Es war ja nicht so, dass Aberdeen direkt neben London lag. Auch er musste wohl den nächsten Flieger genommen haben, als ihm Dema alles erzählte. Mum scheuchte uns die Treppe hinauf, weil wir alle neugierig vor der Tür herumlungerten.
„Och menno…“, beschwerte sich Sabrina, deren Ohr fast an der Tür klebte.
„Das geht euch nun wirklich nichts an!“
Als ich die Treppe hinauf kam, stand da nicht nur Oma, sondern auch mein Opa Lewis.
„Opa, du bist auch da? Das hat mir niemand gesagt!“
Freudig fiel ich ihm um den Hals. Dabei sah ich, wie Oma mit ernstem Blick nach unten schaute.
„Alles okay?“, fragte ich sie.
„Fast zwanzig Jahre… und nur wegen den Lügen dieser Frau…, hoffentlich geht alles gut.“
Ich legte meine Hand auf ihren Arm.
„Was soll da schief gehen? Bei uns hat es doch auch funktioniert! Zudem ist bis jetzt noch niemand laut geworden.“
„Jack hat Recht, Brenda! Die werden das schon irgendwie miteinander ausmachen…“, kam es von Opa Lewis.
*-*-*
Frisch geduscht und angezogen, lief ich bis zum Ende des Flurs, wo meine Großeltern unter gebracht waren. Das nun auch Opa da war, konnte ich nicht einfach in meinem Zimmer herum lungern und warten, bis Taylor endlich Feierabend hatte. Leise klopfte ich an.
„Herein!“, hörte ich es drinnen sagen und ich öffnete die Tür.
„He, hallo Jack“, begrüßte mich Opa Lewis freudestrahlend.
„Hallo Opa… Oma.“
„Mmmmh, da hat wohl einer frisch geduscht! Der Geruch vom Stall ist gewichen“, grinste mich Opa an.
„Hast du etwas gehört?“, fragte Oma Brenda ernst.
„Was soll ich…, ach so, du meinst wegen denen unten, nein, es ist nach wie vor, nichts zu hören oder zu sehen.“
„Brenda, das ist doch ein gutes Zeichen, wenn sich Dema und Gavin so lange mit Mason aussprechen. Es sind schließlich fast…“
„…zwanzig Jahre her, dass sie sich gesehen haben“, beendete Oma Brenda Opas Satz.
„Es kann nur besser werden!“, meinte ich und ließ mich neben Opa Lewis auf dem Bett nieder.
„Wie kommt es, dass du mit Gavin hier her gekommen bist?“
„Ich habe ihn angerufen“, kam es von Oma Brenda.
„Ja, das war auch gut so. Wie deine Großmutter schon vermutete, wollte Gavin nicht nach London, er traute der ganze Sache nicht!“
„Hat er immer noch Olivias Worten geglaubt, nach dem, was sie alles angerichtet hat? Wie hast du es dann fertig gebracht, ihn trotzdem hier her zu bringen.“
„Mit Androhung von Prügel!“
Während ich Opa Lewis etwas schockiert anschaute, fing Oma Brenda an zu lachen. Das war schon einmal gut.
„Glaub deinem Opa nicht alles!“, meinte sie.
„Nein, Spaß beiseite, ich habe ihm den Kopf gewaschen und angedroht, dass er unsere jahrelange Freundschaft gefährdet!“, erklärte Opa Lewis.
„Warum gefährdet?“
„Weil ich und deine Großmutter uns sicher nicht von Mason abwenden, so wie er es bisher getan hat.“
„Ja, das wäre schade für die Zwillinge“, meinte ich.
Es klopfte an der Tür.
„Ja, herein!“, rief Opa Lewis.
Die Tür ging auf und Tante Abigail, gefolgt von Mum kamen herein.
„Oh Jack, du bist auch hier“, sagte Abigail, während Mum die Tür hinter sich schloss.
„Schon was Neues da unten?“, war ich nun, der neugierig die Frage stellte.
„Es wird eine Zeit dauern, Jack, bis sich die Wogen geglättet sind. So viele Jahre kann man nicht einfach unter den Tisch kehren“, sagte Mum und stellte sich neben ihre Mutter.
„Warum ich gekommen bin?“, sagte nun Abigail, „ich wollte euch fragen, wie eure Pläne sind? Bleibt ihr noch ein paar Tage hier, oder reist ihr mit den anderen morgen ab?“
Oma Brenda griff nach Mums Hand.
„Lewis hat uns in London ein Zimmer besorgt und wir werden bis Ende nächster Woche in London bleiben…, natürlich nur, wenn unsere Tochter und der Enkel nichts dagegen haben!“
Sie sagte das mit einem Lächeln. Auch Opa Lewis grinste.
„Oma, warum sollte ich etwas dagegen haben? Gut, ich habe zwar Schule, aber die Abende können wir gemeinsam verbringen.“
„… und deine Großmutter wird Charlottes Schuhladen leerkaufen!“, sagte Opa Lewis.
Mum hob die Hand vor ihren Mund und kicherte. Auch ich musste unweigerlich grinsen.
„Mann, ich habe genug Schuhe!“
„Brenda, man kann nie genug Schuhe haben. Da ihr dann, wie die anderen sicher am späten Vormittag abreisend werdet, dachte ich, dass wir heute Abend noch einmal zusammen das Dinner einnehmen?“
„Wird euch das auch nicht zu viel?“, fragte Oma Brenda besorgt, „reicht überhaupt der Platz unten? Wie viele sind wir denn?“
„Neunzehn, du siehst es ist genügend Platz unten.“
„Neunzehn?“, fragte ich, schnell nachgerechnet, „ich komme nur auf siebzehn.“
„Wir haben noch Gregory Großeltern eingeladen. Edward und Isabelle haben schon zugesagt.“
„Gute Planung, wie immer!“, grinste Mum.
*-*-*
Wie Caitlin so schnell diese herrlichen Sachen zauberte, war mir mal wieder ein Rätsel, aber der Tisch wirkte trotzdem nicht überladen. Da stand ein Braten, daneben Schüsseln mit gebratenen Kartoffeln und natürlich viel Gemüse.
Der ganze Raum war vom Duft des Essens erfüllt. Natürlich war der Geräuschpegel wieder groß, denn alles redete durcheinander. Aber ich freute mich trotzdem. Die Zwillinge saßen bei ihrem Großvater und unterhielten sich angeregt.
Nur fröhliche Gesichter um mich herum. Grandpa griff nach meiner Hand und hatte so wieder meine volle Aufmerksamkeit.
„Das haben sie alles dir zu verdanken“, meinte er leise zu mir.
„Wieso mir, ich habe doch diesmal wirklich nichts getan!“
„Doch, du hast im vergangen Herbst alles ins Rollen gebracht und das hier…“, Grandpa ließ seine Hand einen kleine Kreis vollführen, „ist das Resultat daraus!“
Darauf wusste ich nichts zu sagen. Dies war mir jetzt irgendwie unangenehm und spürte, wie meine Wangen anfingen zu glühen.
„Du kannst stolz auf dich sein“, ich bin es auf alle Fälle“, sprach Grandpa.
Taylor neben mir nickte lächelte und tätschelte meinen Schenkel, wo seine Hand bisher geruht hatte.
„Vater hat Recht“, mischte sich nun Abigail ein, „ohne dein herziges Handeln, wäre das hier nie zu Stande gekommen.“
Ich hob meine Hände und winkte abwehrend.
„Das war ich nicht alleine! Ohne eure Hilfe und zutun, wäre es nie so weit gekommen!“
„Das mag zwar stimmen, aber du bist der Hauptgrund!“, sagte Mum.
„Deine Mutter hat Recht!“, sagte nun Opa Lewis, „wehre dich nicht dagegen und freu dich wie wir, Jack!“
Ich gab es auf und sank etwas in mich zusammen. Wie sollte ich mich auch gegen diese gewaltige Erwachsenenpower wehren. Mein Blick wanderte erneut an der Tafel entlang, wo durchweg alle am Lächeln waren.
Eigentlich so, wie ich es mir immer gewünscht hatte, seit ich diesen Zweig der Familie kennen gelernt hatte. Mein Umherschauen endete bei Taylor, der mich immer noch anlächelte.
„Du machst das toll und ich bin stolz, dass ich dein Freund sein darf!“, sagte er leise.
„Könntest du bitte aufhören!“, sagte ich verschämt.
Ich klimperte mit meinen Augen, weil ich spürte, wie meine Tränengänge ihren Betrieb aufnahmen.
„Sonst fang ich hier noch an zu heulen.“
Zurückhalten konnte ich sie natürlich nicht mehr und schon liefen die ersten Tränen über meinen Wangen. Taylor hob seine Hand und wischte einige davon weg. Die letzten Tage waren emotional einfach zu viel für mich.
Was in den letzten Wochen und auch Monate passierte, war immens und musste erst verarbeitet werden. Ich beugte mich zu Taylor hinüber und fiel ihm in den Arm. Ich spürte, wie er sanft durch meine Haare strich.
„Ist gut mein großer starker Held!“, flüsterte er leise.
„Könnt ihr das nicht auf später in euer Zimmer verschieben?“, rief plötzlich Gregory und die anderen fingen an zu lachen.
Ich ließ Taylor wieder los und wischte mir die Tränen ab.
*-*-*
Es war schon zur Gewohnheit geworden, dass wir nach dem Abendessen noch ein wenig sparzieren gehen wollten. Dieses Mal hatte sich das Jungvolk entschieden, Gregory und seine Großeltern an die Einfahrt zum Grundstück zu begleiten.
Natürlich hätte das Taxi die beiden auch direkt am Haus abholen können, aber so konnten sich alle die Beine vertreten. Ich lief mit Taylor, wie immer am Schluss, Hand in Hand hinterher.
„Über was denkst du nach?“, fragte Taylor.
Ich musste grinsen.
„Wie ich dich vergangenen Herbst zur Einfahrt brachte, weil deine Schwester dich abholte. Diese schmale Allee, gepflastert mit den weltbesten Küssen! Es fühlt sich im Nachhinein alles irgendwie unreal an!“
„Die Küsse kannst du jederzeit wieder haben!“
Er beugte sich leicht zu mir und gab mir einen kleinen Kuss auf die Wange. Natürlich bleib diese Aktion nicht unbemerkt geblieben. Im Schein der Fackeln und Taschenlampen sah ich wie Mum sich gerade zu uns drehte und lächelte.
Sie war mit Abigail mitgelaufen, während der Rest, der älteren Herrschaften im Haus geblieben waren.
„Ich bin trotzdem glücklich!“, sagte ich leise.
„Das ist das Wichtigste!“, meinte Taylor und drückte meine Hand.
„An das alles hier, habe ich mich schon gewöhnt. Aber spätestens Morgen, werde ich es vermissen!“
„Du wirst mir doch jetzt nicht traurig werden?“, kam es von Taylor.
„Nein keine Sorge…, naja vielleicht, dass wir uns dann für eine Weile wieder nicht sehen können!“
„Ich müsste lügen, wenn es mir nicht genauso ginge. Man gewöhnt sich schnell an solche Dinge, wie gemeinsam Essen, oder die Abende miteinander zu verbringen.“
„… oder zusammen das Bett teilen…und gemeinsam aufwachen…!“, flüsterte ich.
Taylor grinste mich an, obwohl er wie ich glasige Augen hatte.
„Auch das…! Aber ich halte mir immer vor Augen, dass wir ab Herbst zusammen sind, wenn ich dann nach London komme.“
„… und an Ostern, im Sommer, oder andere Möglichkeiten! Stimmt, du hast Recht!“
„Eigentlich hättet ihr das schon viel früher haben können!“
„Das weiß man nicht. Das irgendwie alles gut ausgegangen ist und alle Familien wieder zusammen gefunden haben, ist fast schon ein Wunder.“
„Das Wunder von Newbury Manor“, sagte Taylor mit betont tiefer Stimme.
Ich musste lachen.
„Naja, in die Geschichtsbücher wird es wohl nicht eingehen!“
„Das mag wohl stimmen, aber jeder hier wird es in guter Erinnerung halten, auch wenn ein paar schlimme Dinge passiert sind.“
Am Tor der Einfahrt endlich angekommen, dauerte es nicht lange und Taxi kam angefahren. Der Fahrer staunte nicht schlecht, wie viele Leute hier am Straßenrand standen und alles schön ausgeleuchtet.
Gregory verabschiedete sich von seinen Großeltern, aber nicht ohne noch mahnende Worte von Edward anhören zu müssen. Das Taxi drehte und als es losfuhr, winkten wir alle hinterher.
Dann machten wir uns auf den Rückweg zum Haus. Während meine Cousins mit Sabrina und den Zwillingen an uns vorbeizogen, liefen Abigail und Mum nun neben uns her.
„Deine Mutter hat mir von dem Skandal an eure Schule erzählt“, sagte Abigail plötzlich.
„Ja. Ich kann das irgendwie immer noch nicht fassen… und es war ja nicht nur an unserer Schule.“
„Und wie geht es nun weiter?“
„Wir haben bereits einen neuen Lehrer, der uns bis zu den Prüfungen erhalten bleiben wird.
Wie es sich mit den anderen Lehrern verhält, weiß ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Ministerium so viel Ersatzlehrer auf Lager hat. Hr. Hughes unser Klassenlehrer erzählte auch, dass der Rektor der Schule ebenso gehen muss.“
Als ich das sagte, schaute ich zu Mum, unsere Blicke kreuzten sich kurz.
„Das nimmt ja Ausmaße an…“, sagte Tantchen geschockt.
„.. und die Unterrichtsausfälle sind bereits vorprogrammiert“, kam es von Mum.
„Das kann sein…, lassen wir uns einfach überraschen. Was mir gerade einfällt, wie machen wir das morgen? Wenn Opa und Oma, Dema und Gavin auch mitfahren…, ist der Transporter dann nicht zu klein?“
„Auch dieses Problem wurde bereits gelöst“, sagte Mum.
„Morgen wird ein weiterer Leihwagen gebracht“, erklärte Abigail.
„Morgen ist Sonntag!“
„Nicht wundern!“, sagte Taylor grinsend neben mir.
„Mason nimmt seine Eltern, die Zwillinge und deine Großeltern mit. Sie fahren direkt ins Hotel“, klärte uns Tantchen weiter auf.
„Und der Rest, also wir fahren wieder mit Henry zurück“, fügte Mum an.
„Wenn das so weiter geht, kann Grandpa bald ein Transportunternehmen eröffnen, es wir ja schließlich nicht der letzte Besuch sein“, kicherte ich.
„Und das hat er dann dir zu verdanken“, sagte Mum.
„Ach Mum fang nicht schon wieder damit an, das hatten wir heut Abend schon zur Genüge!“
Lachend folgten wir dem anderen Trupp.
*-*-*
Der Abend zog sich lange hin. Man hatte sich auf das untere Stockwerk verteilt. Einige waren in der Bibliothek. Niclas und einige andere natürlich im Kaminzimmer, wo immer noch die Eisenbahn stand.
Ich dagegen saß mit Mum und Taylor und meinen Großeltern immer noch im Speisezimmer. Abigail kam zurück und stellte eine Etagere mit verschiedenem Gebäck auf den Tisch.
„Abigail, haben wir heute Abend nicht schon genug gegessen?“, fragte Mum.
„Du wirst dir doch Caitlins tolles Teegebäck nicht entgehen lassen.“
„Sie trinkt Rotwein“, grinste ich.
Opa Lewis lachte. Auch er und Oma Brenda hatten einen Rotwein vor sich stehen. Nur ich und Taylor tranken Tee.
„Das passt zu allem“, meinte Oma Brenda und griff zu.
Abigail ließ sich neben Mum nieder.
„Ich habe mit Vater gesprochen und er meinte, ob wir nicht einen Abend nach London kommen und mit euch Essen gehen“, sagte Abigail zu meinen Großeltern.
„Wird dir das nicht zu viel?“, fragte Mum, „am selben Abend noch zurück fahren?“
„Wer sagt denn, dass wir zurück fahren müssen. Es gibt wohl genug Hotels mit Betten, die uns eine Nacht aufnehmen!“, grinste Abigail.
Damit war wohl meine aufkommende Frage schon beantwortet. Da konnte mein Schatz natürlich nicht mitkommen. Er musste ja morgens wieder seinen Dienst antreten.
„Oder was meinst du Taylor?“, fragte plötzlich Abigail.
Mein Schatz, der gerade an seinem Tee nippte, verschluckte sich leicht und hüstelte.
„…ähm, wieso ich?“
„Du wirst uns doch wohl nicht alleine in die große gefährliche Stadt fahren lassen wollen?“
Meine Wundwinkel gingen nach oben und auch der Rest fing an zu grinsen.
„Aber mein Dienst…?“
„James wird einen Morgen auch ohne dich auskommen, zudem hat er ja jetzt auch Christine zur Unterstützung!“
Die Tür ging auf und Grandpa kam herein.
„Ach hier seid ihr, ich dachte schon, ihr hättet euch aufs Zimmer zurück gezogen.“
„Wir reden gerade darüber, dass wir zwei mit Taylor einen Abend in London verbringen werden. Taylor scheint das aber nicht zu gefallen.“
Mein Schatz wurde rot und Grandpa ließ neben mir nieder.
„Das soll ich glauben? Er will meinen hinreisenden Enkel nicht sehen?“
Ich presste die Lippen zusammen, um nicht laut loszulachen. Mum schien es ähnlich zu gehen.
„Er kann nicht ohne seine Arbeit sein“, setzte Tantchen noch eins oben drauf.
Jetzt war alles zu spät, ich prustete los. Mein Schatz schaute mich dafür böse an.
„James und Christine werden einen Morgen ja ohne ihn auskommen“, grinste Grandpa.
„Das habe ich auch gesagt“, kam es von Abigail.
„So viele Pferde müssen sie ja auch nicht versorgen“, mischte sich nun Opa Lewis ein.
„Du, täusch dich nicht! Joseph hat die Herde vergrößert!“, sagte Mum.
„Mehr Pferde?“, sagte Opa Lewis erstaunt.
„Du müsstest einmal sehen, wenn sie alle über die Wiese rennen“, schwärmte ihm Oma Brenda vor.
„Vater dachte, wenn Besuch kommt, müssen auch genug Pferde da sein, damit alle ausreiten können!“, erklärte Tantchen.
„Dann werde ich morgen vor der Abfahrt noch hinüber laufen, dass möchte ich natürlich auch sehen“, sagte Opa Lewis.
„Gerne“, sagte mein Schatz und lächelte nun wieder.
*-*-*
Es kam, wie es kommen musste. Wie in den vergangenen Tagen lag ich wieder alleine im Bett. Mein Schatz war zu seinem Dienst verschwunden. Schweren Herzens stand ich auf und begab mich ins Bad.
Wenigstens konnte ich ihn nächste Woche noch einmal sehen, bevor eine lange Durststrecke kommen würde. Ich durchlief das Bad und nahm meine Sachen gleich mit ins Zimmer. Musste ich doch noch alles einpacken.
Ich legte die Klamotten, die ich anziehen wollte aufs Bett und räumte den Rest in die Tasche. Danach zog ich mich an. Mein Blick fiel auf den Karton mit den Heftern. Ihn würde ich wohl auch mitnehmen.
Mit hinuntertragen, da müsste ich zweimal laufen, oder ich stellte meine Tasche obendrauf. Ich schaute mich noch einmal im Zimmer um, ob ich auch nichts vergessen hatte. Dann zog ich meine Jacke an, nahm Karton nebst Tasche und ging zur Tür.
Umständlich öffnete ich sie und lief so bepackt dann die Treppe hinunter. Unten angekommen, deponierte ich alles neben die Treppe auf dem Boden. Meine Jacke warf ich einfach darüber.
„Du hast schon gepackt?“
Das war Mum, die gerade die Treppe herunter kam.
„Ja, dann brauch ich es nachher nichts mehr tun.“
Sie kam zu mir, umarmte mich und gab mir ein Küsschen auf die Wange.
„Guten Morgen Schatz“, meinte sie lächelnd.
„Morgen Mum!“, erwiderte ich.
„Willst du den wirklich mitnehmen?“, fragte sie, als den Karton unter meiner Tasche sah.
„Ja, die gehören doch Dad und ich habe noch nicht alle gelesen.“
„Wird sicher niemand etwas dagegen haben!“
„Warum auch… sind Opa und Oma auch schon wach?“
„Ich denke schon, zuhause stehen sie auch immer Recht früh auf.“
Mum hängte sich bei mir ein und zog mich zum Esszimmer.
„Wer hätte gedacht, dass dies so ein aufregendes Wochenende werden würde.“
„Da gebe ich dir Recht und ich muss zugeben, ich habe nicht mal großartig an die Ereignisse, der letzte Woche gedacht, außer es kam zur Sprache.“
„Dann hat das Wochenende ja seinen Zweck erfüllt!“
Ich öffnete die Tür und wir traten ein. Wie gewohnt saßen da Tantchen und Grandpa mit Niclas. Neben dem Zwilling saß aber auch Gavin, sein Großvater.
„Guten Morgen!“, sagte ich fröhlich, während Mum die Tür schloss.
„Da hat einer gut geschlafen“, hörte ich Abigail sagen.
„Würdest du auch, wenn du neben so einem attraktiven Mann schlafen würdest“, sagte Mum und nahm sich einen Teller.
Leicht entsetzt sah ich Mum an. Sie fand meinen Freund gutaussehend?
„…und erst die Frauenherzen, die er an der Uni brechen wird, wenn sie erfahren, dass er bereits vergeben ist“, grinste Abigail.
Ich schaute zwischen den zwei Frauen hin und her. Die anderen saßen da und grinsten sich eins.
„Pferdewirt bricht hunderte von Herzen steht dann in der Daily Telegraph“, kam es wiederum von Mum und Abigail fing an zu lachen.
„Redet nicht so von meinem Schatz!“, beschwerte ich mich.
„Wieso? Du wirst doch nicht glauben, dass Taylor bei seinem Aussehen und Freundlichkeit nicht auffällt?“, fragte Mum.
„Er wird aber sicher keine Frauenherzen brechen…!“
Ich wusste ja, dass die beiden mich nur aufziehen wollten, aber ich ärgerte mich trotzdem.
„Dann halt ein paar Männerherzen!“
„Abigail!“
Nun lachten alle am Tisch. Ich nahm mein Teller und setzte mich wie immer neben Grandpa, der auch grinste.
„Hör nicht auf ihr Gerede! Taylor ist ein anständiger junger Mann.“
„Ich habe nie etwas anderes behauptet“, wehrte sich Tantchen.
„Hast du die Eisenbahn schon abgebaut?“, fragte ich Niclas, um endlich dieses Thema zu wechseln.
„Alles verpackt und verschnürt. Großvater und Stan haben mir geholfen.“
„Und wo willst du dieses Bahn aufbauen, hast du dann überhaupt Platz dafür?“
„Weiß ich noch nicht… Großvater hat aber den Vorschlag gemacht, dass etwas höher ein Regal mit dieser Spur anlege, die dann einmal alle Wände abfährt. So wie man das ab und zu in Restaurants oder anderen Läden sieht. Leider fehlen mir dafür aber die Schienen!“
„Kann man so etwas nicht übers Internet kaufen?“, fragte Mum.
„Da gibt es sicher einige Verkaufsportale, die so etwas anbieten“, meinte Tantchen.
„Da hast du ja viel Arbeit vor dir“, sagte ich zu Niclas.
„Vielleicht finde ich ja jemand, der mir hilft.“
Niclas schaute mich an und legte ein Dackelblick auf, dass es sich gewaschen hatte.
„Mit mir brauchst du nicht zu rechnen, es stehen die Abschlussprüfungen an!“
Konnte man einen Dackelblick steigern?
„Naja… vielleicht wenn ich eine Pause brauche…“
*-*-*
„Junior, es reicht…“, rief Mum vom Wagen aus.
Ich wollte Taylor gar nicht mehr los lassen, am besten gleich mitnehmen. Mein Schatz drückte mich von sich weg.
„Sie warten auf dich…!“
Ich seufzte und ließ Taylor los.
„… wir telefonieren heute Abend?“
„Klar!“, lächelte Taylor und ließ mich dann einfach stehen.
Ohne sich umzudrehen hob er die Hand und winkte. Ich lief zum Auto, stieg ein und zog die Tür. Auch Mum war vorne bei Henry eingestiegen, während mein Onkel bereits den Motor startete.
Traurig sah ich hinaus und winkte Grandpa und Abigail zu. Dann heulte der Motor kurz auf und fuhr los.
„Das wird ja immer schlimmer!“, hörte ich Sabrina hinter mir sagen.
„Du kannst deinen Freund ja auch mit nach London nehmen!“, sagte Gregory.
Dazu sagte ich gar nichts, sondern ließ mich tiefer auf meine Sitzbank sinken und verschränkte die Arme vor mir. Warum tat es dieses Mal nur so weh, als hätte ich ihn verloren?
Onkel Henry hatte die Einfahrt zum Grundstück erreicht und zog auf die Straße hinaus. Noch einmal wanderte mein Blick auf Newbury Manor, bevor es hinter Bäumen und Büschen verschwand.
Vor und hinter mir unterhielt man sich leise. So war ich unbehelligt, weil ich ja dieses Mal alleine saß. Niclas war im anderen Wagen bei seinen Großeltern. Ob ich die Familie Finley vor ihrer Abreise noch einmal zu Gesicht bekommen würde, wusste ich nicht.
Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn ein Handyklingeln weckte mich.
„Guten Morgen…, nein ich bin nicht in London, aber auf dem Weg zurück dort hin“, hörte ich Onkel Henrys Stimme.
Ich öffnete die Augen und schaute nach vorne.
„Wenn sie einen Augenblick warten, dann fahr ich links ran.“
Gut, dass wir noch nicht auf dem Highway waren, so war dies kein Problem. Es sagte mir aber auch, dass ich nicht lange geschlafen hatte, wenn wir immer noch in Newbury waren. Onkelchen zog links zur Seite und hielt den Wagen an.
Danach stieg er aus und ich konnte nur sehen, wie er weiter in sein Handy sprach. Plötzlich riss er seine Augen weit auf. Dann schaute er kurz nach oben, bevor sein Hand die Augen bedeckte.
Er sagte kurz etwas in sein Handy, bevor er dieses sinken ließ. Mum war ausgestiegen und zu ihm gegangen. Er sagte etwas und Mums Hand fuhr hoch zum Mund. Was war da passiert? Ich wollte ebenso aussteigen, aber sah dann, dass Mum Henry in den Arm nahm und er sein Gesicht auf ihrer Schulter versenkte.
Hinter mir schien das Ganze niemanden aufgefallen zu sein, denn die vier unterhielten sich angeregt weiter. Erst als ich meine Tür aufschob, verstummte das Gespräch. Ich stieg aus und lief zu den beiden hin.
„Ist etwas passiert?“, fragte ich leise.
Onkel Henry zuckte leicht, richtete sich dann aber auf. Mum schaute zu mir.
„Olivia hat… sich das Leben genommen…“
„Was? … aber wie…?“
Mum antwortete nicht, sondern schüttelte nur den Kopf. Wie konnte das nur passieren? War sie nicht ständig unter Bewachung? Was wurde jetzt aus Jayden und Molly? Wie würden sie das verkraften?
Ich drehte mich zum Auto, in dem die vier immer noch saßen, aber in meine Richtung schauten. Sabrina schien etwas zusagen, aber Gregory zuckte nur mit seinen Schultern.
„Ich muss es den Kindern sagen…“, hörte ich Henry hinter mir.
Mein Blick wanderte wieder zu Mum und meinem Onkel.
„Willst du nicht bis London warten?“
Er schüttelte den Kopf.
„Auch auf die Gefahr hin, irgendwelche Weinattacken ertragen zu müssen, sie sollten es gleich erfahren.“
„Wie du meinst“, meinte Mum und Henry lief an mir vorbei.
Mum kam zu mir und legte ihre Hand auf meine Schulter.
„Das ist schrecklich…!“, sagte sie leise.
„Wie werden die zwei das verkraften?“
„Jack, ich weiß es nicht…, es war schließlich ihre Mutter.“
*-*-*
Im Wagen herrschte absolute Stille, nur das Motorengeräusch war zu hören. Während Molly vorne zwischen Mum und Henry saß, Mum hatte ihren Arm um sie gelegt, war Sabrina bei Jayden geblieben.
Gregory saß nun bei mir, auch er hatte glasige Augen. Ich griff nach seiner Hand und drückte sie. Er atmete tief durch und legte seinen Kopf auf meine Schultern.
„Die beiden haben ihre Mutter verloren…, du deine Vater und ich beide… In der Familie ist der Wurm drin!“, sagte er leise.
„Zum einem lebt deine Mutter noch und es liegt nicht an dieser Familie!“
„Du weißt wie ich das meine…“
„Ja weiß ich. Trotzdem fühle ich mich gerade hilflos, weil ich nicht weiß, wie ich mich benehmen soll.“
„Einfach wie immer… für die beiden da sein, wenn sie dich brauchen. So wie du es schon vorher gemacht hast. Bei mir, den beiden, oder bei Niclas…“
Auch ich atmete tief durch und hielt Gregorys Hand immer noch fest. Henry hatte es seinen Kindern gleich gesagt, aber er wollte bis London warten, es Olivias Verwandtschaft zu erzählen.
Wie er sich jetzt wohl fühlte? Er hatte diese Frau ja wahrscheinlich irgendwann einmal geliebt, Und wäre das nicht genug, die Presse würde ebenso Wind davon bekommen, da war ich mir sicher. Da würde noch einiges auf ihn zukommen.
„Sie hat sich einfach aus dem Staub gemacht“, hörte ich plötzlich Jayden hinter mir.
Gregory setzte sich auf und schaute nach hinten.
„Ich habe mal gelesen, dass wenn man so etwas macht, da ist man so mit sich selbst beschäftigt, dass man an niemand anders denkt“, sagte Sabrina ungewohnt leise.
Jayden lachte bitter auf. Tränen liefen über sein Gesicht.
„… das hat sie doch immer…, nur an sich gedacht“, sagte er weinerlich.
Sabrina zog ihn enger zu sich.
„Denkst du wirklich?“, fragte sie fast nicht hörbar.
„Sie ist eben nicht wie Jacks Mum…, die ist cool!“, sagte Jayden, bevor er sich völlig in Sabrinas Armen vergrub.
Das drückte auf die Tränendrüse, das tat weh dies zu hören. Klar hatte ich Glück mit Mum, aber konnte man sie, im Bezug auf das, wirklich mit anderen vergleichen?
*-*-*
Wir standen vor unserem Haus und schauten dem Wagen hinter her. Schweren Herzens hatten wir sie alleine gelassen.
„Es hilft nichts, wir können nicht die ganze Zeit hier stehen bleiben! Rein mit euch beiden“, sagte Mum.
Sie schloss die Haustür auf und betrat das Haus. Ich schaute zum Briefkasten, der überquoll. Ich zog alles heraus und folgte Mum zur Wohnung. Solange waren wir doch nicht weg. Mum schloss auf und gemeinsam betraten wir die Wohnung.
„Sollen wir deine Wäsche wieder mit waschen, Gregory?“, fragte Mum.
„Das wäre nett…“, antwortete Gregory, der noch im Flur stand.
„Dann bring sie nachher einfach mit herunter.“
„Mach ich…“, meinte er und schon war er verschwunden.
Ich schloss die Tür und ging direkt in mein Zimmer. Dort ließ ich meine Tasche auf den Boden gleiten und setzte mich auf Bett.
„Schatz, schmeiß deine Sachen einfach in die Wäschetrommel. Ich wasch aber erst morgen, ich habe heute keine Lust mehr dazu.“
„Musst du doch auch nicht!“, rief ich zurück.
Ich entledigte mich meiner Jacke und Schuhe. Dann stand ich wieder auf und machte mich daran, meine Tasche zu leeren und die Sachen zu verräumen. Als letztes stellte ich mein Laptop auf den Schreibtisch.
Sollte ich es Taylor schreiben? Auf Newbury Manor würden sie es sicher auch noch heute erfahren, wenn sie es nicht schon wussten. Ich zog mein Handy hervor. Oder sollte ich es ihm heute Abend erzählen?
Ich war mir absolut nicht sicher. Gut, Taylor hatte mit Olivia nicht direkt zu tun, aber schrieb man so etwas als Mitteilung? Ich legte das Handy zum Laptop, griff mir dem Stapel Dreckwäsche und lief zum Bad.
Ich musste grinsen, denn es roch hauptsächlich nach Stall. Sollte ich etwas im Zimmer behalten, dass ich immer daran schnuppern konnte? Ich schüttelte den Kopf und warf alles in die Trommel, die danach gut gefüllt war.
Mit Mum und Gregorys Sachen würde sie dann überquellen. Ich verließ das Bad wieder und suchte Mum. Sie war in ihrem Zimmer und räumte etwas in die Kommode. Am Türrahmen stehend beobachte ich sie.
„Was hast du auf dem Herzen?“, fragte sie, ohne zu mir zu schauen.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das, Taylor schreiben soll.“
„Wieso denn nicht?“
„Ist das nicht irgendwie… unpersönlich…, so etwas in einer Mitteilung zu schreiben?“
„Nein, denke ich nicht! Ich habe Abigail auch eine kurze Nachricht zukommen lassen. Ob sie es Jakob erzählt, weiß ich allerdings nicht.“
An Grandpa und meine Großeltern habe ich gar nicht mehr gedacht. Sie waren zwar wie Gavin und Dema nicht direkt betroffen, aber sicher würden auch sie sich so ihre Gedanken machen.
„Auch wenn sich das jetzt hart anhören sollte, es ist für alle vielleicht das Beste“, meinte Mum und schob die Schublade zu.
„Wie meinst du das?“, fragte ich leicht schockiert.
Sie lief an mir vorbei in den Flur.
„Auch einen Kaffee? Den habe ich jetzt nötig.“
Ich nickte nur und folgte ihr in die Küche. Sie schaltete die Maschine ein und zog zwei Tassen aus dem Schrank, dann hielt sie inne.
„Ist es für Jayden und Molly nicht besser, dass ihre Mutter verstorben ist, als ständig daran erinnert zu werden, dass sie ist in einer Anstalt für Geisteskranke einsitzt?“
„Aber… aber sie haben ihre Mutter doch dann unwiderruflich verloren…“
„Haben sie das nicht schon vorher?“
Mums zog ihre Stirn in Falten.
„Seien wir ehrlich Jack, Olivia war keine Feine, wie wir es im Nachhinein erfahren haben. Ich weiß, das hört sich jetzt alles eiskalt an, aber ich denke auch, es ist wirklich für alle besser, wenn sie nicht mehr da ist.“
„Ich weiß nicht recht… in so eine Richtung habe ich noch nie gedacht.“
„Sollst du auch nicht, Jack und du kannst das auch nicht überall anwenden…, nur im Fall Olivia, ist es wirklich besser. Ein kleines Beispiel…“, Mum stellte die Tassen unter den Kaffeeautomat, „wenn Jayden oder Molly nach ihrer Mutter gefragt werden, ist es nicht besser, sie können sagen, sie ist verstorben, als sich irgendetwas ausdenken zu müssen, weil sie in der Anstalt war?“
Da hatte Mum Recht, das war wirklich besser und wenn man daran dachte, wie Olivia sich aufführte, gerade gegenüber ihren Kindern, war es vielleicht wirklich besser, wenn sie nicht mehr da ist.
Das Klopfen an unserer Haustür entriss mich der Gedanken.
„Das wird sicher Gregory sein“, meinte Mum.
Ich lief in den Flur und öffnete die Wohnungstür. Wie nicht anders erwartet, stand da Gregory.
„Darf ich bei euch bleiben, die da oben streiten sich schon wieder…“
Die Stimmen der Streithähne drangen bis hier unten. Es war das erste Mal, dass ich einen Streit von da oben hier hören konnte.
„Sicher!“, sagte ich und zog ihn in die Wohnung.
„Du weißt wo die hinkommt“, fügte ich noch hinzu und zeigte auf den kleine Büschel Klamotten, den er unter den Arm geklemmt hatte.
Dann lief ich zurück zu Mum.
„Die streiten schon wieder“, meinte ich und ließ mich wieder auf dem Stuhl nieder.
„Wer?“
„Gregorys Nachbarn!“
„Vielleicht besser wenn sie ausziehen…“, sagte Mum.
Gregory kam herein. Er hatte sich bereits umgezogen und trug seinen Jogginganzug.
„Auch einen Kaffee?“
„Nein danke…“, antwortete Gregory und ließ sich neben mir nieder.
„Auch gut“, meinte Mum und kam mit den zwei vollen Tassen an den Tisch.
„Weißt du, um was es da oben geht?“, fragte ich.
„Das kannst du dir aussuchen… Schwiegereltern des Mannes, um die Arbeitsstelle, Ansehen der Familie oder dem lieben Geld.“
„Doch so heftig“, meinte Mum und setzte sich.
„Das liebe Geld…“, blabberte ich einfach nach.
„Tja Jack, das ist nicht nur in unserer Familie Thema“, sagte Mum und nippte am Kaffee.
Sie verzog leicht das Gesicht, er schien wohl noch zu heiß.
„Dann habe ich noch mitbekommen, dass der Frau unsere Gegend hier nicht vornehm genug sei“, erklärte Gregory grinsend.
„Vielleicht sollte ich hoch gehen und dem Mann sagen, dass die Familie das Haus mit zwei waschechten Baronen teilt“, lächelte ich.
„Wieso dem Mann?“, fragte Gregory.
„Damit er sich gegen die Frau wehren kann!“
„War das alles im Briefkasten?“, fragte Mum und zeigte auf den Büschel Brief, der auf der Küchentheke lag.
„Ja, aber ich denke, das ist alles Werbung.“
„Gib mal her… es ist komisch, dass gerade am Wochenende so viel im Briefkasten steckt.“
Ich stand auf und reichte ihr das Ganze. Dabei fiel mir auf, dass es fast ausschließlich Briefumschläge waren. Mum nahm sie entgegen. Ich ließ mich auf meinem Stuhl nieder, während Mum den ersten Umschlag aufriss.
„Das ist eine Anfrage auf ein Interview…“
„Ein was…?“
Ich riss Mum das Blatt aus der Hand. Gregory streckte seinen Kopf herüber und gemeinsam lass wir, was da stand.
„Die sind alle von verschiedenen Zeitungen…“, kam es vom Mum und hielt betreffende Umschläge in die Höhe.
„Wollen die alle ein Interview?“, fragte Gregory.
„Weiß nicht.“
Unser Wohnungseingang machte sich erneut bemerkbar, dieses Mal war es aber die Klingel.
„Nanu, wer ist denn das?“, fragte ich verwundert.
„Das findest du heraus, wenn du nachschaust“, grinste mich Gregory frech an.
Wieder lief ich in den Flur, schaute aber vorher durch den Türspion. Da war aber niemand zu sehen. Es klingelte erneut, so ging ich an die Sprechanlage und sah dass jemand vor der Haustür stand.
„Opa?“, sagte ich laut und drückte den Öffner.
Dann öffnete ich die Tür und lief in den Hausflur hinaus. Dort merkte ich sofort, dass ich gar keine Schuhe anhatte, denn der Boden war kalt. Die Haustür wurde aufgeschoben und Opa Lewis und Oma Brenda kamen in Sicht.
„Hallo Oma… Opa“, sagte ich.
„Vater…Mutter?“, kam es von der Wohnung.
Dort stand Mum und Gregory in der Tür.
„Entschuldigt Kinder, aber Lewis und ich haben es im Hotel nicht mehr ausgehalten!“, sagte Oma.
„Kommt doch herein!“, meinte Mum und zog die Wohnungstür vollens auf.
Ich wartete, bis beide in der Wohnung waren, bevor ich ihnen folgte, dann schloss ich die Tür.
Mum half Oma aus ihren Mantel.
„Dann habt ihr die schreckliche Nachricht also auf erfahren?“, fragte Mum und hängte Omas Mantel auf.
„Ja, in der Lobby des Hotels wartete die Polizei bereits auf uns“, erklärte Opa.
Ich nahm ihm seine Jacke ab.
„Schon in der Lobby?“, fragte Mum verwundert.
Mum schaute mich an und flüsterte mir Wohnzimmer zu. Ich nickte ihr zu. Sie schob ihre Mutter dorthin.
„Und du kannst dir natürlich vorstellen“, sprach Oma weiter, „was dann folgte. Dema war einem Schwächeanfall nahe, Gavin bekam einen Wutanfall und Mason mit den Zwillingen wusste nicht wie ihnen geschah.“
„Alles in der Lobby?“, fragte Mum erneut.
„Ja, vor all den Leuten, die sich ebenso in der Lobby befanden, nebst Personal!“, antwortete Opa.
„Setzt euch doch“, meinte Mum und zeigte auf die Couch.
Während sich Oma auf der Couch niederließ, setzte sich Opa auf den Sessel.
„Dein Vater und ich sind dann gleich aufs Zimmer, haben unsere Sachen dorthin gebracht. Dann haben wir uns ein Taxi kommen lassen und sind direkt zu euch gefahren.“
„Aber woher wussten die, dass die Finleys im diesem Hotel waren?“, fragte Mum…, achso, möchtet ihr etwas trinken… Kaffee oder Tee?“
„Tee!“, sagte Opa und Oma nickte.
Mum schaute mich an und ich wusste, was sie wollte. Leise verließ ich das Zimmer und ging in die Küche. Dort schaltete ich den Wasserkocher ein. Dann nahm ich all die Umschläge und legte sie einfach zur Seite.
„Kann ich irgendwie helfen?“
Ich zuckte zusammen, denn ich hatte nicht mitbekommen, dass Gregory mir gefolgt war. Ich drehte mich zu ihm.
„Dort neben dem Küchenschrank“, ich zeigte auf die Stelle, „steht ein Tablett und wo die Tassen sind, weißt du ja.
„Und du?“
„Ich ziehe mir schnell etwas anderes an…“, grinste ich und ließ ihn in der Küche stehen.
In Rekordzeit waren die Straßenklamotten aus und die Wohlfühlklamotten an. Dann ging ich zurück zu Gregory, der gerade drei Tassen auf das Tablett stellte.
„Drei?“, fragte ich.
„Ich trink auch einen“, meinte Gregory nur.
„Okay“, sagte ich und zog aus dem Schrank, die Schwarzteebox hervor.
„Du auch?“
Gregory nickte. Ich verteilte die Teebeutel. Der Wasserkocher machte sich bemerkbar, er schaltete ab. Ich griff ihn mir und füllte die Tassen. Dann probierte ich meinen Kaffee, der mittlerweile lauwarm war.
Ich nahm Mum und meine Tasse, leerte ich aus und stellte sie erneut unter den Kaffeeautomaten. Ich drückte den Knopf und die Maschine nahm ihren Betrieb auf.
„Gebäck?“, fragte Gregory.
„Meinst du? Ich weiß nicht, ob Mum etwas da hat.“
Ich ging also zum Vorratsschrank und öffnete ihn. Fündig wurde ich sofort. Eine Dose mit verschiedenen Kekssorten. Ich hielt sie Richtung Gregory und er nickte. Ich schloss die Schranktür und wollte die Dose ebenso aufs Tablett stellen.
„Doch nicht so!“, beschwerte sich Gregory und nahm mir die Dose ab.
Er ging an den Hängeschrank und zog einen Teller heraus. Dem befüllte er dann mit den Keksen und stellte ihn dann aufs Tablett.
„Hast du so etwas noch nicht gemacht?“
Der Kaffee war mittlerweile auch fertig und ich ging zur Kaffeemaschine.
„Nein!“
„Ein Mann von Welt kennt doch so etwas!“
Ich schaute zu Gregory.
„… Mann… Welt“, blabberte ich ihm nach und fing an zu lachen, er ebenso.
„So du Mann von Welt, es fehlt noch Milch…!“
Er lief an den Kühlschrank, zog die Milch heraus und ich griff mir die Zuckerdose und stellte sie ebenso aufs Tablett. So bewaffnet liefen wir zurück ins Wohnzimmer. Mum grinste uns an.
„Ich bin immer wieder überrascht, wie ähnlich die beiden sich sind“, meinte Oma.
Gregory lächelte verlegen und stellte beiden den Tee hin.
„Danke mein Junge“, sagte Oma.
Ich gab Mum ihren Kaffee und stellte auch den Rest auf den Tisch.
„Vorsicht heiß!“, sagte ich noch, dann setzte ich mich zu Gregory auf die Lehne des Sessels, den er in Beschlag genommen hatte.
„… und morgen wird es die ganze Stadt wissen, denn es waren auch noch Fotografen anwesend“, sprach Opa plötzlich weiter.
„Mist!“, rutschte es mir heraus.
„Das habe ich auch gedacht, deswegen sind wir hier, damit wir nicht auch belästigt werden“, fügte Opa noch hinzu.
„Das wird morgen etwas geben in der Schule, wenn das Publik wird“, meinte ich und nippte am Kaffee.
„Warum?“, wollte Gregory wissen.
„Weil wir zufälligerweise Jaydens Cousins sind und indirekt dann auch damit zu tun haben!“
„Junge so schlimm wird es schon nicht werden“, meinte Oma.
„Mutter, du kennst die Londoner Presse nicht!“
*-*-*
Vorgewarnt betraten Gregory und ich die Schule, aber außer der üblichen Tuschelgeräusche, wo das Wort Zwillinge fiel, war nichts anderes zu hören.
„Wird dass irgendwann aufhören, mittlerweile weiß doch jeder, dass wir Cousins sind…“, hörte ich Gregory leise neben mir sagen.
„Gerüchte halten sich hartnäckig, dass weißt du doch“, grinste ich, ohne ihn anzuschauen.
Kurz vor unserem Klassenraum sah ich Sabrina, wie sie sich an die Heizung lehnte. Sie sah müde aus und war nicht so quirlig wie sonst.
„Morgen…“, sagte ich.
Sie schaute auf und ich bemerkte ihre rote Augen.
„Morgen…“
Gregory nickte ihr zu.
„Hast du schlecht geschlafen? Du siehst aus, als hättest du die halbe Nacht durchgemacht.“
„So ungefähr war es auch. Sie haben Dema gestern noch ins Krankenhaus gebracht.“
„Doch so schlimm?“
Sabrina nickte.
„Dort war ich ungefähr bis Mitternacht, dann haben mich meine Eltern endlich abgeholt.“
„Warum so spät?“
„Sie waren auf einem wichtigen Geschäftsessen von Dad und konnten da nicht einfach weg.“
„… und wie geht es Jaydens Oma?“, fragte Gregory.
„Besser, die haben ihre eine Beruhigungs- und Aufbauspritze verpasst, das hat wohl geholfen.“
Ich drehte mich um und schaute den Flur entlang.
„… und wo ist dein Freund?“
„Ich weiß nicht, ob Jayden heute überhaupt in die Schule kommt. Bei dem Trubel gestern, den die im Hotel veranstaltet haben.“
„Wer hat überhaupt die Presse informiert?“
„Wissen wir nicht…, aber ich habe mitbekommen, dass Jaydens Vater wohl Anzeige erstattet hat.“
„Warum?“, fragte ich verwundert.
„Wegen Verletzung der Privatsphäre oder so etwas…“
„Das ist heftig!“, sagte Gregory.
Ich dachte an die vielen Anfragen von Zeitungen. Wäre das nicht auch eine Verletzung der Privatsphäre? Am Flurende tauchte ein weiteres Problem auf. Was heißt Problem, aber es könnte eins werden.
Ich wusste immer noch nicht, wie ich mich gegenüber meinem Klassenlehrer verhalten sollte.
Auch hatte ich mir keine Gedanken gemacht, ob ich außer Taylor jemand anderes einweihen sollte, so wie Gregory oder Sabrina.
Sie hatten ja auch täglich mit ihm zu tun. Andererseits was brachte es, den beiden etwas zu sagen? Würde das nicht ihr Verhalten gegenüber Mr. Hughes ändern? Ich wusste ja nicht mal, ob er wirklich schwul war.
„Lass uns hinein gehen, Mr. Hughes ist im Anmarsch.“
Beide schauten in die Richtung von Mr. Hughes und setzten sich dann in Bewegung. Wir betraten das Klassenzimmer, aber keinerlei Bemerkungen seitens der anderen kamen. Ich war mir nicht mal sicher, ob jemand unser Eintreten mitbekommen hatte.
Erst das Kommen von Mr. Hughes, ließ den Geräuschpegel sinken. Er schloss hinter sich die Tür und lief zu seinem Pult. Dort legte er seine Tasche ab und ließ dann seinen Blick durch die Klasse wandern.
Mittlerweile saß jeder auf seinem Platz und es entstand eine ungewöhnliche Stille. Mr. Hughes umrundete seinem Pult und setzte sich dann auf diesen.
„Ich weiß nicht, wie viel sie mitbekommen haben…“
Leicht entsetzt schaute ich zu Gregory und Sabrina. Er wird doch jetzt nichts wegen Jaydens Mutter sagen.
„… gab es an dieser Schule einige Vorfälle von Korruption und das…“
Ich atmete tief durch. Doch nicht! Aber daran hatte ich auch nicht mehr gedacht.
„… Ministerium hat mich gebeten, ihnen als Abschlussklasse mitzuteilen, dass ihre Prüfungen nach wie vor stattfinden werden. Lediglich das Team der Prüfer ändert sich, weil Teile der jetzigen Lehrerschaft suspendiert wurden.“
Jetzt wurde wieder in der Klasse getuschelt, die Ruhe war hinüber. Warum ich ausgerechnet zu Thomas schaute, wusste ich nicht. Ich bemerkte nur, dass er ganz bleich im Gesicht wurde.
Mein Blick wanderte weiter durch die Klasse und auch bei anderen konnte ich dieses Phänomen feststellen.
Waren doch mehr involviert, als ich gedacht hätte. Das konnte ja heiter werden.
„.. ihre Eltern werden davon natürlich schriftlich informiert…, aber fahren wir nun mit dem Unterricht fort… die alten Griechen, wenn ich mich recht entsinne.“
Fast schon automatisch, zog ich wie die anderen meine Sachen heraus. Auch stellte ich mein Namensschild auf, wobei ich mir sicher war, das Mr. Hughes nun wusste wer ich war.
„Für was brauche ich die alten Griechen?“, flüsterte Sabrina neben mir.
Ich grinste sie an.
*-*-*
Die Doppelstunde Geschichte war vorüber und unser Lehrer hatte den Raum verlassen.
„Kannst du mir mal sagen, was das sollte?“, fragte Sabrina.
„Ich weiß gar nicht, was du meinst!“, sagte ich und ließ das Geschichtsbuch in den Rucksack gleiten.
Natürlich wusste ich, was sie meinte. Der liebe Mr. Hughes hatte als Thema das Leben der alten Griechen aufgegriffen. Natürlich kam dann auch die Homosexualität in dieser Zeit zur Sprache. Dass er mich ständig dabei anschaute, machte mit sauer.
Dementsprechend war auch meine Mitarbeit, das heißt, meine Antworten waren giftig und provozierend.
„Was hat dir Hughes getan? Ich habe dich noch nie so erlebt!“
Ich schaute mich kurz um, aber Sabrinas Frage hatte keine Aufmerksamkeit auf uns gezogen.
Lediglich Gregory kam an unseren Tisch und lehnte sich an diesen.
„Er weiß es… oder?“, fragte mein Cousin leise.
„Was?“, fragte ich genervt.
„Dass mit dir und…“, er schaute sich kurz um, kam etwas näher, „…Taylor!“
„Woher soll er das wissen?“, fragte nun Sabrina neben mir.
Gregory richtete sich wieder auf.
„Was weiß ich, vielleicht hat sich unser Onkel verblabbert…, dass scheint er ja öfter zu tun.“
Darauf sagte ich nichts. Es war mir auch egal, ob Hughes über mich Bescheid wusste, oder nicht. Aber dieses ständige Anstarren machte mich wütend. Ich griff nach Gregorys Kragen und zog ihn wieder herunter.
„Er hatte ein Verhältnis mit meinem Vater“, flüsterte ich.
„WAS?“, entfleuchte es Sabrina laut, so hatten wir hatten wir die Aufmerksamkeit der umliegenden Sitzplätze.
Sabrina hielt ihren Mund zu. Jannah vor uns schaute mich mit großen Augen an. Hatte sie mitbekommen, was ich gesagt hatte.
„Woher weißt du das?“, flüsterte Gregory, den ich mittlerweile wieder losgelassen hatte.
Ich atmete tief durch und ärgerte mich über mich selbst. Warum war mir das heraus gerutscht?
„Mum hat es mir erzählt…“
„Hughes ist auch…“, weiter kam Sabrina nicht, denn ich schaute sie böse an.
Jannah vor uns schaute uns immer noch verwirrt an.
„Lass uns nachher in der Pause darüber reden, jetzt ist wohl nicht der passende Zeitpunkt!“
Der nächste Lehrer betrat das Zimmer.
*-*-*
Natürlich war es nicht möglich, uns über meine Äußerung zu unterhalten, denn seit dem Bekanntwerden unserer adligen Herkunft, standen wir unter der alten Eiche nicht mehr alleine.
Auch beim Mittagessen gab es deswegen keine Möglichkeit, in Ruhe ein Gespräch mit den beiden zu führen. Meine Wut hatte sich etwas gelegt, trotzdem war mir bewusst, dass das ganze doch ein größeres Problem geben könnte.
Es bestand Handlungsbedarf. Aber wie das von statten gehen sollte, wusste ich nicht. Mum in die ganze Sache mit hinein zuziehen, war auch keine gute Idee. Dies musste ich wohl alleine lösen, oder mit Hilfe von Sabrina und Gregory.
Jayden war da sicherlich keine Hilfe, war er auch nicht anwesend. Zu meiner Verwunderung hatte ich Molly gesehen. Sie entschuldigte ihren Bruder wegen Unwohlsein, mehr sagte sie nicht.
Dann war da auch noch dieses Interview, oder mehrere, was wollten die, oder besser gesagt, was wussten die? Wir waren vor die Schule gelaufen, als mich Gregory anrempelte.
„Dort steht dein Grandpa…“
Ich schaute auf und sah Großvater Lewis an einem Wagen stehen. Schon wollte ich loslaufen, als uns ein Pulk verschiedener Leute den Weg versperrte.
„Sind sie Baron of Newbury?“, hörte ich jemanden fragen.
„Stimmt es, dass sich ihr Vater, wegen seiner Schwester das Leben genommen hat?“, fiel eine andere Frage.
Abrupt blieb ich stehen. Das war zu viel des Guten, doch bevor ich reagieren konnte trat mein Opa hervor und zog an meinem Arm.
„Du sagst gar nichts!“, meinte er nur.
Jemand versuchte Opa auf die Seite zu Schieben.
„He!“, schrie ich und alles hielt in ihren Bewegung inne.
„Wenn sie noch einmal meinen Großvater anfassen, rufe ich die Polizei! Und ihre kranken Fragen können sie sonst wo hinstecken!“
Plötzlich redete alles durcheinander, es wurde mit Handys vor meinem Gesicht herumgefuchtelt. Auch Bilder wurden gemacht.
„Haben sie dafür eine Genehmigung?“, rief ich.
Weiter kam ich nicht, denn Gregory und Opa zogen mich zu dem Wagen. Schnell wurde ich hinein verfrachtet und das Auto fuhr los.
„Was war das denn?“, fragte Gregory.
„Timothy…“, kam es von Opa.
„Was hat der damit zu tun? Sitzt der nicht…, wie heißt das in Untersuchungshaft?““, fragte Gregory neugierig.
„Tut er, aber irgendwie hat er es geschafft, einem Reporter seine Geschichte zu erzählen.“
Wohl die falsche, sonst hätte niemand diese Frage gestellt. Dies trieb mir unweigerlich, die Tränen in die Augen. Immer mehr verstand ich Mum, warum sie mit dieser Familie nicht zu tun haben wollte.
„He, dass kriegen wir hin, okay!“, sagte Opa und griff nach meiner Hand.
Ich nickte.
„Wo…her wusstest du, dass wir in der Schule belästigt werden würden?“, fragte ich.
„Weil es vor eurem Haus nicht besser aussieht…“
„Und wo fahren wir jetzt hin?“
„Zu euch nach Hause.“
„Aber wenn da…“
„Keine Sorge, euer Onkel Henry hat es irgendwie geschafft, dass ihr unter Polizeischutz steht. Auch dieser Wagen mit Fahrer hat er uns besorgt.“
Erst jetzt sah ich zum Fahrer und es wurde mir bewusst, dass er ja gerade alles mitbekam. Ich schaute wieder zu Opa.
„Was ist mit Sabrina?“, fragte ich, weil sie mir gerade auch einfiel.
„Die wurde von ihren Eltern abgeholt.“
„… und alles wegen dem Bruder deiner Tante?“, fragte Gregory.
„Es scheint so“, beantwortete Opa die Frage.
*-*-*
Wie angekündigt, fanden wir einen großen Pulk von Menschen vor. Natürlich zog unser Wagen gleich eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich. Was hatte Timothy erzählt, dass wir so eine plötzliche Beachtung bei der Presse fanden.
Ohne ein Wort zu verlieren, betraten wir das Haus. Die gerufenen Fragen, versuchte ich zu ignorieren, auch wenn es mir schwer fiel. Als wir endlich die Wohnung betraten, hörte ich eine fremde Stimme aus der Küche.
„Sie sind sich im Klaren, dass ich ihren Verlag wegen dem Einnahmeverlust, den ihr Auflauf hier verursacht, verklagen werde?“
„Wieso, sie stammen aus einer vermögenden Familie und sind auf die Einnahmen nicht angewiesen.“
Mum bemerkte mich und ich sah sie fragend an.
„Ein Herr von den Daily News…“, sagte sie nur.
Der Mann zuckte zusammen, er hatte mein Kommen wohl nicht mitbekommen.
„Daily News sagst du…, da bin ich aber enttäuscht!“
„Jack“, kam es mahnend von Mum.
Ich schüttelte nur den Kopf und wandte mich wieder diesem Reporter zu.
„Ich bin deswegen enttäuscht, dass eine seriöse Zeitung, wie die Daily News einem Interview eines gewissen Timothy Finley Glauben schenkt und nicht ihre Hausaufgaben macht. Steht ihre Zeitung nicht für die Wahrheit?“
Darauf sagte dieser Mann nichts. Mum schaute mich sauer an.
„Was denn? Ich wurde gefragt, ob es stimmt, dass Dad sich wegen Olivia umgebracht hat, was soll ich denn bitte schön denken?“
Geschockt schaute Mum den Reporter an. Tränen liefen mir in die Augen.
„… und stimmt es?“, fragte dieser.
Mein Rucksack rutschte von der Schulter und knallte auf den Boden. Ich beugte mich ganz dicht an den Reporter, der ängstlich zurück wich.
„Jack“, kam es nun gleichzeitig von Mum und Opa, der in der Tür stand.
„Das ist es, was ich meine…, wenn sie den Unfallbericht gelesen hätten, wüssten sie, dass mein Dad von einem Betrunkenen mit dem Wagen von der Straße abgedrängt wurde, sich überschlug und noch an der Unfallstelle verstarb!“
Dann richtete ich mich wieder auf.
„Aber wenn sie lieber an der Version eines Angeklagten festhalten, der sogar nicht zurück schreckt, seinen eigenen Neffen wegen Geld zu entführen, dann bringen sie ihre aufreiserische Geschichte. Ich bin bei Oma im Wohnzimmer, wenn du mich brauchst, Mum!“
Den Rucksack nahm ich wieder auf und lief zu meinem Zimmer. Im Flur stand immer noch ein verwirrter Gregory. Im Zimmer fing ich mich an auszuziehen.
„Würdest du bitte die Tür schließen? Es ist ein Fremder in der Wohnung!“
Gregory zuckte zusammen.
„Entschuldige, aber ich werde hoch gehen und mich auch umziehen. Darf ich wieder kommen?“
„Warum fragst du?“, wollte ich erstaunt wissen.
„Ja… mit dem Reporter in der Wohnung…“
„Wir sind Familie…, schon vergessen? Natürlich kannst du wieder herunter kommen, du wohnst ja eh schon halb hier“, grinste ich.
„Bis gleich“, grinste Gregory zurück und verschwand, nachdem er die Tür geschlossen hatte.
Ich hängte meine Schuluniform auf und schlüpfte in meinen Jogginganzug. Ob der Reporter nun verschwand? Ich hielt an meinem Vorhaben fest und lief dann hinüber zum Wohnzimmer, wo ich Oma Brenda vermutete.
„Hallo Jack“, begrüßte sie mich lächelnd, „wie war die Schule?“
Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht, dieses Ärgernis mit Mr. Hughes.
„Wohl nicht so toll…, deinem Gesichtsausdruck zu folgern.“
„Hallo Oma“, begrüßte ich sie, gab ihr ein Küsschen auf die Wange, bevor ich mich neben ihr nieder ließ.
„Sagen wir mal, sie war anstrengend… griechische Geschichte ist langweilig und Zahlentheorie ist nicht so mein Ding.“
Auch Opa kam nun ins Wohnzimmer.
„Bleibt dieser… Reporter noch länger?“, fragte Oma.
„Ich weiß nicht, aber Jack scheint ihn wohl beeindruckt zu haben, er würde gerne die wahre Geschichte über Olivia hören.“
„Sollte er da nicht lieber Onkel Henry fragen?“, wollte ich wissen.
Ich versuchte gelangweilt zu wirken, aber es gelang mir nicht. Oma griff nach meiner Hand, sie schien zu merken, wie ich zitterte.
„Tja, der junge Mann möchte aber deine Version der Geschichte hören.“
„Darf ich das überhaupt? Da hat Onkel Henry wohl ein Wörtchen mitzureden!“
„Ich rufe ihn an“, kam es nun von Mum, die unbemerkt an der Tür erschienen ist.
Sie verschwand wieder, dafür tauchte der Reporter auf. Es klopfte an der Wohnungstür.
„Das wird Gregory sein…“, meinte ich nur.
„Ich mach auf“, rief Mum vom Flur aus.
„Opa, setze dich doch“, meinte ich und wies auf den Sessel neben Oma.
Dann schaute ich zum Reporter. Gregory kam herein, hatte sich umgezogen wie ich. Verunsichert schaute er mich an. Ich tippte nur auf den freien Platz neben mir an und er ließ sich neben mir nieder.
„Sind sie Brüder?“, fragte ein verwirrter Reporter.
„Nein Gregory ist mein Cousin, der Sohn der ältesten Tochter des Hauses Newbury.“
„Sie sehen sich so ähnlich…“
„Ja, das haben wir schon öfter gehört.“
Mum kam herein und hielt mir ihr Handy entgegen. Ich zog die Augenbrauen hoch und nahm es.
„Onkel Henry…?“
„Hallo Jack, es tut mir leid, dass ihr schon wieder alle mit hineingezogen wurdet. Natürlich kannst du die Fragen beantworten, vielleicht kommt dann Ruhe in die Sache.“
„Du musst dich nicht entschuldigen, Onkel Henry, das stehen wir gemeinsam durch.“
„Manchmal frage ich mich, wie alt du bist.“
„Das weißt du doch achtzehn bin ich.“
„Du hörst dich viel älter an.“
Ich musste kichern.
„Vielleicht sieht man sich heute noch, aber darüber können wir später reden.“
„Okay, dann bis vielleicht später.“
*-*-*
Artig hatte ich eine ganze Stunde die Fragen des Reporters beantwortet, oder sie besser gesagt, die Dinge richtig gestellt. Timothy hatte wirklich ganze Arbeit geleistet und die wüstesten Sachen über uns verbreitet.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Oma neben mir.
„Kann ich dir nicht mal sagen, wobei für heute reicht es mir an Überraschungen.“
„Die Presse scheint abgezogen zu sein“, meinte Mum, die gerade wieder ins Wohnzimmer zurück kam.
„Dann ist ja gut“, kam es von Grandpa.
„Selbst nach ihrem Tod wirbelt diese Frau noch so viel Staub auf“, sagte Oma.
„Dann hoffen wir mal, dass irgendetwas Verblüffendes geschieht“, meinte Mum und setzte sich auf den freien Sessel.
„Ob es gut war, dem Reporter alles zu sagen?“, fragte nun Gregory.
„Ich habe ihm nicht alles erzählt, nur die Dinge gerade gerückt.“
„Aber dann erfahren doch alle in der Schule was passiert ist und wir stehen wieder im Mittelpunkt.“
„Das hätten sie sowieso, nur dass sie die richtige Version erfahren, hoffe ich zumindest. Gregory du kannst mir glauben, diese Aufmerksamkeit, die uns zu Teil wird, geht mit auch auf den… ähm Zeiger.“
„Gibt es dann diese Woche noch eine Beerdigung?“, sprach Gregory weiter.
„Ich weiß nicht, Junge, wie sich das bei einem Selbstmord verhält“, erklärte Opa.
„Willst du da etwa hin gehen?“, wollte ich wissen.
„Bestimmt nicht wegen Olivia. Aber wenn alle anderen gehen…, dann weiß ich nicht recht.“
„Du musst nicht!“, sagte Mum, „das verlangt keiner von dir!“
Opa und Oma nickten.
„Sollen wir noch etwas unternehmen?“, fragte ich, um von dem Thema abzulenken.
„Junge, woher nimmst du nur diese Energie?“, fragte Oma.
Ich grinste sie an.
„Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht, aber irgendwie sehe ich es auch nicht ein, von dieser Frau, auch im Nachhinein mir meine Laune verderben zu lassen! Und wenn ihr beiden schon mal da seid und nicht zu müde, warum dann nichts unternehmen?“
Mum lächelte mich an.
„Ich gehe doch davon aus, dass du die letzten zwei Stunden den Laden nicht mehr öffnen wirst?“
„Bestimmt nicht und nach dem Trubel wird sicher auch niemand mehr hier erscheinen, denke ich mal.“
Gregorys Handy machte sich bemerkbar. Er zog es umständlich aus seiner Hose und schaute kurz drauf. Dann hob er den Kopf und schaute verlegen zwischen mir und Mum hin und her.
„Ähm…, wenn ihr gerade… vom Laden redet…, ich habe eine Anfrage…, ob die Stelle als Verkäuferin noch zu haben wäre…“
„Von wem?“, fragte ich verwundert.
„Ich habe doch noch gar nicht suchen lassen“, kam es von Mum.
„Ähm… von Jannahs Mutter… sie sucht eine bessere Arbeitsstelle.“
*-*-*
Onkel Henry hatte sich nicht mehr gemeldet, so blieben meine Großeltern noch den Rest des Abends bei uns. Während Gregory mit Opa Schach gespielt hatte, durfte ich den zwei Damen beim Kochen helfen. Spät am Abend brachte sie dann ein Taxi zum Hotel.
Beim späteren Telefonat mit Taylor, war dieser sehr erstaunt, was hier alles passiert war. Wieder einmal stellte er fest, dass man auf dem Land nichts mitbekam. Auch war er verärgert, dass er mir nicht zur Seite hatte stehen können.
Nun lag ich aber in meinem Bett und versuchte einzuschlafen. Morgen war wieder Schule, wo das nächste Problem wartete. Mr. Hughes! Sollte ich ihn wirklich einfach darauf ansprechen, um das ganze aus der Welt zu schaffen.
Aber wie stellte ich es an? Hallo Mr. Hughes, ich weiß sie waren in meinen Dad verliebt. Nein, so konnte ich es wirklich nicht sagen, aber dieses ständige Anstarren machte mich verrückt.
Irgendwann musste ich über dem Grübeln eingeschlafen sein, denn mein Wecker riss mich aus dem Schlaf. Wieder ein neuer Tag. Wieder mit vielen Überraschungen? Lustlos stand ich auf und machte meinen morgendlichen Gang ins Bad.
Als ich in die Küche kam, war der Tisch bereits gedeckt und Mum stand an der Spüle.
„Guten Morgen“, gähnte ich.
„Morgen Jack. Noch müde?“
„Ja, ich konnte gestern nicht gleich einschlafen.“
„Ging mir genauso… Auch Kaffee?“
„Ja danke…, vielleicht hilft der wenigstens.“
Sie ließ mir einen Kaffee heraus und setzte sich dann an den Tisch.
„Gregory ist noch gar nicht da.“
„Er wird doch wohl nicht verschlafen haben“, grinste ich.
„Das denke ich nicht! Er war lange auf sich selbst gestellt und hat auch alleine gefrühstückt. Das geht dir dann irgendwann in Fleisch und Blut über und du wachst von selbst auf…, ohne Wecker.“
„… und warum habe ich mich nie daran gewöhnt?“
„Weil der gnädige Herr von mir immer geweckt wurde…, daran kann man sich auch gewöhnen“, lächelte Mum.
Es klopfte an der Tür.
„Wenn man vom Teufel spricht…, das wird er sein“, meinte ich und lief hinaus zur Wohnungstür.
„Morgen Schatz, gut geschlafen?“, begrüßte ich Gregory grinsend.
Mit großen Augen schaute er mich an.
„Morgen…, was haben sie denn dir in den Kaffee getan?“
„Weiß nicht, hab noch nicht davon getrunken“, antwortete ich und schloss die Tür hinter ihm.
„Morgen Gregory“, begrüßte ihn Mum, als wir die Küche betraten.
„Morgen Charlotte, was hast du mit Jack gemacht?“
Er setzte sich neben sie und ließ seinen Rucksack auf den Boden gleiten.
„Wieso?“
„Er hat mich grad mit Schatz begrüßt…!“
Ich konnte nicht anders und musste kichern. Mum sah mich fragwürdig an.
„He, das war nur Spaß!“, versuchte ich mich zu verteidigen und reichte Gregory seine heiße Schokolade, die Mum wie jeden Morgen für ihn machte.
„Vielleicht übt er nur“, grinste Mum und nippte nun ihrerseits am Kaffee.
„Für was?“
„Wenn sein Schatz hier dauerhaft einzieht…“
„… und ich dann abgeschrieben bin!“, meinte Gregory frustriet.
Ich lehnte mich lächelnd an ihn.
„Aber nicht doch, du wirst immer mein Cousin Nummer eins sein!“
Mum verschluckte sich am Kaffee und begann zu husten. Dann fing sie an zu lachen.
„Ihr zwei seid mir schon welche. Aber ich denke ihr zwei solltet langsam loslaufen, wenn ihr euren Bus nicht verpassen wollt!“
Ein Blich auf die Küchenuhr verriet mir, dass sie Recht hatte.
„Dann werde ich mal meinen Rucksack holen“, meinte ich und brachte mein Geschirr zur Spüle.
*-*-*
Froh endlich dem engen Gedränge des Busses entflohen zu sein, wurde mir aber auch wieder bewusst, dass Londons kaltes und feuchtes Wetter immer noch vorherrschte. Was sehnte ich mich an die warmen Sommertage, wo ich die Wochenenden im Segelclub verbringen konnte.
Als der Pulk, in dem ich mit Gregory lief dem Schultor näherte, konnte ich Sabrina entdecken. Sie schaute Richtung Straße, wohin mein Blick nun auch wanderte.
Dort fuhr gerade Onkel Henrys Bentley vor, wo wenig später Molly und auch ihr Bruder ausstiegen.
„Jayden ist auch wieder da…“, sagte ich mehr zu mir selbst.
„Hm?“, kam es von Gregory.
„Da vorne steigt Jayden aus dem Wagen“, antwortete ich ihm und zeigte auf Onkel Henrys Bentley.
„Ich hoffe mal, wir haben dann nicht den ganzen Tag einen Trauerkloß mit uns herum zu schleppen.“
„Komm, sei nicht so! Auch wenn Olivia unmöglich war, sie ist immerhin seine leibliche Mutter gewesen!“
„Morgen“, hörte ich es neben mir. Jannah!
Wie Jannah dahin kam, wusste ich nicht, aber ich war mir sicher, dass sie zumindest, den letzten Teil unseres Gespräches mitbekommen hatte.
„Morgen Jannah“, sagte ich und erst jetzt wurde mein Cousin auf sie aufmerksam.
„Morgen Jannah“, sagte er lächelnd.
Als wäre es abgesprochen, gab es zwischen Gregory und mir einen fliegenden Wechsel, so dass er nun in der Mitte und direkt neben Jannah lief.
„Wie geht es Jayden?“, fragte sie.
Also hatte sie doch gelauscht.
„Wissen wir nicht, wir haben ihn seit dem Wochenende nicht mehr gesehen“, sagte Gregory.
„Er tut mir irgendwie leid… Seine Mutter zu verlieren… muss schrecklich sein.“
Ich wollte darauf etwas erwidern, aber Gregory gab mir Zeichen, nichts zu sagen.
„Wir lassen ihn am besten in Ruhe“, redete Gregory einfach weiter, „er wird sich schon melden, falls er Kontakt wünscht.“
Wieder stieg in mir diese emense Wut auf. Diese Frau hatte so viel Leid über mehrere Familien gebracht, nur um sich in ihre Geltungssucht zu weiden. Aber es brachte nichts, mich darüber aufzuregen.
Gemeinsam mit Gregory und Jannah betrat ich die Schule und versuchte mich zu beruhigen. Aber ein Vorhaben in die Tat umzusetzen ist nicht leicht. Nicht wenn genau in diesem Augenblick das nächste Problem, dir vor die Füße läuft.
„Guten Morgen zusammen!“, kam es von Mr. Hughes, der gerade unseren Weg kreuzte.
„Guten Morgen Mr. Hughes“, sagten wir schon fast im Chor.
„Wir sehen uns später…“, meinte er noch und war in der entgegen gesetzter Richtung im Meer der Schüler verschwunden.
Darauf konnte ich gut und gerne verzichten.
„Ist etwas?“, fragte Gregory immer noch neben mir lief.
„Was soll schon sein?“
„Mittlerweile kenne ich diesen Gesichtsausdruck von dir schon zu gut, wenn dich etwas ärgert oder aufwühlt!“
„Erzähle ich dir später, hier sind mir zu viele Ohren!“
Vorwurfsvoll schaute mich Jannah an. Sie hatte ja Recht, aber sie war eben noch nicht im engeren Kreis unserer Clique, oder Familie. Trotzdem hatte ich das Gefühl, ihr vertrauen zu können.
„Damit meinte ich nicht dich Jannah“, schob ich hinterher, ohne sie anzuschauen, „ich habe nur keine Lust vor der ganzen Schule mein Privatleben breit zu treten.“
Während Jannah mich fragend anschaute, grinste mein Cousin.
„Das kennen alle mein Lieber! Oberhaupt der Familie Newbury!“
Ich sah Gregory an und zog meine Stirn in Falten. Wir betraten das Klassenzimmer und ließen uns auf unseren Plätzen nieder. Ob das nicht auffiel, dass sich ständig die Sitzordnung änderte?
Während Gregory nun bei Jannah vor mir saß, setzten sich Sabrina und Jayden nun hinter mich. Der Platz neben mir blieb leer.
„Guten Morgen“, meinte Sabrina hinter mir.
Ihr Ton war leise und das war ich gar nicht gewöhnt. Ich drehte mich zu den beiden um.
„Morgen“, meinte ich nur und schaute mir die beiden genauer an.
Während Sabrina nur ein trauriges Gesicht machte, hatte Jayden rote Augen und dunkle Ränder darunter. Warum war er überhaupt in die Schule gekommen?
„Morgen“, flüsterte Jayden schon fast, aber sah mich dabei immerhin an.
Sein Blick war schon fast flehend. Am liebsten hätte ich ihn jetzt einfach in den Arm genommen. Leider hätte dies auch wieder die Aufmerksamkeit der restlichen Klasse auf uns gezogen, so ließ ich es.
„Ich habe ein Problem… ich brauche eure Hilfe!“
Was hilft besser über Trauer hinweg, als mit etwas neuen betraut zu werden, dachte ich mir, aber bevor einer der zwei auf nur einen Ton sagen konnte, kam die Lehrerin herein. So ließ ich die zwei im Ungewissen.
*-*-*
Ungewohnt für die anderen, saßen wir heute in der Mittagpause drinnen. Der Grund war einfach, draußen regnete es. Ich hatte mir extra einen Tisch etwas abseits gesucht, um ihnen das zu erzählen, was mich beschäftigte.
„Du denkst, er will etwas von dir?“, fragte Jannah verblüfft.
„Quatsch, der ist doch viel zu alt, für Jack!“, kam es von Sabrina.
„… und woher soll er wissen, ob Jack schwul ist, oder nicht?“, warf Gregory ein.
Jannah sah Gregory verwirrt an.
„Wie der Vater so der Sohn!“, sagte Jayden.
Verwundert schaute ich ihn an.
„Jack… ich bin mir sicher, hier gibt es einige, die denken, meine Mutter war verrückt, also bin ich es auch!“
Das aus seinem Munde zu hören, verblüffte mich jetzt sehr.
„Rede doch nicht so einen Unsinn“, beschwerte sich Sabrina, „zudem woher sollte das jemand wissen, nirgendwo stand, wo sie sich umgebracht hat!“
„Jayden, ich denke nicht so!“, sagte ich und schaute zu Jannah, die alles mit großen Augen anhörte, Jayden dagegen schenkte mir ein kleines Lächeln.
Da hatte ich wohl falsch Gregory eingeschätzt. Ich dachte meinen Cousin hätte Jannah mittlerweile mehr erzählt. So war sie wirklich eine Unwissende. Sie schien zumindest aber nicht mehr daran zu glauben, was man so von der Familie erzählte, oder schrieb.
„Geht … es überhaupt jemand etwas an, mit wem … Jack sein Leben teilt?“, fragte nun Jannah.
Irgendwie kam in mir das Gefühl hoch, das ich meine voreilige Meinung über Jannah schnell ändern musste. Die anderen am Tisch schüttelten wie auf Kommando alle den Kopf.
„Dann hoffe ich mal, niemand ist enttäuscht, wenn es heraus kommt, dass ich schwul bin und einen festen Freund habe!“
Sabrina fing an zu kichern.
„Wie soll das jemand heraus finden, von uns erzählt niemand etwas“, sagte Gregory.
Automatisch wanderten alle Blicke zu Jannah. Die hob entsetzt ihre Hände.
„Von mir wird keiner etwas erfahren!“, sagte sie abwehrend.
Sah ich da einen gewissen Stolz, in Gregorys Augen? Wenn das wirklich mehr zwischen den beiden werden sollte, dann hatte Gregory wirklich Glück mit seiner Wahl.
„Aber das alles löst mein Problem nicht, ich weiß nicht, was ich tun soll!“, warf ich in die Runde.
„Vielleicht solltest du wirklich mit ihm reden, es gibt nichts Schlimmeres, als Geheimnisse und unausgesprochene Dinge!“
Das hatte Jayden gesagt. War er an dieser Misere in seiner Familie gewachsen? Diese Töne war ich von Jayden nicht gewohnt.
„Jeder am Tisch weiß wohin das führt…“
Naja, ich wusste nun wirklich nicht, in wie weit Jannah eingeweiht war, ob Gregory ihr überhaupt etwas gesagt hatte.
„… und ich bin mir sicher Jack will nicht in einen neuen … Mist hinein schlittern, davon hatten wir in den letzten Wochen genug!“
Ich nickte Jayden zustimmend zu.
„Darauf hat keiner von uns Lust“, sagte nun Molly, die die ganze Zeit geschwiegen hatte.
„Ich denke auch, du solltest mit ihm reden“, sagte nun Jannah, „du sagst selbst, wir haben bald Prüfung und das würde dich nur ablenken!“
„Da gebe ich Jannah Recht!“, meinte Sabrina, bevor es Gregory tun konnte.
*-*-*
Mr. Hughes lief den Gang herunter. Ich stubste Gregory an und gab ihm einen Wink zu unserem Lehrer. Gregory nickte wissend. Er nahm mir den Rucksack ab und ich lief hinter Mr. Hughes her.
„Mr. Hughes?“
Der Gerufene drehte sich um.
„Kann ich kurz mit ihnen sprechen?“
Mein Gegenüber schaute auf seine Uhr.
„Wenn es nicht allzu lange geht, gerne.“
Darauf wusste ich nicht zu sagen, wer wusste schon wie dieses Gespräch ausgehen würde. Ich schaute mich kurz um.
„Wäre es möglich irgendwo hinzugehen, denn es ist sehr Privat…?“
Mr. Hughes schien kurz zu überlegen.
„Komm mit!“, meinte er nur und drehte mir den Rücken zu.
In dieser Richtung ging es zum Lehrerzimmer. So folgte ich ihm, bis er vor den Zimmer des ehemaligen Rektors stoppte. Er zog ein Schlüsselbund aus seiner Tasche und schloss die Tür auf.
Was wollte er denn im Rektorzimmer. Er machte eine einladende Bewegung und ich trat ein. Verwundert schaute ich mich um, denn das Zimmer sah anders aus, als ich es in Erinnerung hatte.
„Setz dich“, sagte Hughes und schloss die Tür hinter sich.
Die Möbel vom alten Roberts waren gewichen und moderne hatte ihren Platz eingenommen. Mein Lehrer umrundete den Glastisch und ließ sich auf dem Bürostuhl nieder.
Direkt vor mir war noch etwas neu. Das hölzerne Namensschild.
Rektor Michael Hughes! Leicht verblüfft schaute ich mein Gegenüber an. Er war der neue Rektor, dass hatte uns niemand gesagt. Ein leichtes Lächeln überzog Mr. Hughes Gesicht.
„Irgendwann erfahren sie es ja doch, Jack. Die Eltern werden natürlich auch darüber schriftlich informiert.“
Ich nickte nur, wieder einmal fiel mir darauf nichts ein. Er ließ seine Tasche neben sich auf den Boden gleiten und sah wieder zu mir.
„So, was kann ich für dich tun?“
Unmut stieg plötzlich in mir auf. Sollte ich wirklich?
„Ähm… es ist für mich nicht so leicht…“
Meine Hände waren plötzlich kalt, Verlegen rieb ich sie aneinander.
„Jack, alles, über was wir beide in diesem Zimmer reden, wird das Zimmer nicht verlassen. Das kann ich dir versprechen.“
Ich atmete tief durch. Sag es einfach, er wird dich ja nicht gleich umbringen, oder Ähnliches.
„Es… es geht um das jetzt und die Vergangenheit.“
Mr. Hughes Stirn legte sich in Falten.
„Ich denke sie wissen, was mit Jayden… meinem Cousins Mutter, passiert ist?“
Mein Gegenüber nickte.
„Aber sie wissen nichts über die Umstände, die darüber hinaus passiert sind…, naja vielleicht das mit Timothy Finley.“
Wieder nickte Mr. Hughes mir zu, ohne etwas zu sagen.
„Ich kann und möchte jetzt nicht mehr darüber erzählen, das würde den Rahmen sprengen, nur das diese Frau, Jaydens Mutter in meiner Familie vieles… Unrechtes angerichtet hat und die anderen Familien, die mit Heirat der Familie Newbury verbunden sind geschadet hat.“
„Soweit kann ich dir folgen, aber wo liegt dein Problem?“
„Meine Großeltern sind zufällig zu Besuch und da wurde auch über die Vergangenheit gesprochen und natürlich über den Skandal in der Schule. Dabei habe ich auch erfahren, dass sie und mein Vater…“
Mr. Hughes Augenbrauen wanderten nach oben. Wurde er etwa rot? Er nahm den Hörer seines Telefons.
„Misses Downhill, wären sie so freundlich und würden meinen Termin in einer Stunde absagen, oder verschieben lassen, mir ist etwas Wichtiges dazwischen gekommen. Danke… einen schönen Abend noch, Misses Downhill.“
Sie schien ihre Stelle wohl behalten zu haben, dachte ich. Mein Gegenüber legte auf und sein ernstes Gesicht wich wieder, er schaute regelrecht ängstlich.
„Also… ich weiß nicht…, ob wir darüber… reden sollten!“
„Doch Mr. Hughes, das wäre mir wichtig…, ich weiß nicht, ob sie es nicht selbst merken, aber wenn sie Unterricht bei uns haben, starren sie mich die ganze Zeit an!“
Das ernste Gesicht meines Lehrers, verwandelte sich in ein Entsetztes.
„Das… das tut mir leid… Jack… das ist keine Absicht…“
Mr. Hughes sackte regelrecht in sich zusammen.
„… ich wollte nur wissen warum?“, fiel ich ihm ins Wort.
Mein Lehrer vergrub sein Gesicht hinter seinen Händen. Dann fuhr er mit einer Hand durch seine Haare und atmete tief durch. Sein Blick wanderte auf die Glasfläche seines Schreibtisches.
„… du erinnerst mich so sehr an deinen Vater…“, sagte er leise.
Das förmliche sie war gewichen. Was sollte ich jetzt tun? Oder, wie weit konnte ich gehen? Verletzte ich ihn damit?
„Ich glaube, es war keine so gute Idee hier an die Schule zu wechseln…, ich sollte…“
„Halt, Mr. Hughes“, fiel ich ihm erneut ins Wort, „auch für mich gilt, dass die anderen in der Schule darüber nichts erfahren werden und meine Familie hat sicher kein Interesse, irgendetwas aus der Vergangenheit publik werden zu lassen. Was zwischen ihnen und meinem Vater geschehen ist, geht niemanden etwas an.“
„…es ist nicht fiel passiert…“, flüsterte Mr. Hughes leise.
„Bitte?“, fragte ich, weil ich nicht wusste, was er meinte.
Mein Klassenlehrer ließ sich auf seinem Bürostuhl zurück gleiten. Lange atmete er aus.
„Dein Vater… war mein bester Freund… und er wusste damals als einziger…, dass ich mich mehr zu… Männern hingezogen fühlte, als zu Frauen.“
Erst ein Outing beim Vater, jetzt beim Sohn. Ich lächelte flüchtig.
„Dein Vater war etwas Besonderes…, obwohl ich ihm das erzählt hatte, auch… dass ich etwas für empfand, lehnte er mich nicht ab. Er nahm mich trotzdem in den Arm, wenn wir Gespräche führten, kuschelten uns aneinander und ab und zu…, bekam ich auch einen Kuss von ihm.“
Mir lief es kalt den Rücken herunter, so genau wollte ich das auch nicht wissen. Aber Mr. Hughes Blick hatte sich geändert. Er schaute irgendwie verklärt und sehnsüchtig.
„Aber ich war eben nur sein bester Freund und da gab es ja auch noch eine gewisse Misses Charlotte Graham, von der dein Vater sehr angetan war…“
„… also meine Mutter hat es mir … etwas anders erzählt.“
„Hat sie?“, fragte Mr. Hughes mit großen Augen.
Ich musste grinsen.
„Sie meinte, dass damals ein gewisser Michael eine starke Konkurrenz war!“
„Das hat sie gesagt?“
Ich nickte und er schüttelte fassungslos seinen Kopf.
„Ich denke, mein Vater hat auch etwas für sie empfunden…, aber mit den Umständen zuhause und anderen Problemen, hat er sich für meine Mum entschieden.“
Eine Träne kullerte über Mr. Hughes Wange.
„Was… was lässt dich das annehmen?“
Mir fielen die vielen Geschichten ein.
„Wussten sie, dass mein Vater Kurzgeschichten geschrieben hat?“
Mein Lehrer schüttelte den Kopf.
„Ich habe einige davon gelesen und sie sind cool geschrieben. Dabei geht es fast ausschließlich um Jugendliche, die schwul waren.“
Musste ich mir jetzt Sorgen machen, dass gleich seine Augen heraus kullerten?
„Du… du hast das gelesen?“, fragte Mr. Hughes fassungslos.
Ich nickte.
„Aber warum? Dass ist kein Thema, dass irgendwie für einen… Normalbürger interessant wäre.“
Wollte er gerade Heten sagen? Jetzt war ich schon so weit gegangen, da konnte ich ihm den Rest auch erzählen.
„Wissen sie, warum mir das ganze so Nahe geht? Nicht weil ich erfahren habe, dass mein Vater… wie drückte es meine Mum aus, vielseitig interessiert war… nein nicht deswegen!“
Mr. Hughes Blick wurde fragend.
„Sie sagten, ich wäre meinem Vater sehr ähnlich und auch in dieser Sache sind wir uns gleich, naja nicht ganz…“
Mein Lehrer verzog das Gesicht, als würde er mich nicht verstehen.
„Ich bin schwul und habe sogar einen festen Freund, mit dem ich im Herbst zusammen ziehen werde.“
Sprachlos sah mich mein Gegenüber an. Deutlich konnte man ihm ansehen, wie es in seinem Hirn arbeitete.
„Deine… deine Mutter weiß es?“
Ich nickte.
„… die ganze Familie weiß es!“
„Hattest du keine Probleme… damit?“
Ich hätte ihm jetzt ausführlich erzählen können, was seit letztem Herbst passiert war, aber das ginge zu weit.
„Nein, mein Freund wurde herzlich in die Familie aufgenommen!“
Das entsprach zwar so nicht der Wahrheit, aber ich wollte einfach nicht mehr erzählen.
„Ich fasse es nicht…“, sagte Mr. Hughes und schüttelte erneut den Kopf.
Dann macht er etwas, worüber ich sehr erstaunt war. Er stand auf und streckte mir die Hand entgegen.
„Mein Name ist Michael, wie du ja schon weißt und ich würde mich freuen, wenn du du zu mir sagst… naja nicht gerade vor der Klasse, vielleicht im privateren Kreis.“
Ich stand ebenso auf und schüttelte ihm die Hand.
„Jack aber das wissen…, dass weißt du ja auch schon… Danke!“
„Entschuldige, ich werde mich jetzt nach Hause begeben. Du hast mir da einen ganz schönes Brocken hingeworfen.“
„Das wollte ich zwar nicht, aber ich bin dafür, dass Dinge geklärt werden. Es gibt schon zu viele Missverständnisse…, aber es gibt noch etwas, was mich interessieren würde.“
Er hatte mein Hand losgelassen.
„Das wäre?“
„Gibt es da einen Mann im Leben unseres Rektors?“
Nun lächelte Michael wieder.
„Nach deinem Vater habe ich niemanden gefunden, der ihm nur annähernd ähnlich gewesen wäre.“
Oh, das ist nicht gut.
„Dafür wurde ich aber gefunden“, grinste er, sagte aber nichts weiter.
„Okay…, danke nochmal, dass … du dir Zeit für mich genommen hast.“
„Nichts zu danken, dafür bin ich ab sofort da.“
Er tippte auf sein Namensschild.
*-*-*
Endlich zuhause und der Uniform entledigt, lief ich direkt zu Mum in den Laden. Ich wollte ihr einfach über das Erlebte erzählen. Das war ich ihr irgendwie schuldig. Aber dort angekommen, erwartete mich die nächste Überraschung. Eine unbekannte Frau stand neben Mum an der Kasse.
„Ähm hallo, ich bin wieder zuhause“, kündigte ich mich an und schloss die Tür zum Flur hinter mir.
Im Laden schien gerade sonst niemand zu sein und die beiden drehten sich zu mir.
„Hallo Jack, du bist spät!“
„Ja, ich weiß, aber ich hatte noch ein längeres Gespräch mit dem neuen Rektor der Schule.“
„Neuer Rektor… ein Gespräch? Hast du wieder Ärger?“
Ich hob abwehrend die Hände.
„Nein, Nein! Das war ganz privater Natur! Erzähl ich dir später!“
„Privat? Oh, wie unhöflich von mir. Darf ich dir Jannahs Mutter Mrs. Stonehange vorstellen?“
„Hallo Mrs. Stonehange, freut mich sie kennen zu lernen.“
Sie reichte mir die Hand.
„Hallo Jack… ich darf doch Jack sagen?“
„Natürlich, schließlich gehe ich mit ihrer Tochter in eine Klasse.“
„Naja, ihre Mutter hat mir schon gesagt, dass sie keinen Wert auf Titel legen.“
„Bloß nicht, einfach Jack und du genügen.“
„Danke!“, meinte Mrs. Stonehange an und lächelte etwas unglücklich.
Die Tür hinter mir wurde aufgezogen und Gregory kam herein.
„Ach hier seid ihr…, oh Mrs. Stonehange, sie hier?“
Stimmt ja, Gregory kannte Jannahs Mutter bereits.
„Ja, Mrs. Newbury war so freundlich, mir die Stelle zu geben!“
„Das freut mich für sie, dann werden wir uns ja öfter sehen.“
Ich begann zu grinsen. Da war ich mir sogar sicher, jetzt, wo sich anscheinend zwischen Jannah und Gregory mehr anbahnte.
„Richtet ihr schon das Abendessen, ich werde vor Ladenschluss Mrs. Stonehange noch einiges erklären.“
„Wie sie wünschen, Contess“, sagte ich, machte einen Diener und Gregory fing an zu lachen.
„Ach du! Los rüber mit euch!“
„Sind schon weg!“, sagte ich und schob meinen Cousin durch die offene Tür.
*-*-*
Das Gespräch am Abend mit Taylor dauerte dieses Mal etwas länger, hatte ich doch so viel zu erzählen. Auch er überraschte mich mit der Neuigkeit, dass er am Freitag kommen würde. Er wusste mal wieder mehr wie ich.
Olivias Beerdigung war auf den Freitag gelegt worden und es wurde beschlossen, dass alle daran teilnahmen. Darüber war ich zwar nicht so erfreut, aber dass Taylor, das ganze Wochenende bei mir bleiben konnte, erleichterte die ganze Sache.
So war ich zufrieden eingeschlafen und wachte noch vor dem Wecker seltsam fit wieder auf. Am Frühstückstisch war die Beerdigung natürlich Thema Nummer eins. Mum war selbstverständlich bereits von Abigail informiert worden. Gregory traf es dafür am Frühstückstisch überraschend.
„Kann ich meine Schuluniform anziehen? Ich habe keinen schwarzen Anzug!“
„Wie Jack. Nein keine Schuluniform!“, meinte Mum, „ihr werdet wohl noch vor Freitag euch einen zulegen müssen!“
„Das kostet…“
Weiter kam er nicht, denn ich hielt ihm einfach den Mund zu.
„Davon brauchst du gar nicht anzufangen! Das Thema hatten wir jetzt oft genug. Wir machen das, was Mum gesagt hat und fertig! Donnerstag? Da haben wir drei Freistunden, den Unterricht fällt aus!“
„Woher weißt du denn das schon wieder, das hat doch noch gar niemand verlauten lassen“, meckerte Gregory.
„Ich habe da so meine Beziehungen, aber ich werde nicht preis geben, wer meine Quelle ist!“
Mum grinste, als würde sie wissen, von wem ich sprach.
„Du wieder! … aber etwas anderes… könnte ich vielleicht Jannah mitnehmen?“
„Wieso Jannah?“, fragte ich erstaunt.
„Du weißt, das ist eine Familienangelegenheit“, mahnte Mum.
„Ja, deswegen, ich wollte Jannah Grandpa vorstellen. Sie fragt mich schon ständig nach dem Duke.“
Mum und ich grinsten uns an.
„Das scheint wohl etwas Ernsteres“, sagte ich frech grinsend.
Dafür bekam ich einen Hieb auf die Schulter.
„EH! Das tut weh!“, jammerte ich und rieb mir den Arm.
„Gut so!“, grinste Gregory zurück.
„Dann werde ich meinen geschunden Körper mal ins Zimmer verfrachten und mich fertig machen.“
„Hört, hört!“, kicherte Mum.
*-*-*
Der Rest der Woche verlief ähnlich und meine Vorfreude aufs Wochenende wurde nur wegen der Beerdigung etwas gebremst. Überraschend waren wir Freitag vom Unterricht befreit worden. Mr. Hughes hatte sich anscheinend selbst dafür eingesetzt.
Da wegen der Umstrukturierung, eh einige Unterrichtstunden flach fielen, hatten wir auch einen nicht allzu großen Ausfall. Das Lächeln, mit dem mich unser Klassenlehrer nun ansah, nervte aber fast genauso, wie das vorherige Starren.
Großvater, Abigail und Taylor hatten sich für den späten Vormittag angekündigt, so hatte ich genügend Zeit, noch etwas die Wohnung zu säubern. Mum hatte sich entschlossen, den Laden bis zur Mittagszeit trotzdem zu öffnen.
So war ich dazu verdonnert worden, hausmännliche Arbeiten zu übernehmen. Mein Glück war, dass mir Gregory freiwillig half, ohne dass ich groß fragen brauchte. Mein Zimmer war fertig, während er mit dem Staubsauger durch die Wohnung jagte.
Der Anzug hing an meinem Schrank, noch in der Folie verpackt, wie ich ihn nach Hause gebracht hatte.
„Ich bin fertig“, hörte ich es aus dem Flur.
„Ich auch, das war das letzte Zimmer! Hat Mum etwas wegen dem Mittagesen gesagt?“
„Weiß nicht! Vielleicht gehen wir später essen, wenn Großvater da ist.“
Daran hatte ich nicht gedacht. Die Beerdigung sollte gegen drei von Statten gehen, war wir davor machten, oder was geplant war, davon wusste ich nichts.
„Dann gehen wir mal rüber in den Laden und holen unsere letzten Instruktionen ab. Wann kommt den Jannah?“
„Ähm…,“
Wurde Gregory gerade verlegen?
„… ich denke, wenn deine Mum den Laden schließt. Sie sagte etwas, dass ihre Mum gerne sehen würde, was sie anzieht.“
Stimmt, Jannahs Mutter arbeitete ja jetzt für uns. Als Gregory und ich den Laden betraten, war ich angenehm überrascht, das Schuhgeschäft, war gut gefüllt.
„Hallo Jack, dich schickt der Himmel, könntest du vielleicht abkassieren?“, sagte Mum, als sie mich bemerkte.
Sie drückte mir ein paar Schuhe in die Hand und zeigte auf einem älteren Herrn.
„Mr. Harmisch… hallo… neue Schuhe“, sagte ich, als ich den Mann erkannte.
Gregory sah mich fragend an, während Mum mich stehen ließ.
„Ja, ich finde, ich bin lange genug in den alten herum gelaufen.“
„Mit Karton…?“, fragte ich und zeigte auf diesen.
„Nein, wie beim letzten Mal, ich nehme sie direkt in der Tasche mit. Ihre Mutter sagte noch etwas von einem Pflegemittel…?“
Da ich noch den Karton in Händen hielt, nahm Gregory die Tasche entgegen.
„Ich wusste gar nicht, dass sie einen Bruder haben“, sagte Mr. Harmisch verblüfft.
„Das ist auch nicht mein Bruder, sondern mein Cousin Gregory“, lächelte ich.“
„Sie sehen sich aber sehr ähnlich, ich würde fast behaupten, sie sind Zwillinge.“
Nun lächelte auch Gregory verlegen. Ich zeigte auf das Regal hinter uns, wo sich die Pflegemittel befanden. Ohne dass ich etwas sagen musste, nahm mein Cousin auch gleich den richtigen Farbton.
„Das haben wir schon oft gehört, aber so gesehen, ist er fast wie ein Bruder für mich! Bar oder Karte?“
„Bar“, meinte Mr. Harmisch und zog einen Geldbeutel aus dem Mantel.
Ich sagte den Betrag und nahm das Geld entgegen. Ich sortierte die Scheine in die entsprechenden Fächer der Kasse und zählte das Wechselgeld heraus.
„Man könnte meinen, du würdest nichts anderes machen“, flüsterte Gregory neben mir, der bereits die Schuhe und Pflegemittel in der Tasche untergebracht hatte.
Ich reichte Mr. Harmisch das Wechselgeld und nahm Gregory die Tasche ab.
„Dann wünsche ich ihnen ein schönes Wochenende, Mr. Harmisch“, sagte ich und reichte ihm seine Tasche.
„Danke, ich euch auch!“
Ohne Aufforderung begleitete ich Mr. Harmisch zur Tür und zog sie auf.
„Bis zum nächsten Mal, Mr. Harmisch.“
„Da kannst du dir sicher sein“, grinste mich der alte Herr an.
Er verließ den Laden und ich schob die Tür wieder zu. Als ich an die Kasse zurück kam, stand Gregory dort nicht mehr alleine. Mrs. Stonehange stand bei ihm.
„Hallo Mrs. Stonehange“, sagte ich und begab mich wieder hinter die Kasse zu Gregory.
„Hallo Jack, ich wusste gar nicht, dass du dich so gut mit der Kasse auskennst.“
„Ich habe sie sogar eingerichtet“, lächelte ich stolz, „soll ich für sie ebenso kassieren?“
„Danke Jack, das wäre eine große Hilfe. Ich weiß nicht, warum heute so viel los ist und so gut kenne ich mich auch noch nicht aus.“
„Kein Problem, Mrs Stonehange.“
„Ach sag doch wie Gregory Claire zu mir, musst nicht so förmlich sein!“
Gregory neben mir wurde rot.
„Danke… Claire.“
„Nichts zu danken, Jack. Ich schicke dann die Kundin zu dir, wenn sie sich entschieden hat.“
Ich nickte ihr zu und sie ließ uns wieder alleine. Ich wollte gerade etwas zu Gregory sagen, als meine Aufmerksamkeit auf die Ladentür gezogen wurde. Dort trat Jannah ein. Mein Blick fiel zu Gregory, der zu lächeln anfing.
Schon stand ich alleine an der Kasse. Folgen konnte ich ihm nicht, denn die besagte Kundin trat an die Kasse. So kassierte ich auch sie ab.
*-*-*
Gregory hatte sich mit Jannah nach oben verzogen und ich saß nun alleine in meinem Zimmer. Mum wollte den Laden in einer halben Stunde schließen, so wurde meine Hilfe nicht länger benötigt.
Mein Handy fiepte und ich nahm es. Eine Nachricht von Taylor.
„Bin gleich bei dir!“
Strahlend legte ich das Handy ab, schlüpfte in meine Schuhe und verließ mein Zimmer. Draußen im Freien angekommen, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich meine Jacke vergessen hatte. Kalt blies mir der Wind ins Gesicht.
Aber da kam schon Grandpas Wagen in Sicht. Ich trat winkend etwas zur Seite, um Platz zu machen, damit Abigail einparken konnte. Als der Wagen stand, lief ich an die hintere Tür, wo sich Grandpa befand.
„Hallo Jack, ich hoffe, deine Freude gilt mir“, meinte Grandpa.
„Natürlich Grandpa… hallo!“, sagte ich grinsend und umarmte ihn kurz.
„Hallo Jack, ist deine Mutter noch im Laden?“
„Ja, aber sie schließt gleich.“
„Dann werde ich mal zu ihr gehen“, sagte Tantchen lächelnd zurück.
„Ich werde dich begleiten“, meinte Grandpa und henkte sich bei ihr ein.
So stand ich alleine auf dem Gehweg und lächelte meinen Schatz an, der gerade den Wagen umrundet hatte.
„Hi!“, meinte ich und nahm ihn die Arme.
Er war wie Grandpa und Abigail bereits in schwarz gekleidet.
„Hi Jack“, flüsterte er mir ins Ohr.
Das verpasste mir eine Gänsehaut. Ich entließ ihn aus meinen Armen und drückte ihm einen kleinen Kuss auf dem Mund.
„Ganz schön leichtsinnig“, sprach Taylor im normalen Ton weiter.
„Wieso? Kann doch jeder sehen, wie lieb ich meinen Schatz habe!“
Taylors Grinsen wurde breiter.
„Das meinte ich nicht! Willst du dir etwas einfangen, ohne Jacke hier draußen…?“
Wieder wurde ich mir der Kälte bewusst. Taylor hatte in Gegensatz zu mir einen schwarzen Rollkragenpulli und eine längere Jacke an.
„Ist ja schon gut, komm gehen wir hinein!“
Artig folgte mir mein Schatz ins Haus. Im Flur kamen uns Gregory und Jannah entgegen, sprich die Treppe herunter. Auch mein Cousin war bereits in schwarz gekleidet. Jannah trug einen schwarzen Rock.
„Hallo Taylor, schon da?“, rief uns Gregory entgegen.
„Gerade angekommen… hallo Gregory!“
Die beiden begrüßten sich mit einer kurzen Umarmung.
„Darf ich dir meine Freundin Jannah vorstellen?“
Hopple, das war das erste Mal, das Gregory Jannah als seine Freundin vorgab. Jannah wurde leicht verlegen.
„Hallo Jannah, freut mich dich kennen zu lernen“, riss mich Taylor aus meinen Gedanken und streckte ihr seine Hand entgegen.
„Der Mann mit den Pferden…! Hallo Taylor, Gregorys hat mir schon vieles von dir erzählt…, von deinem guten Aussehen hat er aber nichts gesagt!“, erwiderte Jannah im festen Ton.
Taylor grinste breit und ich fing an zu kichern.
„Ich bin ganz normal und das gute Aussehen liegt wohl eher in dieser Familie.“
Grinsend schaute Taylor zu mir und ich legte einen Arm um ihn.
„Wo sind Grandpa und Tante Abigail?“, wollte Gregory wissen.
„Die sind bei Mum im Laden“, antwortete ich.
„Dann werden wir uns mal dahin begeben“, meinte Gregory und zog Jannah mit sich.
„… und ich werde ich mich mal umziehen gehen.“
Darf ich mit?“, sagte mein Schatz.
*-*-*
Eine andere Frage war aufgekommen. Niemand hatte daran gedacht, dass wir uns auch etwas zum Überziehen zu besorgen hatten. Nur im Anzug auf dem Friedhof zu stehen, war einfach zu kalt.
Noch Mäntel zu besorgen, dafür war es einfach zu spät. Nach längerem hin und her, wurde sich dafür entschieden, dass wir den Mantel der Schule anziehen sollten. Das Emblem der Schule, das das Brustteil der Mäntel zierte, war nicht sehr groß und viel sicher nicht auf.
So ausgestattet, saß ich nun mit Taylor bei Mum im Wagen. Gregory durfte mit Jannah bei Grandpa und Abigail mitfahren. Gedankenverloren schaute ich nach draußen, wusste ich ja nicht, was da auf mich zu kam.
Der Druck von Taylors Hand verstärkte sich kurz, in der meine Hand lag. Ich schaute zu ihm.
„Alles in Ordnung?“, fragte er leise.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht… Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob die Idee, auf die Beerdigung zu gehen, gut war.“
„Wieso?“
„Keiner von uns mochte die Frau und jetzt sollen wir ihr unsere letzte Ehrerbietung geben?“
„Du solltest das von einer anderen Perspektive aus betrachten! Wir zollen ihr keine Ehrerbietung, sondern unterstützen mit unserem Dasein deinen Onkel, Jayden und Molly!“
„Taylor hatte Recht!“, kam es von vorne.
Mum hatte natürlich zugehört.
„Wir zeigen Henry nur, dass er auf uns zählen kann, was immer auch kommen mag“, sprach sie weiter.
„Aus der Sicht habe ich das wirklich nicht gesehen“, meinte ich.
„Vielleicht fährst du damit besser“, sagte Taylor, „und musst dir nicht unnötig Gedanken machen!“
„Danke“, lächelte ich ihn an und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
*-*-*
Ich wusste nicht, dass Olivia auf demselben Friedhof beerdigt werden würde, wo sich auch das Grab meines Vaters befand. Ein komisches Gefühl machte sich in mir breit. Was es Ironie des Schicksals?
Ich wusste, dass der betrunkene Fahrer an Dads Tod schuld war, aber Olivia war eigentlich der Hauptgrund seiner nächtlichen Fahrt. Hätte sie nicht negativ interveniert, wäre es zu all dem nicht gekommen. Dieses Einmischen hatte alles verändert.
Aber da war es wieder, dieses kleine hässliche Wort „hätte“. Es machte keinen Sinn darüber nach zudenken und trotzdem beschäftigte es mich kolossal und ab und wann diktierte es mein Verhalten.
Das Schlimme daran, ich wusste, wenn es passierte, aber ich stoppte mich nie selbst. Mein Blick wanderte durch den Raum der Friedhofskapelle. Dank Onkel Henry, waren wir hier von neugierigen Blicken geschützt.
Das heißt es war keine Presse vorhanden. Vorne stand der Sarg, in dem Olivia aufgebahrt wurde. Daneben ein Bild von ihr, mit einem seltsamen Lächeln, das ich nie bei ihr gesehen hatte. War es ihre Zufriedenheit darüber, was sie uns alle angetan hatte?
Selbst nach ihrem Tod wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie immer noch alle Fäden in der Hand hielt. Mein Blick blieb bei Henry hängen. Während Molly ihren Kopf auf seine Schulter gelehnt hatte, saß Jayden neben den beiden und schaute zum Boden.
Sein Gesicht war nicht zu sehen, seine Haare waren nach vorne gerutscht. Neben ihm hatten Brenda und Lewis Platz genommen. Jaydens Oma putzte sich gerade die Nase, währenddessen sein Opa starr nach vorne schaute.
Sie mussten ihre Tochter zu Grabe tragen, aber der Gedanke machte sich in mir breit, dass sie eigentlich viel mehr verloren hatten, schon vor Olivias Tod. Ich konnte nur hoffen, dass sie mit den neugewonnenen Enkeln ihr Glück wieder fanden.
Die Zwillinge mit Mason saßen neben den beiden. War Mason sauer auf seine Schwester, oder hasste er sie sogar? Zu verübeln wäre es ihm nicht, hatte er dank ihr, so lange auf seine Familie verzichten müssen.
Zu meiner Verwunderung saß eine Bank vor uns Sophia, neben Abigail und Grandpa. Hatte man sie informiert, oder war sie von alleine gekommen? Grandpa sah nicht gut aus, er war bleich im Gesicht, hatte aber auch einen ärgerlichen Gesichtsausdruck.
Verdenken konnte man es ihm nicht, auch er hatte unter seiner Schwiegertochter zu leiden. Dass Gregory bei uns saß und nicht bei seiner Mutter, war keine Überraschung. Die Meinung über seine leibliche Mutter hatte sich nicht geändert.
Neben Sophia hatte sich das Personal von Newbury Manor eingefunden. Sogar Christine konnte ich entdecken. Wie sie war auch Sophia schlicht schwarz gekleidet.
Kein teurer Designerfummel, wie ich es von ihr gewohnt war. Seit ihrer Anwesenheit, hatte sie sich nicht einmal zu Gregory umgedreht. Er musste sich schrecklich fühlen. Fragen konnte ich ihn nicht, denn das hätte die Stille durchbrochen, die im Raum herrschte.
Taylor drückte meine Hand und schaute mich fragend an. Ich schüttelte leicht den Kopf und versuchte ihm ein Lächeln zu schenken. Er saß zwischen mir und Mum, neben meinen Großeltern.
Gregory, Jannah und Sabrina, auch ihre Eltern füllten den Rest der Bank. Hinter uns saßen Fremde, die Wohl zum Freundeskreis von Henry und Olivia gehörten, oder welche, die sich als solches bezeichneten.
Der Pastor betrat den Raum und das liturgische Programm begann, soweit man es so nennen konnte, denn der Ablauf war nicht so, wie ich es sonst von Gottesdiensten gewohnt war. Es war kein Lied auf dem Faltblatt verzeichnet, auch keine zusätzlichen Redner.
Lediglich Gebete und eine kleine Predigt standen dort als Punkte aufgereiht. So dauerte das Ganze auch keine halbe Stunde. Am Schluss standen alle auf, Männer kamen und stellten den Sarg auf einen Rollwagen.
Der Pastor trat in den Mittelgang und die Männer folgten ihm mit dem Wagen. Danach setzte sich Onkel Henry mit meinen Cousins in Bewegung, wie auch der Rest aus der Bank. Grandpa, meine Großeltern und Sophia mit Tante Abigail schlossen sich an, bevor auch wir in der Bank sich dahinter gesellten.
Was nach uns geschah, entzog sich meiner Kenntnis, wollte ich nicht neugierig erscheinen und nach hinten schauen. Als wir vor die Tür traten, blies uns ein kalter Wind entgegen. Da war ich froh, den Mantel zu tragen.
Der Pastor führte uns fast quer, durch den ganzen Friedhof, bevor wir an der Stelle ankamen, wo Olivia beigesetzt werden sollte. Dass ich nun, mit Taylor, in zweiter Reihe stand, störte mich nicht.
Eher die neugierigen Blicke, die ich sehen konnte, weil Taylor und ich immer noch Hand in Hand liefen. Ob sich das gehörte, war eine andere Frage, aber ich wollte es so. Ich fühlte mich sicherer, mit Taylor an meiner Seite.
Was die anderen darüber dachten, war mir egal. Ich hatte mir jedenfalls fest vorgenommen, wenn dass alles hier vorüber war, mit meinem Schatz Dads Grab zu besuchen. Auch hier am Grab sagte der Pastor nur wenige Worte.
Ich war mir sicher, dass dies alles von Henry so bestimmt worden war. Hier den trauerden Witwer vorzuheucheln wäre nicht Onkel Henry gewesen. Der Sarg wurde hinab gelassen. Leise konnte ich Molly weinen hören, von Jayden kam kein laut.
Auch hier schaute er zum Boden. Auch wenn ich mich nicht an Dads Beerdigung erinnern konnte, wusste ich, wie sich Jayden fühlen musste. Ihm jetzt keinen Trost schenken so können, wurmte mich.
Mein Blick wandert über die Reihen der Fremden und blieb plötzlich an zwei Personen hängen. Standen da nicht Emily und Grandma? Verwundert schaute ich kurz zu Taylor, der aber natürlich nicht wusste, was ich meinte.
Das auch die beiden sich bei der Trauergesellschaft eingefunden hatten, hätte ich nie für möglich gehalten. Es war zwar auch Grandmas Schwiegertochter, hatte sie aber trotzdem nichts mehr mit ihr zu tun.
Ich hoffte, dass ich sie später noch sprechen konnte, bevor sie wieder verschwand. Das Personal waren die ersten, die sich am Sarg einfanden, um ihr Beileid zu zeigen. Ihre Gesichter waren emotionslos, was mich aber auch nicht wunderte.
Eher das keiner eine Blume ins Grab warf, oder die berühmte kleine Schaufel Erde. Erst jetzt fiel mir auf, dass auch am Blumenschmuck gespart wurde. Anders war es bei den ganzen Fremden. Sie hatten Rosen oder Nelken, die sie ins Grab warfen, mit Henry ein paar Worte wechselten und ihm die Hand schütteln.
Auch während dieser Zeit schaute Jayden nicht einmal auf. Die Reihe lichtete sich langsam, bis nur noch die Familie da war. Der Pastor hatte sich noch mit ein paar tröstenden Worten verabschiedet und war gegangen.
Ich spürte einen Tropfen auf meiner Wange und schaute leicht nach oben. Es begann zu regnen. Kurz die Augen geschlossen, atmete ich tief durch. Dann löste ich mich aus der Reihe, zog Taylor einfach hinter mir her und lief zu Henry.
Ich brauchte gar nichts zu sagen, unsere Augen sagten schon genug. Anstatt ihm die Hand zu schütteln, drückte ich Onkel Henry kurz. Bei Molly legte ich meine Hand auf die ihre, die am Arm ihres Vaters ruhte.
Taylor schüttelte gerade Henry die Hand und nickte ihm zu, als ich zu Jayden kam. Auch jetzt schaute er nicht auf. Ich griff sanft nach seinem Nacken, zog ihn zu mir und umarmte auch ihn, bevor ich ihm einen Kuss auf die mit Haar bedeckte Stirn gab und weiter lief.
Am Rand wartete ich auf Taylor. Als er zu mir kam, griff ich einfach seine Hand und zog ihn weiter. Ohne etwas zu sagen, folgte er mir, vielleicht hatte er auch gesehen, warum ich diese Richtung eingeschlagen hatte.
Am Hauptweg in einiger Entfernung standen Grandma und Emily.
„Emily… Grandma“, meinte ich nur und nickte beiden zu.
„Hallo mein Junge“, sagte Grandma mit brüchiger Stimme.
Sie hob ihre Hand und griff nach meiner.
„Es ist zwar ein trauriger Grund, trotzdem freue ich mich dich zu sehen.“
Taylor hatte sich neben Emily gestellt, während ich Grandma nun doch umarmte und ihr ein Küsschen auf die Wange drückte.
„Ich habe euch hier zwar nicht erwartet, aber ich freue mich trotzdem euch beiden zu sehen!“, erwiderte ich mit einem Lächeln.
„Hallo Taylor“, lächelte Grandma meinen Schatz an.
„Hallo Grandma“, sagte Taylor, griff nach ihre Hand und drückte ihr ebenso einen Kuss auf die Wange.
Danach gesellte er sich zu mir.
„Geht ihr auch zu diesem Leichenschmaus?“, fragte Emily etwas barsch.
Dafür handelte sie sich einen bösen Blick von Grandma ein.
„Was denn, wie soll man es sonst nennen?“, kam es verärgert postwendet zurück.
„Ich weiß zwar nicht, was geplant ist, aber ich habe vor mit Taylor zuerst das Grab meines Vaters zu besuchen.“
Grandma machte große Augen.
„Isaac… ist auch hier?“, fragte sie mit leiser Stimme.
„Du wusstest das nicht?“
Grandma schüttelte den Kopf.
„Darf… darf ich dich begleiten?“
„Natürlich!“, sagte ich.
Ich hob ihr meinen Arm hin, die sie dankend annahm. Taylor machte das gleiche bei Emily, die sich grinsend bei ihm einhängte.
„Kommst du oft hier her?“, zog Grandma meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.
„Zu meiner Schande… eigentlich nur am Geburtstag von Dad, da kommen Mum und ich gemeinsam.“
„Immerhin“, hörte ich Emilys Stimme hinter mir, „es gibt sicherlich viele, die die Gräber ihre Verwandten nicht mehr besuchen.“
Dann schwieg auch sie. Ohne zu den anderen zurück zu schauen, durchquerten wie gemeinsam den Friedhof. An der großen Tanne bog ich mit Grandma in die letzte Reihe der Gräber ein.
Ungefähr in der Mitte blieb ich dann stehen. Vor uns war das Grab von Dad. Wie die Umrandung, war der Stein schwarz. Darauf waren ein kleines Bild, sein Name und die Geburts- und Sterbedaten.
Einfach Isaac Newbury, kein Titel und sonst auch nichts, was auf seine adlige Herkunft schließen konnte. Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, was Mum damals alles durchmachen musste.
„Es hat lange gedauert…, aber endlich sind wir wieder zusammen…“, hörte ich plötzlich Grandma sagen.
Meine Tränendrüsen meldeten sich schon automatisch. Sie sprach mit ihrem Sohn, als stünde er lebendig vor ihr.
„Isaac, weißt du überhaupt, was für einen tollen Sohn du hast? Ich bin mir sicher du bist richtig stolz auf ihn, so wie wir alle hier.“
Das war jetzt wirklich zu viel, erste Tränen rannen über meine Wange. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Neben mir war Taylor aufgetaucht.
„Glaubst du deine Mutter hätte etwas dagegen, wenn ich ihn mit Emily auch an seinem Geburtstag besuche?“, fragte Grandma plötzlich.
„Sie hat sicher nichts dagegen!“
Das hatte nicht ich gesagt, sondern es war Mums Stimme.
Wir drehten uns alle gleichzeitig in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dort stand Mum, mit Abigail und Grandpa.
„Auch der noch…“, hörte ich Emily hinter mir grummeln.
„Emily!“, sagte Grandma neben mir.
Ich konnte nicht anders und musste grinsen. Mum trat zu uns und umarmte Grandma.
„Sophie“, hörte ich Mum sagen.
„Hallo Charlotte!“
Grandpa und Abigail blieben dort, wo sie gestanden haben. Mum gesellte sich zu mir und Taylor und begrüßte auch kurz Emily.
„Möchtest du nicht zu deinem Sohn?“, fragte Grandma plötzlich mit lauter fester Stimme ihren Exmann.
„Wenn ich darf…?“, erwiderte Grandpa.
„Warum solltest du nicht dürfen, es ist schließlich auch dein Sohn…!“
Grandma trat wie wir zur Seite und machte Platz. Unsicher trat Grandpa mit Abigail heran und blieb vor dem Grab stehen. Seine Augen waren glasig. Ich konnte mir nur annähernd vorstellen, was in seinem Kopf nun vorgehen musste.
„Möchtet ihr den Namen so lassen?“, fragte Abigail plötzlich.
Es war ihr anscheinend auch aufgefallen. Ich blickte zu Mum.
„Ich werde mich sicher nicht entschuldigen, für das ich mich damals entschieden habe…, aber wenn es Jack wünscht, lass ich es gerne um ändern.“
„Wieso ich?“, fragte ich irritiert.
„Weil du der Grund bist, warum alle hier sind!“, sagte Taylor neben mir, „war es nicht dein Wunsch, alle wieder vereint zusehen?“
Mir trieb es die Tränen in die Augen und konnte nur nicken. Mein Schatz legte den Arm um mich.
„Ich denke, dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, wenn auch mit einer traurigen Seite… und wenn du dich auch dagegen wehrst, das ist alles dein Verdienst!“
„Bitte nicht…“, war alles, was ich heraus brachte und fiel ihm weinend in die Arme.
„Dürfte ich euch… zu einer Tasse Kaffee einladen?“
Die Frage hatte Abigail gestellt und diese war an Emily und Grandma gerichtet.
„Wenn es sein muss…“, knurrte Emily.
„Emily bitte!“, sagte Grandma.
Auch wenn ich gerade noch absolut down war und mich meiner Tränen ergab, musste ich jetzt doch kichern. Ich ließ Taylor los, lächelte ihn an und wischte meine Tränen weg.
„Danke!“, hauchte ich.
„Es muss nicht!“, sagte Abigail, „Henry hat jedem freigestellt zu bleiben, oder nicht. Ich zitiere wörtlich: „Diese Frau soll nicht der Grund sein, wenn wir uns später treffen würden!“
Grandma schaute zu Emily.
„An mir soll es nicht liegen!“
Abigail und Grandpa waren die ersten, die sich zum Hauptweg drehten. Als Mum in meiner Höhe war, trat sie direkt neben mich, während die anderen schon am Weg waren.
„Weißt du, dass du den Wunsch deines Vaters erfüllt hast?“
„Ich?“
„Ja, denn er wünschte sich nichts sehnlicheres, als die ganze Familie vereint zu sehen… und ich meine wirklich die ganze Familie!“
Stolz und mit einem Lächeln sah sie mich an. Mein Blick fiel wieder auf die kleine Fotografie, die am Grabstein hing. Darauf lächelte mich Dad an, als würde er sich mit uns freuen.
Mit einem Lächeln im Gesicht, hängte ich mich bei Mum ein und folgten den anderen.
Be continued…
ich wünsche allen eine Frohe Weihnacht und ein gesegnetes Fest!
3 Kommentare
Hallo Pit,
mal wieder eine grandiose Fortsetzung einer deiner Geschichten.
Vielen Dank für die ganze Arbeit und Mühe die darin steckt.
Man ist fast sprachlos nach dem lesen und kann kaum erwarten bis es weitergeht .
Dir und allen eine schöne Zeit , Gesundheit und natürlich viele Ideen und Muse für weitere Geschichten.
Gruß
sandro
Hallo Pit,
Danke für deine Adventkakender Story, sie hat mir sehr gut gefallen. 🙂
Ich wünsche dir einen guten Rutsch ins neue Jahr 2023 mit viel Glück und Gesundheit.
LG Leo,
aus Linz
Freue mich schon auf die Fortsetzung , schöne Feiertage