warteten, stellten wir Vermutungen über unsere Mitreisenden an. Dabei kamen wir zu dem Schluss, dass einige der Beobachteten durchaus auch Schlöhne als Reiseziel haben könnten. Tatsächlich, ein junger Mann, den wir auf dem Bahnsteig aufgrund seiner Kleidung im Verdacht hatten, ein Lederfetischist zu sein, sprach uns im Zug an: „Na, wo geht’s hin?“.

Nachdem unser Reisekomitee Schlöhne nun auf drei Mann angewachsen war, entstand eine rege Unterhaltung. Unser Dritter hieß Michael, war Motorradfreak ohne Führerschein (daher die Lederausstattung) und in einer Jugendherberge als Hilfshausmeister beschäftigt. In Crossberg, auch hier hatten wir ein wenig Aufenthalt, stieß ein vierter Teilnehmer zu uns, ein Lockenkopf, der sich schnell als Stimmungskanone outete. Er stellte sich als Torsten vor.

Dann entstand eine kleine Auseinandersetzung, wie der Aufenthalt zu überbrücken sei. Leder-Micha (mit diesem Namen wurde er von Torsten bedacht) hatte das dringende Bedürfnis, sich im Presse-Shop nach einschlägiger Fachliteratur (Motorräder) umzusehen. Auch Rene aus Würmersfelde wollte noch eine Tageszeitung erwerben, während Torsten und ich dringend noch ein Tässchen Kaffee trinken wollten. Also erfolgte also eine Einigung: vorübergehende Aufspaltung von uns vier Zivis in interessengebundene Zweiergruppen.

Kurz vor der Abfahrt entstand ein kleines Problem: Trotz intensiver Fahndungsmaßnahmen war es uns nicht möglich, den ausgewiesenen Bahnsteig zum Zug nach Schlöhne zu finden. Ein Bahnmitarbeiter schickte uns zum östlichen Ende, von dort wies uns ein Rangierer Richtung Westen. Nachdem wir zwei Tunnel durchquert, drei Überführungen passiert und mindestens dreimal die Bahnhofshaupthalle durchstreift hatten, entdeckten wir durch Zufall eine Skizze, die uns den richtigen Weg wies. Siehe da, drei Mal waren wir am hervorragend versteckten Zugang zum Bahnsteig bereits vorbeigetigert.

Im Zug selber war es nun ein offenes Geheimnis, wer in Schlöhne aussteigen würde. Dort erwartete uns ein Kleinbus, der insgesamt 15 Zivis aufnahm.

Ich studierte die Anwesenden Lehrgangs-Touristen und kam für mich zu dem Schluss, dass es eine langweilige Woche werden würde, wenn die anderen 175… aber abwarten.

Wir passierten das Dorf, und nach ca. zwei Kilometern bog der Bus in ein umzäuntes Gelände ein – unser Bestimmungsort war erreicht. Einige äußerten den nicht ganz ernstgemeinten Verdacht, von der Bundeswehr entführt worden zu sein. Tatsächlich, Ähnlichkeiten mit einer Kaserne waren der Zivildienstschule nicht streitig zu machen..

Wir luden unser Gepäck aus und betraten das Hauptgebäude des Komplexes. Auch hier reifte in mir der Eindruck, dass die vergangenen Jahre spurlos am Haus vorbeigegangen waren, ähnlich wie beim Fellendorfer Bahnhof. Dann kam es zur Zimmeraufteilung. Die zuständige Dame klärte uns auf: „Es gibt Raucher- und Nichtraucherzimmer. Da Rene Nichtraucher war, Torsten bereits jemanden mit ähnlichen Hobbys gefunden hatte und ich keinen weiter kannte, teilte ich ein Zimmer mit Leder-Micha und richtete mich in Gedanken darauf ein, in den kommenden Tagen zum Motorrad-Experten zu mutieren.

Nachdem wir von der routinierten Zimmerzuweiserin unseren Schlüssel erhalten hatten, suchten wir nun unser gemeinsames Quartier auf. Dazu mussten wir eine Art Appellplatz überqueren, der momentan als Parkgelegenheit von Zivis missbraucht wurde. Dieser Platz war umschlossen von drei verschiedenen Gebäuden, angeordnet in übersichtlicher Position und glänzend durch architektonisch wertvolle Konstruktion, früher jedenfalls musste das so gewesen sein. Eines jener Häuser, das eigentlich noch den besten Eindruck gemacht hatte, war wegen Bauarbeiten geschlossen.

Nachdem wir unsere Betten bezogen hatten, begaben wir uns zurück zum Hauptgebäude, wo uns mitgeteilt wurde: „Hier in den großen Saal, meine Herrschaften!“. Dort begann die Hausherrin, die Direktorin der Einrichtung, uns mit irgendwelchen Begrüßungs- und Belehrungsfloskeln zu bombardieren. Zunächst wurden die vorderen Sitzreihen, die aus unergründlichen Ursachen leer geblieben waren, besetzt. Ausführlich wurde dann das Programm dargelegt, ständig unterbrochen von den humorvollen Einschüben der Wehrdienstverweigerer. Irgendwann, nach etlichen Minuten, kam Lady Chef dann zum Kernpunkt, der Aufteilung in vier verschiedene Seminargruppen. Ich hatte meine Kernpunkt-Aufgabe bereits erledigt und hatte ganze drei Leute entdeckt, die es auf den ersten Blick wert waren, genauer hinzusehen. Und zwei davon saßen direkt zusammen, tauschten bei genauerer Betrachtung ziemlich eindeutige Blicke aus. Versteckte, aber nicht gänzlich unsichtbar verliebte Blicke, die mir zeigten, dass ich hier nicht allein war. Oder doch?

Jeder der vier künftigen Gruppenleiter bekam die Gelegenheit, kurz darzulegen, womit man sich befassen würde. Eine ältere Dame, die ich im Verdacht hatte, schon etliche Jahre und vor allem auch in anderen politischen Systemen pädagogisch tätig (gewesen) zu sein, bot an, sich mit dem Thema Schule in der DDR zu beschäftigen. Ja, sie schien dafür prädestiniert. Ein unvermeidliches Thema hatte Referendarin Nummer zwei auf Lager: Rechtsextremismus in Deutschland. Noch besser, was die dritte Dame für ein Thema im Gepäck hatte: Auseinandersetzung mit aktuellen politische Problemen. Dann erschien der einzige Mann auf der Bühne. Seine Art, das Thema zu präsentieren, hob sich ein wenig von den anderen ab. Rechtsprechung in Deutschland, so lautete der Titel seines Kurses. Klang ebenfalls nicht interessant, aber der Ton macht die Musik. Auf alle Fälle waren wir uns rasch einig, das alles nichts mit unseren Zivi-Stellen zu tun hat. (Oder doch? Wie werde ich verurteilt, wenn ich eine falsche Tablette an den Mann oder die Frau bringe? Gar nicht, Zivi darf keine Medikamente austeilen.)

Nach kurzer Rücksprache entschied sich die komplette Truppe, mit der ich angereist war, für den jungen Mann, der sich locker und frisch gegeben hatte. Aber was viel wichtiger war: es galt zunächst, den ersten Hunger zu stillen. Da die eigentliche Kantine sich im Haus befand, dass zu dieser Zeit wegen Bauarbeiten gesperrt war, durften wir in der hausinternen Kneipe essen. Von dieser öffentlichen Lokalität fragten wir uns im Verlauf des Lehrgangs oft genug, wie sie ohne Wehrdienstverweigerung hätte existieren können. Die Kundschaft bestand zu 98 Prozent aus Zivis. Durch die eng gestellten Tische entstand eine fast „romantische“ Atmosphäre, was bei einer Männlichkeitsquote von 100 dem überwiegenden Teil natürlich nicht gefiel. Es musste intensiv darauf geachtet werden, dass man nicht versehentlich vom Teller des Nachbarn eine Nudel fischte.

Nach dem Essen fanden wir uns im Seminarraum ein, wo zu nächst vier Freiwillige gesucht wurden, einen anderen Kurs zu belegen: Akuter Platzmangel. Unser junger Seminarleiter bot an, das Los entscheiden zu lassen, aber vier Zivis ließen sich auch freiwillig zum Wechsel bewegen. Ich atmete auf: Der Zufall hatte dafür gesorgt, dass sowohl das vermeintliche Pärchen als auch Kandidat Nummer drei in meinem Kurs feststeckten. Nun konnte es losgehen.

Falko, unser Chef für die kommenden fünf Tage, erläuterte zunächst, wie er sich den Ablauf vorgestellt hatte. Dieser Plan wurde von allen zur Kenntnis genommen und sofort akzeptiert. Nach einer kurzen Einführung in das Thema war der erste Tag schon wieder erledigt, oder fast erledigt. Nach dem Abendessen war eine weitere Vollversammlung anberaumt, um uns über die Möglichkeit der Freizeitgestaltung aufzuklären und uns dadurch bereits von einer solchen abhielt.. Den motorisierten Schlöhne-Touristen unter uns konnten die Diskos oder Eishockeyhallen der unweit gelegenen Städte empfohlen werden. Für die anderen blieben nur die hausinternen Varianten. Zum Beispiel luden drei Fernseher zum gemütlichen Beisammensein ein. Weiterhin existierten Billardtische, Standfußballgeräte sowie Fachräume für Töpferei (?!) und Musikkapellen. Tatsächlich fand sich eine Truppe, die beschloss, bis zum Aufenthaltsende Musik zu produzieren, unter anderem mit Rene und Torsten. Übrigens, vom Resultat bekam niemand etwas zu hören – außer den Bandmitgliedern – offensichtlich ist nicht jeder „born to be Superstar“ – jedenfalls nicht von dieser 97er-Oktober-Schlöhne Band.

Vielleicht besser so?

Einen besonderen Service bot der Wachdienst, der das Gelände ab 18:00 Uhr betreute und darauf achtete, dass keiner der Belegschaft gemopst wurde. Er entlieh Spiele aller Art (Memory? Monopoly?) sowie Queues und Billardkugeln. Nachdem ich alle Möglichkeiten sondiert hatte, entschloss ich mich, mich intensiv einem der Fernseher zu widmen.

Dank geschickter Planungen der UEFA und des DFB hatte ich als bekennender Fußballfan (ja, wirklich!) die Gelegenheit, mich während des Schlöhne – Aufenthaltes mit dem runden Leder zu beschäftigen, da ja niemand anderes zum Beschäftigen da war. Montag zweite Bundesliga, Dienstag und Mittwoch UEFA-Cup sowie Champions-League und Donnerstag trafen sich die Vereine des Pokalsieger-Wettbewerbs. (den gab es damals noch, die jüngeren Fans mögen in Fußball-Geschichtsbüchern nachblättern)

Die Abende ab 20:15 Uhr waren gesichert, aber davor? Lediglich am Dienstag begannen die Übertragungen bereits ab 16:00 Uhr, und schließlich waren die Seminare schon gegen 15:30 Uhr beendet. Aber auch da hatte die flexible Leitung der ZDS (Zivildienstschule) Lösungen für die verbleibenden Tage parat.

Jeden Nachmittag wurden diverse Fahrten zu diversen Attraktionen der näheren Umgebung angeboten. Ich entschied mich, zusammen mit den anderen Dreien unseres Vierergespanns, für die Donnerstagsfahrt – in ein idyllisches Städtchen an einen Fluss, der Deutschland von Polen abgrenzt. Die geografische Lage war einkaufspolitisch betrachtet der interessante Fakt dabei. Genauer gesagt das andere Ufer als Tor zum Osten Europas.

Am Abend des ersten Tages entstand bei einigen Gästen das dringende Verlangen, ihre Angehörigen über die gute Ankunft am Bestimmungsort zu informieren. Dabei jedoch wurde die Existenz eines kleineren Problems festgestellt. Im gesamten Gelände existierte nur eins der Allgemeinheit zugänglichem Telefon, direkt in der Eingangshalle des Hauptgebäudes. In einer Nische stand der unscheinbare Apparat, und an seinen Tasten heftete ein kleiner Zettel: Defekt. Sechs Buchstaben, die unseren letzten Kontakt zur Öffentlichkeit abreißen ließen. An diesem wunderschönen Abend verdienten sich die Drei unter uns fast 150 Zivis eine goldene Nase, die mit Handy angereist waren. Zu unverschämten Tarifen, die sogar die der Telekom noch übertrafen, durfte jeder, der Bedarf hatte, seine Nachrichten per Funktechnik übermitteln. (wie bereits erwähnt: damals war noch nicht selbstverständlich, das jeder mit einem kleinen Kasten jederzeit irgendwo anrufen konnte – manchmal vielleicht auch besser so.) Im Nachhinein betrachtet erstaunlich, dass es mitten im Schlöhner Forst damals schon komplette Funkabdeckung für Mobiltelefonnetze gab.

Ich entschloss mich, an irgendeinem Nachmittag die zwei Kilometer ins Dorf zu spazieren und mich nicht an der Aktion: „Mobilfunk macht Millionäre“ zu beteiligen.

Frisch ausgeschlafen und gut gelaunt wurde am nächsten Morgen das Frühstück eingenommen. Anschließend versammelten sich die vier Gruppen, um die Seminare fortzuführen. Jeder der Teilnehmer unseres Kurses bekam die Gelegenheit, sich und seine Tätigkeit vorzustellen.

Ich hörte mir die mehr oder weniger spannenden Erzählungen der Kursteilnehmer mehr oder weniger gelangweilt an, bis die Reihe an den ersten Boy des vermeintlichen Pärchens kam. „In aller Kürze: Marcel, 19, bin seit drei Wochen in einer Behindertenwerkstatt in Waldau. Die Arbeit mach unglaublich viel Spaß – viel mehr als dieser Lehrgang bis jetzt“. Marcel erntete Gelächter der Zivis und ein gequältes Lächeln von Falko. „Ich weiß, dass es nicht die sinnvollste Art des Diensturlaubs ist. Aber Vorschrift ist Vorschrift, wir werden das beste draus machen.“ Auch er erntete, und zwar Zustimmung seiner Schutzbefohlenen. Dann ging es mit der Vorstellung weiter, direkt neben Marcel saß sein heimlicher Schatten. „Dann bin ich wohl dran. Matthias, 18 – seit drei Wochen in einer Behindertenwerkstatt in Waldau, wo mir vor allem der Umgang mit den Menschen unglaublich viel Spaß macht.“ Falko stellte die Frage, die eigentlich überflüssig war: „Ihr beide seit also zusammen auf einer Dienststelle?“

Die beiden schauten sich an, Matthias nickte kaum wahrnehmbar – und Marcel schmetterte in die Runde: „Wir sind nicht nur zusammen auf einer Dienststelle, wir sind auch privat zusammen. Also richtig zusammen.“ Schweigen im Walde bzw. im Seminarraum. Ich nutzte die Gelegenheit, zu Kandidat Nummer drei zu blicken. Der unglaublich süß vor sich hin lächelte, also schien er der Situation auf alle Fälle erst mal nicht völlig angewidert gegenüberzustehen. Falko fand zuerst seine Worte wieder. „Ja, ihr könnt euch vielleicht vorstellen, dass wir hier nicht jeden Tag ein Liebespaar begrüßen dürfen. Genauer gesagt – er grinste – ihr seit die Ersten.“ Gelächter im Raum. Nach einigen wohlwollenden Äußerungen ging Falko wieder zum Programm über und die Talkrunde in den zweiten Teil.

Der dritte Kandidat in meiner persönlichen Auswahl war Nicky, der seine Vorstellung ausgesprochen kurz gestaltete: „Nicky, 18, Zivi in der Blutspende als Fahrdienst.“ Damit war es das, er gab den Staffelstab an Leute weiter, die etwas erzählwütiger waren. Erstaunlich, in welchen Branchen es überall Zivildienststellen gibt. Fast überall, wo Arbeiten anfallen, die unter der Würde des qualifizierten Personals sind. Danach durften wir erläutern, aus welchen Beweggründen der Einzelne den Dienst an der Waffe verweigert hatte. Nach dem Mittagessen in „gemütlicher“ Atmosphäre startete dann das eigentliche Thema: „Rechtsprechung in Deutschland“. Wir definierten den Begriff, es wurde erläutert, welche Vorstellungen jeder mit dem Begriff Recht verknüpfte, und siehe da, schon war es 15:30 Uhr. Feierabend.

Alle, die Gelegenheit hatten, die Flucht zu ergreifen, verließen das Gelände. Die Übriggebliebenen interessierten sich entweder für Fußball – oder wurden für Fußball interessiert. Darunter war auch Nicky, der ebenfalls mit Interesse das Geschehen auf dem grünen Rasen in der flimmernden Kiste beobachtete. Wir wechselten das ein oder andere belanglose Worte über die fußballerische Situation im Land des Europameisters. (1997 war Deutschland amtierender Champion des Kontinents).

Der Tag klang aus mit etlichen Runden Billard in der Kneipe. Dort entwickelte sich ein neuer Volkssport. Zwei Leute bedienten uns in dieser gemütlichen Lokalität – der Wirt und seine Tochter. 200 Zivis – und eine Tochter! Viele versuchten nun, ganz speziell auf sich aufmerksam zu machen. Weiterhin waren alle Besucher des Etablissements bemüht, den Namen der Dame zu ergründen – zwecklos.

In dieser Angelegenheit war ich mit einem kleinen Vorteil bedacht: Carsten aus dem Altersheim hatte eine Woche vorher ein Gespräch zwischen Vater und Tochter belauscht, das die junge Dame als Heike geoutet hatte. Diesen Kenntnisstand hatte er in seine Berichterstattung einfließen lassen, und ich konnte davon jetzt profitieren. In einem unbeobachteten Moment nutzte ich meinen Wissensvorsprung: „Heike, bringst du mir bitte ein Bier“. „…???…“.

Nachdem ich sie aufgeklärt hatte, lachte sie und bat mich, meine Erfahrungen als kleines Geheimnis zwischen uns zu belassen. Als Gegenleistung trank ich einige Biere auf Kosten des Hauses – Prost.

Den nächsten Morgen begannen wir mit einem Kurzfilm über Konfliktbewältigung, den wir anschließend ausdiskutierten. Nachdem Falko unsere Kreativität mit einem bekannten Bölkstoff trinkenden Comic-Helden erhöht hatte (per Video), konnten wir uns an ein Rollenspiel heranwagen: Angreifer und Angegriffener. Falko war der Gauner und jeweils einer von uns durfte seinen Lösungsvorschlag für die Situation darbieten. Anschließend gab es eine sehr aufschlussreiche Pro- und Kontradiskussion zum Thema, dann Mittagessen und im Anschluss wieder unsere bekannte Trickfilmfigur mit Liebe zum Bier.

Am Nachmittag hatten wir einen Polizisten zu Gast, der interessante Fakten zum Thema bot und außerdem neugierige Fragen aller Art beantwortete. Pünktlich um 15:30 Uhr war dann der offizielle Teil erledigt. Da die Fußballer erst am Abend in Aktion treten sollten und die meisten Programmgestalter damals am Nachmittag Leute wie Bärbel Schäfer, Arabella Kiesbauer und Hans Meiser beschäftigten und auch wirklich ins Quoten-Rennen schickten (nicht jeder Trend hält ewig) und ich keinesfalls beabsichtigte, mich mit Tontöpferei auseinanderzusetzen, beschloss ich zusammen mit Leder-Micha ins Dorf zu wandern.

Dort wollten wir versuchen, eventuell doch noch Kontakt zur Heimat herzustellen. Ein Mitarbeiter der bezaubernden Gastgeberanstalt hatte uns den Weg, der sich einem ca. 30 Minuten Fußmarsch absolvieren lassen würde, präzise erklärt. Nachdem wir 15 Minuten lang unsere Lungen mit hervorragender Waldluft vollgesaugt hatten, erreichten wir eine Weggabelung. Über diesen Reichtum an Auswahlmöglichkeiten hatte uns der freundliche Ortsansässige leider im Dunkeln gelassen. Wir beratschlagten und versuchten, den richtigen Weg anhand unserer recht vagen Ortskenntnisse zu ermitteln. Wir multiplizierten den vermutlichen Verlauf der Bundesstraße vor der Zivildienstschule Richtung Schlöhne mit dem von uns bereits absolvierten Weg. „Nach links“, waren wir uns einig. Nach einigen Metern stellten wir fest, dass das Gelände zu unserer rechten Hand hermetisch abgeriegelt war, inklusive Stacheldrahtzaun. Die letzte Benutzung schien allerdings schon etliche Zeit zurückzuliegen.

Nachdem wir ein weiteres Mal rechts abgebogen waren, stellten wir wieder etwas fest. Diesmal, das mitten aus dem Wald Schienen herausliefen und schnurgerade in das isolierte Grundstück hineingingen. Leder-Micha analysierte: „Ich denke, der Weg hier umkreist nur das Gelände. Hier bei den alten Schienen geht ein Trampelpfad entlang. Von dort kommen wir bestimmt zum Bahnhof Schlöhne“. „Hm“, entgegnete ich und dachte mir im Stillen: „Der Bahnhof Schlöhne hatte keine Abzweigungen. Und die Hauptstrecke ist das hier nicht. Aber gut, vielleicht stimmte die Richtung ja doch zufällig“. Gesagt, getan – Waldluft soll gesund sein.

Nachdem sich dann jedoch der Trampelpfad vom Verlauf der Schienen trennten und wir dann noch eine stillgelegte Ackerfläche überquerten, ohne auch nur einen Anhaltspunkt des Dorfs Schlöhne zu erkennen, wagte ich erstmals, den seit etlichen Minuten in mir immer stärker werdenden Verdacht auszusprechen: „Vielleicht haben wir einen Abzweig verpasst?“. Auch Michael beschloss, diese Möglichkeit jetzt ernsthaft in Betracht zu ziehen. Nach weiteren zehn Minuten überquerten wir erneut eine Bahnstrecke. Diese allerdings ließ den Schluss zu, durchaus zu einer im aktuellen Kursbuch der DB befindlichen Route zu gehören.

Plötzlich standen wir auf einem Weg, der nach links und rechts parallel entlang der Gleise verlief. Zu diesem Zeitpunkt waren wir schon eine gute Stunde unterwegs. Wieder versuchten wir, den Verlauf der Bundesstraße zu rekonstruieren, die wir hinter dem angrenzenden Waldstück vermuteten. Nachdem wir uns auf eine Richtung geeinigt hatten, gingen wir den schnurgeraden Weg immer an der Bahnstrecke entlang.

Zwanzig Minuten später. Zum Zeitvertreib hatten wir uns eine tolle Beschäftigung gesucht. Wir analysierten die am Waldesrand stehenden Pilze. „Also verhungern tun wir nicht“, stellte Leder-Micha fest. „Hm, also ich weiß nicht, ob der Genuss von Fliegenpilzen und Knollenblätterpilzen unbedingt zu empfehlen ist. Aber verhungern tun wir dann auch nicht, stimmt. … Da würde ich lieber so ein Pils vorziehen“, und deutete auf eine achtlos weggeworfene Bierbüchse im Gras, allerdings bereits geleert. Und das vor geraumer Zeit, wie der Zustand der Büchse verriet. „Spricht dafür, dass sich hier schon andere von unserer Unterkunft verlaufen haben“, überlegte Micha. Eine interessante Art der Schlussfolgerung. „Gut möglich. Aber wenn ich mich nicht irre, steht dort ein Fahrrad am Baum. Vielleicht endlich mal jemand, der weiß, wo es hier langgeht“. „Das Fahrrad?“ „Na ja – es wird nicht allein hergeradelt sein“, vermutete ich keck.

Tatsächlich trafen wir auf zwei ältere Damen, die sich offensichtlich ebenfalls mit Pilzen beschäftigten „Siehe da, es scheint hier auch essbare Pilze zu geben“, teilte Micha mit. Die Damen sahen uns ein wenig misstrauisch an, als wir sie ansprachen. Wir erklärten unser Anliegen und unser Ziel. „Da sind sie falsch. Hier geht es nach Crossberg. Schlöhne liegt genau in der entgegengesetzten Richtung“. Wir bedankten uns, tauschten vielsagende Blicke und traten den Rückweg vom Hinweg an – unser Ziel Telefon hatte jetzt endlich wieder eine Richtung gefunden.

Vorbei an Pilz und Pils erreichten wir nach ca. 25 Minuten wieder die Stelle, an der wir diesen Bahnparallelweg betreten hatten – 10 Minuten später tauchten die ersten Gehöfte von Schlöhne auf. Ein freundlicher Herr lotste uns zu der bewussten Telefonzelle. „An der Schule“, hatte er uns gesagt. Als wir Schlöhnes Bildungseinrichtung erreicht hatten, sahen wir uns suchend um. Erneut mussten wir einen einheimischen Passanten zu Rate ziehen. „50 Meter zurück, dann links rein. An der Sporthalle!“. Nach weit über zwei Stunden hatten wir endlich unser Ziel erreicht.

Erwartungsvoll strahlte uns das leuchtend gelbe Telefonhäuschen an. Ich zückte meine Telefonkarte und betrat – den Münzfernsprecher. Natürlich wies mein Portmonee keine fernsprechertauglichen Münzen aus. Also ließ ich Micha den Vortritt, der die Gelegenheit nutzte, ausführlich mit seiner Heimat zu telefonieren, wobei ich mir nicht sicher war, ob er seine Familie kontaktierte oder den Motorradhändler seines Vertrauens. Während er telefonierte, tippte mir von hinten jemand auf die Schulter. Es war Nicky, der ähnlich wie wir überlegt hatte, die fußballfreie Zeit zur fernmündlichen Kontaktaufnahme zu nutzen. Immerhin hatte er keine großflächige Erkundungstour benötigt, um die nächste Zelle ausfindig zu machen. Wir tauschten kurz unsere Erfahrungen aus, lachten herzhaft und verabredeten uns am Abend zum Fußball und Billard, während Micha unverdrossen weiter schwatzte. Nachdem seine Angelegenheiten geklärt waren und das damit verbundene Gespräch ein Ende fand, hatte er sogar noch überraschenderweise zwei Markstücke übrig, die er mir großzügigerweise leihweise und zinsfrei überließ. Zweieinhalb Stunden Laufzeit, fünf Minuten telefoniert.

Da wir nicht beabsichtigten, den gleichen Weg zurückzugehen, erkundigten wir uns erneut bei einem Einheimischen. „Zur Zivildienstschule? 15 Minuten geradeaus“. Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen, als wir zehn Minuten später das Gelände betraten. Jetzt kannten wir auch unseren Fehler. Wir waren in den Wald hineingelaufen, hätten uns aber links orientieren müssen. Immerhin waren wir pünktlich zum Abendessen wieder in unserer Unterkunft. Unser Tischnachbar erkundigte sich bei uns: „Ihr schlagt ganz schön zu – was habt ihr denn gemacht heute Nachmittag?“. Wir zwinkerten uns zu. „Wir waren nur mal schnell im Ort telefonieren“.

Der Abend begann für Nicky und mich vor dem Fernseher mit einem echten Gurkenspiel, so dass wir uns noch in der Halbzeit dafür entschieden, vom Grün des Rasens im TV zum Grün der Billardplatte zu wechseln. Dort focht Leder-Micha ein Kugel-Duell mit einem jungen Mann aus, der sofort ebenfalls der Kategorie Motorrad-Freak zuzuordnen war. Lederhose und Harley-Davidson T-Shirt sprechen eben Bände. Die Beiden verstanden sich sichtbar gut und begossen die gemeinsamen Interessen mit etlichen Getränken.

„Der ist von meinem Zimmer. Lars ist ein netter Kerl, aber auf Dauer ziemlich nervig.“, informierte mich Nicky. Ich registrierte das, verglich in Gedanken meinen Zimmergefährten mit Lars und kam zu dem Schluss, dass sich diese beiden gesucht und gefunden hatten. Bei Gelegenheit sollten beide prüfen, ob sie nicht aus Versehen mit einander verwandt sind. Nicky schien ähnliche Gedanken zu haben: „Sowas kann eigentlich nur der Kategorie Zwillinge angehören“. Wir lachten, spielten noch mehrere Runden Billard, redeten dabei über Gott und die Welt und hatten damit deutlich länger überlebt als die Leder-Fraktion, die sich bereits zurückgezogen hatte.

Als Nicky und ich das letzte Bier tranken, waren wir von 200 Zivis die letzten Überlebenden, alle anderen hatten sich bereits auf ihre Zimmer zurückgezogen. Auch wenn wir grade so richtig im Quatschen waren und der Durst noch nicht völlig gelöscht war, beschlossen wir, den Abend zu beenden. Vor seinem Zimmer nahm mich Nicky flüchtig in die Arme und sagte: „Schlaf gut, mein Freund“ Ich lächelte und ging in Gedanken weiter – wir verstanden uns prima, ein gewisses Prickeln, von Minute zu Minute stärker werdend, war der ganzen Angelegenheit nicht abzusprechen. Und dann die Offenheit, mich so kurz nach unserem Kennenlernen bereits zu umarmen, sein süßes Aussehen, seine ganze Art … hey, irgendwie begannen meine Hormone Achterbahn zu fahren.

Als ich meine Zimmertür öffnete, wurde die Talstation erreicht: In meinem Bett lag Lars, die leere Wodkaflasche vor seiner … eigentlich meiner … Schlafstätte bewies mir, dass es vermutlich nicht viel Sinn haben würde, ihn zu wecken. Ähnliches galt für Micha, der in seinem Bett lag und intensivst damit beschäftigt war, das Holzgestell zu zersägen. Ich flüchtete – und es blieb mir nur ein Zufluchtsort. Wenn Lars mein Bett benutzte, würde ich seins nehmen müssen.

Die Hormone begannen ihre Loopings wieder verstärkt in Angriff zu nehmen … in dem Zimmer, dass ich jetzt aufsuchen würde, würde auch Nicky sein. Ich hoffte, dass er nicht sofort nach unserer Verabschiedung in Tiefschlaf verfallen war und wurde nicht enttäuscht. Noch auf dem Flur kam er mir entgegen und sagte: „Ich weiß nicht, ob ich mir Sorgen machen muss. Lars ist nicht in seinem Bett.“ Ich streichelte ihm flüchtig über die Schulter. „Sehr ehrenwert – aber umsonst. Der Herr hat sich eine besondere Ausnüchterungszelle ausgesucht.“ … Fragende Blicke … „Mein Bett.“ Wir waren noch einmal zurückgegangen und ich zeigte ihm das sich bietende Bild. Nicky lachte, wurde dann aber ernst: „Hoffentlich hat er sich nicht ne Alkvergiftung zugezogen“. „Ich glaube nicht, Atmung und Puls gehen ganz ruhig. Tiefschlaf ja, toxikologisch unbedenklich.“ „Dann ist ja gut, Herr Doktor. Und wo wollen sie ihre Nachtbereitschaft verbringen?“ „In der Nähe eines lieben, netten Menschen, der mich im Ernstfall immer weckt.“ Was erzählte ich da eigentlich für einen Quark? Immer schön mit der Tür ins Haus fallen und das frisch gedeihende Pflänzchen der Freundschaft niedertrampeln…. Nicky tat, als hätte er den tieferen Sinn überhaupt nicht verstanden.

Im Zimmer setzten wir uns an einen kleinen Tisch. „Wir sind noch viel zu nüchtern für den Laden hier“, analysierte Nicky und holte zwei Büchsen Bier aus seinem Schrank. „Na ja, die paar Bierchen heute Abend haben die anderen wohl deutlich übertroffen.“ Wir saßen auf seinem Bett, tranken, redeten und redeten, verstanden uns einfach nur großartig und so, als ob wir seit Jahren die besten Freunde waren.

Irgendwann mitten in der Nacht sagte Nicky leise: „Komm, lass uns Brüderschaft trinken“ Ich nickte, wir vollzogen den Akt und ich stellte die interessanteste Frage des noch sehr jungen Tages: „Mit oder ohne Kuss?“ „Keine halben Sachen“, kam die eindeutige Antwort ganz nah neben meinem Ohr. So nah, dass Nickys Atem Gänsehaut verursachte. Das allerdings war nichts gegen den Kuss der folgte. Sekunden trafen sich unsere Lippen. Flüchtig nur, aber doch mindestens ein paar Atemzüge länger als nötig…. Ich genoss es, die folgenden Sekunden blieben ohne Worte und gaben Zeit, diesen wunderschönen Moment fest auf der internen Festplatte zu speichern.

Nicky schaute mich an und fragte völlig unvermittelt: „Was denkst du über unser Paar, über Matthias und Marcel?“ Ich überlegte kurz: „Die beiden sind glücklich und verdammt sicher, wenn sie sich hier vor einer wilden Horde freilaufender Zivis outen“

Er nickte nachdenklich. „Ja, noch vor einem halben Jahr war das undenkbar. Da war Matze still, schüchtern, in sich gekehrt. Bis dann plötzlich Marci in sein Leben trat. Die beiden haben sich kennen gelernt beim Vorstellungsgespräch in der Behindertenwerkstatt, und es hat sofort gefunkt. Noch am gleichen Abend haben sich die beiden das erste Mal geküsst – in der stillen Ecke eines Eiscafes. Pech war nur, dass durch einen ganz dummen Zufall Matzes Eltern im gleichen Cafe waren und durch einen Spiegel diesen ersten zarten Kuss beobachtet haben.“

„Stopp mal, woher bitte weißt du das alles? Hat Lars gestern bei den beiden seinen Rausch ausgeschlafen und die Jungs haben dir hier ihre Lebensgeschichte erzählt?“ Nicky lachte, wurde dann aber schnell ernst. „Marcel und ich sind Cousins.“

Ich möchte nicht gesehen haben, was ich in diesem Moment für ein Gesicht machte. Die Frage, die mir als nächstes einfiel, war dann: „Wie hast du von den beiden erfahren?“ „Okay, die Geschichte in aller Kürze: Natürlich waren Matzes Eltern zunächst geschockt, und vor allem die Mutter brauchte ein bisschen, um das ganze zu überwinden. Bemerkenswert war das, was sein Vater draus machte: „Junge, es kann nicht sein, dass Du uns darüber so lange im Unklaren gelassen hast. Was denkst Du, wie wir reagieren? Haben wir jemals was gegen Schwule gesagt? Du bist unser Junge, du bleibst unser Junge und du sollst glücklich werden. Dabei können wir Dich aber nur unterstützen, wenn du uns bedingungslos vertraust. Es gibt Idioten, genügend sogar wahrscheinlich, und es ist nicht auszuschließen, dass du mit denen Probleme kriegst. Aber dann wollen wir für dich da sein“ Nach dieser Rede, die sich Matze Wort für Wort gemerkt hatte, er hat sie mir später immer wieder erzählt, schwebte er im siebten Himmel. Marcel und Matthias lebten ihre Liebe im engeren Familienkreis völlig aus, und das kam auf der 19. Geburtstagsfeier von Marcel dann auch bei mir an. Beide Familien haben es völlig akzeptiert, das einzige schwarze Schaf war meine alte Freundin. Als sie anfing, über die Beiden im übelsten Maße herzuziehen, habe ich sie kurzerhand auf die Straße gesetzt und ihr den Laufpass gegeben.

Ein weiteres Mal hätte ich mich nicht selbst sehen wollen. Freundin??? Verdammt, ich war auf dem besten Wege, mich zu verlieben. Nein, ich hatte mich verliebt. Und dann diese Geschichte.

Ich hatte jetzt auch nichts mehr zu verbergen und beschloss, völlig ehrlich zu sein. „Nicky, danke für so viel Offenheit und Vertrauen. Aber ich glaube … Marcel und Matthias sind nicht die einzigen hier in Schlöhne, die sich nicht für Frauen interessieren. … Nicky, ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.

Schweigen.

Nicky sah mich an, legte mir liebevoll den Arm um die Schulter. „Oh Mann. Wir haben uns hier vor zwei Tagen erst kennen gelernt, haben gestern erst so richtig zueinander gefunden. Du bedeutest mit wirklich viel, du bist so hintergründig, so offen, so lieb. Ich sage so was nicht so schnell, aber Du bist ein echter Freund. Mehr als das. Wir haben Brüderschaft getrunken – also sind wir Brüder. Aber Liebe …. nein, lieben kann ich dich nicht. Ich bin nicht schwul“

Wumm, dass hatte gesessen. Es wäre aber auch zu schön gewesen.

„Nicky, dass ist… irgendwie…“ Mir kamen Tränen in die Augen. „Irgendwie gibt es hier sonst immer das Happy End an dieser Stelle“

Er sah mich an, hatte immer noch seinen Arm um meiner Schulter. „Hey, ich will nicht, dass sich irgendwas ändert. Freunde fürs Leben?“, er sah mich fragend an. Ich nickte, er bedeutete mir viel zu viel, um alles in Frage zu stellen. Schon komisch, wie sich zwei Jungs in zwei Tagen so nah kommen können. Ich wusste, dass die tiefe enge Verbundenheit zwischen uns bleiben würde. Sie war an diesem Abend erst geknüpft, aber war schon untrennbar. Aber es war keine Liebe.

Eine Erkenntnis, die dafür gesorgt hatte, dass die achterbahnfahrenden Hormone dem Bedürfnis nach einer Zigarette Platz gemacht hatten. Gedankenverloren angelte ich mir eine Kippe aus der Schachtel, wollte sie anzünden und wurde von Nicky unterbrochen. „Bitte, kannst du zum Rauchen nach draußen gehen? Ich vertrags nicht.“ Ich lächelte ihn an: „Na klar.“ Er nahm seinen Arm von meiner Schulter, streichelte mir über den Hinterkopf.

Ich stand auf und überlegte, wo ich jetzt ungestört im Haus ein Zigarettchen verbrennen lassen könnte. Ich entschied mich für den Fernsehraum, schon mal deswegen, um im Videotext das Endergebnis des Gurkenspiels nachzulesen. Ich verzichtete auf Licht, setzte mich auf die Couch, griff im Dunkeln zur Fernbedienung und erschrak plötzlich: Im gegenüberliegenden Sessel war plötzlich ein Feuerzeug aufgeflammt. „Mein Gott, hast du mich erschreckt.“, warf ich dem Nachtraucher ein wenig vorwurfsvoll entgegen. Trotz meines vorübergehend erhöhten Adrenalinspiegels verzichtete ich weiterhin auf Benutzung der Deckenlampe und schaltete als Lichtquelle das TV-Gerät ein.

Mein Gegenüber wirkte traurig, hatte auf den ersten Blick kurze blonde Haare und litt offensichtlich an Schlaflosigkeit. „Was machst Du hier“, fragte er mich. Ich zündete meine Zigarette an und erwiderte: „Rauchen, und du?“ „Dito, ich heiße übrigens Sebastian.“ Ich stellte mich vor und erkundigte mich, was ihn in der Nacht um drei – so spät war es mittlerweile – an die Zigarettenschachtel trieb. „Ach, ich hab da so einen Blödmann auf meinem Zimmer, zu Hause Stress und … und … und überhaupt.“ Plötzlich durchschüttelte ihn ein Weinkrampf, ein Weinkrampf aus dem Nichts. „Die Nacht der Tränen“, ging mir durch den Kopf. „Komm rüber“, forderte ich ihn auf und zog ein Taschentuch aus meiner Tasche. Ich staunte, dass er es tat. Ich staunte noch mehr, dass er sich aufs Sofa setzte, sofort meine Nähe suchte und nur noch ein „Entschuldigung“ hervorbrachte, ehe er völlig in Tränen versank.

Eben war ich noch tief im Tal der Trauer, jetzt brauchte er wohl meine Hilfe. Ich zottelte ihm kurz über die blonde Mähne. „Hey, ist gut! Wollen wir noch ein Bier trinken?“ Er nickte und schluchzte. „Warte, ich bin gleich wieder da.“

Ich eilte in mein Notquartier, schilderte Nicky kurz die Situation, er drückte mir zwei Bier in die Hand und bat mich um Verständnis: „Ich werd mich jetzt schlafen legen. Sei so gut und mach leise, wenn du nachher kommst. Okay, Bruder?“ „Kannst dich auf mich verlassen, Bruder,“ entgegnete ich ihm und kehrte in den Fernsehraum zurück, wo sich Sebastian etwas zu erholt haben schien.

„Alles okay?“, fragte ich ihn und drückte Sebastian das Bier in die Hand. Er nickte, öffnete die Büchse und trank schweigend. „Wenn du reden willst, dann rede“, bot ich ihm an. Er aber suchte einfach nur meine Nähe, trank binnen kürzester Zeit aus, rauchte dabei eine weitere Zigarette, stand dann auf, sagte danke und verschwand.

Auch ich rauchte noch mal, leerte mein Bier in aller Ruhe, holte mir noch das Ergebnis des Gurkenspiels und wankte dann, mittlerweile auch etwas angeschlagen, in Richtung Zimmer. Nicky schlief bereits, auch ich fiel in mein (oder Lars’?) Bett und begann unverzüglich mit der Nachtruhe.

Am Donnerstag stand nach dem Unterricht die Fahrt zur Grenzstadt an. Die City an sich interessierte keinen, wohl aber die andere Seite des Ufers – EINKAUFEN!!! Es soll etliche Seminarteilnehmer gegeben haben, die bei der Rückkehr ins Heimatland ganz schön gezittert haben – verdammte Schmuggelei! Ich hatte mir gemäß den Vorschriften eine Stange Zigaretten mitgebracht. Nicht mehr, als erlaubt. Dafür, dass Nicky mir später seine mitgebrachte Stange auch noch überreichte, konnte ich nichts.

Am Abend, ich ging gerade über den Parkplatz zum Abendbrot ins Hauptgebäude, als mir an einigen Autos der Zivis etwas auffiel. Ich erspähte Autokennzeichen, die mir bekannt vorkamen – aus den Nachbarkreisen meines Heimatstädtchens. Sofort versuchte ich, vorsichtige Ermittlungen über die entsprechenden Besitzer anzustellen. Würde mir am kommenden Tag die Zugfahrt ersparen. In der Nähe eines in Frage kommenden Fahrzeugs stand ein junger Mann, der damit beschäftigt war, die Windschutzscheibe seines Autos zu reinigen. Ich sprach ihn aus blauem Dunst heraus an: „Sag mal, wem gehört der Fiesta neben dir? Hast du ‘ne Idee ?“ „Dem Schwulen neben mir aus’m Zimmer … warum willste das wissen?“ Ich hatte wenig Lust, dem Scheibenputzer zu erklären, warum ich den Fahrer zu sprechen zu wünschte. Aber schon mal der Begriff schwul sorgte dafür, dass ich es ihm erklärte: „Ich suche jemanden, der mich preisgünstiger als die Bahn in heimische Gefilde transportiert.“ Der Putzwütige schaute mich ein bisschen verwirrt an, während ich auf Antwort lauerte. Jetzt wollte ich schließlich wissen, wer da eventuell noch ganz besonders einen männlichen Mitfahrer suchte. „Wende dich an Sebastian aus Zimmer 17, aber wenn du mitfährst, pass auf, dass er mit dir nicht in einen stillen Waldweg einbiegt.“ Er lachte dreckig, blickte auf seine saubere Windschutzscheibe und verschwand.

In mir begannen die Mühlen des Gedächtnisses zu mahlen. Sebastian? Hatte der Typ Sebastian gesagt? Bei 200 Zivis war die Gefahr aber natürlich groß, dass da noch ein Sebastian rumlaufen würde. Aber Sebastian hatte zu mir gesagt, er hätte Stress mit seinem Zimmergenossen. Das könnte auf den Herren mit der sauberen Scheibe sehr gut passen.

Auf alle Fälle war ich fest entschlossen, die Fahrkarte zu sparen und bemühte mich zu Zimmer 17. Ich klopfte. Jemand rief herein, ich öffnete die Tür…. und sah natürlich den Sebastian, der mir in der vergangenen Nacht seine Tränen offenbart hatte. Er schaute mich recht giftig an, was überhaupt nicht zu seinen traurigen, aber wunderschönen Augen passte. „Was willst du? Komm, streu Salz in die Wunden!“ „Pass auf. Ich weiß nicht, was du heut nacht gehabt hast. Und wenn du es mir nicht erzählen willst, deine Sache. Ich hab dich gern getröstet, auch ohne Worte. Und ich hab’s verdammt noch mal gern gemacht. Basti, was ich wissen will: Du kommst aus meinem Nachbarkreis, und ich hab keinen Bock, mit dem Zug nach Hause fahren. Nimmst du mich mit?“ Er sah mich mit großen Augen an, nickte und sagte leise: „Das bin ich dir schuldig. Und danke, dass du heute nacht da warst.“ Wir lächelten uns an.

Nachdem das Heimfahrt-Problem keins mehr war, konnte man den letzten Abend in unserem „Waldgefängnis“ feuchtfröhlich ausklingen lassen. Jeder gab noch eine Runde aus – zum Schluss Heike, wohl weil sie endlich Feierabend machen wollte.

Alle, die an diesem zivi-internen „Abschlussseminar“ teilgenommen hatten, konnten oder wollten sich am Freitagmorgen nicht mehr so recht auf das offizielle Lehrgangsende konzentrieren. Weder Nicky und ich, die nach dem „offiziellen“ Teil wieder in einem Zimmer stundenlang quatschten. Micha und Lars schliefen wieder ihren Rausch in einem Raum aus, einem Raum, der einen Großteil meines Gepäcks beinhaltete. Bevor wir tief am Freitag Früh vom Schlaf heimgesucht wurden, schworen Nicky und ich uns ewige Freundschaft. Ein Schwur, der wieder mit einem Kuss verbunden war. Ging da doch noch was? Nein verdammt, kein Vertrauensbruch gegenüber meinem Bruder! Das war das letzte, was ich dachte, bevor ich einschlief. Gegen fünf Uhr. Noch drei Stunden bis zum Aufstehen. Mein letzter Gedanke vor dem Gang in Morpheus Arme: „Wer zur Hölle würde uns zum Frühstück aus dem Bett holen?“

Wir schafften es selbst, aus den Federn zu kriechen. Die Frage nach dem Wie sei dahingestellt. Todmüde absolvierten wir das letzte Frühstück und die finale Unterrichtseinheit. Anschließend erfolgte noch ein letztes gemeinsames Mittagessen in der mittlerweile tatsächlich gemütlich erscheinenden Enge der Kneipe, wohl auch deshalb, weil einige schon geflüchtet waren. Rene, Micha und Torsten gehörten dazu, ohne das ich mich von ihnen hätte verabschieden können. Ich saß mit Matthias, Marcel und Nicky an einem Tisch. Wir verabschiedeten uns wenig später. Ich wünschte Matze und Marci viel Glück und nahm Nicky vor dem Rest der übrig gebliebenen Gesellschaft zum Abschied in die Arme. „Ich hoffe, wir sehen uns schnellstmöglich wieder.“ „Verlass dich drauf, Bruder.“ Er stieg mit den anderen in den Bus, der zum Bahnhof fuhr. Ich war allein und sah mich nach Sebastian um. Der stand bereits hinter mir und jagte mir einen gehörigen Schrecken ein, als ich mich umdrehte. „Lass uns fahren“. Wenig später verließen wir die Wald-Idylle der Schlöhner Kaserne, die früher wirklich mal eine war, wie wir zum Schluss an der Rezeption noch erfuhren.

Es hieß Adieu Zivildienstschule, wir brausten Richtung Heimat, das ganze inklusive einiger derart riskanter Überholmanöver, die mich nah an den Herzinfarkt brachten. Ähnlich wie der Fahrer neben mir. Sebastian war… unbeschreiblich. Wir redeten, ich genoss seine Art, seine süßen Augen. Und irgendwann tat er tatsächlich das, wovor man mich gewarnt hatte: Er bog in einen Waldweg ein und hielt an. „Warum hast du mich vorgestern Nacht in den Arm genommen?“ „Du warst traurig. … und ich kann keine süßen, traurigen Jungs sehen.“ Er schaute mich sekundenlang an, plötzlich machte es klick in ihm und er fing zu erzählen an. „Die haben mich in Schlöhne alle nur fertig gemacht. Ich hab dem Steffen nur gesagt, dass ich mich für mich Matthias und Marcel freue und auch gerne… auch gerne einen Freund hätte. Und dann hat der Arsch mich so hintergangen. Hat es wirklich jedem erzählt, der ihm über den Weg gelaufen ist. Und dabei kein gutes Haar an mir gelassen. Weder er noch die anderen“. Ich lächelte ihn an: „Du bist an die Falschen geraten. Und dank Steffen weiß ich, dass uns ein bisschen mehr verbindet als nur die geografische Lage“ Er sah mich ungläubig an; „Ist das dein Ernst?“ „Mein voller Ernst “

Sebastian machte einen Schritt auf mich zu und legte seinen Arm auf meine Schulter. „Du bist so lieb. Aber kannst du mich auch lieben?“ Eine gute Frage. Noch vor zwei Tagen war Nicky meine große Liebe, die er jetzt mit der Bruder-Rolle getauscht hatte. Basti war aber zweifellos aus dem gleichen Holz geschnitzt. Und ich war dabei, mich zum zweiten Mal binnen kürzester Zeit zu verlieben. Es funkte mitten auf einer einsamen Lichtung – und wieder so kurzfristig. Seine Frage aber ließ ich zunächst noch unbeantwortet.

Bastis Fiesta hielt bei mir vor der Tür. „Und nun?“, frage er mich voller Abschieds-Angst. „Komm mit hoch, wenn du willst. Er wollte und saß später bei mir im Zimmer. „Kannst du dir vorstellen, dass aus uns was wird?, fragte er mich eindringlicher.“ Ich antwortete ihm. „Nein. Ich kann es mir nicht vorstellen . …. Ich weiß, dass aus uns was wird. Ich liebe dich.“ Wir versanken in einem nicht enden wollenden Kuss.

Am Sonntag saßen wir alle in dem Garten, der Matzes Vater gehörte und der nach der Flutung eines ehemaligen Tagebaus direkt am Wasser lag. Nicky war das einzige Opfer … er hatte seine Freundin verloren und nicht so schnell „Ersatz“ gefunden wie ich. Obwohl Basti alles andere als Ersatz war. Meine große Liebe… Ich hatte nie daran geglaubt, mich binnen kürzester Zeit zu verlieben. Und dann war es gleich zweimal in zwei Tagen passiert. Geschichten, die das Leben schreibt. Ich hatte allen Grund, glücklich zu sein. Wie Matze und Marci neben mir und der Mann in meinen Armen. Basti….

Einen Tag später betrat ich meine Station. Der Dienstalltag begann wieder. Aber nach dem Ende eines langen Arbeitstages lauerte jetzt das große Glück.

Basti und ich, Marcel und Matthias sowie Nicky werden Schlöhne nie vergessen. Lebenswege, die sich kreuzten, um sich nie wieder zu trennen.

Basti, Matze, Marci, Nicky… Danke, dass es Euch gibt! So war es 1997, und so ist es in diesem Jahr immer noch.

ENDE

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