Drachenblut – 5. Buch – Nemesis / Inferno

Drachenblut – Teil 5   Nemesis / Inferno

© by Nero Impalas

Eargilin

Helden

»Wuff!«

Schiefergraus Kommentar zu Drachen

»Und, wie lange beabsichtigen wir hier zu bleiben?«, fragte Suman in die Runde, wobei Tonfall und Inhalt ungeduldiger gerieten, als eigentlich beabsichtigt.

Gilfea ging auf Suman zu und legte ihm seine Hand auf die Schulter: »Ich weiß, dass du dir um Segato Sorgen machst. Aber dies hier ist ebenfalls wichtig. Gib Gildofal noch ein wenig Zeit, den Text zu übersetzen.«

Sumans Verstand sagte ihm zwar, dass Gilfea Recht hatte, sein Herz hingegen sorgte sich um Segato. Seit vier Tagen waren die drei Drachenreiter nun Gäste der Wölfe. Bereits in dieser kurzen Zeit hatte sich der allgemeine Zustand des Rudels deutlich verbessert. Es war fast ein Wunder. Dank dreier fleißig jagender Drachen zeigte keiner der Wölfe mehr Zeichen von Unterernährung.

Silberfels, der Leitwolf des Rudels, wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Einerseits war er überglücklich, seine Meute gesund und munter zu sehen, anderseits sorgte er sich darum, wie es mit seinem Stamm weitergehen sollte, sobald die drei Drachenreiter ihn und seine Wölfe verlassen würden.

Von all dem bekam Gildofal nicht viel mit. Er verbrachte die meiste Zeit in der Kristallhöhle und versuchte den elbischen Text zu entschlüsseln, der sich aus tausenden funkelnden Kristalladern zusammensetzte. Was anfangs noch als eine eher leichte Aufgabe erschien, entpuppte sich mehr und mehr als wahre Herausforderung an Gildofals linguistische Fähigkeiten, sein historisches Fachwissen und seine Kenntnisse der Mythen und Sagen seines Volkes. Gildofal brannte vor Hingabe und Begeisterung. Es war, als wenn er uralte Pergamentrollen und Folianten durchforsten würde. Die Kristallhöhle war viel mehr, als… ja was war sie eigentlich? Ein Archiv elbischer Geschichte? Ein Quell vielfältigen Wissens? Ein magisches Artefakt?

Während Suman sich Sorgen um Segato machte und Gildofal die Geheimnisse der Kristallhöhle versuchte zu ergründen, nutzten Mithval, Tingalen und Eargilin die Zeit, um an den zerklüfteten Berghängen ihre Flugtechnik zu verbessern. Vorsprünge, Überhänge, KaMiene und Pässe boten einen unerschöpflichen Vorrat an Herausforderungen. Mithval übernahm dabei die Rolle des Lehrers, eines überaus geduldigen Lehrers, da Tingalen und Eargilin eher rumalberten, in den Schluchten verstecken spielten und überhaupt sehr ausgelassen waren.

Es schien, als ob alle Mitglieder des Segatosuchtrupps beschäftigt waren; alle, bis auf einen. Gilfea hielt sich die ganze Zeit im Hintergrund. Nicht etwa, weil er nicht mit den Wölfen sprechen konnte und auf Suman oder Gildofal als Dolmetscher angewiesen war, sondern, weil er versuchte zu entscheiden, in welche Richtung ihre weitere Suche gehen sollte.

Der bisherige Plan hieß Segato, also mich, in Crossar zu suchen. Doch je mehr Gilfea darüber nachdachte, desto mehr zweifelte er daran, mich in Crossar zu finden. Er konnte es nicht wissen, aber er lag vollkommen richtig. Während meine drei Drachenreiterfreunde eine Meute halb verhungerter Wölfe aufpäppelte, brachte mir mein Drache in Blaufurt das Fliegen bei.

Ein weiteres, wesentlich näher liegendes Problem nagte ebenfalls an Gilfea. Was sollte aus Silberfels Wolfsrudel werden? In ein paar Tagen würden die drei Drachenreiter und ihre Drachen das Gebirge wieder verlassen, doch die Wölfe würden bleiben und ihre Probleme zurückkehren. Ob er es wollte oder nicht, Gilfea fühlte sich für die Wölfe verantwortlich.

Tief in Gedanken versunken, wanderte Gilfea zu Schiefergraus Lager, dem Wolf der Gildofal das Leben gerettet hatte und dabei sein eigenes fast verlor. Wenn man es genau betrachtete, so hatte er es bereits verloren. Ohne Gilfeas Einsatz hätte Schiefergrau nicht überlebt. Das Leben hatte den Wolf schon fast verlassen. Der Blutverlust durch die Wunde, die ihm Steinschlag zugefügt hatte, war sehr groß, zu groß, um es zu überleben. Als Gilfea mit seinen Händen einen machtvollen Heilzauber ausübte, lag der Wolf bereits in seinen letzten Atemzügen. Doch Gilfeas Zauber obsiegte. Unter den staunenden Augen der umstehenden Wölfe stoppten Schiefergraus Blutungen, schlossen sich seine Wunden und Gewebe bildete sich neu.

Was man sah, Gilfea heilte nicht nur die sichtbaren Verletzungen. Seine Kraft spendete dem Wolf neue Lebensenergie. Gerade so viel, dass er die Chance hatte, sich von seiner Verletzung zu erholen. Wenn er es denn wollte. Gilfeas Zauber reichte dem Wolf gleichsam eine Hand. Sie ergreifen und sich zurück ins Leben ziehen musste Schiefergrau selbst.

»Du weißt, was du getan hast? Du hast Lebensenergie geschenkt.«, bemerkte Mithval später mit einem für ihn untypisch ernsten Ton in der Stimme.

»Ja, ich glaube, ich weiß was ich getan habe. War es falsch, Schiefergrau zu retten?«

»Das habe ich nicht gesagt. Es ist deine, unsere, Gabe dies tun zu können. Es könnte Konsequenzen haben.«

Gilfea zuckte mit den Schultern. Er hatte nie darüber nachgedacht, dass er offenbar die Fähigkeit besaß, Verletzungen jeglicher Art zu heilen. Zweimal hatte er es getan, ohne darüber nachgedacht zu haben, was er tat. Das erste Mal lag Jahre zurück. Es war der Tag nach seiner unfreiwilligen Vereinigung mit Mithval. Seine Freunde, die Drachenreiter hatten Mithval und ihn in einem der Krater des Eisengebirges abgeholt und nach Daelbar gebracht. Während des Flugs wurden die Gruppen von Drachenjägern mit Jagdlanzen angegriffen. Eine der Jagdlanzen traf Lindor. Diese Lanzen töten zwar nicht, aber sie lähmen den Drachen und bereiten ihm unverstellbare Schmerzen, um ihn kampfunfähig zu halten, bis die Drachenjäger ihr Mörderhandwerk vollenden können.

Ohne zu wissen was er tat, berührte Gilfea Lindor, nahm seinen Schmerz auf sich und rettete dadurch Lindor und seinen Reiter, Thonfilas. Seit jener Zeit fühlten sich Lindor und Thonfilas auf ganz besondere Weise mit Gilfea verbunden. Bisher hielt Gilfea dies für eine völlig unnötige und daher um so nettere Dankbarkeit. Doch vielleicht steckte da doch mehr dahinter. Der junge Drachenreiter war sich nicht mehr sicher.

Das zweite Mal, dass Gilfea seine Heilkraft einsetzte, war bei der Befreiung Uskavs von dessen Besessenheit. Uskavs Geist war von einem Schwarzmagier versklavt worden. Ein Teil der Willenskraft und Essenz dieses Magiers steckte in Uskav und wollte ihn beherrschen. Uskav kämpfte dagegen an und behielt die Oberhand, bis nach einem Gefecht auch seine Kräfte schwach wurden. Gilfea griff ein, legte seine Hände auf Uskav und trug in dessen Geist und Körper einen Kampf Magie gegen Magie aus. Am Ende siegte Gilfea. Und auch in jenem Fall veränderte sich etwas zwischen ihm und Uskav.

Diese Gedanken kreisten in Gilfeas Kopf, als er sich um seinen Patienten kümmerte. Schiefergraus Wunden waren sofort verheilt, doch der bis an seine Grenzen geschwächte Körper des Wolfs brauchte Zeit, um sich zu erholen. Schiefergrau schlief. Er schlief seit Tagen fast Tag und Nacht. Nur ab und zu, wenn niemand es bemerkte, wachte er auf, trank Wasser und versuchte etwas von der Nahrung zu fressen, die man ihm hingestellt hatte.

»Was soll ich nur mit dir machen, du schiefergrauer Wolf?«, sprach Gilfea mit sich selbst, während er dem Wolf durch das weiche Fell strich, »Ich wünschte, du würdest aufwachen und herumtollen, wie deine Familie.«

»Das kann ich nicht.«, antwortete der Wolf.

»Was?«, Gilfea starrte Schiefergrau an. Der Wolf hatte seine Augen geöffnet, seinen Kopf gehoben und schaute Gilfea direkt an. Verdattert schüttelte Gilfea seinen Kopf: »Wieso kann ich dich verstehen?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil du mich geheilt hast?«

Vielleicht – Dies wäre eine mögliche Antwort. Aber Gilfea hielt eine andere Frage für viel wichtiger: »Und warum kannst du nicht mit deiner Familie herumtollen.«

»Ich… Ich…«, stammelte der Wolf und senkte seinen Kopf, »Ich habe es nicht verdient, weiter zu leben. Ich hätte dich und deine Freunde, das ganze Rudel fast an Steinschlag verraten. Nur, um mehr Beachtung zu ernten. Ich bin eine Schande für das Rudel. Ich bin ehrlos!«

»Aber«, entgegnete Gilfea, wobei er Schiefergrau direkt ansah, »Du hast keinen Grund, dich zu schämen. Du hast dir und deinem Rudel Ehre bewiesen, als du völlig selbstlos Gildofal vor Steinschlags Attacke rettetest. Niemand ist stolzer auf dich, als Silberfels. Als dein Leben an einem seidenen Faden hing, war es niemand anderes als dein Leitwolf Silberfels, der neben dir gewacht hat.«

»Ist das wahr?«, fragte Schiefergrau völlig ungläubig.

»Ja!«, antwortete Silberfels, der plötzlich neben Gilfea auftauchte. Gilfea konnte zwar die Worte nicht verstehen, die der Leitwolf sprach, doch seine Gestik sprach Bände.

 

Nachdem das Problem Schiefergrau fürs erste gelöst war, suchte Gilfea Gildofal in der Kristallhöhle auf.

»Wie weit bist du mit der Übersetzung?«

Gildofal war in ein kleines elbisches Notizbuch vertieft, als ihn Gilfeas Worte aus seinen Gedanken weckten.

»Was?«, antwortete der Elb verstört, bevor er seinen Freund entdeckte. Gildofal war gut darin, in Gesichtern zu lesen, insbesondere in dem seines Freundes.

»Du meinst, wir sollten aufbrechen, oder?«

Gilfea antwortete nicht sofort, sondern rieb sich seine Arme, als ob er frieren würde: »Ja, je eher, desto besser. Es ist nur so ein Gefühl, aber ich glaube, dass uns die Zeit davon läuft.«

Gildofal nickte: »Ja, du hast recht.«

Gilfea ging auf Gildofal zu und nahm seinen Freund in den Arm: »Also, was hast du raus bekommen?«

Gildofal glotzte Gilfea verständnislos an, bis sein Hirn langsam dem Gedankensprung seines Freunden folgte: »Oh… äh, du meinst den Kristall? Nun ja, er scheint keine Waffe gegen das namenlose Böse und seine Legionen zu sein. Jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne. Es ist… kompliziert«, Gildofal machte eine Pause, um seine Gedanken zu sortieren, »Es scheint, als wenn der Kristall auf etwas wartet. Der Text ist nicht nur in einem sehr alten hochelbischem Dialekt verfasst worden, er ist auch durch Rätsel verschlüsselt.«

»Äh, wie jetzt?«

»Wie soll ich das ausdrücken?«, seufzte Gildofal und raufte sich sein langes, goldenes Elbenhaar, was in Gilfeas Augen gleichzeitig lächerlich und niedlich aussah.

»Teile des Textes sind völlig klar und eindeutig. Andere Teile wiederum sprechen in Bildern. Hier zum Beispiel wird von zwei ungleichen Brüdern gesprochen: Die ungleichen Brüder, Sternenhimmel und Mond, Hüter der Hoffnung Ich weiß nur nicht, welche Brüder dies sein könnten. Ich kann mich an keinen elbischen Mythos erinnern, der Sternhimmel und Mond als Brüder bezeichnet.«

Doch Gildofal schaute Gilfea an und musste lächeln. War dieser junge Drachenreiter nicht einfach das Liebste und Beste, was ihm widerfahren konnte? Gildofal strahlte und vergaß dabei die Zeit. War es der Moment? War es der Schimmer des magischen Kristalls? Gildofal wusste es nicht zu sagen. Er wusste nur, dass er in jenem Moment von einer Welle von Emotionen überflutet wurde, die er in dieser Form noch nie erlebt hatte. Er war regelrecht weggetreten und fühlte sich benommen, als der Moment schließlich vorüber ging. Für einen Elben war sowas sehr, sehr ungewöhnlich. Geradezu beunruhigend.

»Ist etwas?«, Gilfea sprang Gildofal entgegen. Der Elb war, ohne es selbst bemerkt zu haben, ins Schwanken geraten und drohte über einen kleinen Steinhaufen zu stolpern, »Geht es dir gut?«

»Ja…«, Gildofal zögerte, »Ich glaube schon. Ich…« Dem Elben verschlug es die Sprache, als die Erinnerung an das, was ihm während seines kurzen Blackouts widerfahren war, bewusst wurde: »Wir müssen aufbrechen! Sofort! Segato ist in großer Gefahr.«

»Woher weißt du das?«, fragte Gilfea, wobei er Gildofal stützte, der immer noch benommen schwankte.

Gildofal deutete auf den Kristall: »Er hat es mir gesagt. Für einen Moment war ich in ihm. Dieser Kristall… Er lebt! Frag mich nicht nach Details. Ich kenn sie nicht. Ich weiß nur, dass wir sofort aufbrechen müssen. Segato ist in Tharbad und läuft dort sehenden Auges in eine Falle.«

»Was wird aus den Wölfen? Wenn wir sie verlassen, werden sie wieder anfangen zu hungern.«

»Für einem Moment konnte ich es sehen.«, antwortete Gildofal, »Dieser Kristall ist nicht blind. Seine Adern durchziehen diesen Berg auf hunderten von Meilen. Es gibt wenig, das ihm entgeht. Es gibt eine Aufgabe, um die uns der Kristall bittet.«

Bei Gildofals letzten Worten umspielte ein fieses Grinsen seine Lippen, das sich auf Gilfeas Lippen übertrug, kaum, dass er vom Inhalt der Aufgabe erfuhr. Die zwei Freunde schauten sich an. Für die Aufgabe des Kristalls waren Drachenreiter gefordert. Drachenreiter und ihre Drachen.

 

»Ich komme mit euch!«, Schiefergrau ließ keinen Zweifel daran, dass er ein »Nein«, nicht akzeptieren würde. Gilfea, Gildofal und auch Suman, nachdem er von seinen Freunden informiert wurde, begannen sofort ihre Satteltaschen zu packen und die Drachen zu beladen. Die Entscheidung war gefallen – Tharbad. Doch zuvor galt es, die Bitte des Kristalls zu erfüllen: die Westflanke des Gebirges von den Feinden der Wölfe befreien.

Das eigentliche Jagdrevier der Wölfe lag im Westen. Hier war das Klima milder, die Hänge weniger steil, die Flora und Fauna üppiger. Eigentlich wäre es ein perfekter Lebensraum für das Wolfsrudel gewesen, wären die Orks nicht gewesen. Die Orks hatten sich am Berg breit gemacht und fraßen oder verjagten alles, wovon sich die Wölfe ernährten. Was Silberfels und sein Rudel nicht wusste, war, dass dies nicht zufällig geschah. Der Rudelchef war bisher davon ausgegangen, dass sich die Orks einfach nur stark vermehrt hatten und so in den Lebensraum der Wölfe eingedrungen waren. Die Bilder, die der Kristall Gildofal zeigte, zeichneten hingegen ein ganz anderes Bild. Am westlichen Fuß des Gebirges, fast schon auf Meereshöhe, gab es zwei Festungen der Menschen von Goldor. Von dort wurden die Orks gezielt ausgeschickt, um die Wölfe zu jagen und ihre Lebensgrundlage zu vernichten.

Entweder wusste man in Goldor von der Existenz des Kristalls oder man ahnte auch nur, dass die Wölfe etwas beschützten. Was auch immer der Wahrheit entsprach, man schreckte vor einem direkten Angriff zurück. Eine weise Strategie, denn in den verwinkelten Klüften des Hochgebirges hätte niemand gegen die Wölfe bestehen können. Selbst auf weiter Flur sah es nicht viel besser aus. Drei bis vier Wölfe konnten es locker mit zwei Dutzend Orks aufnehmen. Weswegen die Herren der Orks einen anderen Plan ersannen. Wenn man die Wölfe nicht direkt bekämpfen konnte, warum dann nicht vielleicht indirekt?

Der Plan schien, so spekulierte Gildofal, darin zu bestehen, Silberfels Meute langsam auszuhungern. Warum kämpfen, wenn es auch ohne ging. Die Aufgabe der Orks bestand somit darin, alles, was den Wölfen als Nahrung dienen konnte, zu vernichten oder zu vertreiben.

Die Aufgabe der Drachenreiter war recht einfach. Man würde den Festungen einen Besuch abstatten und prüfen, wie deren Mauern bei Beschuss mit Drachenfeuer wohl reagierten. Ohne Führung durch ihre Herren, so die Überlegung, würden sich die Orks sehr schnell verziehen. Im Gegensatz zum Uruk war der Standardork ein eher einfach gezüchtetes Wesen, das weniger durch seine intellektuellen Fähigkeiten als viel mehr durch seine verheerende Gewalttätigkeit glänzte. Eine ausreichend große Herde Orks konnte selbst das robusteste Ökosystem zum Kippen bringen.

»Ihr verlasst uns?«

Silberfels war zu Gildofal herangetreten. Der Wolf wirkte ängstlich. Seinen Schweif hielt er unbewusst flach. Seine Haltung wirkte geduckt. Gildofal begriff sofort, was der Häuptling des Rudels befürchtete. Silberfels hatte Angst, dass mit der Abreise der Drachen und ihrer Reiter, der Hunger wieder zurückkehren würde. Doch diese Furcht konnte Gildofal ihm nehmen. Der lycanthropische Drachenreiter verwandelte sich in seine Wolfsgestalt und erklärte Silberfels, dass sie vorhatten, die Orks von den Hängen des Gebirges zu vertreiben.

»Es gibt nur ein Problem.«, schloss Gildofal, »Unsere Drachen können das Gebirge nicht überfliegen. Es ist zu hoch. Es wird eine Weile dauern, bis wir einen geeigneten Pass gefunden haben.«

Silberfels lachte: »Dann, mein Freund, freut es mich dir verraten zu dürfen, dass eure Suche geendet hat, bevor sie sie richtig begann. Wir, die Schatten des Gebirges, halten und bewachen einen geheimen Pass. Er führt nicht weit von hier auf die Westseite des Gebirges und ist breit genug, dass unsere geflügelten Freunde ihn ebenfalls durchqueren können.«

 

Während Gildofal mit Silberfels sprach, schlich ein schiefergrauer Schatten mit vier Pfoten auf Mithval zu. Kaum hatte er den großen schwarzen Drachen erreicht, kletterte er wieselflink über Flügel und Schulter den Drachen empor und verkroch sich in einer der Satteltaschen. Die Tasche bot ihm genug Platz, schließlich war sie nur zur Hälfte gefüllt, da man einen Großteil des Gepäcks am östlichen Hang des Berges zurückgelassen hatte.

In der Tasche verhielt sich der graue Schatten mucksmäuschenstill. Er wagte kaum zu atmen, so dass Gilfea nicht bemerkte, dass direkt hinter ihm ein blinder Passagier hockte. Niemand bemerkte etwas. Nur Mithvals Gesichtzüge umspielte ein unergründliches Schmunzeln.

Doch was selbst Mithval nicht wusste; der schiefergraue Schatten war nicht der einzige uneingeladene Reisegefährte. Seit Tagen wurde das Lager der Wölfe von einem verschlagenen Augenpaar belauert, das auf Rache sann. Als nun die Drachenreiter ihre Abreise vorbereiteten, witterte der Besitzer dieser Augen seine Chance. Ein dunkelgrauer Schatten schlich sich vorsichtig und ohne auch nur das leiseste Geräusch zu machen, zu einem Haufen von Taschen und Gepäckrollen, die etwas abseits des Lagers der Drachen lagen. Dort angekommen, suchte sich der Schatten eine halb gefüllte Gepäckrolle aus, öffnete sie und kroch hinein.

Als Suman später seinen Drachen belud, wunderte er sich etwas, warum eine seiner Gepäckrollen etwas schwerer erschien, als er sie in Erinnerung hatte. Vermutlich täusche ich mich, dachte er und schob den Gedanken beiseite, nicht ahnend, dass er Tingalen mit Bosheit, Niedertracht und Verrat belud.

Loyalität

»Ein guter Soldat stellt keine Fragen. Ein guter Soldat gehorcht!«

Aus dem Lehrbuch für Ausbilder der Goldorianischen Armee

Die Informationen über das Bombenattentat auf das Festbankett des Gildehauses von Crossar waren, gelinde ausgedrückt, sehr unterschiedlich. Je nachdem, wen man fragte, erhielt man die unterschiedlichsten Antworten, sei es die Zahl der Opfer, der Identität des Attentäters oder den Umständen der Rettung der Überlebenden. Die einen behaupteten Stein und Bein, die halbe Festgesellschaft sei von einer Herde UTU-Attentäter ermordet worden, um zu demonstrieren, dass die Dogmen der Kirche zur Interpretation von Technik und Wissenschaft anmaßend seien.

Andere Gruppen wiederum behaupteten, es hätte in Wirklichkeit gar kein Attentat gegeben. Man hätte nur eines vorgetäuscht. Warum man ein Attentat vortäuschen sollte, dafür gab es ebenfalls die verschiedensten Theorien. Die einen meinten, um Harrasland und Goldor an den Verhandlungstisch zu bringen, andere, um Harrasland und Goldor vom Verhandlungstisch weg zu bringen. Ganz andere waren sich hingegen sicher, das ganze wäre nur ein Vorwand, um neue Sicherheitsgesetze durch den Senat drücken zu können, die essentielle Bürgerrechte im Kampf gegen den Terror einschränken würden.

Wie meistens, wenn Gerüchte ins Kraut schießen, stimmte so ziemlich nichts von dem, was auf den Straßen und in den Schänken der Stadt fabuliert wurde. Trotzdem enthielt jedes Gerücht auch ein Körnchen Wahrheit. In der Tat kamen die Friedensverhandlungen zwischen Goldor und Harrasland nach dem Attentat überhaupt erst richtig in Fahrt. Erogal D’Santo hatte zusammen mit Oberreeder Friedrich Amunsen und Kardinal Rudolfo die Verhandlungsleitung übernommen. Amunsen sekundierte Harrasland, Rudolfo stand Goldor bei und Erogal führte die unterschiedlichen Positionen schließlich zu einem Kompromiss zusammen. Jeder Seite schien langsam zu dämmern, dass sie von einer dritten, unbekannten Seite gegeneinander ausgespielt worden waren.

Während Erogal D’Santo mit den Verhandlungen beschäftigt war, erholten sich Turondur und Toldin von Turondurs missglückter Beschwörung. Nach seiner Seelenreise war der Elbenfürst und Ratsvorsitzende Daelbars ziemlich erschöpft und geschwächt. Für einen Elben mehr als ungewöhnlich, schlief er gute 14 Stunden. Normalerweise reichte seiner Art eine leichte Meditation von ein paar Minuten, um sich und ihren Geist zu erfrischen. Turondur hingegen schlief tief und fest.

Zur gleichen Zeit unternahm Ole Olson diskrete Nachforschungen, um etwas Licht in die Hintergründe des Attentats zu bringen. So war der verwendete Todesigel wie vermutet ein Produkt Boldin Dynamics. Als viel interessanter entpuppte sich der Kokon, der die Reste von Bruder K’Gata verdaute. Dieser Kokon lebte und wies einige Anzeichen schwarzmagischen Ursprungs auf. Olson, der von Erogal D’Santo völlig freie Hand erhalten hatte, stellte das Gildehaus komplett auf den Kopf. Tatsächlich fand man in einem an sich ungenutzten Lagerraum eine sehr bizarre Waffe, die, abgefeuert auf eine Zielperson, diese durch ein Duplikat ersetzen konnte. Eine Phiole mit einem magischen Nass musste dafür mit dem Willen des Nutzers beschworen werden. Man pflanzte quasi den eigenen Willen dem Nass auf. Anschließend wird die Waffe mit der Phiole geladen und abgefeuert. Das arme Opfer wird sofort paralysiert, stirbt innerhalb von Minuten und wird mit der Zeit von einem Kokon eingehüllt. Nach 48 Stunden bildet sich eine Blase, aus der die Kopie schlüpft und genau die Dinge tut, die man der Phiole auf befohlen hat. Nebenbei wird das Opfer vom Kokon verdaut. Olson vermutete, dass dieses Opfer der Preis für die Beschwörung darstellte.

Auch diese Waffe trug das Firmenlogo Boldin Dynamics. Olson, Turondur und Erogal waren besorgt, als sie sich nach ein paar Tagen zu einer Besprechung trafen, um die bisherigen Ergebnisse zu erörtern.

»Wenn diese Waffe beschworen werden muss«, begann Erogal D’Santo, »heißt dies, dass der eigentliche Täter noch unter uns weilt.«

»Ja«, bestätigte Olson, »die Selbstsprengung war ein Ablenkungsmanöver. Die Kopie war darauf programmiert so zu handeln.«

»Todesigel, Klongewehr«, murmelte Turondur nachdenklich, »Tragen nicht alle Produkte Boldin Dynamics eine Seriennummer?«

Ole Olson grinste breit: »In der Tat! Vom Todesigel ist die Transportkiste übrig geblieben. Das Klongewehr haben wir vollständig sicherstellen können. Beide trugen eine Seriennummer, über die man den Käufer ausfindig machen könnte. Die ersten zwei Ziffern lauten 78. Das ist Boldins Werk in Tharbad und zwar eine Abteilung für Spezialprodukte.«

»Ich frage jetzt nicht, woher du das so genau weißt«, murmelte Turondur, »Und auch nicht, auf welche Weise du gedenkst, an die Käuferdaten zu gelangen.«, fügte er in seinen Gedanken hinzu.

In den letzten Tagen waren sich Ole Olson und Turondur freundschaftlich näher gekommen. Nicht körperlich, zum bedauern Olsons, der den Elben sehr attraktiv fand. Trotz der sehr unterschiedlichen Arten ihres Broterwerbs stellten die beiden fest, dass sich ihre Überzeugungen und Ansichten in vielen Punkten erstaunlich ähnlich waren.

»Tharbad also?«, murmelte Erogal D’Santo nachdenklich, »Knapp 5 Tage mit unserer Yacht.«

Zwei Augenpaare richteten sich auf den Sekretär des Gildehauses von Crossar: »Du willst nach Tharbad?«

Erogal zuckte müde mit den Schulter: »Ja, natürlich. Was bleibt uns denn anderes übrig, als der Spur bis zu ihrem Ursprung zu folgen. Die einzige Spur, die wir zurzeit haben, führt nach Tharbad. Die Yacht ließe sich in wenigen Stunden startklar machen. Wir könnten gleich morgen früh aufbrechen.«

»Aber…«, stammelte Turondur verwundert, »Hast du hier keine Aufgaben zu erfüllen?«

Erogal sah seinen alten Freund forschend an, um dann zu grinsen: »Bis auf eine hält mich hier nichts mehr. Und diese eine Aufgabe wird sich heute Abend erfüllen.«

Turondur lauschte in sich hinein, um die Musik seines Drachens und aller Drachen zu hören. Es dauerte nicht lange, bis sich ein Ausdruck größter Freude auf dem Gesicht des Elbens breit machte. Fröhlich, fast überschwänglich, strahlte er Erogal an: »Nein, du hast unrecht, mein Freund. Diese Aufgabe wird sich noch lange nicht erfüllen. Du stehst erst an ihrem Anfang.«

Erogal nickte, während Olson verwirrt von Turondur zu Erogal und zurück blickte: »Wovon redet ihr eigentlich?«

»Über Familienzuwachs.«

Ole Olson sprang wie von der Tarantel gestochen auf: »Wer…? In meinem Kopf war… Moment, das war wieder dein Drache, oder? Was meint er mit Familienzuwachs? Ist jemand schwanger?«

Erogal D’Santo warf Turondur einen entsetzten, fragenden Blick zu. Der Elb reagierte fatalistisch: »erzähls ihm, sonst tut’s die Plaudertasche von einer Echse.«

Erogal nickte und erklärte dann Ole Olson in wenigen, kompakten Sätzen, was ein Drachenreiter ist und wie man zu einem wird. Der Neovikinger hörte aufmerksam und neugierig zu. Wie für die meisten Menschen war sein bisheriges Drachenbild eher von Halbwissen und Vorurteilen geprägt. Dass die Drachen ihre Reiter erwählten, war für ihn völlig neu. Er kannte nur den Mythos, dass junge Männer, die Drachenreiter werden wollten, ein Drachenei erbeuten, es ausbrüten und anschließend den schlüpfenden Jungdrachen zähmen mussten.

»Mich zähmt niemand!«, kommentierte Toldin diesen Mythos.

»Doch was hat das mit dir zu tun?«, fragte Olson am Ende von Erogals Schilderung.

»Nun«, begann Erogal D’Santo sichtlich stolz, »Ich war einst ein Drachenreiterschüler, doch Zorn, Hass und der Wunsch auf Rache hat mich den Drachen entfremdet und es kam zum Bruch – zwischen mir und ein paar sehr guten Freunden. Ich wäre fast gefallen, gestürzt und zu dem geworden, was ich am meisten hasse: einem Werkzeug des Bösen. Doch die Drachen retteten mich. Sie gaben mir ein Versprechen. Ich würde Drachenreiter werden, sobald ich mich mit meinen Freunden und vor allem mit mir ausgesöhnt habe. Es ist soweit. Das Versprechen geht heute Abend in Erfüllung. Aus dem Ei, das mir die Drachen vor über zwei Jahrzehnten anvertraut hatten, wird heute ein Drache schlüpfen.«

 

Ole Olson war beeindruckt, was für ihn eine seltene Erfahrung war. In seiner Laufbahn als Schmuggler und Auftragsmörder hatte er einiges erlebt, wilde, grausame, erstaunliche und auch beeindruckende Dinge, doch ein lebendes Drachenei überbot alles Bisherige. Dabei machte das Ei nicht viel her. Erogal D’Santo hatte ihn und Turondur in die Bibliothek geführt und das geheime Fach mit dem Ei geöffnet.

Da lag es nun. Es war schmutzig grau und ein wenig borkig, fast alt. Auf jeden Fall war es nicht so schön weiß und glatt, wie ein Hühnerei. Ja, es sah wirklich schäbig aus. Wenn man ehrlich war, war es sogar häßlich. Eigentlich bestand kein Grund, beeindruckt zu sein, wäre da nicht diese Energie, die das Ei verströmte. Ole Olson hatte den Eindruck, sie fast greifen zu können. Das Ei strahlte eine Aura von Leben, Güte und Liebe aus, wie es der Neovikinger niemals zuvor erlebt hatte.

»Es ist bald soweit.«, flüsterte Turondur.

Als hätte das Ei auf diese Worte gewartet, zuckte und wackelte es.

»Was?«, flüsterte Ole Olson hektisch, »Wird aus dem Ding jetzt ein Drache schlüpfen?«

»Ja«, verkündete Turondur feierlich.

Erogal D’Santo hörte den Dialog seiner beiden Freunde nur nebenbei. Seine ganzen Sinne waren auf das Ei gerichtet. Endlich war er am Ziel seiner Träume und Hoffnungen angelangt, wohl wissend, dass sein Leben als Drachenreiter eher noch schwerer werden würde, als es dies als einer der obersten Gildemeister eh schon war. Überhaupt, würde es Probleme geben. Auf seine Freunde im Rat der Gilde konnte er sich verlassen, doch was war mit den anderen? Würden sie seine Loyalität in Frage stellen? Vermutlich, schließlich stellte er schon seit langem ihre Loyalität gegenüber den Zielen und Idealen der Gilde in Frage.

»Ich… ich…«, stammelte plötzlich Olson aufgeregt, »Ich kann den Drachen hören! Er spricht mit mir!«

»Was?«, riefen Turondur und Erogal gleichzeitig. Weiter kamen sie nicht, denn das Ei bekam Risse, ungewöhnlich viele Risse. Das Ei wurde sehr schnell von innen aufgepickt. Normalerweise dauerte es eine Weile, bis ein Jungdrache sein Ei mit seinem Eizahn aufgepickt hatte. Dieses Ei platzte regelrecht. Als die ersten Hüllenstücke herabfielen, erblickten die drei Freunde ein wildes Gewusel in dem Ei.

»Was ist das?«, stammelte Erogal.

Im selben Moment platzte das Ei. Drei Augenpaare starrten auf das, was der Eihülle entstieg. Es war bezeichnenderweise Ole Olson, der als erster seine Verwunderung in Worte fassen konnte: »Zwillinge?«

Tharbad

»Der weise Reisende vermeidet einen Besuch dieses Ortes.«

Muriels Reiseführer Anhangsband 1 — Das vollständige Kapitel 1 »Tharbad«

Obwohl Tharbad noch eine volle Tagesreise entfernt lag, begann sich die Landschaft bereits zu verändern, wenn auch nicht unbedingt zum Besseren. Ivoricalad bemerkte es als erstes und machte mich auf die unschönen Veränderungen aufmerksam.

»Siehst du die Bäume? Sie sind krank. «, deutete Ivo mit trauriger Stimme auf eine Gruppe von Birken, die untypisch knorrig und verwachsen aussahen, »Sie leiden unter dem Gift, das Tharbad entströmt.«

Seit Simon Nachtwasser, ein von mir beauftragter Nachrichtenagent, ermordet worden war, war knapp eine Woche vergangen. Ivo und ich hatten zwei Tage benötigt, um unsere Abreise aus Blaufurt vorzubereiten. Ich behielt die Wohnung und sorgte dafür, dass es für mindestens eine Woche so aussah, als wenn sie bewohnt sei. Ich hoffte damit unsere Abreise wenigstens ein klein bisschen verschleiern zu können. An der Grenzstation auf der Brücke zwischen Blaufurt und Eiswasser sicherte uns der Einsatz von ein paar Goldstücken eine diskrete Einreise ins Königreich Goldor. Seit nunmehr vier Tagen befanden wir uns auf der Strasse nach Tharbad. Ivo hatte vorgeschlagen, zu Pferde zu reisen. Ein Gleiter würde mehr Aufmerksamkeit erregen und leichter zu verfolgen sein. Ich war überrascht, dass mein Drache reiten konnte. Noch überraschter war ich, dass er sogar perfekt reiten konnte. Sein Pferd schien sich sogar zu freuen, ihn tragen zu dürfen.

Als recht interessant stellte sich Ivos Kleiderwahl heraus. Da er nicht als Drache, sondern in seiner menschlichen Form mit mir reiste, bestand die Notwendigkeit sich vorher geeignet einkleiden zu müssen. Meine generelle positive Voreingenommenheit gegenüber meinem Reptilen Partner außer Acht lassend, musste ich einfach zugeben, dass dieser Drache einfach ein Sexgott war, der selbst in einem Kartoffelsack eine geile Figur gemacht hätte. Ivo wählte für uns beide Figurbetonende HiTech-Kampfanzüge, sowie Funktions- und lockere Freizeitkleidung. Der Kampfanzug trug bezeichnenderweise einen Werbeaufkleber, der von einem Drachenhauteffekt faselte. Ivo schien dies amüsant zu finden. Ich war eher geschockt, wie provozierend gut er insbesondere in diesem Teil aussah.

Ivos Bekleidungswahl erwies sich als weise. Kaum hatten wir Blaufurt hinter uns gelassen, begann das Wetter umzuschlagen. Es wurde zwar sonnig, doch blies gleichzeitig ein kalter Nordwind. In freier Natur auf den Rücken von Pferden war es nicht ungewöhnlich seinen Körper stärker zu bedecken, so dass nie die Gefahr bestand, dass Ivo von einem direkten Sonnenstrahl getroffen und transparent wurde. Zwei Tage später war es mit der Sonne vorbei. Der Himmel trübte sich erst ein, zog sich dann mit tief hängenden Wolken zu, um es schließlich nieseln zu lassen.

»Riechst du das?«, wir hatten die kranken Birken vor gut drei Stunden passiert, als mir ein unangenehmer, teerig, rauchiger Geruch in die Nase strömte.

»Der schwarze Atem Tharbads.«, beantwortete Ivo indirekt meine Frage, »Bis hier hin ist der giftige Auswurf also schon vorgedrungen.«

»Du warst schon einmal hier?«

»Nein, aber ich verfüge über die Erinnerungen vieler Drachen, die vor uns hier waren.«, entgegnete Ivoricalad traurig, »Dies war ein mal ein freundliches und fruchtbares Land. Schau an, was daraus geworden ist.«

Von freundlich und fruchtbar war nichts mehr zu sehen, nicht mal zu erahnen. Stattdessen sahen wir ein gequältes und krankes Land. Je näher wir Tharbad kamen, desto bedrückender wurde die Landschaft. Das Grün der Pflanzen, das Leuchten allen Lebens verblasste und machte einem zähen, öligen dunkelgrau Platz, das alles zu überziehen schien und dem Leben die Kraft entziehen wollte. Sogar unsere Pferde bemerkten die Veränderung und wurden unruhig. Es war, als wenn das ölige Grau an ihren Beinen empor klomm. Dabei hatte der Nieselregen nur die Strasse matschig gemacht und der Schlamm klebte an ihren Fesseln.

Gegend Abend erreichten wir einen Gasthof, den wohl letzten freundlichen Ort vor Tharbad. Im Umkreis von etwa einer halben Meile kehrte die Farbe in die Landschaft zurück. Gras, Strauch und Baum waren wieder grün, die Luft erstaunlich atembar, frisch und sauber.

»Eine verwandte Seele bewohnt diesen Ort.«, war dann auch Ivos geheimnisvoller Kommentar.

Ich nickte zustimmend und wir beschleunigten unseren Ritt. Nach einer Straßenbiegung kam das Rasthaus in Sicht. Ein großer Hof mit vier im rechten Winkel angeordneten großen Hauptgebäuden, die in der Mitte einen Innenhof bildeten. Ein großes Tor führte hinein. Wir ritten hindurch und wurden sogleich von einem Stallburschen empfangen, der unsere Pferde nahm und sie zu den Futtertrögen führte. Die Raststätte hatte einen schon fast historischen Aufbau. Neben dem Gasthaus gab es einen Stall, der zum Teil aber als Garage für Gleiterfahrzeuge genutzt wurde. Die anderen beiden Gebäude beherbergten die Gästezimmer.

Wir betraten das Haupthaus und gelangten zur Rezeption, hinter der, zu unserer größten Überraschung ein hoch aufgeschossener Elb stand. Körperhaltung und Aussehen nach handelte es sich sogar um einen Hochelb. Er war gerade damit beschäftigt, mit der einen Hand ein paar Eintragungen in einem Buch zu prüfen, während er in seiner anderen Hand eines jener Kommunikationspads hielt, die man inzwischen überall sah. Wenn ich die Gesprächsbrocken richtig verstand, führte der Elb ein Gespräch, bei dem es um die Reservierung eines Zimmers ging.

»Es tut mir Leid, aber wir sind vollkommen ausgebucht!«, erklärte der Elb höflich und geduldig dem laut zeternden Gesprächsteilnehmer am anderen Ende der Verbindung, »Verstehen Sie doch, aber in Tharbad ist zur Zeit Wehrmesse. Wir sind bis auf die letzte Besenkammer ausgebucht.«

Das andere Ende wollte nicht verstehen. In einer Lautstärke, die selbst Ivo und ich verstehen konnten, wurde mit den Worten »Schwanzlutschender Elbenabschaum« die Leitung gekappt. Der Elb seufzte auf, vertiefte sich in sein Buch und begrüßte uns ohne aufzusehen: »Guten Abend die Herren. Ich hoffe, Sie haben eine Reservierung, denn ohne, muss ich Ihnen leider gleich sagen, dass ich…«

Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment schaute der Elb auf. Sah mich, sah Ivo, erstarrte für einen Moment, blinzelte verlegen und fuhr dann ohne seine Miene zu verziehen fort: »dass ich mich freue, Ihnen ein sehr schönes ruhiges Doppelzimmer anbieten zu können. Wenn die Herren mir bitte folgen wollen.«

Wir folgten. Der Elb führte uns über Flure und Treppen zum hinteren Teil des Haupthauses. Dort öffnete er eine Tür, schloss sie hinter sich, legte seine Hand auf einen Knauf einer zweiten Tür, wobei er ein paar elbische Worte sprach und die Tür öffnete.

»Kommt herein. Es ist meine Wohnung. Ich bin Golfindel. Fühlt euch heute Nacht willkommen im Heim eines Freundes.«

Golfindel strahlte vor Freude. Ich war irritiert, ahnte aber, dass der Elb sah, was und wer wir wirklich waren. Und Ivo lachte und fragte: »Darf ich mich ausziehen?«

Im ersten Moment zuckte ich zusammen, angesichts dieser frivolen Frage, bis mir einfiel, dass Ivo ja gar kein Mensch, sondern ein Drache und diese Frage doch eher anders zu verstehen war. Golfindel verstand sie sofort und nickte. Ivo strippte und verwandelte sich zurück in den Drachen, der er eigentlich war.

Golfindel war kaum zu bremsen. Er lief auf Ivo zu und berührte ihn sanft und in voller Ehrfurcht: »Du bist ein Kristalldrache. Das ist fantastisch. Darf ich deinen Namen erfahren?«

»Mein Name ist Ivoricalad und dies ist meine Seele, das Zentrum meiner Existenz, Segato G’Narn.«, bei den letzten Worten strahlte mich mein Drache liebevoll an und ich strahlte zurück.

»Oh, wie unhöflich von mir. Segato, ich muss mich bei euch entschuldigen, aber ich bin so aufgeregt einen Vertreter der Alten Art in meinem Haus beherbergen zu dürfen. Natürlich, natürlich, ihr seid es ja auch, Seele Ivoricalads, ehrenwerter Segato.«

»Ähm…«, begann Ivo amüsiert, »Ich möchte deine Freude nicht mindern, aber freut euch ein wenig weniger enthusiastisch. Ich bin nur eine sprechende Echse, sonst nichts.«

Golfindel grinste und meinte dann nüchtern: »Klar! Nichts lieber als das. Habt ihr Hunger?«

Ivo und ich sahen uns an und antworteten synchron: »Ja!«

Golfindel führte uns an einen Tisch, den er in Windeseile mit elbischen und menschlichen Spezialitäten für sich und mich deckte, während er einen großen Napf für Ivo füllte. Keine fünf Minuten später saßen wir am Tisch oder lagen, wie Ivo, davor und aßen, tranken und unterhielten uns über alles Mögliche. Nach einer Weile steuerte ich ein Thema an, was mir unter den Fingern brannte.

»Golfindel, bitte versteh meine Frage nicht falsch, aber wieso bist du hier? Du lebst außerhalb eines Reservats. Deine Aura als Hochelb ist im Umkreis von einer halben Meile deutlich zu sehen. Warum hat man dich nicht in ein Reservat abgeschoben oder verhaftet? Soweit ich weiß verstößt du gegen mehr als ein Goldorianisches Gesetz.«

Golfindel schaute nervös zwischen Ivo zu mir hin und her: »Es ist etwas kompliziert. Vielleicht sollte mein Lebensgefährte besser dabei sein, doch bevor ich ihn hole, möchte ich euch bitten, dass ihr ihn bis zum Ende anhört und eure Schwerter stecken lasst. Darauf müsst ihr mir euer Wort geben!«

Ich warf Ivo einen fragenden Blick zu, doch der knabberte genüsslich an einer fetten Schweinekeule. Mit vollem Maul nuschelte er mit seiner süßen Drachenschnauze: »Klar!«

»Du hast Ivo gehört.«, ergänzte ich Ivos Antwort, »Du hast unser Wort.«

»Gut, wartet einen Moment. Ich muss ihn erst herholen, er sitzt im Moment noch im Schankraum.«

Golfindel verließ uns. Während ich unruhig meinen Bierkrug auf dem Esstisch hin und her schob, mampfte mein Drache munter weiter und, als wenn er mich ein klein wenig ärger wollte, rülpste dermaßen intensiv, dass seinen Nüstern ein kleines Rauchwölkchen entfleuchte: »OOPS, sieht so aus, als wenn ich bald Feuer speien kann. Entspann dich, wen kann ein Elb schon zum Partner haben? Es wird irgend ein Saufbold von einem Offizier sein, der seine schützende Hand über ihn hält.«

Ivo hatte wie immer Recht, diesmal allerdings nicht ganz. Golfindels Freund war in der Tat ein Offizier. Mit lautem Stiefelknallen betrat er Golfindels Wohnraum.

»Darf ich euch Uskol, Leutnant der Wache von Tharbad vorstellen?«

 

Uskol war ein Uruk und Uskav fast wie aus dem Gesicht geschnitten. Unwillkürlich griff ich zu meinem Schwert, brachte mich aber sofort wieder unter Kontrolle. Ich hatte Golfindel mein Wort gegeben. Sollten wir in eine Falle getappt sein, war es eh zu spät. Das Haus wäre bereits von Soldaten umstellt gewesen.

»Ich glaube, ich mach deine Freunde nervös.«, meinte der Uruk amüsiert. Anschließend tat der Uruk etwas überraschendes, er zog Golfindel zu sich ran und umarmte den Elben zärtlich. Eine seiner Pranken strich Golfindel liebevoll durch das goldene Elbenhaar, während ein Urukaugenpaar träumerisch verliebt den Elben anhimmelte.

»Ihr müsst keine Angst haben. Ich bin halbwegs harmlos.«, begann Uskol, »Ich kämpfe auf eurer Seite. Vor ein paar Jahren gelang es mir, mich meiner Zuchtprägung zu widersetzen und schließlich zu entledigen. Ich bin ein freier Uruk, ohne die Fesseln einer schwarzen Kontrolle meines Geistes zu tragen.«

»Wie Uskav…«, platzte es aus Ivo heraus, »Dann ist er nicht der einzige Uruk, der sich seiner genetischen Programmierung widersetzen konnte.«

»Uskav? Ihr kennt Uskav?«, rief Uskol erregt.

»Ja, wieso? Uskav ist unser Freund und ein angesehener Drachenreiter in Daelbar.«, erläuterte ich.

»Natürlich, das könnt ihr nicht wissen.«, sprang Golfindel ein, »Uskav und Uskol sind nicht die einzigen freien Uruks. Es gibt viele, sehr viele. Der ganze Urukzuchtstamm 172 scheint einen Fehler zu besitzen, der es ihnen ermöglicht sich gegen ihre genetische Programmierung zu wenden und freie Uruks zu werden. Uskav ist ihr Held, ihr Idol, er ist ihr Leuchtfeuer der Hoffnung auf Freiheit. Alle Uruks, die sich ihrer Ketten entledigt haben, verbergen, dass sie sich befreit haben. Doch es gibt sie. Uskol ist wie gesagt Leutnant der Wache von Tharbad und führt ein hartes und erbarmungsloses Regiment, doch in Wirklichkeit ist er ein Kämpfer für die Freiheit. Es gibt viele, wie ihn, und alle würden nicht zögern, sollte jemand kommen und sie anführen.«

»In Goldor gibt es einen geheimen Urukwiderstand?«, kam Ivo mir mit meiner Frage zuvor.

»Oh ja, den gibt es. Wir sind gut organisiert, arbeiten aber im Geheimen. Es besteht ständig die Gefahr, dass wir enttarnt werden. Außer uns selbst könnte noch jemand anderer den Fehler in unserem Zuchtstamm entdecken. Wenn das passiert, würde man uns als defekte Zuchtserie jagen und abschlachten. Vielleicht würde man auch alle Uruks abschlachten. Es ist gar nicht so einfach, auf unsere Seriennummern zuzugreifen. Noch etwas. Ich muss euch warnen, außerhalb dieser vier Wände sind meine Möglichkeiten euch zu helfen stark eingeschränkt. Ich muss meine Tarnung wahren, auch wenn das unter anderem bedeutet, meinen Schatz in der Öffentlichkeit ständig demütigen und schikanieren zu müssen.«

»Das ist ein kleiner Preis, den ich bereit bin zu zahlen.«, wandte Golfindel ein, »Ihr müsst wissen, dass ich quasi das offizielle Spielzeug des Leutnants der Wache bin. In der Öffentlichkeit bin ich ein Elb, der gegen seinen Willen gezwungen wird, diesen Gasthof zu betreiben. Kein Mensch wäre freiwillig bereit, nahe des giftigen Brodems von Tharbad zu leben, aber ich bin ja nur ein Elb, den man zwangsverpflichtet kann. Um den Schein zu wahren, ich wäre nur unter Zwang hier, suche mich Uskol und seine Leute gelegentlich heim, um mich vor den Gästen publikumswirksam zu tyrannisieren. Uskol und ich liefern wirklich eine perfekte Show!«

Ich schaute zu Ivo hinüber, der mit seinen Echsenschultern zuckte, was ziemlich komisch wirkte. Immerhin verstand er, welche Frage mir durch den Kopf ging. Konnte man Uskol vertrauen? Er war ein Uruk. Und egal wie sehr ich Uskav schätzte, er blieb für mich eine Ausnahmeerscheinung. Dass es mehr von seiner Sorte geben sollte, war kaum zu glauben. Selbst Uskav predigte ständig, dass man keinem Uruk trauen könne. Schließlich würde er sich selbst am allerwenigsten trauen. Auf der anderen Seite klang Uskols Geschichte plausibel. Uruks waren hoch gezüchtete Kampfmaschinen, die Veränderung bereits eines einzigen Zuchtparameters konnte extreme Konsequenzen nach sich ziehen. So jedenfalls hatte ich es in den Lehrbüchern während meiner Zeit in Crossar gelesen.

»Ihr wisst nicht, ob ihr mir trauen könnt?«, griff Uskol Ivos und meine ratlose Miene auf und bewies wieder einmal, das Uruks im Gegensatz zum gemeinen Orks extrem intelligente Wesen waren.

Ich betrachtete Uskol genauer. Er hatte etwas. Auch er verströmte diese maskuline und sehr potente Aura, die auch Uskav umgab. Und für einen Uruk sah er erschreckend gut aus. Mit Uskav, der sich zwischenzeitlich zu einen wahren Sexidol verwandelt hatte, konnte Uskol zwar noch nicht konkurrieren, denn Uskol war nach wie vor ein Monster, dessen vornehmste Aufgabe darin bestand Angst und Schrecken zu verbreiten. Doch hinter der harten Schale lugte ein Wesen hervor, das sich nach Freiheit und Liebe sehnte und dies in den Armen eines Elben gefunden hatte.

»Ich weiß nicht, ob ich dir vertrauen kann. Kann ich dir vertrauen?«, antwortete ich vage.

»Eine gute Antwort!«, lachte Uskol laut und orkisch, »Ich wäre an eurer Stelle auch vorsichtig. Sagt nichts, ich weiß, dass ich ein Uruk bin und wofür ich geschaffen wurde. Sprecht mit Golfindel. Ich muss sowieso wieder gehen, bevor mein Trupp das ganze Wirtshaus auf der Suche nach mir noch zerlegt.«

Bevor Uskol ging, tat er etwas Erstaunliches. Er umarmte Golfindel, nahm dessen Kopf vorsichtig und sanft in seine Klauen und küsste den Elben. Was sinnlich begann, verwandelte sich schnell in ein wildes Zungenduell, wobei die Aktion eher von Golfindel ausging. Nach 30 krassen Sekunden löste sich Uskol heftig atmend: »Ich liebe dich, mein Elb! Mein Trost in dunkler Nacht!« Sprach’s und verschwand.

 

»Was ihr da vorhabt ist der reinste Wahnsinn!«, schrie Golfindel, »Seht ihr denn nicht, dass das eine Falle ist?«

Die letzten zwei Stunden hatten Ivo und ich Golfindel mehr oder weniger unsere Geschichte erzählt. Nicht alles, aber doch die Teile, die uns nach Tharbad trieben.

»Natürlich ist es eine Falle, aber wenn Boldin Dynamics irgend etwas mit dem namenlosen Bösen zu tun hat, dann müssen wir das wissen!«

»Ach, du bist also auch noch ein Gildemeister?«, zog mir Golfindel den Boden unter den Füßen weg, »Nur die Gilde verwendet diesen Begriff und nur die Meister wissen vom namenlosen Bösen.«

Wenn ich wirklich jemals ein Gildemeister war, dann war ich der dümmste, der je gelebt hatte. Wie einfach mich dieser Elb durchschaute war unheimlich. Er schien in mir wie in einem offenen Buch lesen zu können. Allerdings änderte sich seine Miene, als er hörte, dass ich auf der Suche nach Informationen über den namenlosen Feind war. Sie verfinsterte sich.

»Ihr seid nicht ohne Grund auf der Suche, oder? Es gibt einen Anlas, warum ihr ausgerechnet zu Boldin Dynamics wollt.«

Ich nickte und erzählte also auch noch den Rest meiner Geschichte: von Suman, dem Todesigel und dem Datenkristall.

»Also habe ich die Zeichen richtig gedeutet!«, rief Golfindel, »Er will zurück in unsere Welt. Natürlich, jetzt wird mir einiges klarer. Ich muss blind gewesen sein! Ivoricalad, Segato, ihr seid am richtigen Ort! Tharbad war nie ein schöner Ort. Schon immer war dies eine verfluchte Stadt des Leids und des Schmerzes. Doch seit einiger Zeit scheinen noch wesentlich finstere Dinge in jenem Höllenloch geboren zu werden als bisher. Die Stadt frisst Menschen! Im wörtlichen Sinne. Seit Monaten kommen immer mehr Häftlingstransporte hier vorbei. Jeder weiß, wohin sie gebracht werden. Zum Barad Baul. Ich habe sie mir angesehen und mich vorsichtig umgehört. Uskol konnte einen Blick in die Überstellungslisten werfen, was ihm fast den Kopf gekostet hätte. Die Wache der Stadt ist nicht für die Gefangenen zuständig, deswegen waren Uskols Nachforschungen sehr heikel. Es scheint, als wenn die Geheimpolizei des Königs wahllos Menschen und nur Menschen verhaftet. Zwischen den Häftlingen gibt es ein einziges verbindendes Element, es sind alles arme Schlucker, die niemand vermisst.«

Schwesterherz

»Freunde kann man sich aussuchen, Verwandte bedauerlicherweise nicht!«

Goldorianisches Sprichwort

»Zwillinge!«, beantwortete Turondur Oles Frage ebenso rhetorisch wie sie gestellt wurde. Dabei war er ähnlich verblüfft, wie der Neovikinger. Schneller als Ole Olson begriff Turondur die Tragweite dieser doch für alle überraschenden Entwicklung: »Es sieht so aus, als wenn du ebenfalls Drachenreiter wirst.«

»Ich?«, jappste Ole, »Ein Drachenreiter?«

»Magst du keine Drachen?«, machte sich plötzlich einer der beiden Jungdrachen in Ole Olsons Kopf bemerkbar. Mit dieser Form der geistigen Kommunikation noch unvertraut, schaute sich Olson in alle Richtungen um und übersah, wie fast jeder andere Drachenreiterschüler vor ihm, vor sich auf den Boden zu schauen. Dort hockte ein graubrauner Jungdrache und schaute ihn provozierend an, »Was ist denn nun? Magst du mich oder nicht?«

War es das niedliche Gesicht des Drachens, die Schnauze mit der Stupsnase, die großen Augen, oder war es die Fröhlichkeit, die die kleine Echse verströmte? Was es auch war, es schmolz Ole Olsons Widerstand und erwärmte sein Herz. Ohne weiter nachzudenken, schnappte er sich den Drachen, hob ihn hoch und umarmte ihn.

»Ich mag Drachen und insbesondere mag ich dich!«, gestand er dem Drachen, in dessen Augen er glücklich versank. Ohne darauf zu achten, was mit ihm geschah, ließ er sich von einem roten Leuchten einhüllen und begann einer Musik zu lauschen, die von nun an sein Leben bis zu dessen Ende begleiten sollte und ihn nie wieder verlassen würde.

Im Gegensatz zu Ole Olson war Erogal D’Santo sehr genau darauf vorbereitet, was ihn erwartete. Er kannte den Ablauf, er wusste alles über Drachenkunde. Nichts konnte ihn überraschen. So dachte er jedenfalls. Doch hatte er dabei nicht mit dem feinen Sinn der Drachen für Ausgleich und Balance gerechnet.

»Hallo Erogal, Drachenfreund! Ich bin Sulogorn dein Drache. Fingolf schickt mich, um endlich ein altes Versprechen einzulösen. Möchtest du das Versprechen annehmen?«, meldete sich der zweite Drache kühl.

»Nein!«, entgegnete Erogal von sich selbst überrascht, war sich seiner Sache aber absolut sicher. Sulogorns Angebot erzeugte einen bitteren Geschmack auf Erogals Zunge. So wollte er kein Drachenreiter werden. Wenn es nur darum ging, ein vor langer Zeit abgegebenes Versprechen anzunehmen, dann wollte er kein Drachen sein.

»Nein?«

»Nein!«, wiederholte Erogal mit fester Stimme, »Und, ja, ich träume davon, Drachenreiter zu werden, aber nicht auf diese Art. Nicht, weil ihr Drachen euch verpflichtet fühlt, ein Versprechen einzulösen. Ich möchte nicht, dass ihr Drachen mich in euren Kreis aufnehmt, weil ich es nun, nach langer Zeit, verdient oder weil ich meine Zeit der Läuterung abgesessen habe. Sulogorn, du magst das sein, was ich mir ein Leben lang gewünscht habe. Ein Drache, dessen Seele ich sein darf. Aber wenn ich es nur aus Gefälligkeit werden darf, dann bin ich nicht würdig und verzichte. Es tut mir leid!«

»Es muss dir nicht Leid tun! Erogal, du hast dich verändert. Du hast Weisheit erlangt! Ich und mein Bruder, wir beobachten dich seit Jahren, hören deine Gedanken und lauschen der Melodie deiner Seele. Du hast Recht! Drachenreiter zu werden, nur um ein Versprechen einzulösen, wäre deiner unwürdig. Erogal, ist dir klar, was du erreicht hast? Deine Seele ist frei von Zorn, Wut und Hass! Erogal, ich bitte dich, werde meine Seele! Du bist der Mann, der mir bestimmt ist. Du und niemand sonst!«, verkündete Sulogorn und dieses mal glühte seine Stimme von Wärme und Liebe.

Und so begriff Erogal, was gerade eben geschehen war. Es war ein Test, der letzte Test seiner Würdigkeit. Nicht für die Drachen, sondern für ihn. In dem Moment als Erogal bereit war, auf seinen größten Traum zu verzichten, bewies er, dass er mehr als würdig war, ein wahrer, echter Drachenreiter zu werden.

 

»Nun meine Brüder, wie fühlt man sich als Drachenreiter?«

Während Olson und D’Santo ihre Vereinigung mit ihren Drachen vollzogen, hatte sich Turondur gemütlich in einen der Ledersessel der Bibliothek gesetzt und dem Schauspiel fasziniert zugesehen. Obwohl er in seinem Leben als Drachenreiter unzähligen Vereinigungen beigewohnt hatte, war es jedes mal wieder ein Ereignis, dessen Schönheit nie verblasste oder etwas Alltägliches wurde. Jede Vereinigung machte ihn ein Stück glücklicher. Ein neuer Drache betrat die Welt!

Neben Erogal und Olson standen zwei graublaue Drachen von eleganter Schönheit. Es waren die Zwillinge Sulomile und Sulogorn, der heimliche Wind und der stürmische Wind.

»Es ist ein Traum!«, flüsterte Ole, der immer noch nicht glauben wollte, dass er von nun an ein Drachenreiter war.

»Es ist kein Traum!«, meinte Erogal, »Glaub mir, das ist kein Traum.«

»Und, mein Freund«, wandte sich Turondur an Erogal, »Ist es das, was du dir gewünscht hast?«

»Nein!«, antwortete Erogal offen, kniete sich neben seinem Drachen nieder und streichelte die Echse liebevoll, »Es ist… unbeschreiblich. Es ist viel, viel mehr, als ich je gewagt habe, zu träumen. Aber ja, ich bin glücklich, überglücklich!«

»Meine Freunde!«, Turondurs Miene verfinsterte sich, »Es tut mir leid, wenn ich den Tag eurer Vereinigung trüben muss. Es gibt etwas, das ich erledigen muss. Ich werde für einige Zeit fort sein. Ob dies nur Stunden oder Tage sein werden, kann ich nicht sagen. Ich werde versuchen, später zu euch zu stoßen. Ihr solltet inzwischen so schnell wie möglich nach Tharbad aufbrechen. Freunde sind in Gefahr und eure Fähigkeiten sind gefordert.«

»Wohin gehst du?«

»Zu meiner Schwester!«

 

»Ja!«, knurrte Kardinal Rudolfo, »Sie wird Sie empfangen.«

»Wie überaus gnädig von meiner Schwester!«, ätzte Turondur.

»Mit Verlaub, Herr Präsident, Paula Sylvestra II ist die Päpstin der unifizierten Technokratie!«, entrüstete sich der Kardinal.

»Sparen Sie sich die Nummer für Ihre Schäfchen. Ihre Päpstin ist meine Schwester. Also, wie komm ich nun zur Kurie?«

Die Sitz der Kurie war auch der Sitz der Päpstin. Niemand, bis auf die Kardinäle, wusste, wo sich die Kurie befand. Manche vermuteten, sie lag in einem schwer zugänglichen Teil des Küstengebirges von Goldor. Andere vermuteten sie in den unerforschten Weiten jenseits der Einöden. Eine ganz andere Variante behauptete, die Kurie würde auf einer Insel vor Goldor liegen. Die gewagte Idee sah die Kurie außerhalb der Welt liegend, verborgen in einem künstlichen Reich der Technologie. Doch im Prinzip blieben alle Vermutungen pure Spekulation und entbehrten jeglicher Grundlage.

»Sie reisen mit Ihren Drachen zwischen den Welten, wie Sie es nennen?«, fragte Kardinal Rudolfo rhetorisch.

»Ja?«, stellte Turondur eine Gegenfrage.

»Nun ja…«, entgegnete Rudolfo vage und hatte sich damit für ein Mitglied der Kurie weit aus dem Fenster gelehnt.

Turondur hatte seine Anfrage nach einer Audienz gleich nach Erogals und Oles Vereinigung überbracht. Keine Stunde später tauchte ein Bote auf und bat Turondur zur Nuntiatur der Kirche zu kommen. Er kam, zum Entsetzen der Priester, in Begleitung seines Drachen.

»Was ist mit Toldin?«, fragte Turondur mit unverholener Freude die Kirchentypen zu provozieren.

»Ihre Flugechse kann mitkommen. Folgen Sie mir!«

Rudolfo hatte Turondur im prächtigen Audienzsaal des Bischofs von Crossar empfangen, der den einzigen Zweck verfolgte, Besucher einzuschüchtern. Jeder, der den Bischof von Crossar konsultieren wollte, musste den Saal in seiner vollen Länge durchschreiten. Stand man schließlich vor dem Würdenträger, fühlte man sich klein und wertlos. Was den meisten Besuchern dabei nicht klar war, das Gefühl wurde nicht nur durch die Prächtigkeit des Gebäudes sondern insbesondere auch durch Zaubersprüche verursacht, die auf den Wänden des Saals ruhten. Als Elb und Drachenreiter war Turondur vor solchen billigen Tricks geschützt. Selbst ein Gildemeister hätte den Schmu sofort durchschaute und ohne nachzudenken einen Gegenzauber vom Stapel gelassen. Ein einfacher Bürger hingegen, spürte die Macht und Würde der Kirche, ohne sich dagegen wehren zu können.

Natürlich wusste Rudolfo, dass Turondur den Zauber bestenfalls amüsant fand. Statt also den Saal zu durchqueren, wählte der Kardinal eine verborgene Tür und führte sie durch verschiedene Gänge zum Empfangshof der Nuntiatur, in dem Toldin geduldig auf seinen elbischen Partner wartete.

Mit einer knappen Handbewegung Turondurs erhob sich der Drache und tapste den beiden, die auf das Portal der zentralen Kirche zuhielten, hinterher. Statt die kleinen Personentür im linken Flügel des großen Kirchentors zu öffnen, schlug Rudolfo beide Flügel komplett auf. Anders hätte Toldin kaum hineingepasst.

»Ich nehme an, dass ich ihr Wort habe, über den Weg zur Kurie stillschweigen zu bewahren?«, fragte Rudolfo erstaunlich sachlich und frei von seinem sonst üblichen sakralen Pathos.

»Ja, von uns beiden!«, antwortete Toldin und grinste breit, als ihn der Kardinal verärgert anstarrte.

»Gut, ich schicke sie jetzt rüber. Nicht bewegen!«, war alles, was Rudolfo noch sagte.

Die großen Flügel des Kirchenportals schlossen sich. Rudofo begab sich zum Altar, öffnete ein Buch und rezitierte einen technisch klingenden Text. Turondur war nicht dumm und erkannte, dass es sich um eine Kommandosequenz für eines der berüchtigten Datensysteme der Kirche handelte. Und wen wunderte es, als sich unmittelbar nach Ende der Rezitation die Umgebung auflöste, verschwamm, um sich mit einem fiesen Plop in eine andere Umgebung zu rematerialisieren.

»Das war keine Magie!«, maulte Toldin, »Zu kalt. Ein widerliches Gefühl, als wenn man stundenlang durch einen Eissturm fliegen würde.«

»Du hast Recht…«, erwiderte Turondur abwesend, während er die neue Umgebung betrachtete. Turondur und Toldin standen in mitten einer gigantischen Kuppelhalle, die von mächtigen Säulen getragen wurde. Frei von jeglichem kirchlichen Pomp, doch gleichzeitig majestätisch und furcht einflößend, enthielt sie als einzigen Fixpunkt einen Thron, auf dem eine Elbin saß. Vor ihr schwebten frei im Raum Diagramme und Bilder. Mit leichten Bewegungen aus dem Handgelenk der Elbin wechselten die Bilder und zeigten andere Diagramme.

Paula Sylvestra II war unzweifelhaft eine Elbin. Ein geübtes Auge hätte sie sogar als Hochelbin identifizieren können. Dass es sich um Turondurs Schwester handelte, war äußerlich kaum zu erkennen. Ihr Haar war zwar blond, aber von einer dunkleren Prägung, ihr Gesicht zierten aristokratische Züge bis hin zur blasierten Gestik, die obendrein Züge von Herablassung enthielt.

»Paula Sylvestra wie sie leibt und lebt! Sie hat sich kein wenig verändert.«

»So schwer es mir fällt, es zuzugeben: Ja, das ist meine Schwester!«, unterstrich Turondur Toldins Feststellung, wobei er einen gepesteten Gesichtsausdruck zeigte, »Paula, wärst du mal so nett, dich von deinen bestimmt wichtigen Geschäften loszureißen?«

Mit einer einzigen theatralischen Geste wischte die Päpstin der unifizierten Technokratie sämtliche Diagramme hinfort und lehnte sich mit demonstrativer Gönnerhaftigkeit in ihren Thron zurück: »Turondur, was verschafft mir das Missvergnügen deines Besuchs?«

»Oh, ich freu mich auch, dich zu sehen!«, entgegnete Turondur, »Und schalt dein Einschüchterungsprogramm ab. Ich kann sehen, dass die Halle eine Illusion ist! Ich glaube, wir haben etwas besseres zu tun.«

Paula Sylvestra schnaubte verächtlich, schnippte mit ihren langen, schmalen, fast knochigen Finger und die Halle verschwand. Stattdessen standen Turondur, Toldin und die Päpstin am Klippenrand eines Bergplateaus und überblickten ein spektakuläres Panorama. Natürlich war dies ebenfalls eine Illusion, aber weniger technokratisch.

»Was willst du?«, fragte Paula genervt.

»Er will zurück in unsere Welt!«, begann Turondur.

»Und?«, fragte Turondurs Schwester gelangweilt mit hohen Dosen von Herablassung in ihrer Stimme.

»Was und?«, knurrte Turondur, »Das betrifft auch dich, Feressea! Sollte das namenlose Böse einen Weg zurück in unsere Welt finden, wird er kaum vor deiner Kirche halt machen.«

»Glaubst du ernsthaft, du erzählst mir etwas Neues?«, Paula Sylvestra schaute ihren Bruder wütend an. Dass Turondur ihren elbischen Namen »Feressea«, einsame Seele, verwendete, ignorierte sie ostentativ. »Natürlich weiß ich, dass er seine Schergen von der Leine gelassen hat. Ich kann dir versichern, Ich habe alles unter Kontrolle. Das Problem wurde eliminiert!«

»Boldin?«, Turondur lachte verbittert auf, »Glaubst du ernsthaft mit Boldins Tod hat die Sache ein Ende? Ich weiß, dass du es warst, die Olson den Auftrag gegeben hat. Aber jetzt sieht es ja so aus, als wenn ein Killerteam Rochsinasul das Problem vor Olson gelöst hätte, nicht war?«

»Was willst du damit andeuten?«, Turondurs Schwester versuchte es zu verbergen, doch sie war nervös.

»Zacharias von Rochsinasul IV, königlicher Hafenmeister des Königs von Goldor II zu Rochsir steht auf Boldins Lohnliste!«, rief Turondur wütend, »Dein Versuch einen Killer auf Boldin anzusetzen, hat den fetten Sack von einem Zwerg untertauchen lassen! Glaubst du wirklich Boldin ist tot? Ich nicht! Wie du sicherlich weißt, komme ich gerade aus Crossar. Weißt du aber auch, was sich unser perverse Zwerg Neues ausgedacht hat? Eine Klonwaffe! Ich verwette meinen Drachen darauf, dass der Typ noch munter unter den Lebenden weilt und sich über unsere Dummheit tot lacht!«

»Was schlägst du vor?«

»Sag mir was du über Boldins Projekte weißt! Deine Pfaffen hocken an allen Schlüsselstellen der Höfe und Regierungen. Wurden noch mehr Beschwörungsglyphen gefunden? Was plant Boldin?«

»Wieso sollte ich Dir etwas erzählen? Meinst du, deine jämmerliche Echsenarmee kann etwas gegen Boldins Waffen ausrichten?«

»Vielleicht nicht, aber immerhin tun wir etwas mehr, als uns hinter einem geheimen Thron zu verstecken. Erogal mobilisiert die Gilde…«

»Die Gilde!«, höhnte Paula Sylvestra, »Diese möchte gern Weltverbesserer sind deine Alliierten? Du bist tiefer gesunken, als ich für möglich gehalten hätte. Deine ahnungslosen Zauberlehrlinge können doch noch nicht einmal ihren eigenen Laden von Verrätern sauber halten!«

»Es sind gute Menschen mit einem guten Ziel. Ich weiß nicht, warum du sie als Zauberlehrlinge abtust. Die Macht der Magie zu nutzen, ist die einzige Chance, die wir haben! Er ist Magie! Die böseste, schwärzeste und zerstörerischste die es gibt. Er ist der Tod, wenn nicht sogar etwas schlimmeres!«, Turondur hatte die Bemerkung über Verräter in den Reihen der Gilde wohl gehört, ging aber nicht darauf ein.

»Menschen!«, fauchte Paula angewidert.

»Was hast du gegen die Menschen? Sie haben eine Kraft, die uns fehlt. Ihre Sterblichkeit bringt sie dazu, etwas für die Nachwelt schaffen zu wollen. Sie wissen, dass ihre Zeit in dieser Welt begrenzt ist. Dies ist ihr Antrieb, sie wollen, dass etwas von ihnen überdauert. Sie können etwas bewegen!«

»Menschen sind schwach! Ihre Sterblichkeit lässt sie vor Angst zittern! Menschen sind wie Kinder, die geführt werden müssen!«

»Das ist es also, was du tust? Die Kirche, die Kurie, deine Priester, Bischöfe und Kardinäle? Die Menschen versklaven, ihr deinen Willen aufzwingen?«

»Nicht versklaven, beschützen! Ich behüte sie vor sich selbst! Die Menschen brauchen Kontrolle. Du siehst doch, was sie anrichten können. Kriege, Mord und Gewalt!«

»Feressea, du bist wahnsinnig!«, flüsterte Turondur entsetzt, »Was hat dich so verändert! Ich kenne meine Schwester nicht wieder!«

»Was mich verändert hat?«, keifte Turondurs Schwester plötzlich, »Mir hätte der Thron unseres Volkes zugestanden! Mir ganz allein! Aber unser Vater hat immer nur dich mir vorgezogen. Dabei wäre es mein Geburtsrecht gewesen, unser Volk zu neuem Ruhm zu führen. Wer nicht, wenn nicht die Elben, sollten die Menschen leiten. Dafür sind wir da. Das ist der göttliche Plan, dem du abgeschworen hast. Drachenreiter! Pah!«

»Das ist es? Deine verletzten Gefühle? Unser Volk kennt keinen Erbthron. Das solltest du wissen. Unser Vater hat mich erwählt, obwohl ich mich weder für würdig noch stark genug dazu fühle. Aber es ist eine Bürde, die ich tragen werde, wenn die Zeit kommt und Mutter diese Welt verlässt.«

»Er hätte mich wählen müssen!«, brüllte Turondurs Schwester aus vollem Hals, »Mir und nur mir hätte der Thron zugestanden.« Paula wurde ruhig, fast gleichgültig: »Aber was soll’s. Ich brauche die Elben nicht mehr. Ich habe mir mein eigenes Reich geschaffen. Und in dem hast du keinen Platz!«

»Willst du mich umbringen? Hast du mich deswegen empfangen? Damit ich mich dir schutzlos ausliefere?«, fragte Turondur angriffslustig. Er riss sich sogar das Hemd auf und hielt ihr seine Brust entgegen, »Bitte, ich mach es dir einfach! Streck mich nieder! Aber das wird nichts, rein gar nichts ändern! Das namenlose Böse wird sich freuen, wenn wir uns gegenseitig schwächen. Tu es! Los, bring mich um und unterschreibe dein eigenes Todesurteil! Von deinem tollen Reich wird nichts als Asche übrig bleiben!«

»Ich will dich nicht töten.«, entgegnete Paula plötzlich müde, und wirkte dabei erschöpft und für eine Elbin seltsam alt und grau.

»Feressea?«

Turondur sprang entsetzt auf seine Schwester zu. War er bisher der Meinung, seine Schwester wäre einfach nur größenwahnsinnig geworden, beschlich Turondur inzwischen ein ungutes Gefühl, dass die Sache viel komplexer und tiefer ging, als es den Anschein hatte.

»Komm mir nicht zu nahe!«, schrie plötzlich Feressea und wich zurück. In ihren Augen flackerte Sorge, Traurigkeit und, so seltsam es war, Bruderliebe auf.

»Was?«, stutze Turondur und hielt inne.

»Siehst du es nicht? Sie trägt das Mal! Feressea ist verflucht!«

»Schwester! Was hast du getan?«, rief Turondur flehend, als ihm die Aura der Verfluchten gewahr wurde. Feressea hatte schwarze, böse Magie beschworen und sich damit selbst als Elbin verdammt.

»Es gab keinen anderen Weg! Ich musste es tun! Du ahnst nicht, welch gewaltiger Macht wir entgegentreten. Ich musste versuchen, die andere Seite wenigsten etwas in die Karten zu schauen. Turondur, Bruder, Er ist wirklich erwacht! Und er ist stark, sehr stark! Er will in unsere Welt und er hat Verbündete, die ihm willfährig den Weg bereiten!«

Feressea war eine völlig andere Person als Paula-Sylvestra II. Mit unbeschreiblicher Willenskraft, zu der nur ein Hochelb fähig war, kämpfte sie gegen den bösartigen Teil ihres Wesens an, den Teil, der durch ihren Fluch erschaffen wurde.

»Das Drachenblut!«, rief Feressea, ihr Gesicht war schmerzverzerrt, »Ich weiß, ihr habt Drachenblut bei Boldin gefunden. Ich habe erfahren, was er damit vorhat. Er züchtet eine Armee von Orkkriegern deren Zuchtessenz mit Drachenblut versetzt wurde. Sie sind stärker, fast unverwundbar und werden nie müde. Doch das wichtigste ist, deine Drachen können sie nicht töten, es wäre so, als wenn sie einen der ihrigen töten müssten!«

Toldin schrie entsetzt auf, Turondur wich ebenso entsetzt zurück. Das war es also, weswegen Boldin Drachenblut brauchte. Er schuf eine Armee der Finsternis, eine Armee, die erbarmungsloser, grausamer und tödlicher war, als alle Vorhergehenden. Eine Armee des Todes, die selbst kaum verwundbar war.

»Schnell! Kehrt nach Crossar zurück!«, flehte Feressea ihren Bruder an, »Meine Kräfte schwinden…«

Ohne Verzögerung traten Toldin und Turondur den Rückweg an. Das Portal öffnete sich, die Welt wurde unscharf und verschwamm vor ihren Augen, sie hörten ein »Plöpp!« und waren zurück in Crossar. Verstört, traurig und angeschlagen verließen Reiter und Drache die Kirche. Kardinal Rudolfo trat auf sie zu und reichte ihnen einen Datenkristall: »Die Päpstin hat mich beauftragt ihnen dies, sollten sie lebend zurückkehren, zu geben. Es stammt von einer Person, die Ihnen sehr viel bedeutet – Feressea«

Präsident

»Liebe ist Schmerz! Schmerz ist Liebe!«

Mantra der Uruks

»Ach, der Herr Präsident!«, begrüßte Roderick Uskav, als dieser Thonfilas und Rodericks Drachenhöhle betrat.

Uskav knurrte gespielt übellaunig. Seid Tagen zogen ihn Thonfilas und Roderick mit seinem neuen Titel auf. So auch heute. Er war gerade von einer jener nicht enden wollenden Sitzungen des Rates zurückgekehrt, in der er sich mehrfach gewünscht hatte weniger mit Worten als mit dem blanken Stahl einer Klinge kämpfen zu dürfen. Verdammt, er war ein Krieger und kein Politiker! Das Dumme war nur, dass er seine Aufgabe als Politiker gut machte. Er konnte überzeugen. Der Rat hörte ihm zu. Hunderte von Jahren alte und weise Drachen hörten ihm, einem Uruk, einem Monster, das gezüchtet wurde, um Mord und Verderben zu bringen, zu. Sie stellten Fragen und ließen sich am Ende auf seine Vorschläge ein und Uskav umgekehrt auf ihre.

»Bin ich wirklich noch dieses Monster?«, fragte sich Uskav manchmal, »Ist es wirklich die Bestimmung der Uruks zu töten?«

Uskav war sich dessen nicht mehr sicher. Andernfalls hätten die Bürger Daelbars weniger freundlich auf ihn reagiert. Die normale Reaktion auf einen Ork oder sogar einem Uruk bestand in Panik gefolgt von Flucht. Doch niemand in Daelbar fürchtete Uskav. Ganz im Gegenteil war der Uruk sogar zum Idol der Jugend geworden, woran Auftreten und Aufmachung nicht ganz unschuldig waren. Uskavs an sich nackter Oberkörper zierte ein knappes, Figur betonendes, locker lässig herabhängendes Kettenhemd aus glänzendem, polierten Edelstahl, welches seine muskelbepackten, dunkel-schwarzen Oberarme obszön betonten und in Szene setzten. Und, um bei obszöner Betonung zu bleiben: seine Beinkleider waren nicht weniger provokant. Neben einem schweren Schwertgehänge trug Uskav eine schwarze, lederne Hose, deren Schnitt keinen Interpretationsspielraum über das Geschlecht des Uruks zuließ. Abgeschlossen wurde das Ganze mit einem Paar Stahl beplankten Kampfstiefeln. Die breiten engen Lederarmbänder an seinen Handgelenken fielen dabei kaum noch auf.

»Ihr beliebt mit eurem Leben zu spielen!«, entgegnete Uskav Rodericks Begrüßung, zog in der Zeit eines Wimpernschlags sein Schwert, holte aus und ließ die Klinge niedersausen. Die rasiermesserscharfe Schneide kam unmittelbar vor Rodericks Hals singend zum stehen. Roderick fühlte den kalten Hauch des Metalls, als die Klinge die Härchen seiner Haut berührte.

Uskav grinste provozierend und entfernte die Klinge von Rodericks Hals. Der Neovikinger atmete erleichtert auf. Aber nicht lange, denn Uskav war mit seinem Schwert noch nicht fertig. Während er es weiter mit seiner Schwerthand hielt, packte Uskavs andere Hand die Klinge, griff fest zu und ließ den Stahl sein Fleisch einritzen. Schwarzes Orkblut rann langsam das kalte Metall entlang. Uskav lächelte, wischte sein Schwert mit einem Tuch sauber und verstaute es in seiner Scheide. Roderick klappte der Unterkiefer runter.

»Das Gesetz des Kriegers«, meinte Uskav beiläufig, »Wenn ich mein Schwert ziehe, muss Blut fließen.«

»Und ich dachte immer, Neovikinger wären harte Kerle? Nimm dir mal ein Beispiel an unserem Uruk.«, machte sich Thonfilas bemerkbar und zog damit seinen Freund auf, »Kinder, kommt essen.«

Uskav ließ sich nicht zweimal bitten und ging zum Tisch, den Thonfilas liebevoll gedeckt hatte. Roderick stand noch eine Weile verwirrt und desorientiert mitten im Raum, bis er sich mit einem Kopfschütteln aus seiner Starre löste und sich ebenfalls an den Esstisch setzte.

Nach ein paar Bissen, während Rodericks Stirn massive Denkfalten warf, hielt der Neovikinger inne: »Moment mal! Dir war klar, dass du dich für den Witz in deine Hand schneiden würdest?«

»Yepp!«, machte Uskav und stopfte sich einen Klumpen rohen Fleisches ins Urukmaul.

»Du bist verrückt!«, zog Roderick sein Fazit.

»Nein, bin ich nicht. Pass auf!«, meinte Uskav, packte das extrem scharfe Filetiermesser, mit dem er sein Fleisch zerteilte und rammte es sich in seine linke Handfläche. Das Messer ging glatt durch, doch Uskav verzog keine Miene. Ganz im Gegenteil hielt er seine durchbohrte Hand in die Höhe und drehte sie hin und her, damit Roderick und Thonfilas sie auch in ihrer ganzen Pracht bewundern konnten.

»Das, meine Freunde,…«, begann Uskav zu erklären, wobei er langsam und offenbar auch genüsslich das Messer aus seiner Hand zog, »ist Orkbiologie. Seht, die Wunde blutet kaum und schließt sich bereits wieder, morgen wird man nichts mehr davon sehen können. Außerdem empfinden wir Schmerz etwas anders als ihr. Ich verrate euch ein Geheimnis. Was meint ihr, warum Orks und insbesondere Uruks im Kampf nie aufgeben und selbst dann noch weiterkämpfen, wenn man ihnen ganze Körperteile abschlägt? Man hat unser Schmerzempfinden mit unserem Lustzentrum verbunden. Schmerz macht uns geil!«

Thonfilas und Rodericks Blicke wanderten unwillkürlich in Richtung Uskavs Schritt.

»In der Tat!«, bemerkte Thonfilas süffisant.

 

Thonfilas, Roderick und Uskav – ungleicher als diese drei, konnten Freunde nicht sein. Dabei waren sie sogar mehr als Freunde, sie waren Liebhaber. Es begann damit, dass Uskav recht unerwartet zum Drachenreiter wurde. Mit Narsul, einer feuerroten Drachendame, ging eine Veränderung in Uskav einher. Das erste Mal in seinem Leben fühlte der Uruk eine Verantwortung, die er freiwillig auf sich genommen hatte. Narsul war geschlüpft, zu Uskav gehüpft und hatte ihn gefragt: »Willst du ein Drachenreiter werden?« Bis heute war Uskav nicht klar, warum er »Ja« gesagt hatte, doch bereute er seine Entscheidung keine Sekunde.

Narsul brachte einen Wendepunkt. Uskav fühlte, dass er nicht nur mit den Drachen verbunden war, sondern mit der ganzen Stadt und all ihren Einwohnern. Daelbar war zu seiner Heimat geworden, die ihm ein völlig anderes Leben schenkte, als er es sich jemals vorstellen oder erträumen konnte. Glück! – Ein Gefühl, das Uruks so gut wie unbekannt war. Uskav fühlte sich glücklich. In diesem Zustand traf Uskav eine Entscheidung. Daelbar hatte ihm so viel geschenkt, dass es Zeit wurde, etwas davon zurückzugeben. Umso passender kam die Bitte Turondurs, ob er, Uskav, nicht Senator für Verteidigung werden wolle. Schließlich besäße er als General die besten Voraussetzungen dafür.

Uskav wurde Senator, was ihn mit Roderick zusammen brachte. Der Neovikinger war einer der erfahrenen Krieger Daelbars und Mitglied des Verteidigungsrats. Roderick wurde Uskavs Berater und Mitarbeiter. Die Arbeit lief fantastisch. In wenigen Tagen verschmolzen Uskav und Roderick zu einem perfekten Team. Uruk und Neovikinger ergänzten sich, wie es besser nicht ging. Was Roderick an Militärstrategie fehlte, wurde von Uskav ausgefüllt. Während der Uruk dankbar Rodericks Wissen zu Guerillatechniken und Drachenkampffliegen aufsog. Die beiden vertrauten sich. Erst beruflich, später auch privat. Es dauerte nicht lange, da wurde aus Vertrauen Freundschaft.

Etwas irritierte Uskav. Er mochte Roderick als Freund, doch da war mehr. Er fühlte sich von dem Neovikinger angezogen, sexuell angezogen. Es benötigte die Willenskraft des ganzen Uruk nicht einfach über seinen neuen Freund herzufallen. Eigentlich war es sogar noch schlimmer. Neben der Erregung, die Uskav in Rodericks Nähe verspürte, fühlte er sich auch immer stärker emotional zu dem Neovikinger hingezogen. Das war etwas, was der Uruk nicht einordnen konnte. Doch mit der Irritation war Uskav nicht allein. Roderick erging es ähnlich. Widerte ihn Uskav bei ihrer ersten Begegnung noch an, entwickelte er langsam eine regelrechte Leidenschaft für den Uruk. Uskav war der Inbegriff von Potenz.

Beide Freunde hätten ihre geheimen Gefühle auf immer voreinander verborgen, wären da nicht Narsul, Mithval, Thonfilas und Lindor gewesen. Narsul pflegte eine enge Freundschaft mit Mithval, Mithval wiederum besaß eine besondere Verbindung zu Lindor. Diese Verbindung war entstanden, als Gilfea Lindor von der Verwundung mit einer Jagdlanze geheilt hatte. Etwas von Gilfea und damit auch von Mithval, war bei Lindor geblieben. Über Mithval lernte Narsul Lindor kennen und freundete sich mit ihm an. Uskav war glücklich, dass Narsul jemanden gefunden hatte, der sich um sie kümmerte. Denn die meiste Zeit verbrachte er im Senat.

Und so entstand eine tägliche Routine. Am Morgen brachte Uskav Narsul zu Lindor, holte Roderick, der die meisten Nächte bei seinem Lebenspartner und Liebhaber, Thonfilas, verbracht, ab und flog mit ihm zusammen auf Caransil, Rodericks Drachen, zum Senat. Abends wiederholte sich das Procedere in umgekehrter Richtung. Zu dieser Zeit wohnten Uskav und Narsul noch in einer kleinen Drachenhöhle, die eher eine Gästeunterkunft war, als ein vollwertiges Heim. Sein enger Terminplan hatte ihm bisher keine Zeit gegeben, sich nach einer eigenen Höhle umzusehen.

Eines Abends, Roderick und Uskav kamen gerade vom Senat angeflogen, lud Thonfilas Uskav ein, bei ihnen zu Abend zu essen. Im ersten Moment zögerte Uskav etwas. Roderick hatte ihm erzählt, dass sein Freund und Liebhaber Vegetarier sei. Doch dann fiel ihm ein, dass der Neovikinger sich alles andere als vegetarisch ernährte und einem guten Stück Fleisch gegenüber überhaupt nicht abgeneigt war. Uskav sagte zu, zum Essen zu bleiben. Thonfilas grinste und meinte, er würde sich freuen.

Zu Uskavs Freude entpuppte sich der Elb als begnadeter Koch, obwohl Uskavs Speisen alles andere als gekocht waren. Er war ein Uruk, der frisches, rohes und vor allem blutiges Fleisch liebte. Und genau dafür hatte Thonfilas gesorgt, wenn auch auf elbische Art. Das Fleisch war nicht nur roh, es war sogar gewürzt, wie es Uskav noch nie erlebt hatte. Es lief scharf seine Kehle herunter und brannte in seiner Speiseröhre. Uskav war im Himmel.

Die Speisen waren verzehrt, Elb, Uruk und Neovikinger saßen zufrieden und gesättigt auf ihren Stühlen, als Thonfilas das Wort ergriff:

»Ich habe mir die Tage zusammen mit Narsul und Lindor etwas überlegt. Wir hätten einen Vorschlag zu machen.«

Der Vorschlag hatte es in sich. Thonfilas schlug nichts Geringeres vor, als das Uskav, Narsul, Roderick und Caransil, doch bei ihnen einziehen könne. Seine Drachenhöhle wäre groß genug, die Gästehöhle Uskavs eigentlich viel zu klein, Narsul sowieso immer bei Lindor, Roderick kaum bei sich zu Hause und Uskav könne sich die tägliche Anfahrt sparen.

Unter vielen »Ähms« und »Öhs« und »Abers«s begannen sich Uskav und Roderick zu winden, als wenn die eben noch bequemen elbischen Sitzmöbel plötzlich Dornen in den Sitzflächen bekommen hätten. Thonfilas hingegen, ließ sich nicht beirren, und argumentierte weiter, wie vorteilhaft seine Idee doch sei.

Roderick wurde es heiß und auch Uskav schien eine Schattierung dunkler zu werden. Miteinander arbeiten, war eine Sache, doch miteinander wohnen? Uskav zweifelte, ob er sich unter solchen Bedingungen auf Dauer beherrschen konnte. Schlimmer noch, dieser Elb, Thonfilas, war auch nicht von schlechten Eltern. Uskav hatte eine Schwäche für Elben, die nur durch seine frühere magische Versklavung seines Geistes unterdrückt oder genauer in andere Bahnen gelenkt worden war. Zu Zeiten des alten Uskavs, hätte er Thonfilas liebend gerne erschlagen und mit Wonne verzehrt. Elbenfleisch ist köstlich. Doch inzwischen hatte sich Uskavs Verlangen dahin gewandelt, dass er Thonfilas nur noch vernaschen wollte, was dieser hundertprozentig überlebt hätte.

Aber da war mehr als reines körperliches Verlangen.

»Ist etwas? Ihr zwei wirkt so unruhig. Uskav, was hältst du von meinem Vorschlag?«

Thonfilas ließ nicht locker und schaffte es, dass sich Uskav begann, wie ein Aal zu winden.

»Roddy, was sagst du?«, sprang Thonfilas zu Roderick.

»Roddy?«, Uskav zog amüsiert seine Augenbrauen hoch.

»Frag nicht!«, knurrte Roderick, der diesen Spitznamen hasste, weil er ganz genau wusste, dass Thonfilas ihn an den Eiern hatte (wie er es formulierte), wenn er diesen Namen verwendete.

»Jungs«, begann Thonfilas genüsslich, »Ihr seid albern. Seit Wochen schleicht ihr zwei umeinander, wie die Katze um den heißen Brei. Oder…«, Thonfilas fing an albern zu kichern, »Natürlich! Ihr zwei… Nee! Das ist…«

Der Rest ging in einem Lachanfall des Drachenreitenden Elben unter. Zwei Augenpaare glotzen einen gackernden, albern quietschenden, kichernden Elben an, der sich offensichtlich auf ihre Kosten köstlich amüsierte.

»Hat dein Freund sowas öfter?«, fragte Uskav trocken.

»Eigentlich nicht. Nur alle hundert Jahre.«

»Wartet!«, kicherte Thonfilas, bevor ihn der nächste Lachkrampf durchschüttelte. Uskav und Roderick warteten – lange. Immer, wenn sie dachten, dass Thonfilas sich beruhigt hatte, reichte eine Bewegung oder Geste, um einen weiteren Anfall auszulösen. Der eher zarte Köper der Elben täuschte. Ihre Gattung verfügt über erstaunlich Kondition und Kraftreserven. Es dauerte eine geschlagene halbe Stunde, bis sich Thonfilas halbwegs beruhigt hatte. In der Zwischenzeit war der Funke auf Roderick und Uskav übergesprungen. Die beiden Arbeitskollegen wußten zwar nicht warum, aber sie lachten mit.

»Ihr habe es wirklich nicht bemerkt, oder?«, fragte Thonfilas, nachdem er sich endlich eingefangen hatte.

»Was bemerkt?«, fragten Uskav und Roderick synchron.

»Ich beobachte euch jetzt schon seit Wochen. Eigentlich seit ihr zwei euch angefreundet habt.«

»Und?«

»Roderick, mein liebster Roderick, hast du nie bemerkt, wie Uskav dich anschaut? Und du Uskav, deine Augen filetieren meinen Schatz ja regelrecht. Ich habe noch nie zwei so harte Kerle mit so langen Leitungen erlebt. Eure Verliebtheit und Lust auf- und ineinander kann man mit Händen greifen!«

»Öhm…«, räusperte sich Roderick, um mit einem »Hmpf!« seitens Uskavs angereichert zu werden.

»Ist das wahr?«, begann Uskav vorsichtig, für den Gefühls- und Liebesdinge einen unbekannten Kontinent darstellten, »Empfindest du mehr für mich, als nur Freundschaft?«

Roderick nickte schüchtern.

»Aber ich bin ein Ork, ein Uruk!«, versuchte Uskav die Sache zu begreifen, »Mich liebt man nicht, mich fürchtet man. Mich…«

»Nein!«, unterbrach Roderick, »Ich fürchte dich nicht! Nicht mehr. In der Nacht, als wir dich und Gildofal fanden, habe ich dich gefürchtet und gehasst, wie ich alle Orks fürchtete und hasste. Ich hätte dich am liebsten mit Wonne erschlagen. Doch du wurdest unser Gefangener. Später habe ich dich als Gast Daelbars toleriert. Aus der Toleranz wurde langsam Respekt. Aus diesem Respekt erwuchs Freundschaft und aus dieser Freundschaft… Ja, Thonfilas hat recht, es entstand Liebe. In deiner Nähe habe ich Gefühle, die ich sonst nur Thonfilas gegenüber empfinde. Ich will dir nah sein, wie ich Thonfilas nah bin.«

Uskav sagte nichts. Es ist besser, wenn man nichts sagt, sollte die Welt die man kennt, um einen herum ins Wanken geraten. Er hatte es noch nie jemandem erzählt, auch Gildofal nicht, der für Uskav etwas Besonderes war. In der Einöde von Erudor, als die nördlichen Eiswinde Gildofal und ihm das Leben entzogen und das Ende nah war, hatte Uskav mit sich Frieden geschlossen. Er war bereit gewesen, zu sterben. Doch wundersamer weise, wurden sie gerettet. Mehr noch, Uskav wurde ein völlig neues Leben geschenkt. Gilfea, der gute selbstlose Gilfea, befreite ihn von seiner dunklen Versklavung, Narsul erwählte ihn zu seiner Seele, Turondur berief ihn in den Senat, er gewann Freunde. Uskav war glücklich, wahrscheinlich glücklicher, als je ein Uruk zuvor. Doch damit nicht genug! Ihm, der Mord- und Kampfmaschine Uskav, gestand ein freies, menschliches Wesen seine Liebe. Wäre er biologisch dazu in der Lage gewesen, Uskav hätte geweint.

Was voreilig gewesen wäre. Denn nach Rodericks Geständnis, konnte Thonfilas unmöglich zurückstecken. In einzigartiger elbischer Schlichtheit, verkündete Thonfilas: »Mir geht es wie Roderick. Uskav, ich glaube, wir haben uns in dich verliebt.«

Das war also Liebe! Uskav kratzte sich verwirrt am Kopf, was im Allgemeinen keine sonderlich erotische Handlung darstellte. Doch blieb es nicht beim Kratzen. Uskav zog seinen Mund schief und grinste verschmitzt.

»Ich kann das nicht so gut in Worte fassen wir ihr.«, begann er ungelenk, »Erwähnte ich schon, dass ich ein Uruk bin? Ich bin mehr für den Kampf und das Schlachtfeld konstruiert. Aber die Liebe scheint mir ebenfalls ein Schlachtfeld zu sein. Wenn es Liebe ist, was ich fühle, dann macht sie mich schwach und zugleich stark. Ich liege nachts wach in meiner Drachenhöhle und kann nur an euch beide denken, denn in eurer Nähe fühle ich mich stark und glücklich. Im Kampf habe ich einiges an Verletzungen davon getragen, Verletzungen, die für einen Menschen tödlich wären. Doch keine Wunde ging so tief, wie dieses Gefühl, das ich für euch empfinde. Wenn das Liebe ist, ja, dann bin ich, Uskav, der Uruk, verliebt.«

»Und da soll noch mal jemand sagen, Uruks könnten sich nicht ausdrücken!«

An jenem denkwürdigen Abendessen kehrte Uskav nicht mehr in seine Drachenhöhle zurück. Bezog aber auch nicht das freie Zimmer in Thonfilas Höhle. Und auch Roderick gab seine Höhle auf.

Nachdem man sich seine gegenseitige Liebe gestanden hatte, schwebte das Thema Liebesleben wie eine Drohung im Raum. Interessanterweise war es der Elb Thonfilas, der das Eis brach.

»Ich wollte schon immer mal einen Uruk küssen!«, verkündete Thonfilas und näherte sich Uskav, »Du gestattest?«

Uskav gestattete nicht nur, er zog Thonfilas auch zu sich heran, kaum dass er in den Fangbereich seiner Arme kam. Das Erlebnis war überwältigend … für beide. Uskav hatte noch nie etwas so zärtliches wie diesen Elben erlebt. Sein Kuss benebelte die Sinne und raubte einem den Verstand. Uskav wollte in Thonfilas Sinnlichkeit am liebsten versinken.

Für den Elben hingegen war es ein Feuerwerk der herberen Art. Uskavs Kuss war heiß und brannte wie Chili, war aber auch aromatisch, wie starker Kaffee. Uskavs Zunge drang tief in Thonfilas Mund ein, tastete sich sogar bis an in Rachen vor. Thonfilas wurde extrem erregt und musste erstmal Luftholen, nachdem sich beide wieder getrennt hatten. Was er nicht wusste, Uksavs Zunge war eigentlich eine Waffe mit der die Uruks den Kuss des Todes ausübten. Dabei handelte es sich um eine Technik zur Demoralisierung. Bei einem Überfall von Orks oder Urkus wurden nicht alle Gegner sofort getötet, manche wurden erst vergewaltigt und dann zu Tode geküsst. Während der Uruk sein Opfer fest in seinen Armen hielt und küsste, drang seine Zunge in dessen Hals ein und unterband die Atmung. Das Opfer erstickte in den Armen seines Mörders.

Überrascht stellte Uskav fest, dass er Verachtung für denjenigen empfand, der sich diese widerwärtige Art jemanden zu töten ausgedacht und den Uruks angezüchtet hatte. Andererseits befriedigte es ihn zu sehen, dass er seine Zunge auch zur Luststeigerung seines Freundes nutzen konnte und damit eine Waffe in etwas Gutes umwandeln konnte.

In der entstehenden Pause, während Thonfilas Luft holte, entledigte sich Uskav seines Kettenhemdes und spannte dabei demonstrativ seine Nacken- und Schultermuskulatur. Das brachte Roderick auf den Plan, der sich blitzschnell seines Hemdes entledigte. Uskavs Brust, glatt, schwarz und muskulös, hatte es dem Neovikinger angetan. Auch er näherte sich Uskav, doch stand dieser auf und lächelte den kleineren Neovikinger lüstern an: »Sag’ mir Roderick, sag’ mir wonach du verlangst?«

Roderick konnte nicht an sich halten. Mit beiden Händen packte er Uskavs Brust, fühlte sie, streichelte sie, massierte sie, schmiegte sein Gesicht an die heiße Haut des Uruks und sog ihren würzigen Duft mit seiner Nase ein. Langsam wanderten seine Hände tiefer, packten den Bauch und die Hüften des Uruks. Der ließ es eine Weile geschehen, dann umarmte er Roderick, der wiederum den Uruk umarmte. Beide Freunde tauschten intensive tiefe Küsse aus, wobei sie sich immer enger und fester aneinander pressten und ihre jeweilige Erregung spürten.

»Uskav«, flüsterte Roderick, »Ich will dich in mir!«

»Bist du sicher?«, flüsterte Uskav, »Es wird sehr intensiv sein.«

»Ja! Ich will!«

»Und ich möchte deine Sinnlichkeit kosten!«, bat Uskav Thonfilas mit einem verträumten Blick. Der Elb strahlte freudig zurück.

Uskav knüpfte sein Schwertgehänge hab und zog seine Stiefel aus. Doch bevor er seine Hose öffnen konnte, war Roderick bei ihm: »Davon habe ich geträumt!«

Roderick übernahm das Aufknüpfen von Uskavs Lederhose. Das weiche Material verströmte einen betäubenden Geruch. Als der Neovikinger den letzten Knopf gelöst hatte und die Beinkleider nach unten sanken, sprang ihm Uskavs körperliche Stärke entgegen. Uskav stand nackt und lächelnd vor ihnen: »Ist es das, was ihr euch vorgestellt habt?«

»Nein, es ist besser!«, gestand Roderick.

Uskav näherte sich Roderick, griff ihm an die Schulter und drehte ihn um. Der Uruk begann sich an den Rücken des Neovikingers zu schmiegen, während er ihn von hinten umarmte: »Ich will dich, euch beide. Fühlst du, wie sehr ich dich will?«

Roderick fühlte es. Deutlich und fordernd bahnte sich Uskavs Schwanz seinen Weg zwischen Rodericks Pobacken.

Thonfilas sah gespannt zu, er genoss den Anblick, wenn er auch ein wenig Angst um seinen alten Freund hatte: »Du wirst eine Woche kaum richtig gehen können!«

»Das ist mir egal!«, rief Roderick vor Lust, »Ich will Uskav in mir, jetzt!«

Und dann taten sie es. Uskav übernahm die Kontrolle. Er packte Roderick mit seinen Pranken und hob ihn hoch, als sei der Neovikinger eine Feder. Der Griff des Uruks war gleichzeitig kraftvoll, aber auch zärtlich. Uskav drehte seinen Freund herum, dass sie sich wieder ansehen konnten.

»Schlag deine Beine um mich, ich werde dich halten.«

Roderick tat, um was ihn Uskav bat. Beide Freunde schauten sich in die Augen und sahen die Liebe, aber auch die Lust und Geilheit, die sie für einander empfanden. Uskav trug Roderick. Seine Pranken hielten ihn sicher.

»Bist du bereit?«, flüsterte Uskav.

»Ja!«, flüsterte Roderick.

Uskav ließ Roderick langsam auf sein Glied herabsinken, welches sich zielsicher seinen Weg zu Rodericks rückwärtiger Körperöffnung suchte. Alles an Uskav war groß, wie Roderick im ersten Moment schmerzhaft bewusst wurde. Erstaunlicherweise verging der Schmerz relativ schnell, was an einer weiteren kampfbiologischen Besonderheit des Uruks lag. Uruks waren in der Lage eine Lustfördernde, weitende, entspannende und schmerzlindernde Substanz ihren Vorlusttropfen beizumischen. Auch dies war eigentlich zur Demoralisierung von Gegnern entworfen worden, wenn die Uruks deren Frauen nahmen. Ihre Männer sollten zusehen, wie ihre Frauen vor Lust stöhnten. Uskav freute sich, dass er diese bösartige Erfindung dazu nutzen konnte, seine Freunde zu befriedigen. Zu gerne hätte er das Gesicht seines Schöpfers gesehen, wenn dieser erfuhr, dass seine sorgsam gezüchtete Mordmaschine zur liebenden Lustmaschine konvertierte.

Nach anfänglich kurzem Schmerz begann Roderick zu genießen, als Uskav begann Zentimeter für Zentimeter in ihn einzudringen und ihn auszufüllen. Völlig entspannt empfing er Uskav, bis er sich ganz mit ihm vereinigt fühlte.

»Lasst uns ins Schlafzimmer gehen!«, bat Thonfilas, während er neben Uskav und Roderick stand und mit ihnen wechselweise Küsse austauschte. Sicher und liebevoll gehalten von Uskavs Pranken und Schwanz wurde Roderick ins Schlafzimmer getragen. Dort angekommen legte er sich auf ein Bett, wie er es nicht kannte. Elbisch in seiner Art, war es weder hart noch weich, eher überhaupt nicht wie ein Bett. Es fühlte sich mehr an, als legte man sich auf eine Wiese an einem schönen Sommertag.

»Dies ist das erste Mal, dass ich einem Menschen aus Liebe so nahe gekommen bin, wir dir jetzt.«, flüsterte Uskav, während er Rodericks Gesicht streichelte, »Möchtest du das Tempo bestimmen?«

Roderick nickte und begann sich auf Uskav auf und ab zu bewegen, was ihn gleichermaßen wie Uskav stimulierte.

»Komm, mein elbischer Freund, mein elbischer Engel!«, forderte Uskav Thonfilas auf, der fasziniert die Szene beobachtete, »Setz dich auf meine Brust, damit ich von deinem Körper kosten kann!«

Thonfilas verstand, grinste lüstern und kletterte zu Uskav hinauf. Kaum dort angelangt, umarmte Roderick seinen Freund und küsste ihm den Nacken ab. Uskav wiederum konnte es nicht abwarten und begann sofort Thonfilas Schwanz zu verschlingen.

Alle drei Freunde begannen mit einander zu verschmelzen. Ihre drei Drachen, die natürlich in ihren Köpfen alles mitbekamen, hockten in ihrer Höhle und schauten sich versonnen und zufrieden an. Menschen, Uruks und Elben konnten ja so kompliziert sein, bevor sie endlich zueinander fanden. Doch wenn sie es einmal taten, war die Wirkung markerschütternd. Denn genau das, markerschütternd, war Uskavs Schrei, als er sich in Roderick entlud. Heiß, wie flüssiges Blei, schoss es in den Neovikinger hinein, breitete sich in seinem Inneren aus und verbreitete eine zuerst brennend heiße dann wohlige Wärme, die bis in die Fingerspitzen reichte. Für Roderick gab es kein halten mehr, mit intensiven Küssen, die er mit Thonfilas austauschte, der ihm seinen Kopf zugewandt hatte, entlud sich Roderick über Uskav und Thonfilas Rücken, was wiederum den Elben zur Explosion brachte. Mit einer Kraft, die Uskav bei einem Elben nicht für möglich gehalten hätte, packte Thonfilas den Kopf des Uruks und entlud sich tief in dessen Rachen. Uskav kam ein zweites Mal.

Es sollte dabei nicht bleiben, weder für Uskav, noch für Thonfilas oder Roderick. Am nächsten Tag wurde berichtet, dass Meldungen von seltsamen Geräuschen die Nachbarschaft um Thonfilas Drachenhöhle beunruhigt haben sollen. Nur die nachdrückliche Versicherung der Drachen Lindor, Narsul und Thonfilas, dass alles in bester, in allerbester Ordnung sei, verhinderte ein peinliche Situation. Wenn auch nicht ganz. Uskavs Vorlusttropfen mochten ein leichtes Betäubungsmittel enthalten, doch die Wirkung jedes Mittels hat irgendwann ein Ende. Thonfilas hatte Recht, die nächste Woche erschien Roderick vielen beim Gehen und Sitzen etwas behindert zu sein, was im krassen Widerspruch zu seinem überaus glücklichen und zufriedenen Gesichtsausdruck stand.

 

Dieses Ereignis lag nun schon ein paar Wochen zurück. Uskav war während Turondurs Abwesenheit zum Vorsitzenden des Rates von Daelbar ernannt, während Roderick sein Amt als Senator für Verteidigung übernommen hatte. Thonfilas ging seiner Nebenbeschäftigung als Lehrer für Elbenkunde an der Drachenreiterschule nach. Man teilte sich eine Höhle, man lebte und liebte zusammen und Roderick gewöhnte sich auch an die Dimensionen von Uskavs Gemächt. Thonfilas schien damit keine Probleme zu haben.

Dass sich die drei Freunde des Öfteren der gegenseitigen Liebe hingaben war eine Sache, die andere Bestand darin, dass man sich in eine neue Lebensroutine eingewöhnte. Schließlich trug man Verantwortung. Daelbar verließ sich auf seine Drachenreiter, das galt besonders dann, wenn man Vorsitzender des Rates war. Der Alltag hatte Uskav, Thonfilas oder Roderick fest im Griff. Berichte von beunruhigenden Dingen außerhalb der Grenzen Daelbars erforderten Rodericks unmittelbare Aufmerksamkeit und das vor Ort. Und auch Thonfilas Hauptbeschäftigung als geheimer Elbenspäher, welche nur wenigen Ratsmitgliedern bekannt war, führte ihn des Öfteren aus Daelbar heraus. Seltener als man sich dies wünschte, bot sich eine Gelegenheit zusammen zu sein. Sich wirklich der gegenseitigen Lust hingeben zu können, kam sehr selten vor. An den meisten Abenden war man froh, eng aneinander gekuschelt friedlich und erholsam in einem gemeinsamen Bett zu schlafen.

»Ich bleibe dabei, ihr Uruks seid krass!«, beharrte Roderick, dem Uskavs Messerdemonstration nicht aus dem Sinn ging, »Heißt das, du wirst noch rattiger, wenn wir dich ein wenig quä…?«

Roderick sprach nicht weiter, Uskavs breites Grinsen sprach Bände.

»Jungs!«, meinte Thonfilas, »Ihr seid fürchterlich. Ihr denkt immer nur an das Eine!«

»Ja!«, jammerte Uskav, »Es kommt selten vor, dass wir Abends alle zusammenkommen und noch seltener, dass nicht einer von uns müde oder erschöpft ist. Da entwickelt man aus purem Frust, lüsterne Gedanken!«

Thonfilas stand auf, umarmte Uskav und küsste ihn. Nachdem sich ihre Lippen wieder trennten, meinte der Elb mit einem verführerischen Schmunzeln: »Du hast Recht, aber heute sind wir alle wach, frisch und willig!«

Uskavs Augen glänzten, schauten fragend zu Roderick, wieder zu Thonfilas, erntete von beiden ein Nicken und war innerhalb weniger Sekunden entkleidet. Thonfilas entkleidete sich etwas langsamer, eleganter, eben elbenhafter. Mit seinem schlanken, gelenkigen Körper, umschmeichelte er Uskav und flüsterte Uskav ins Ohr: »Was möchtest du, das ich tue, mein allerliebster Uruk?«

»Ich möchte dich in mir. Ich möchte in deinem elbischen Wesen versinken!«

Roderick schaute fasziniert zu. Derart passiv hatte er Uskav noch nie erlebt, doch schien der Elb den Uruk voll im Griff zu haben. Mit elbischer Leichtigkeit begann sich Thonfilas mit Uskav zu vereinigen.

»Präsident Uskav!«, rief eine Stimme und stürmte ohne anzuklopfen die Drachenhöhle herein.

Es war der junge Franciscus, Drachenreiter von Guldur und Mitglied des Rates, der plötzlich gestikulierend mitten im Raum stand und zuerst gar nicht auf seine Umgebung achtete. Als er plötzlich registrierte, womit Thonfilas und Uskav beschäftigt waren, verstummte er und wurde erst blass, dann knallrot, seinen Blick vollkommen auf Uskavs Körpermitte fixiert.

»Franciscus, mein Junge, was gibt es denn?«, fragte Uskav amüsiert, während Thonfilas in einen seiner inzwischen berüchtigten Lachkrämpfe ausbrach.

»Orks! Hunderttausende von Orks und Uruks, sind auf dem Weg nach Daelbar. In zwei Tagen sind …werden sie hier sein! Der Krieg hat begonnen!«

Lars

»Wir kämpfen für die Liebe!«

Leitsatz 1 des Ordens der Neovikinger

»Hast du sowas schon mal gemacht?«, fragte Gildofal Gilfea

Gildofal, Gilfea und Suman lagen verborgen hinter einer Felswand. Gilfea und Gildofal waren vorsichtig ein Stück vorgerobbt und lugten über den Rand der Wand hinweg. Hinter der Felswand erstreckte sich eine Ebene von etwas über hundert Metern, an deren Ende sich eine der Festungen befand, die Suman im Kristall gesehen hatte.

Suman und Gilfea begaben sich wieder in Deckung.

»Nein!«, meinte Gilfea nachdenklich.

»Euch ist schon klar, dass hinterher Blut an unseren Händen klebt?«, gab der wartende Gildofal zu bedenken.

Silberfels und seine Wölfe hatten die drei Drachenreiter sicher über ihren geheimen Gebirgspass gebracht. Nach einer emotionalen Verabschiedung schlug Gilfea einen Nordkurs ein, entlang des Gebirges. Damit entfernten sie sich zwar im ersten Moment von ihrem Ziel, doch Sumans Beschreibung des Geländes, wie er es durch den Kristall gesehen hatte, versprach einen taktischen Vorteil. Die Festungen Goldors lagen westlich und südwestlich am Pass, während sich der Gebirgszug in nordsüdlicher Richtung erstreckte. Der Plan bestand darin, die westlich vom Pass liegende Festung vom Norden aus anzugreifen.

Gilfea ließ die Drachen etwa zweieinhalb Meilen nördlich der Festung landen. Soweit Sumans Informationen zutrafen, wurde nur der Bereich zwischen den beiden Festungen bewacht und von Orkherden verwüstet. Ohne Flugunterstützung legten die drei Freunde das letzte Stück des Weges zu Fuß zurück und erreichten schließlich einen Felsvorsprung, der sowohl Deckung bot als auch einen guten Beobachtungsposten darstellte. Außerdem hatten sie bis zum Einbruch der Nacht gewartet, um die Dunkelheit als weiteren Schutz und Deckung zu nutzen.

»Es sind nicht nur Orks in der Festung. Ich habe vorhin mindestens drei Soldaten gesehen.«, ergänzte Gildofal, der als Elb über die schärfsten Augen verfügte und vor Gilfea und Suman das Gelände auf Feinde überprüft hatte, »Mit Orks habe ich kein Problem. Aber könnt ihr einen Menschen töten?«

»Ja!«, meinte Suman knapp, »Es wäre nicht das erste Mal.«

»Was?«, zischte Gilfea in scharfem Flüsterton.

»Es ist vielleicht nicht der günstigste Augenblick euch das zu sagen, aber ich habe als Gildemeister schon Menschen getötet.«

»Nein, das ist wirklich nicht der beste Moment!«, Gilfea war irritiert, wenn nicht sogar verärgert, »Heißt das, ich habe mit einem Killer geschlafen?«

»Entschuldige!«, knurrte Suman, »Ich wusste ja nicht, dass das für dich einen Unterschied macht!«

»Macht es auch nicht!«, flüsterte Gilfea entschuldigend, »Es ist nur… Es ändert das Bild, das ich von dir habe. Du bist ein so lieber Kerl, dass…«

»Könntet ihr eure Diskussion auf einen späteren Zeitpunkt verschieben?«, fauchte Gildofal wütend, »Wir haben da einen Auftrag zu erledigen! Ich sage euch eins, ich kenne diese Soldaten. Ich habe in Goldor gelebt. Die hätten kein Problem jeden einzelnen von uns kalt zu machen. Ich konnte ihre Rang- und Dienstabzeichen sehen. Die Kerle gehören zu einer Elitetruppe für Auslandseinsätze. Vergesst nicht, wir sind noch über 250 Meilen von Goldor entfernt. Abgesehen von ein paar Siedlungen der Neovikinger ist dieses Gebiet Niemandsland.«

»Gut du elbischer Schlaumeier«, entgegnete Suman amüsiert, »sag mir mal lieber, was wir jetzt machen sollen. Ich möchte hier nicht zufällig als Orkfutter enden.«

Gilfea überlegte. In der Kristallhöhle bei den Wölfen klang die Aufgabe so harmlos. Ein Blitzangriff mit drei Drachen und die Probleme der Wölfe waren Geschichte. Doch was hieß das wirklich? Es hieß, dass sie töten mussten. Mit den Orks hatte Gilfea wie seine Freunde keine Probleme. Doch die Soldaten? Das waren Menschen, die Familien hatte. Sie waren jemandes Sohn. Andererseits, kämpften diese Soldaten in einem unerklärten, illegalen Krieg. Sie waren Besatzer in einem fremden Land. Es war an ihm, Gilfea, zu entscheiden was zu tun war. Er war ein Drachenreiter und hatte damit Verantwortung übernommen.

»Gut, gehen wir zurück und holen die Drachen! Wir werden es tun!«, verkündete Gilfea seine Entscheidung.

Suman ging voran, während Gildofal den dreien den Rücken frei hielt. Sie kamen schnell voran, die zwei Meilen waren bald zurückgelegt und ihre Drachen schon fast in Sichtweite.

»Keinen Muks!«, zischte eine Stimme.

Wie aus dem Nichts waren vier vermummte Gestalten aufgetaucht, wovon drei den Freunden scharfe blitzende Messer an die Kehlen hielten. Der vierte, offenbar der Anführer, musterte einen nach dem anderen.

»Du bist ein Elb!«, erklärte der vierte Angreifer, als er zu Gildofal kam. Gildofal schwieg, »Nun, wir werden dich schon noch zum Sprechen bringen.«

In Gilfeas Kopf arbeitete es. Wer waren diese Typen. Offensichtlich keine Orks, denn dann wären sie bereits tot. Aber auch keine Soldaten. Die hätten sie zwar ebenfalls aus einem Hinterhalt angegriffen, aber danach ihre Heimlichkeit aufgegeben.

»Und wer bist du?«, fragte der Anführer Suman.

Mit einer einzigen blitzartigen Bewegung entwaffnete Suman seinen Angreifer, der damit nicht gerechnet hatte und unvorsichtig wurde. Suman nahm sein Messer und brachte den Anführer in seine Gewalt.

»Und wer seid ihr?«, zischte Suman, »Wisst ihr nicht, dass es unhöflich ist, seinem Gegenüber das Gesicht nicht zu zeigen?«

Ein Angreifer lag am Boden, die anderen zuckten.

»Zurück!«, zischte Suman, »Oder dein Kollege hier ist tot.«

»Deine Freunde aber auch!«, kam es gequält vom Anführer der vier.

»Dann sollten wir alle einen klaren Kopf bewahren und nichts Unüberlegtes tun.«, schlug Suman vor, »Ihr seid keine Orks und Soldaten seid ihr auch nicht. Ich will eure Gesichter sehen!«

Mit diesem Wort zog Suman dem Anführer des Trupps die Kapuze vom Kopf.

»Ihr seid Neovikinger!«, rief Gilfea leise.

»Ja und ihr seid in unserem Land!«, antwortete der Neovikinger, »Mein Name ist Lars und ihr seid meine Gefangenen!«

Es war Nacht, der Himmel bewölkt und die Neovikinger mit einer brenzligen Situation konfrontiert, die ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte. Lars wurde von Suman gehalten. Zwei seiner Kollegen hielten Gilfea und Gildofal im Schach. Der dritte lag am Boden. Keiner der vier Neovikinger bemerkte den riesigen schwarzen Schatten, der sich erst über ihnen hielt, dann aber langsam hinter ihnen absenkte.

»Gebt auf!«, forderte Lars erneut, »Ich verspreche, euch erst dann zu töten, wenn eure Schuld bewiesen ist.«

»Vielleicht seid Ihr es, die lieber aufgeben sollten.«, entgegnete Gilfea trotz des Messers an seiner Kehle gelassen.

»Warum sollten wir das tun. Wir sind in der Überzahl, außerdem wird bald Verstärkung eintreffen.«, erwiderte Lars.

»Unsere Verstärkung ist bereits eingetroffen, nicht war Mithval?«

Mithval war hinter den Neovikingern niedergegangen. Als tiefschwarzer Drache in einer dunklen Nacht war er selbst für geübte Augen schwer zu erkennen, so dass es nicht verwunderte, dass Lars und seine Leute den Drachen bei seiner Landung nicht bemerkt hatten. Nun aber machte sich Mithval bemerkbar, er holte mit seinen Flügeln aus und sorgte so für einen unignorierbaren Luftzug. Suman, der Lars in seiner Gewalt hatte, drehte den Neovikinger zu Mithval herum.

»Das ist Mithval. Seine Lieblingsspeise sind Neovikinger!«, flüsterte Suman Lars ins Ohr.

Um sich etwas besser in Positur zu setzen, veränderte Mithval die Färbung seiner Schuppen. Aus dem matten Schwarz, wurde das glasklare, tiefe Anthrazit des Mithrils mit seinen selbst in dunkler Nacht glänzenden Schuppenrändern. Mithvals Augen glühten mit tiefrotem Drachenfeuer. Gilfea entschloss sich seinen eigenen Drachencharakter stärker zu betonen und ließ seine Augen ebenfalls glühen.

»Hu!«, entfuhr es dem Neovikinger, der Gilfea bewachte, als er dessen Augen sah, und ließ von ihm ab. Auch Lars hatte inzwischen Mithval entdeckt und als Drachen erkannt, was bei der Größe der Echse eine Weile dauerte. Er glich eher einem der Felsen als einem Lebewesen.

»Es ist gut! Sören, Anger, Morten nehmt die Waffen runter.«, verkündete Lars leise und zu Suman gewandt, der ihn immer noch in Schach hielt, »Wenn ihr Drachenreiter seid, seid ihr in unserem Land willkommen!«

Lars Partner ließen Gilfea und Gildofal los und steckten ihre Messer weg. Gildofal kniete sich nieder und half dem von Suman nieder gestreckten Neovikinger auf die Beine, während Suman seinerseits Lars frei ließ.

»Entschuldigt unseren Angriff, doch dies sind gefährliche Lande.«, flüsterte Lars, während seine Kollegen das Gelände sicherten, »Seid bitte so freundlich und folgt uns, wir müssen reden.«

 

Die drei Drachenreiter folgten Lars, der sie zurück in Richtung des Gebirges führte. Sören, Anger und Morten hingegen verschwanden in der Dunkelheit. Mithval zog es vor, zu Eargilin und Tingalen zurück zu fliegen.

Lars schien sich in diesem Gelände sehr gut auszukennen. Er umschiffte kleine Wasserlöcher, die Gilfea erst im letzten Moment bemerkte. In der Dunkelheit der Nacht war es schwer sich zu orientieren. Der Wolken verhangene Himmel ließ nur selten etwas Licht hindurch, wenn der Mond einmal ein Loch in der Wolkendecke fand.

Nach einer halben Stunde Fußmarsch erreichte der kleine Trupp eine Felswand, an der es nicht weiter zu gehen schien. Doch das täuschte. Verborgen hinter einzelnen Felsen verbarg sich ein Durchgang und dort hinter eine gut getarnte Tür. Der Trupp schlüpfte hinein, wanderte eine Felstreppe hinauf und erreichte eine gut ausgebaute Höhle mit Schlafräumen, Gemeinschaftsdusche, Küche und großem Aufenthaltsraum. In die Felswand waren Fenster mit magischem Glas eingelassen, welches von Außen betrachtet wie grauer Fels aussah.

»Willkommen in Schattenberg!«, hieß Lars die drei Drachenreiter willkommen, »Ihr befindet euch nun in einem der geheimen Beobachtungsposten der Neovikinger.«

Lars legte seinen schwarzen Tarnanzug ab. Darunter trug er typische Neovikingerkleidung, wie man sie von Roderick kannte. Hatten die drei Freunde hingegen einen typischen Neovikinger mit roten oder blonden Haaren vermutet, wurden sie von Lars enttäuscht. Lars war ein dunkler Typ, mit schwarzen lockigen Haaren.

»Ich bin Gilfea, Drachenreiter Daelbars und Seele Mithvals!«, stellte sich Gilfea vor, wobei ihm ein Verbeugungsritual der Neovikinger einfiel, von dem ihm Roderick einmal erzählt hatte, und er sich hinkniete, »Und dies sind meine Freunde Suman K’Tar, Drachenreiter Daelbars und Seele Tingalens, sowie Gildofal, Drachenreiter Daelbars und Seele Eargilins. Zu euren Diensten!«

»Erhebt euch Gilfea, Drachenreiter Daelbars und Seele Mithvals!«, sprach Lars amüsiert, »Ich bin erstaunt, wer hat euch unsere Begrüßungsbräuche gelehrt?«

»Ein guter Freund, ein Drachenreiter, wie wir.«

»Ein Neovikinger?«, fragte Lars vorsichtig, wenn nicht sogar leicht angespannt.

»Ja, Roderick, Seele von Caransil!«, antwortete Gilfea. Der Unterton in Lars’ Stimme gefiel ihm nicht.

»Roderick!«, schnaubte Lars verächtlich. Seine eben noch präsente Freundlichkeit trat deutlich in den Hintergrund und machte Abscheu Platz. »Dieser…«, Lars ließ das Wort, an das er dachte, aus, »ist euer Freund? Warum ausgerechnet er? Nun ja, ihr müsst ja wissen, mit wem ihr euch abgebt!« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, spuckte der Neovikinger vor sich auf den Boden.

»Ja, das wissen wir!«, sprang Gildofal gefolgt von Suman ihrem Freund bei, »Kommt, an einem Ort, an dem unser Freund nicht willkommen ist, sind auch wir nicht willkommen!«

Gildofal wollte gerade an Gilfea vorbei in Richtung Ausgang gehen, als ihn sein Freund mit ausgestrecktem Arm stoppte: »Warte! Roderick ist unser Bruder! Wir alle sind Drachen. Wer einen von uns beleidigt, beleidigt uns alle. Ich möchte den Grund erfahren. Warum beleidigt ihr einen Drachenreiter, der sogar zu eurem eigenen Volk gehört?«

Suman und Gildofal wurden von Gilfeas Vehemenz, mit der er Rodericks Ehre verteidigte überrascht. Noch nie hatten sie ihren Freund derart ernst erlebt. Selbst seine Stimme und Wortwahl waren anders, härter, erhabener, ehr erbietend.

»Nein!«, Lars schüttelte abwehrend seinen Kopf, »Roderick gehört nicht mehr zu uns. Durch seine Abartigkeit hat er sich selbst von seinem Volk losgesagt!«

»Was für eine Abartigkeit?«

»Soll ich es wirklich aussprechen?«, Lars kam einige Schritte auf Gilfea zu und sprach leise mit zusammengepressten Zähnen auf ihn ein. Es schien fast so, als wenn er befürchtete, jemand könnte seine Worte mithören. »Soll ich wirklich von seinem widernatürlichen Handeln sprechen? Und von der Schande, die er über uns gebracht hat? Ihr wisst es doch! Wenn ihr in Daelbar lebt, dann wisst ihr, wovon ich spreche! Er teilt sein Bett mit einem Elben! Mann zu Mann!«

Suman sah Lars krebsrot angelaufenen Hals, sowie die hervorgetretene Halsschlagader und überlegte, dass es wohl nicht der rechte Zeitpunkt war, zu erwähnen, dass Roderick sein Bett inzwischen sogar mit einem ausgewachsenen Uruk teilte. Nein, das wäre vermutlich eine ganz dumme Idee.

»Ich kann nicht begreifen, wie ihr solche… Abnormität dulden könnt!«, setzte Lars nach, »Wenn er wenigstens diskret wäre… Was hinter einer Haustür vorgeht, geht schließlich niemanden etwas an. Ihr seid Drachenreiter. Die edelsten Wesen unserer Welt sind eure Gefährten! Wie könnt ihr das gutheißen?«

»Kommt, wir gehen!«, verkündete Gilfea, »Unsere Anwesenheit ist nicht länger erwünscht!«

Diesmal setzte sich Gilfea in Bewegung, Suman und Gildofal folgten. Lars stand da und war verwirrt. Wieso verstanden sie nicht? Sie mussten verstehen. Diese drei Drachenreiter waren ein Geschenk des Himmels. Die Orks der Festung bereiteten Lars und seinen Mannen immer mehr Sorgen. Niemand aus seiner Schar wagte darüber zu sprechen, doch der Außenposten war nicht mehr lange zu halten. Die Orks drangen immer weiter nach Norden vor. Goldor streckte seine Fühler in Richtung der Länder der Neovikinger aus. Drei Drachen konnten das Blatt wenden.

»Wartet!«, stellte sich Lars den Reitern in den Weg, »Bitte wartet! Ich… wir bedürfen eurer Hilfe!«

»Nein! Denn ihr seid nicht bereit unsere Hilfe anzunehmen!«, Gilfea blieb hart und schob Lars einfach beiseite. »Dieser Drachenreiter hat Kraft!«, dachte Lars entsetzt, der in der Drachenkunde unwissend war.

»Aber… Soll ich vor euch niederknien? Soll ich euch anbetteln? Ist es das, was ihr wünscht?«, fauchte Lars, »Oder ist es doch wahr, dass sich der Edelmut der Drachenreiter in Arroganz verwandelt hat?«

Gilfea drehte sich zu Lars um: »Ich wünsche mir nichts dergleichen von euch. Um unsere Hilfe anzunehmen, müsstet ihr einem Gegner gegenübertreten, der euch in Furcht und Schrecken versetzen wird!«

»Ein Neovikinger kennt keine Furcht!«, entgegnete Lars, »Nennt mir den Gegner und ich beweise es euch!«

»Der Gegner ist die Liebe zum Leben!«, entgegnete Gilfea, wobei in seinen Augen Drachenfeuer brannte, »Ihr sagt Roderick bringt Schande über euch? Dann kennt ihr ihn nicht! Ihr sagt, einen Elb zu lieben sei widernatürlich? Ich sage, ihn nicht zu lieben, ist widernatürlich!«

In der Zwischenzeit waren still und leise Morten, Sören und Anger in den Unterschlupf gekommen. Schweigend zogen sie sich in eine Ecke des Gemeinschaftsraums zurück und legten ihre Tarnkleidung ab. Aus dem Augenwinkel konnte Suman drei sympathische Neovikinger sehen, die mit offensichtlich mulmigem Gefühl der Auseinandersetzung zwischen Lars und Gilfea lauschten.

»Roderick hätte jede Elbenmaid erwählen können, die er wollte!«, wandte Lars ein, der immer noch glaubte, Gilfea hätte ihn nicht verstanden, »Seine Sippe wäre stolz auf ihn gewesen. Doch seit Jahrhunderten teilt er das Bett mit einem Mann! Wisst ihr, was das für uns, für mich bedeutet? Ich bin ein Urururururneffe Rodericks. Durch seine Schande klebt ein Makel an seiner und meiner Sippe. Wir müssen kämpfen, um unsere Ehrhaftigkeit zu beweisen.«

»Ich kann daran nichts Schändliches finden.«, meinte Gilfea trocken.

»Nicht?«, Lars war platt.

»Nein, wieso sollte ich? Roderick und Thonfilas lieben sich, ich wüsste nicht, was daran schändlich sein soll. Was hat Liebe mit dem Geschlecht zu tun?«

»Aber, Ihr seid Krieger! Roderick ist ein Krieger! Ein Krieger muss hart sein und sich nicht, wie ein Weib, hingeben!«

Suman konnte nicht mehr und bekam einen Lachkrampf. Dieser Neovikinger war einfach urkomisch. Eigentlich war die Angelegenheit gar nicht so komisch. Auch im Volk der Neovikinger gab es bestimmt Männer und Frauen, die eher dem eigenen Geschlecht zugetan waren. Wenn dies eine derart große Schande war, dann hatten sie vermutlich kein einfaches Leben. Eine Anfrage bei seinem PDA-Implantat brachte Suman Klarheit.

Es waren nicht die Neovikinger als solches, die Probleme mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften hatten, sondern ausschließlich deren Krieger. Wenn die Informationen des PDAs zutrafen, wovon man im Allgemeinen ausgehen konnte, dann spaltete Roderick die Gesellschaft der Neovikinger. Dabei hatte alles wie in einem Märchen begonnen. Roderick, der erste Neovikinger, der ein Drachenreiter wurde. Er war ein Held. Jemand, zu dem man aufschaute und verehrte. Doch dann brach er ein Tabu, das eigentlich keins mehr wahr. Er verliebte sich in einen anderen Mann, in Thonfilas, und machte kein Hehl daraus. Man muss wissen, dass zu jener Zeit eine Politik, des »Nichts sagen, nicht fragen«, toleriert wurde. Wie Lars sagte, hätte Roderick seine Beziehung versteckt, niemand hätte ein Problem damit. So verlogen dies auch sein mochte.

Doch Roderick konnte nicht lügen. Er liebte Thonfilas, wie er ihn noch immer liebte. Er spielte das Spiel nicht mit, nannte die Dinge beim Namen und löste unwissentlich die Spaltung der Neovikinger aus. Einer der Kriegerfürsten, der, wie man später erfuhr, Roderick seinen Drachen neidete, meinte ein Exempel statuieren zu müssen. Roderick wurde vor dem Gericht der Krieger wegen widernatürlicher Handlungen verklagt und für schuldig befunden. Er verlor sämtliche militärischen Titel und wurde aus dem Bund der Krieger verbannt. Fall erledigt.

Doch womit die obersten Kriegerfürsten nicht gerechnet hatten, war die Reaktion der so genannten Nichtkrieger, die gut die Hälfte der Bevölkerung der Neovikinger ausmachten. Roderick blieb ihr Held. Nicht, weil er einen Elben liebte, sondern weil er gegen die übermächtigen Kriegerfürsten aufbegehrte. Ihren verlogenen Moralkodex in Frage stellte. In der Gesellschaft der Neovikinger herrschte seit Alter her ein Ungleichgewicht. Obwohl die Krieger und Nichtkrieger sich etwa die Waage hielten, waren es immer die Krieger, die die Geschicke des ganzen Volkes bestimmten. Rodericks Verhalten stellte diesen Machtanspruch und die damit verbundenen lieb gewonnenen Privilegien in Frage. Kein Wunder, dass die Kriegerfürsten ihn dafür hassten.

Seit Jahrhunderten war Roderick der Stachel in ihrem Fleisch, denn es kam zum Bruch zwischen Kriegern und Nichtkriegern, sogar zum berühmten Bürgerkrieg von drei Tagen, den die Krieger verloren. Roderick hatte sich auf die Seite der Nichtkrieger gestellt. Er wusste, dass bei einem Sieg der Krieger die andere Hälfte der Neovikinger leiden würde. In den dem Krieg folgenden Friedensverhandlungen beendete Roderick die Vorherrschaft der Krieger. Jeder Neovikinger besaß von nun an gleiche Rechte und gleiche Pflichten. Keine Seite sollte die andere dominieren dürfen.

Die meisten Ideen für eine Verfassung der Neovikinger entstammten der Feder Fingolfs, der auch schon bei der Verfassung Daelbars prägend gewirkt hatte. Als goldener Drache genoss er den Respekt beider Seiten. Man einigte sich, wenn auch nur widerwillig. Roderick hingegen, verließ sein Volk. Für die eine Seite war er ein Held, für die andere Seite, offiziell ein niemand, doch hinter vorgehaltener Hand, galt er den Kriegerfürsten als Verräter, der ihnen ihre Macht geraubt hatte.

»Ja, wir sind Krieger!«, mischte sich Suman ein, »Aber wo steht geschrieben, dass ein Krieger nicht lieben darf? Sei es Mann oder Frau!«

»Oder Uruk!«, fügte Gilfea in Gedanken hinzu und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Es ist…«, stammelte Lars, der bisher nie die Regeln und Dogmen der Krieger in Frage gestellt hatte. Er kannte Roderick nicht, er wusste nur, dass er es ihm verdankte, härter für seine Position arbeiten zu müssen. Alle männlichen Nachkommen in der Line von Roderick, zu der auch Lars gehörte, standen unter einem unausgesprochenen Generalverdacht.

»Widernatürlich?«, füllte Suman Lars unvollständigen Satz aus, »Wieso? Weil man keine Kinder bekommen kann? Hast du eine Frau, eine Freundin? Schläfst du nur mit ihr, um ein Kind zu bekommen?«

Lars lief rot, knallrot an, sagte aber nichts.

»In deiner Logik wäre das auch widernatürlich!«, setzte Suman unerbittlich nach, »Du liebst Sie, oder? Und sie liebt dich. Und ihr seid beieinander, um euch diese Liebe zu zeigen. Wo bitteschön, ist das widernatürlich? Liebe kann doch nicht widernatürlich sein, oder?«

»Ihr verwirrt mich!«, stammelte Lars, der in Sumans Logik krampfhaft nach einem Fehler suchte. Aber es gab keinen. Lars hatte eine Frau, die er liebte, sogar vergötterte. Bei ihr zu sein, sie zu fühlen und zu lieben, war Teil seiner Bestimmung. Natürlich wollten sie irgendwann Kinder haben, aber nicht jetzt. Nicht in diesen Zeiten, in denen die Gefahr bestand, seine Frau als Witwe zurücklassen zu können. Der Späherdienst an der Grenze war gefährlich, viele gute Männer hatten hier ihr Leben gelassen.

»Nein!«, erhob sich einer der drei Neovikinger aus Lars Schar, »Der Fremde spricht klar und deutlich.«

»Morten!«, rief der Krieger neben ihm.

»Nein Sören, lass mich aussprechen. Der Fremde hat Recht. Roderick ist ein Held. Er hat uns Frieden und Gerechtigkeit gebracht. Ich weiß, warum die Kriegerfürsten ihn hassen. Er hat sie ihrer Macht beraubt. Meine Ahnen waren alles Nichtkrieger. Ich weiß, wie uns die Krieger früher behandelt haben. Es war ungerecht und falsch. Wir lebten kaum besser als Sklaven. Roderick hat das geändert. Wofür wir ihm dankbar sein sollten. Schaut euch die Neovikinger heute an. Seit mit Roderick und dem goldenen Drachen die neue Zeit anbrach, haben wir uns besser und weiter entwickelt, als in den Jahrhunderten davor. Nur einige Kriegerfürsten wollen das nicht einsehen. Doch wollen wir wirklich zurück zu einer Zeit, in der die eine Hälfte unseres Volkes der anderen Hälfte dient?«

»Nein, niemand will das.«, stimmte Lars zu, »Ich bin unsicher, was ich denken soll.«

»Lars!«, rief plötzlich Anger, »Sieh dich um. Wir verlieren den Krieg. Die Orks stoßen immer weiter in unser Land vor. Diese drei Drachenreiter wollen uns helfen. Das einzige, um was sie dich bitten ist, statt an alte überholte Dogmen an die bedingungslose Liebe zu glauben. Ich weiß, wofür ich mich entscheiden würde!«

Das Elbenstübchen

»Gnade verweichlicht das Recht!«

Lordrichter Sebastopol Wax

»Die Stadt ist noch schlimmer, als ich sie mir vorgestellt habe.«, maulte Ivo neben mir, »Dort vorne müsste die Herberge sein, von der Golfindel sprach.«

Meine Echse in Menschengestalt hatte Recht. Tharbad war das totale Drecksloch. Ein Ort, an dem Farbe keine Chance hatte. Alles war von einem schmierigen, öligen, schwarzen Film überzogen. Menschen, Häuser, Fußwege, Laternen, Fahrzeuge, alles schien damit durchsetzt zu sein. Die Stadt als solches war ein Moloch. Wir brauchten über eine Stunde von den Stadttoren bis ins Zentrum, obwohl die Hauptverkehrsstraßen auf Stelzen gebaut waren und das Gewusel des Häusermeers überspannten. Es gab nur ein Gebäude, das höher war, der Barad Baul. Wie ein drohender schwarzer Finger überragte er die Stadt.

Innerhalb der engen Häuserschluchten herrschte ein seltsames Zwielicht. Es war nicht richtig dunkel, doch hell wurde es auch nicht. Wir hatten unsere Pferde in Golfindels Rasthof zurück gelassen und einen der raren öffentlichen Reisewagen gewählt, der uns bis zum Königsplatz brachte. Der Königsplatz war ein Verkehrsknotenpunkt Tharbads. Ich war ein Kind der Großstadt. Crossar war alles andere als klein und ruhig, doch gegen Tharbad war meine Heimatstadt ruhig wie ein Friedhof.

Vom Königsplatz versuchten wir uns nun zu unserer Unterkunft durchzuschlagen. Was für ein Glück, dass ich auf Ivo gehört und wir diese Kampfanzüge gekauft hatten. Mit jeweils einem robusten Feldrucksack auf dem Rücken bahnten wir uns den Weg durch die grauschwarze Menschenmasse.

Das »Elbenstübchen« bestand in erster Linie aus einer verräucherten Wirtsstube. Bereits am Nachmittag, war das Lokal gut besucht, angefüllt mit Menschen, Zwergen und ein paar Orks, der Wache. Bier und Schnaps floss in Strömen. Hinter dem Tresen stand ein vierschrötiger Typ, der kaum mit dem Ausschenken hinterher kam. Als er Ivoricalad und mich sah, kam er auf uns zu und trocknete seine Hände schnell an einem schmuddeligen Handtuch ab.

»Ihr müsst die angekündigten Gäste sein!«, waren wir, »Bitte folgt mir!«

Der Wirt führte uns über eine Nebentür von der Wirtsstube zu einer winzigen Rezeption. Wir trugen uns ins Gästebuch ein, der Wirt gab uns zwei Schlüssel, zeigte eine Treppe hinauf und rief uns, während er bereits wieder zur Wirtsstube zurück ging, »Zweiter Stock!« zu.

Wir erklommen die schiefen und schmalen Stufen. Im zweiten Stock gab es genau drei Zimmer, 4, 5 und 6. Ivo hatte die 5 und ich die 6. Mein Zimmer, gleiches galt auch für Ivos, war… Nun ja… klein und schäbig, allerdings zu einem gewissen Grad sauber. Licht, es war eher ein schwacher Schein, drang durch ein schmales, kleines Fenster hoch oben in einer Zimmerecke hinein, welches sich nur mit einer Stange öffnen ließ. Es gab ein Waschbecken, aber kein Klo, denn das befand sich auf halber Treppe zwischen dem 2. und 3. Stockwerk. Das »Elbenstübchen« war in seiner Art ein typisches Haus. Da Grundstückspreise exorbitant hoch waren, baute man eher hoch als breit.

Ivo kam in mein Zimmer und verschloss die Tür. In wenigen Sekunden hatte er sich ausgezogen und seine Drachenform angenommen.

»Was für ein trostloser Ort!«

»Wem sagst du das?«

»Tust du mir einen Gefallen?«, fragte Ivo und hielt seinen Echsenkopf leicht schräg, wie er es immer tat, wenn ihm etwas besonders wichtig war.

»Wenn ich kann.«

»Würdest du für eine Weile zum Drachen werden?«, hörte ich Ivo in meinem Kopf.

Ich verstand ihn. Ivo war die ganzen Tage in seiner menschlichen Form herumgelaufen. Ich spürte, dass er sich schrecklich fühlte. Natürlich erfüllte ich ihm seinen Wunsch, entledigte mich meiner Kleider und verwandelte mich in einen Drachen.

»Besser!«, freute sich Ivo, wenn auch weniger begeistert, als ich gedacht hatte.

»Was ist? Du hast doch etwas auf dem Herzen. Spuck es aus!«

»Ich bekomme einen Wachstumsschub!«, gestand Ivo. Ich war geschockt.

»Jetzt?«, rief ich in meiner akustischen Drachenstimme.

»Innerhalb der nächsten Stunden!«, erläuterte Ivo, »Ich weiß, dass das der ungünstigste Moment ist, den man sich vorstellen kann.«

Was für eine Untertreibung. Die Wachstumsschübe der Drachen waren alles andere als lustig, so hieß es jedenfalls. Entweder brüllte der Drache, die Seele, oder beide, die Umgebung zusammen. Ein Wachstumsschub in Tharbad! Mitten im Herzen von Goldor, dem Königreich in dem auf Besuche von Daelbar die Todesstrafe stand, einen Wachstumsschub zu bekommen, war, gelinde gesagt, eine Herausforderung. Da dies auch noch innerhalb der nächsten Stunden passieren sollte, blieb wenig Zeit für Vorbereitungen. Eine Flucht war ebenso ausgeschlossen… oder vielleicht auch nicht?

»Weißt du genau, wann es soweit ist?«

»Nicht ganz genau. Ich fühle, wie mein Blut langsam zu kochen beginnt. Meine Konzentration lässt nach. Wenn ich schätzen sollte, in etwa fünf Stunden.«

»Kannst du noch fliegen?«

»Ja, jedenfalls jetzt noch. Wieso?«

Mein Hirn und mein PDA-Implantat arbeiteten auf Hochtouren. Ich hatte mir in Blaufurt alle Stadtpläne und Umgebungskarten Tharbads organisiert und in mein Implantat überspielt. Ich suchte. Es musste einfach einen Ort, einen Flecken geben, an dem wir für die Nacht wenigstens, halbwegs ungestört sein konnten.

»Wir können nicht hier bleiben. Wenn auch nur einer von uns beiden zu brüllen anfängt, sind wir aufgeflogen. In gut einer Stunde bricht die Dunkelheit an. Wir versuchen aufs Dach zu kommen und fliegen fort. Ich habe in etwa zwei Meilen ein altes Werftgelände entdeckt, das nicht mehr genutzt wird. Es ist ein Trockendock. Dort fliegen wir hin. Es ist unsere einzige Chance.«

»Segato?«, mein Drache hielt den Kopf schief, »Ich liebe dich!«

Das war… anders! Ich starrte Ivo an, der mich aus großen Drachenaugen anglotzte und begriff. Ich war nicht nur seine Seele, also ein Teil von ihm, und Ivo ein Teil von mir. Ivos eigenes unabhängiges Wesen, sein Bewusstsein als Individuum, hatte sich in mich verliebt.

Vielleicht lag es daran, dass ich selbst zum Drachen werden konnte, dass ich meinen Drachen verstand, auf eine ganz eigene, drachenhafte Art verstand. Warum darüber nachdenken? Mir ging es genau so. Diesen frechen kleinen Drachen musste man einfach lieben. Ich war mir sogar sicher, dass Suman, Gilfea und Gildofal es ebenfalls tun würden. Vorausgesetzt, Ivo und ich überlebten dieses Abenteuer.

Fürs erste verdiente mein Drache und Freund eine Antwort. Ich hopste auf ihn zu und umarmte ihn. Unsere Schuppen schubberten knirschend aneinander: »Ich liebe dich auch Ivo. Ich liebe dich auch!«

In der nächsten Stunde bereiteten wir uns auf unseren Abflug vor. Wir packten unsere Rucksäcke, deren Gurte Ivo so umgemodelt hatte, dass wir sie auch als Drachen auf unseren Rücken tragen konnten. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit nahmen wir unsere menschlichen Formen an, hüllten uns nackt in lange Mäntel und schlichen die Flure und Treppen in Richtung Dach empor. Niemand kam uns entgegen. Die meisten Zimmer schienen leer zu sein. Hier und dort sah man etwas Licht unter einer Tür hindurchschimmern. Unentdeckt gelangten wir bis zur verschlossenen Tür des Dachbodens, die über eine Wendeltreppe zu erreichen war. Das Schloss stellte kein ernsthaftes Hindernis dar. Jedenfalls nicht für jemanden, der jahrelange Erfahrung als Dieb in Crossar gesammelt hatte.

Ich öffnete die Tür, wir schlüpften hinein und ich verschloss die Tür wieder. Der Dachboden war ein typischer Dachboden. Überall stand Gerümpel herum – alte Schränke, kaputte Stühle, durchgebrochene Betten. Wir durchschritten den ganzen Raum und machten wohl ein paar zu viele Geräusche. Gerade als ich eine kleine Leiter entdeckte, die zu einer Dachluke hinauf führte, hörten wir, wie zwei Leute miteinander sprachen.

»Wenn ich es ihnen doch sage, Herr Wirt! Auf ihrem Dachboden ist jemand. Dort sind Schritte zu hören!«, rief eine Stimme.

»Das kann gar nicht sein.«, hörte man die Stimme des Wirts, »Aber ich werde nachsehen!«

»Ivo, die Leiter, schnell!«

Ivo begriff, hechtete die Leite hinauf und öffnete die Dachluke. Mit einem Satz war er draußen. Ich sprang hinterher. Noch während ich mich die Leiter hinaufhangelte, konnte ich hören, wie ein Schlüssel ins Schloss der Tür gesteckt und herumgedreht wurde. Genau in dem Moment, als ich die Dachluke hinter mir schloss, flog die Tür zum Dachboden auf.

»Sehen Sie! Alles ruhig und still!«, verkündete der Wirt und wanderte, den Schritten nach zu urteilen, umher: »Hier war seid Jahren niemand mehr. Nun, ich werde ein paar Mausefallen aufstellen lassen.«

»Das war knapp!«

»Zu knapp!«

 

Endlich zahlten sich Ivoricalads Lehrstunden für mich aus. Wir verwandelten uns in Drachen, schulterten die Rucksäcke und schauten uns um. Die Stadt lag in Dunkelheit. Selbst die spärlich gesäten Straßenlaternen vermochten nicht, die unerträgliche Düsternis zu vertreiben. Der einzige hell erleuchtete Punkt war der »Barad Baul«, das größte und grausamste Verließ Goldors.

Wir sprangen in die Luft, entfalteten unsere Flügel und sausten davon. Wäre Ivoricalad ein großer Drache gewesen, ich hätte es nicht gewagt. Man weiß nie, wer des Nächstens in den Himmel schaute. Doch zwei Drachen von der Größe eines Menschen sollten unauffällig genug sein, um nicht weiter aufzufallen.

Ich hatte mir den Plan der Stadt genau eingeprägt, genau genommen mein PDA-Implantat. Durch Tharbad zog sich ein breiter träge dahin kriechender Fluss, an dem wir uns gut orientieren konnten. Wie das mit Schiffswerften so üblich ist, lag auch diese direkt am Fluss im noch schiffbaren Bereich, mit direktem Zugang zum Meer. In einem engen Bogen hoch über der Stadt steuerten wir unser Ziel an. Das Gelände lag dunkel und verlassen da. Zwei dunklen Schatten gleich landeten wir auf dem Dach eines Trockendocks, suchten und fanden ein Loch zum hineinschlüpfen und ließen uns hinab in die Tiefe der Halle fallen.

Wir hatten Glück, das Becken des Docks war trocken und ideal für das bevorstehende Ereignis geeignet.

»Sieht wirklich verlassen aus.«

»Ja!«, Ivo sah sich in der Halle um, seine Drachenaugen funkelten dunkelrot, »Lass uns da hinten hingehen, die Nische ist etwas geschützter.«

Ivo führte uns in eine Ecke des Dockbeckens in der alte Kunsthoffplanen und Stahlschrott so aufgeschichtet waren, dass sie eine Art Höhle formten. Als Drache kann man auch in fast völliger Dunkelheit noch recht gut gucken, so dass ich mich halbwegs sicher bewegen konnte.

Wir krochen in die Höhle, räumten ein wenig das umher liegende Zeug, Lappen, Taue, Stoffplanen umher, bis eine Art Nest entstand, in das sich Ivoricalad hockte. Meine Echse begann zu zittern. Im gleichen Moment spürte ich, wie meine Beine weich wurden. Mein Bewusstsein löste sich von meinem Körper. Ich sah mich aus Ivos Augen. Unsere Melodie schwoll an, wurde lauter, brach sich und wurde dissonant. Ivo schien von mir wegzudriften. Nicht physisch, sonder auf geistiger Ebene schien er von einem Strudel voller Chaos angezogen und verschlungen zu werden. Je weiter Ivo sich entfernte, desto schwächer fühlte ich mich. Blind tastete mein Verstand umher, lauschte in der Kakophonie des Chaos nach der einen Melodie, die für mich das Leben bedeutete.

Ich muss der Anker sein! Ivoricalad brauchte meine seelische Stärke, um nicht im Chaos zu versinken. Ich lauschte, ich hörte, ich ging von einem misstönenden Krach zum nächsten, bis ich die Melodie fand, die ich suchte. Ich umarmte sie, zog sie zu mir heran, machte sie wieder zu einem Teil von mir. Je mehr ich dies tat, desto ruhiger wurde das Chaos. Es war, als wenn eine sturmgepeitschte See sich langsam beruhigte, die krachenden Brecher am Fels ihre Kraft verloren und aus einem grauen, Gischtverschwommenen Vorhang langsam eine wärmende Sonne heraus brach.

Im gleichem Maße wie mein psychischer Sturm abebbte, gewann ich die Wahrnehmung über unsere reale Umgebung zurück. Ich hatte nicht nur Ivos Geist ergriffen, sondern seinen Körper. Ivo war in mich eingedrungen. Eng umklammert gaben wir uns dem Wachstumsschub hin. Ivo füllte mich körperlich aus, während ich ihn seelisch ausfüllte. Gemeinsam gaben wir uns gegenseitig die Kraft, die wir brauchten. Die Melodie hatte zwischenzeitlich alle anderen Geräusche überdeckt und schwoll mehr und mehr zu einem infernalischen Höhepunkt an. Gleiches galt auch für Ivo, der keuchend und stöhnend immer tiefer in mich hinein stieß. Je tiefer er stieß, desto mehr öffnete ich mich für ihn, desto mehr öffnete er sich aber auch für mich.

Und dann passierte etwas, was meine Hoffnung einen heimlichen Ort für Ivos Wachstumsschub gefunden zu haben, vollständig ins Gegenteil verkehrte. Unsere Melodie wurde in uns sichtbar, unsere Körper begannen im feurigsten aller Drachenrottöne aufzuglühen. Das Glühen wurde intensiver, entwickelte sich zu einem Strahlen, um sich letztendlich in einer gleißenden Explosion von purem Licht zu entladen. Vollkommen erschöpft sackten wir aufeinander zusammen.

 

»Ivo, wir müssen hier weg!«

Ich kam als erster wieder zu Besinnung, was mich überraschte, da nach allen Informationen, die ich über Wachstumsschübe von Drachen besaß, eigentlich von einem mehrstündigen Schlaf auszugehen war. Doch mein Verstand war klar und wach, mein Körper zwar müde, aber einsatzbereit. Ob es an meiner Drachenform lag oder einfach nur jeder Drache und jeder Wachstumsschub anders war, war mir egal, ich war glücklich, dass ich halbwegs fit war, da mir und meinem PDA-Implantat schlagartig klar wurde, dass wir ein massives Problem hatten.

»Was?«, fragte Ivo matt. Mein Drache hielt mich nach wir vor umklammert, sein Glied pulsierte immer noch in meinem verlängerten Rücken. Ein absolut geiles Gefühl, das ich gerne länger und intensiver ausgekostet hätte, doch hatten wir dafür keine Zeit.

»Ich glaube, wir haben eben in Leuchtschrift über Tharbad geschrieben Hier sind Drachen!«

»Mist!«, meinte Ivo und war mit einem schmatzend, feuchten Plöpp aus mir draußen, »Du hast Recht, wir müssen hier sofort weg. Kannst du fliegen?«

»Ja, ich denke schon!«

Wir krochen aus unserer Höhle heraus, entfalteten unsere Flügel und schwangen uns bis zur Hallendecke empor. Das Problem von verlassenen Werfthallen und Dockanlagen besteht in ihrer mangelnden Wartung. Hallendach und Hallenwände waren löcherig wie ein Sieb. Der optische Showeffekt unseres Tête-à-têtes dürfte weithin sichtbar gewesen sein. Mit Sicherheit wurde es beobachtet. Es war somit keine Frage, ob wir unerwünschten Besuch bekamen, sondern schlichtweg, wann. Wir mussten weg, zurück zum »Elbenstübchen«.

Wir schlüpften durch das gleiche Loch im Dach, durch das wir hineingekommen waren, wieder heraus. Genau in dem Moment flammten rund um und im Dock starke Scheinwerfer auf, die die Umgebung in helles Licht tauchten. Glücklicherweise blieb das Hallendach selbst weiterhin in Dunkelheit gehüllt. Die Scheinwerfer waren zwar an hohen Lichtmasten und Mauerwänden befestigt, leuchteten aber nur den Bodenbereich unter uns aus.

»Hier muss es gewesen sein!«, rief eine Stimme. Ein Trupp der Wache Tharbads strömte auf das Werftgelände und lief in Richtung Dockhalle. Ivo und ich sprangen in die Luft, entfalteten unsere Flügel und machten uns so schnell wie möglich aus dem Staub. Ohne uns umzuschauen, flogen wir zurück zum »Elbenstübchen«.

Wir landeten so leise es irgend ging auf dem Dach unserer Pension. Vorsichtig spähte ich durch die Dachluke, alles war dunkel. Schweigend und sehr vorsichtig, jedes unnötige Geräusch vermeidend, verwandelten wir uns in Menschen, zogen uns an und krochen durch die Dachluke der Pension auf deren Dachboden. Die Dielen knarrten als wir zur Tür schlichen. Ich lugte durch das Schlüsselloch. Die Luft war rein und ich versuchte die Tür zu öffnen. Doch im Gegensatz zum ersten Mal zeigte das Schloss erhebliche Gegenwehr. Hinter uns machte es Klick. Ivo und ich wirbelten herum. In einem alten Lehnsessel hockte der Wirt, neben ihm eine schäbige Stehlampe, deren gelbliche Lichtquelle eine fahle Helligkeit verbreitete.

»Sie an, sie an, wer schleicht denn da zu nachtschlafender Zeit auf meinem Dachboden herum?«

Väter

»Liebe geht durch den Magen«

Sprichwort der Orks

»Drachenreiter? Ich?«, flüsterte Ole Olson vor sich hin und kraulte die neben ihm sitzenden Echse.

Noch bevor Turondur zu seiner Audienz mit der Päpstin aufbrach, waren Erogal D’Santo und Ole Olson nach Tharbad aufgebrochen. Statt mit der Yacht der Gilde zu reisen und jedem in Tharbad die Ankunft eines hohen Gildevertreters zu zeigen, entschied man sich, etwas diskreter vorzugehen. Eine Passage auf einem Tankschiff mit Steinöl aus dem fernen und heißen Süden sollte es tun. Der Kontakt wurde durch Oberreeder Friedrich Amunsen hergestellt, der auch für die Loyalität des Kapitäns bürgte.

»Warum solltest du kein Drachenreiter sein?«, fragte Erogal Ole leise. Hatte der Gildemeister bisher noch Vorbehalte gegenüber dem Profischmuggler und Auftragsmörder gehegt, ließ das Band, das alle Drachen und Drachenseelen miteinander verband, diese sich in nichts auflösen.

»Ich weiß nicht? Es ist ein ungewohntes Gefühl, zum ersten Mal in meinem Leben trage ich Verantwortung für etwas, außer für mich selbst.«, Ole zuckte mit seinen Schulter, »Es fühlt sich gut an.«

»Du weißt, dass sich einiges für dich ändern wird? Hast du Familie oder Freunde?«

»Nein, keine Familie. Meine Mutter habe ich nie kennengelernt. Mein Vater wurde als Freibeuter und Schmuggler hingerichtet.«, gestand Ole, »Warum fragst du?«

»Ich möchte nicht, dass dein Herz zerbricht!«, Erogal schaute Ole ernst an, »Die meisten Drachenreiter sind aus gutem Grund Waisen oder Elben, Außenseiter ohne Bindungen. Mit dem Bund, den du mit deinem Drachen eingehst, kehrst du der sterblichen Welt den Rücken. Kannst du dir vorstellen, was es bedeutet zu sehen, wie die Liebe deines Lebens altert und schließlich dahinscheidet, während die Jahre einfach spurlos an dir vorüberziehen. Ich habe Drachenseelen gesehen, die daran fast zerbrochen wären. Dieses Schicksal möchte ich dir ersparen.«

Ole Olson dachte eine Weile nach, bevor er antwortete: »Nein, es gibt niemanden. Ich bin allein. Oder sollte ich besser sagen, ich war allein?« Ole kraulte Sulomile, der leise vor sich hin schnurrte, »Du weißt, dass ich mich zu Männern hingezogen fühle?«

»Sicher. Wir haben eine ganz schöne Akte über dich.«, gestand Erogal offen, der es unsinnig empfand, einem Drachenreiterbruder irgendetwas zu verheimlichen.

»Ach ja, die berühmten geheimen Archive der Gilde.«, Ole Olson lächelte nachsichtig, »Was hat Suman denn über mich geschrieben?«

»Du wusstest, dass er einer unserer Agenten war?«

»Nein, dass wusste ich nicht. Nicht, als er in Xengabad war.«, Ole wirkte etwas traurig, »Suman ist ein liebes Kerlchen. Wie konntet ihr ihn nur diesen Job machen lassen? Allein der Gedanke, Suman dieser widerlichen Qualle Markendorfer zum Fraß vorzuwerfen, ekelt mich an.«

Erogal seufzte und schaute schuldbewusst zu Boden: »Suman wollte es so. Aber das ist eine schlechte Ausrede, denn ich hätte es ihm untersagen müssen. Meine Schuld besteht darin, dass ich das nicht getan habe. Ich habe mich den sachlichen Argumenten meiner Meisterbrüder gebeugt. Die Informationen, die Markendorfer beim Sex preisgab, waren viel zu wertvoll, als dass man darauf verzichten könnte. Doch ich habe dabei verdrängt, dass es ein lieber, empfindsamer Mensch war, der diese Informationen beschaffen musste. Markendorfer ist ein Widerling, der auf jungenhafte Strichertypen steht, die er alles andere als zart behandelt. Was würde ein Auftrag für ihn bei dir kosten?«

»Für Markendorfer würde ich dir einen Sonderpreis machen!«, lachte Ole, der genau wusste, wie Erogals letzte Bemerkung zu verstehen war.

»Suman mag dich.«, fuhr Erogal nach einer längeren Pause angenehmen Schweigens fort, »Natürlich hat er versucht dich auszuhorchen, aber du bist eine harte Nuss und hast in seiner Anwesenheit nie über geschäftliche Dinge gesprochen. Uns war sofort klar, dass du als Quelle nicht zu gebrauchen warst. Trotzdem, Suman besuchte dich immer wieder gern. Auch ohne Auftrag.«

»Suman…«, wiederholte Ole verträumt den Namen meines Lieblings, »Er ist ein Mensch, in den ich mich verlieben könnte. Stimmt es, dass er mit eurem anderen Meisterschüler zusammen ist?«

»Mit Segato? Ja, das sind sie. Beide sind übrigens Drachenreiter wie wir.«

»Sozusagen Familie?«

»Sozusagen!«

Beide Drachenreiter hockten schweigend nebeneinander und betrachteten ihre Drachen, die Zwillinge Sulomile und Sulogorn. Die Echsen glichen sich wie ein Ei dem anderen. Selbst Ole und Erogal hatten Schwierigkeiten, die beiden auseinander zu halten. Bereits in den wenigen Stunden ihres Lebens waren die Drachen schon deutlich sichtbar gewachsen.

»Werde ich auch jemanden finden wie Segato?«, sprach Ole seine Gedanken laut aus, »Ich möchte nicht, wie mein Vater, irgendwann allein an einem Galgen hängen.«

Ole erinnerte sich an die Hinrichtung seines Vaters. Das Gericht hatte ihn gezwungen zuzusehen, wie sie seinen Vater aufhängten. Der Alte, wie Ole von ihm immer sprach, hatte einiges auf dem Kerbholz, doch die Taten, die man ihm zur Last legte und auf die sich das Urteil stütze, waren erfunden worden. Ole Olson Seniors letzter Deal brach ihm das Genick. Um seinen eigenen Hals zu retten, verriet Olsons Geschäftspartner die Transaktion. Eine durch und durch korrupte Polizei und ebenso korrupte Justiz stellten Olson senior eine Falle. Natürlich ging es um Schmuggel, aber um nichts, das den Tod nach sich gezogen hätte. Das änderten ein paar untergeschobene Beweisstücke, Traumkristalle der Barden von Sansusinal, auf deren schlichte Erwähnung bereits lebenslängliche Kerkerhaft stand.

Ole Olson junior stand auf einem Balkon, gerade mal 16 Jahre alt. Zwei Wachen des Kerkers hielten ihn fest und zwangen ihn seinen Kopf auf den Hof mit dem Galgen zu richten. Die Menschenmenge jubelte, als Olson senior auf die Plattform geführt wurde. Das Urteil wurde verlesen: »Tod durch Strangulation!« Nicht einmal die Gnade eines schnellen Todes wollte man Olson gönnen. Er sollte als Niederster der Niederen hingerichtet werden. Man stellte ihn auf einen kleinen Schemel, legte ihm die Schlinge um den Hals und zog sie fest. Trommeln ertönten, bis der Lordrichter seine Hand senkte. Der Scharfrichter trat gegen den Schemel.

Ole Olson sah den demütigenden Todeskampf seines Vaters und schwor sich Rache. Noch am selben Tag trat er der Bruderschaft der Meuchelmörder bei. Die Ausbildung war hart, zuweilen lebensgefährlich. Mit 20 war Ole Olson ein lizenzierter Assasin. Er reaktivierte die Kontakte seines Vaters, nahm dessen Geschäfte wieder auf und wurde zu einem geschätzten und verlässlichen Transporteur heikler Güter. Das Schmuggelgeschäft war nicht nur eine gute Tarnung, es war auch einträglich. Denn Olsons eigentliche Berufung bestand in der diskreten und prompten Beseitigung unerwünschter Personen. Wie das Leben so spielt galt Ole Olsons erster Auftrag dem Verräter seines Vaters.

»Soweit werden wir es schon nicht kommen lassen!«, Erogal lachte zwar, doch schwang ein ernster Ton in seiner Stimme mit, »Aber, was ist mit deinem Beruf, jetzt, wo du ein Drachenreiter bist?«

Ole runzelte die Stirn. Erogal hatte da einen interessanten Punkt vorgebracht: »Welchen meiner beiden Berufe meinst du? Was den Gütertransport angeht, werde ich meine Crew auszahlen. Wenn sie nicht alles auf einmal verprassen, können die damit sorgenfrei bis an ihr natürliches Ende leben können.«

Olson war sehr wohlhabend. Amüsiert musste er feststellen, dass ihm sein ganzes Vermögen nichts mehr bedeutete. Erogal hatte ihm von Daelbar erzählt, einer Gesellschaft in der niemand hungern oder Not leiden musste.

»Ich weiß allerdings nicht, ob mich die Bruderschaft einfach gehen lässt. Es gibt kein pensionierter Assassine. Wer weiß, vielleicht wurde schon ein Preis auf meinem Kopf ausgelobt? Sulomile, was meinst du?«

»Wie gut bist du in deinem Beruf?«

Olson musste grinsen: »Tödlich gut!« Nach einer kurzen Pause fragte Olson vorsichtig: »Schämst du dich, für das, was ich mache?«

»Nein! Ich kenne deine Gedanken und Erinnerungen. Ich kannte sie vor unserer Vereinigung. Es hat mich nicht abgehalten, dich zu erwählen. Du behandelst deine Ziele mit Respekt und lässt sie nicht leiden. Was man von denen nicht sagen kann. Du bist ein Raubfisch unter Raubfischen. Was soll ich sagen? Ich bin, nein, wir beide sind ein Drache. Wir Drachen sind Raubtiere!«

»Drachen sind schon ungewöhnliche Wesen.«, schmunzelte Erogal, »Immer wieder für eine Überraschung gut. Sulomile hat offenbar keine Probleme mit deinem Beruf. Und wenn mich nicht alles täuscht, werden wir deine Fähigkeiten in Tharbad bitter nötig haben.«

Tharbad – Ole Olson hasste diese Stadt. Sie war dreckig, korrupt und tödlich. Einen Mörder konnte man sich bereits für zwei Silberlinge dingen. Die Wache der Stadt schaute zu, wenn sie nicht selbst für Bezahlung mordete oder ihre Opfer im Barad Baul auf Nimmerwiedersehen verschwinden ließ. Anderseits konnte man in keiner Stadt leichter untertauchen, als in Tharbad. In Tharbad herrschte nicht das Gesetz des Königs, sondern das des Stärkeren. Was entweder Muskeln oder Golddukaten sein konnten. Nicht umsonst, war Tharbad Ole Olsons Hauptumschlagplatz für delikate Güter. Im Freihafen der Stadt gab es keine Regeln.

»Wir müssen unsere zwei Echsen durch den Zoll bringen. Mit etwas Überredungskunst sollte es allerdings möglich sein, die Aufmerksamkeit der unterbezahlten Staatsdiener auf andere interessante Waren, als zwei überdimensionierte Überseekisten zu lenken.«

»Überseekisten?«, meldete sich Sulogorn, »Sind wir etwa Stückgut?«

»Genau das! Crossanische Salzskulpturen, das Werk Drachenzwillinge, um es genau zu nehmen. Kein tharbatasischer Zollbeamter interessiert sich für Crossanische Kunst.«

Erogal musste lachen. Er kannte Crossanische Kunst und wusste wie langweilig und uninspiriert sie war.

 

Zwei Tage später erreichte der Tanker den Ölhafen Tharbads. Unter allergrößtem Protest hatten Erogal und Ole ihre Echsen mit einer weißen Salzkruste überzogen und vorsichtig in Überseekisten verstaut. Doch Olson Trick funktionierte wirklich. Ein Repräsentant von Olsons legaler Transportfirma begrüßte Erogal und Olson am Pier und kümmerte sich um den Transport der »Crossanischen Kunst«. An der Grenze des Freihafens ließ der Diensthabende Zöllner die Kisten öffnen, sah zwei Salzskulpturen, schüttelte den Kopf und unterschrieb die Einfuhrpapiere, an die dezent ein kleiner Umschlag geheftet war, welcher bei der Rückgabe der Papiere dann fehlte. Der Schlagbaum öffnete sich, Erogal, Ole und die Drachen waren in Tharbad.

Ole wählte ein wenig genutztes Lagerhaus als Unterschlupf aus. Im Gegensatz zu einem normalen Lagerschuppen der Lager- und Speicherstadt Tharbads, verfügte es über eine kleine Wohnung, lag relativ dicht am Zentrum und doch gleichzeitig in einem Stadtgebiet, wo sich niemand um die Angelegenheiten seines Nachbarn kümmerte und man relativ ungestört war.

Als erstes wurden Sulogorn und Sulomile aus ihren Kisten befreit und von der inzwischen juckenden Salzkruste befreit. Froh endlich wieder ihre Flügel ausbreiten zu können, flatterten die beiden Echsen munter in der Lagerhalle umher. Groß genug war sie. Zwei verträumt dreinschauende Augenpaare schauten ihnen bei ihren Flugübungen zu: »Ich liebe diese Echsen!«

Am nächstem Tag tauchte Ole Olson in das Gewühl der Stadt ein. Es galt Informationen zu sammeln, ohne dabei Aufmerksamkeit zu erregen. Erogal und Ole hatten sich darauf verständigt, dass die beste Vorgehensweise darin bestand, mich ausfindig zu machen, sollte ich bereits in der Stadt sein. Man wollte mich finden, bevor es jemand anderes tat. Ole entschied, dass er so vorgehen würde als wenn ich eines seiner Ziele wäre. Auch die wären untergetaucht.

Die besten Informationsquellen der Stadt waren ihre Kneipen, Clubs und Nachtbars. Und Ole Olson wusste bereits ganz genau, wen er fragen wollte. Ein Orkhauptmann der Stadt, korrupt bis in die Knochen, frönte seiner Vorliebe für »exklusive Nahrungsmittel«, wie er sie nannte. Dabei handelte es sich um nichts geringeres, als Menschenfleisch. Ein moralischer Sumpf, wie Tharbad, konnte auch derartige Wünsche befriedigen, soweit man dafür bezahlte oder andere Gegenleistungen erhielt. Und so fand sich schnell ein illegaler Club, der sich mit dieser Gegenleistung seine zweifelhafte Existenz erkaufte.

Im konkreten Fall handelte es sich um einen Sexclub, der mit seltenen Schönheiten aus fernen Ländern aufwartete. Dass diese zumeist gegen ihren Willen Liebesdienste erbringen mussten, interessierte in Tharbad niemanden. Da der Club überwiegend von solventen Herren der gehobenen Gesellschaft besucht wurde, die gelegentlich einer Stärkung bedurften, verfügte der Laden auch über eine vorzügliche Küche, die dem Orkhauptmann seine speziellen Speisenwünsche ebenfalls erfüllen konnte. Um ihrem speziellem Gast wirklich immer frische Speisen kredenzen zu können, unterhielt der Koch Kontakte zum hiesigen Scharfrichter. So konnte es durchaus passieren, dass ein morgens Hingerichteter abends bereits im Magen eines Orkhauptmanns der Stadt landete.

Es gehörte zu Ole Olsons Job über derartige spezielle Vorlieben von Schlüsselfiguren der Stadt informiert zu sein. Selbst in Tharbad stand der Verzehr von Menschenfleisch unter schwerster Strafe. Ein Ork konnte damit rechnen selbst Teil der Nahrungskette zu werden, sollte sein Handeln ruchbar werden. Der Orkhauptmann war daher eine ideale Informationsquelle.

»Schmeckts, Krossav?«, Ole Olsons hatte sich unbemerkt in den Club geschlichen und stand mit gezücktem Messer hinter dem Orkhauptmann.

Krossav, der Orkhauptmann der Wache, ließ sich durch dem Stahl der Klinge an seinem Hals nicht weiter stören und fraß weiter: »Zu zäh, warum müssen Triebtäter immer solche dürren Kerle sein. Alles nur Haut und Knochen. Letzte Woche hatte ich einen Mörder, ein Schlachter, stattlicher Bursche. Ich sage nur, delikat! Aber du bist sicher nicht gekommen, um dich mit mir über das Essen zu unterhalten, oder?«

»Nein!«, Ole musste gegen aufkeimende Übelkeit ankämpfen. Liebend gern, hätte er Krossav an Sulomile und Sulogorn verfüttert.

»Was willst du? Zollerklärungen? Passierscheine?«

»Informationen! Ich suche jemanden«, entgegnete Ole.

»Ah, du hast also einen Auftrag. Beschreib mir dein Ziel.«

Ole Olson beschrieb mich so weit er mich in Erinnerung hatte, was ziemlich gut war. Offenbar hatte ich einen deutlichen Eindruck hinterlassen. Krossav hörte zu, kaute dabei weiter auf seinem zähen Triebtäter rum und grunzte.

»Wenn du etwas hörst, gib mir Bescheid, ja?«, Oles Frage klang nach einem Befehl, » Wäre doch schade, selbst in einem Suppentopf zu landen. Orkstew soll bei Schwarzelben sehr beliebt sein.«

»Jetzt hast du’s geschafft. Mir ist der Appetit vergangen!«, Krossav feuerte sein Besteck auf den Teller, doch Ole Olson war bereits verschwunden.

Wie jedes mal nach einem Besuch bei Krossav, hatte Ole das Gefühl dringend ausgiebig duschen zu müssen.

Neben Krossav standen noch andere Kontaktpersonen auf Oles Informantenliste. Der Hauptmann würde alle Informationen liefern, die über die offiziellen Kanäle der Wache herein kamen. Neben den offiziellen, gab es aber auch inoffizielle. Die Myriaden zum Beispiel, war ein Bande die sich auf Entführung und Lösegelderpressung spezialisiert hatte. Schon so mancher wohlhabenden Familie war der unerlaubte Ausflug ihres männlichen Nachwuchses nach Tharbad teuer zu stehen gekommen, wenn selbiger Filius kurzerhand von den Myriaden einkassiert wurde.

Das einzige, was die Myriaden fürchteten, war die Bruderschaft der Meuchelmörder. Jemand, der von Oles Brüdern gesucht wurde, war für die Gang unantastbar. Sie lieferten sogar nützliche Informationen, um ja nicht den Zorn der Bruderschaft auf sich zu ziehen.

Während Ole Olson seine Quellen anzapfte, versuchte Erogal mit Hilfe seines Meisterbuchs Kontakt zum Gildemeister von Tharbad zu erhalten. Perseus Z’Ul war nicht nur ein alter Freund und Vertrauter Erogals, er stand auch mit den anderen Gildemeistern im Clinch. In Tharbad Dienst tun zu müssen, kam einer Strafversetzung gleich. Erogals Eintreten für Perseus hatte ihn fast selbst in Bedrängnis gebracht. Es war Perseus, der bei Erogal Zweifel am Zustand der Gilde gesät und ein Nachdenken ausgelöst hatte.

»Erogal?«, erschien Perseus schwungvolle Schrift in Erogals Meisterbuch nachdem der Kontakt hergestellt war, »Was kann ich für dich tun?«

»Was würdest du sagen, wenn ich mich über eine Omegadirektive hinwegsetzen würde?«

»Ich würde sagen, dass du endlich erwachsen geworden bist! Gegen welche Direktive gedenkst du zu verstoßen?«

»Es ist Direktive 2. Einer meiner Schüler ist direkt auf eine Beschwörungsglyphe gestoßen.«

»Interessant! Wo bist du?«

»In Tharbad. Ich glaube, dass er herkommt. Wirst du die Direktive befolgen?«

»Wenn du die Antwort nicht kennen würdest, hättest du mich nicht kontaktiert. Ich werde dir helfen, Segato zu finden.«

»Segato? Woher kennst du seinen Namen?«

»Vor zwei Tagen wurden alle Meister informiert, dass die Anweisungen der 2. Omegadirektive durch Segato G’Narn und Erogal D’Santo verletzt wurden. Die Gilde hat einen Preis auf deinen Kopf ausgesetzt, mein alter Freund.«

Drachenfeuer

»Strafe läutert die Seele«

Lordrichter Sebastopol Wax

Lars zeigte sich verwirrt. Nicht nur die drei Drachenreiter stellten seine Überzeugungen in Frage, seine drei Mitkämpfer taten dies ebenfalls.

»Euch stört es nicht, wenn Männer das Bett miteinander teilen?«, fragte er verwundert.

Anger, der die Sprachführerschaft übernommen hatte, antwortet: »Nein, warum sollte es? Darf ich dich fragen, warum es dich stört?«

»Weil es so in unserem Verhaltenskodex steht. Ein Mann hat nicht dem Manne beizuwohnen. Die Kriegerfürsten sagen, dass es die Moral untergräbt.«

»Hältst du alles, was im Verhaltenskodex steht für richtig? Glaubst du, dass zwei Männer, die sich lieben, die Truppenmoral untergraben?«

Lars setzte sich hin. Er hatte das Gefühl, dass er gar nichts mehr wusste. Anger hatte Recht, wenn er ihn auf den Verhaltenskodex hinwies, das Handbuch des Kriegers der Neovikinger. Lars musste schlucken, wenn er daran dachte, wie oft er gegen die Kodes verstoßen hatte. Es war eine Notwendigkeit, wollte man überleben. Der Kodex war jenseits jeglicher Praxistauglichkeit. Hätte er ihn immer befolgt, seine Truppe wäre inzwischen Orkfutter.

»Der Kodex ist Mist, das wissen wir alle.«, gestand Lars, »Ein Haufen nutzloser Vorschriften und Verhaltensregeln, die seit hundert Jahren eher lebensgefährlich als nützlich sind. Aber meinst du nicht, dass Männerliebe… Wie kann ein Mann gegen einen anderen Mann kämpfen, wenn er Männer liebt?«

»Kämpfe ich schlecht?«, meldete sich nun Morten zu Wort. Gilfea konnte sehen, dass sich der Neovikinger kaum beherrschen konnte, so wütend war er.

»Nein! Natürlich nicht!«, rief Lars, der gar nicht begriff, wohl auch nicht begreifen konnte, warum Morten diese Frage stellte, »Ihr drei seid die tapfersten, ausdauernden und mutigsten Kampfesbrüder, die ich je anführen durfte. Was hat das mit dem Thema zu tun?«

»Alles!«, entgegnete Sören und griff nach Mortens Hand, »Morten und ich sind seit Jahren zusammen. Wir lieben uns und teilen das Bett miteinander. Warum sollten wir weniger mutig sein, als Anger? Anger kämpft für seine Verlobte, dass sie in Frieden und ohne Angst leben kann. Morten und ich kämpfen für die gleichen Ziele. Wir wollen miteinander glücklich werden, doch das können wir nur, wenn wir nicht im Magen eines Orks landen.«

Lars war sprachlos. Bisher hatte er sich nie mit dem Thema beschäftigen müssen. Da war Roderick, ein Vorfahre seiner Familie, der einen Elben liebte. Rodericks Makel trug die Schuld daran, dass Lars härter als andere kämpfen, einfach besser sein musste, um als Krieger anerkannt zu werden. Doch vielleicht war Roderick gar nicht Schuld. Vielleicht waren es die verfetteten, arroganten Kriegerfürsten mit ihren schwachsinnigen Regeln und Vorschriften.

»Ich muss darüber nachdenken.«, verkündigte Lars nach einer Weile matt, »Ich muss über vieles nachdenken. Sören, Morten ich vermute, ich sollte mich geehrt fühlen, dass ihr mir euer Geheimnis anvertraut habt. Nach dem Kodex müsste ich euch eures Dienstes entbinden. Aber das kann ich nicht. Ich stehe zu dem, was ich gesagt habe. Ihr seid, alle drei, der beste Trupp, den ich je anführen durfte. Ich würde jedem einzelnen von euch, mein Leben anvertrauen. Es wäre falsch, grundverkehrt, euch auszuschließen. Wahrlich, ich muss eine Weile nachdenken. Doch jetzt sollten wir speisen. Ehrenwerte Herren der Drachen, verzeiht, wenn ich unüberlegt gesprochen habe. Darf ich euch einladen, den Abendtisch mit uns zu teilen?«

Gilfea übernahm erneut die Sprachführerschaft: »Wie fühlen uns geehrt und nehmen dankbar an.«

 

In Windeseile wurden einfache, aber gute Speisen aufgetischt. Würziges Brot, Käse, getrocknetes und geräuchertes Fleisch. Gilfea, Gildofal und Suman steuerten ihrerseits ein paar daelbarische Speisen hinzu. Lars ließ sich sogar dazu hinreißen, zwei Flaschen Wein zu öffnen, obwohl dies nach dem Kodex strengstens verboten war.

Der Wein zeigte erstaunliche Wirkung, er lockerte nicht nur Lars Zunge sondern auch dessen Denkblockaden. Es war nicht so, dass Lars anfing zu lallen oder ernsthaft betrunken zu werden, viel mehr fielen ein paar Hemmungen, Dinge zu fragen, die ihm seit langem auf dem Herzen lagen.

Nach den zweiten Bechern konnten sich die drei Drachenreiter gar nicht mehr vor Fragen zu Roderick retten. Nicht nur Lars, auch Sören, Morten und Anger wollten alles über Roderick wissen. Bei aller Gegenpropaganda der Kriegerfürsten war Roderick ein Volksheld, sogar bei den Kriegern.

»Roderick und dieser Elb, Thonfilas, sind auch noch mit einem Uruk zusammen?«, rief Sören entsetzt, nachdem Suman ein wenig von Daelbar erzählt hatte.

»Nicht mit irgendeinem Uruk, Uskav ist… ähm, speziell. Uskav ist Uskav. Wir wussten es nicht, aber Uruks sind versklavte Wesen. Eine mächtige Fessel schwarzer Magie zwingt sie zu hassen, zu morden und zu kämpfen. Uskav hat seine Ketten zerrissen und sich seiner Versklavung entledigt. Uskav ist einer meiner besten Freunde, ich verdanke ihm mein Leben!«

Gildofals Fürsprache beeindruckte die Neovikinger. Sören und Morten klebten regelrecht an den Lippen der Drachenreiter, dass sie dabei ihre Zurückhaltung aufgaben und dichter aneinander rückten, wurde registriert aber nicht kommentiert.

Der Abend wurde lang, aber nicht zu lang. Lars ging mit einem Kopf voller neuer Gedanken ins Bett, der Rest glücklich und zufrieden. Ein Hauch von Veränderung hing in der Luft.

 

Der nächste Morgen brach mit einer Alarmmeldung an. Die Neovikinger hatten in der Nähe der Orkfestung ein Netz mit Sensoren aufgebaut, die alle ungewöhnlichen Bewegungen der Orks registrierten und gegebenenfalls einen Alarm auslösten.

»Ein Orktrupp, gut 500 Mann sind auf dem Weg hier her.«, rief Morten, der für das Sensorennetzwerk verantwortlich war.

»Wir werden angegriffen!«, stellte Lars nüchtern fest, »Das heißt Kampf!«

»Wir müssen zu unseren Drachen!«, meinte Gilfea, »Noch ist Zeit für einen Überraschungsangriff.«

Die Entscheidung war gefallen. Die Neovikinger führten die drei Drachenreiter zu ihren Drachen, was länger brauchte, als gut war. Die Orks hatten Späher entsandt, die entweder unschädlich gemacht oder umgangen werden mussten. Es war helllichter Tag, als Lars, Sören, Anger und Morten die drei Drachen erblickten.

»Wow!«, brachte Morten es auf den Punkt. Die Drachen grinsten breit.

»Bereit mein Freund?«, fragte Gilfea Mithval.

Der riesige Drache nahm seine Seele auf und erhob sich zur vollen Größe: »So bereit wie man nur sein kann. Lasst uns Orks grillen!«

Gildofal und Suman folgten auf Eargilin und Tingalen. Es war ungefähr zehn Uhr, die Sonne stand hoch über dem Gebirge. Die Drachen schraubten sich in höchste Höhen, flogen das Gebirge entlang und gelangten so hinter die feindliche Linie, die einen Angriff aus der Luft, geschweige denn von Drachen nicht erwarteten. Mit der Sonne im Rücken stießen die Drachen hinab. Die ersten fünfzig Orks fielen Mithvals Feuer zum Opfer. Tingalen und Eargilin, die noch nicht oder nur, wie Eargilin, über noch wenig eigenes Drachenfeuer verfügten, nutzten in erster Linie ihre Klauen, die nicht weniger tödlich waren, als Mithvals Feuer.

Orks bleiben Orks, auch im Moment einer absehbaren Niederlage. Keiner gab auf. Als die überlebenden Orks zu versprengt waren, um sie vom Drachen aus zu jagen, sprangen Suman, Gildofal und Gilfea von ihren Echsen hinab und zogen das Schwert. Der Kampf war blutig und unerbittlich. Vier Neovikinger, drei Drachenreiter und drei Drachen gegen gut 75 Orks. Der Sandboden des Strandes entlang des Gebirges färbte sich schwarz vom Orkblut. Es stank unerträglich. Tod senkte sich über das Land. Kein Ork überlebte das Gemetzel.

»Ich glaube, ich werde mich niemals daran gewöhnen können, Lebewesen, auch Orks, zu töten.«, meinte Gildofal müde, während er sich auf sein Schwert stützte.

»Niemand sollte sich jemals daran gewöhnen. Es ist jedes Mal…«, Suman sprach nicht weiter, sondern schüttelte nur traurig seinen Kopf. Gilfea war in der Zwischenzeit zu Lars gerannt, der von einem Orkdolch verletzt worden war. Die Verwundung war noch nicht lebensbedrohlich. Doch die Wunde blutete stark, typisch für vergiftete Orkmesser.

»Ich könnte das heilen.«, meinte Gilfea, »Nein, das war unfair. Ich werde das heilen, wenn du das willst. Du solltest allerdings wissen, dass auch wir, Gildofal, Suman und ich, Liebende sind.«

Lars schaute etwas gequält drein, biss sich sogar auf die Lippen »Verdammt!«, schrie er, »Wenn ihr alle so kämpfen könnt, ist mir das egal. Vielleicht sollte ich in Erwägung ziehen, mich umzuorientieren.«

»Nichts übertreiben, mein Freund!«, lachte Gilfea und begann seine Hände aufzulegen. Gilfea konzentrierte sich, seine Hände begannen golden zu glühen, sein Geist begann zu wandern. Da war schwarze Magie im Spiel. Die Klinge war nicht vergiftet, sie war verflucht. Jeder, der damit verletzt wurde, lief Gefahr zu verbluten. Nun, es mochte schwarze Magie sein, doch war diese Gilfea kaum gewachsen. Mit einem Schlag seines Geistes zerbrach der Fluch. Gilfea konzentrierte sich weiter, neue Gefäße bildeten sich, die Haut regenerierte und schloss sich.

»Gilfea«, flüsterte Lars geknickt, »Ich schäme mich so. Ich habe über Rodericks Liebe geurteilt, ohne zu wissen, ohne zu verstehen, wovon ich sprach. Ich weiß nicht, was du mit mir getan hast, aber ich fühle etwas. Als du mich berührt hast, war da eine Verbindung, ich kann das nicht beschreiben. Aber ich verstand, wieso ihr euch liebt. Es ist wunderbar. Ich möchte dir etwas versprechen. Ich werde allen Neovikingern die Wahrheit sagen. Kein Kodex mehr! Keinem Kriegerfürsten darf jemals wieder erlaubt sein, zu entscheiden, wen man liebt.«

Gilfea schmunzelte: »Nicht so schnell. Du riskierst viel zu viel. Eure Kriegerfürsten werden nicht zulassen, dass man dir zuhört. Sie werden versuchen, dich zu diskreditieren. Deine Männer brauchen dich, opfere dich nicht für einen weitaus schwierigeren Kampf als ein Orkgemetzel. Doch wenn du es trotzdem tun willst, wir alle stehen hinter dir. Solltest du Probleme bekommen, Daelbar steht jedem offen.«

»Danke, doch dies hier ist meine Heimat. Ich muss etwas verändern. Andernfalls, dass sehe ich jetzt ganz klar, werden wir untergehen.«

Morten, Sören und Anger waren zu Lars hinzugetreten: »Lars, egal was du tust, wir stehen ebenfalls hinter dir.«

»Gut!«, rief Gilfea und grinste Mithval an, »Da ist immer noch eine Orkfestung, die beseitigt werden will!«

 

Gilfea schwang sich in Mithvals Sattel, der sich sofort in die Luft erhob. Gildofal und Suman folgten, die vier Neovikinger nahmen dem bodennahen Weg. Gilfea spürte Mithvals Wut. Sein Drache kochte, war kaum zu bändigen.

»Was ist los? Hältst du meine Entscheidung die Festung anzugreifen für falsch?«

»Gilfea, nein, mein Freund, meine Seele, ich bin nicht auf dich sauer!«, rief Mithval in Gilfeas Kopf entsetzt, »Diese Orks sind furchtbar. Ich weiß, sie können nichts dafür. Sie wurden so gezüchtet. Trotzdem, sie sind durch und durch böse. In ihnen ist nichts als Hass. Keine Freude am Leben, wie in Uskav. Sie wollen nur eins: töten, töten, töten! Gilfea, deine Skrupel ehren dich! Sie sind der Grund, warum ich dich liebe und verehre. Aber bitte, hilf mir, diese ekelhaften Geschöpfe zu besiegen. Ihr Gift, der Fluch der schwarzen Magie, tötet alles Leben.«

Gilfea antwortete, in dem er Mithvals Zügel in Richtung der Festung Goldors richtete. Dort angekommen, überließ Gilfea Mithval die Kontrolle: »Tu es!«

Wenige Wesen der lebenden Lande hatten jemals einen entfesselten Drachen gesehen und kein Wesen hatte jemals einen entfesselten Mithrildrachen gesehen. Mithval brüllte, dass sich die Neovikinger die Ohren zuhalten mussten. Bereits der erste Feuerstoß ließ die Feste in sich zusammenbrechen. Orks, tausende Orks strömten hinaus und begannen zu kämpfen. Sie hatten nicht die geringste Chance. Mithvals Zorn hatte Tingalen und Eargilin angesteckt. Gegen drei zu allem entschlossenen und entfesselten Drachen war Widerstand sinnlos. Der Kampf zog sich über drei Stunden hin. Die Orks versuchten sich zu sammeln und gegen die Drachen anzukämpfen, wurden aber jedes Mal deutlich dezimiert. Es interessierte sie nicht. Ebenso entfesselt wie die Drachen, gerieten die Orks in Raserei und kämpften bis zum bitteren Ende. Nicht ein Ork gab auf, alle starben.

Wer nicht starb, war eine handvoll goldorianischer Soldaten. Obwohl sie ebenfalls versuchten die Drachen zu verletzen, wurden sie von den Echsen ignoriert. Ganz im Gegensatz zu den Neovikingern, die Auge in Auge den Kampf mit den Soldaten antraten. Es waren sechs, wovon einer von Lars und zwei von Morten erschlagen wurden. Die restlichen drei ergaben sich.

»Mein Name ist Lars, Anführer der Neovikinger, und ihr seid meine Gefangenen. Ihr habt widerrechtlich unser Land betreten, einen Stützpunkt errichtet und unser Gebiet mit dem Gift der Orks verseucht. Ihr werdet euch für eure Verbrechen vor einem Gericht der Neovikinger verantworten. Morten, Sören führt sie ab!«

 

Mit dem Angriff auf den nördlichen Posten Goldors schlugen die Drachenreiter und Neovikinger einen Weg ein, bei dem es kein Zurück gab. Eine Antwort des wesentlich stärkeren südlichen Postens würde nicht lange auf sich warten lassen. Interessanterweise kam die erste Reaktion von den Kriegerfürsten der Neovikinger, die anfänglich den Angriff der Drachenreiter auf die Goldorianer auf das schärfste verurteilten und Lars ultimativ aufforderten, die Kämpfe einzustellen. Doch hatten die Fürsten nicht mit ihrem eigenen Volk gerechnet. Als die Nachricht bekannt wurde, dass ein Teil der besetzten Landes von Feinden befreit wurde, brach öffentlicher Jubel aus. Der Druck auf die Krieger stieg, ihre zögerliche, teilweise sogar stillschweigend duldende Haltung gegenüber den inoffiziellen Besetzern endlich aufzugeben und zurückzuschlagen. Nur widerwillig entschied man, Lars ein paar Mann zur Unterstützung zu schicken. Ein Fehler. Der Zorn der Zivilbevölkerung kochte über. Lars war innerhalb weniger Stunden zum Held geworden. Ihm war mit Hilfe dreier Mann und ein paar Drachenreitern gelungen, wozu die Kriegerfürsten seit Jahren nicht in der Lage waren. Man fragte sich, wozu derart unfähige Kämpfer nützlich waren.

Plötzlich ging alles sehr schnell. Das mit Kriegern und Zivilisten gleich stark besetzte Parlament trat zu einer Sondersitzung zusammen. Mit Arroganz und penetranter Gelassenheit versuchten die Kriegerfürsten Lars Sieg klein zu reden und als Gefährdung für den Frieden darzustellen. Man wusste, wie man das Spiel im Parlament zu spielen hatte. Die Fürsten selbst stellten nur eine kleine Gruppe Abgeordneter innerhalb der Kriegerfraktion, besetzten aber alle Spitzenpositionen. Noch nie hatte jemand in der Fraktion gewagt, sich gegen die eigene Spitze zu stellen. Daher kam es regelmäßig zu einem Patt, die Zivilisten und Krieger blockierten sich gegenseitig.

Doch diesmal war alles anders. Mehr als die Hälfte der Krieger stellte sich offen gegen ihre eigenen Führer und auf die Seite der Zivilisten. Mit überwältigender Mehrheit wurden die Kriegerfürsten sämtlicher Ämter enthoben und die Verteidigung des Landes einer gemeinsamen Führung unterstellt. Der erste Befehl lautete: »Unterstützung für Lars!«

Innerhalb weniger Stunden trafen über dreißig Mann zur Verstärkung und fünf, um die Gefangenen zur Hauptstadt der Neovikinger zu führen, ein. Lars und seine Männer wurden wie Helden gefeiert. Ein Funke war übergesprungen und hatte das Volk der Neovikinger aus einem lange währenden Dämmerschlaf erweckt. Man hatte tatenlos zugesehen, wie Goldor mit seiner aggressiven Expansionspolitik Teile der Lande der Neovikinger besetzte und nichts unternommen, weil ihre militärische Führung dies für »wenig Weise« und »gefährlich« hielt.

 

Doch so vergleichsweise simpel der Angriff auf die erste Festung verlief, so kniffelig war die zweite, die südliche Festung. Sie war nicht nur doppelt so groß, in ihr waren auch Eliteverbände der Orks untergebracht. Die Zahl der menschlichen goldorianischen Soldaten war hingegen dort ebenfalls recht gering. Späher und Kundschafter gingen von etwa zwanzig Mann aus. Neben der deutlich höheren Feindeszahl war natürlich auch das Überraschungsmoment nicht mehr gegeben. Die Nachricht vom Fall der nördlichen Feste hatte sich längst bis zur südlichen Feste verbreitet. Man hatte Zeit eine Gegenstrategie zu entwickeln und die Festung zu verstärken.

Gilfea entschied, dass schnelles Handeln angesagt war. Je weniger Zeit der Feind für Vorbereitungen erhielt, so besser für die Drachen und Neovikinger. Sobald sich alle Mann gesammelt hatten, brachen Lars und Gilfea auf. Die Aufgaben waren klar verteilt. Die Drachen sollten den Luftangriff übernehmen, während Lars Truppen den Bodenkampf übernahmen. Ohne die Drachen wäre der Angriff natürlich purer Selbstmord gewesen. Fünfunddreißig Mann gegen rund zweitausend Orks stellte sicherlich keine militärische Option dar, doch der Einsatz von drei Drachen schaffte ausgeglichene Verhältnisse.

 

Die Drachen flogen los. Aus großer Höhe erkundeten die Echsen und ihre Reiter das Terrain. Die südliche Festung war direkt am Meer errichtet worden. Sie verfügte sogar über ein Bootshaus und einen kleinen Pier. Ansonsten war die Anlage klassisch aufgebaut. Dicke Mauern und Wehrtürme umspannten ein rechteckiges Gelände.

Wie es schien, war das Glück auf der Seite der Neovikinger. Offenbar war den goldorianischen Orktruppen zwar bekannt, dass sie einen Angriff erwarten mussten, dass dieser aber aus der Luft erfolgen würde, war ihnen offensichtlich unbekannt. Die Soldaten Goldors hatten ihre Orks für einen bevorstehenden Bodenangriff aufgestellt. Strategisch sehr klug, wollten sie die Neovikinger in einen Hinterhalt locken. Direkt vor der Feste wären Orks aus verborgenen Verbänden den Neovikingern in den Rücken gefallen. Ein guter Plan, solange man nicht mit Drachen rechnete.

Gilfea informierte Lars mit Hilfe Mithvals vom Plan der Goldorianer. Der Gegenplan bestand nun darin, den Goldorianern ebenfalls eine Falle zu stellen. Sie sollten die Neovikinger schlucken. Dazu mussten sie aber selbst ihre schützenden Positionen aufgeben und wurden dadurch für die Drachen zur leichten Beute.

Lars willigte sofort ein mit seinen Männern den Lockvogel zu spielen. Sie marschierten los. Die Drachen schraubten sich in die Luft und kreisten im Schutz der Sonne über den Truppen. Es kam wie geplant. Kaum hatte Lars die Feste erreicht, strömten von allen Seiten Orks mit schrecklich kreischendem Kampfgebrüll heran. Die Neovikinger zogen ihre Schwerter und machten sich bereit. Die Orks lachten. Ein jämmerlicher Haufen von fünfunddreißig Mann hatte nicht die geringste Chance gegen eine fast tausendfache Übermacht.

Doch plötzlich stießen aus heiterem Himmel drei Drachen herab. Die ersten fünfhundert Orks gingen innerhalb weniger Sekunden in Mithvals Drachenfeuer auf. Suman und Gildofal rissen mit Tingalen und Eargilin tiefe Schneisen in die Linien der Orks. Eargilins bisher schwaches Drachenfeuer wurde immer kräftiger und röstete etliche Orks. Der Schlachtplan Goldors kippte. Man war von einem schnellen erbarmungslosen Schlag gegen die Neovikinger ausgegangen und nicht von Drachenangriffen aus der Luft. Die Feste war so gut wie unbesetzt und schutzlos. Nachdem die Drachen die Orks auf wenig mehr als 150 eingedampft hatten, signalisierte Lars, dass sie mit dem Rest selbst zu Recht kommen würden. Die Drachen und ihre Reiter wandten sich der eigentlichen Feste zu.

Das heimtückische am Verrat ist, dass er immer dann zuschlägt, wenn man ihn am allerwenigsten erwartete. Gildofal, Gilfea und Suman setzten zum Sturzflug auf die Feste an, als sich in einer von Sumans Packtaschen etwas rührte. Voll auf den Kampf und den Angriff konzentriert, bemerkte er nicht, dass sich ein Wolf, der abtrünnige und verräterische Steinschlag, Suman von hinten näherte. Genau in dem Moment, als Gilfea Mithval die Festung mit Feuer einhüllen lassen wollte, schlug Steinschlag zu. Er sprang Suman in die Schulter und biss zu. Der Drachenreiter verlor sein Gleichgewicht. Tingalen versuchte Sumans Sturz abzufangen, doch das misslang. Durch den Sturzflug waren sie bereits zu tief, um geeignete Manöver fliegen zu können. Suman fiel in den Innenhof der Festung, nicht tief, so dass sein Sturz nicht lebensgefährlich war, doch tief genug, dass er sich nicht mehr rührte.

»Suman!«, rief Gilfea, während Mithval blitzschnell seinen Kopf hochriss, um sein bereits entfachtes Feuer in den Himmel zu entladen. Schließlich wollte er Suman nicht rösten. Von einer Sekunde zur nächsten wendete sich das Blatt erneut. Aus der Festung wurden Jagdlanzen auf die Drachen abgefeuert. Zum Glück handelte es sich um altmodische Exemplare ohne magische Suchköpfe, doch zwangen sie die Drachen sich zurück zu ziehen und ihren Freund und Geliebten zurück zu lassen.

Aus großer Höhe mussten Gilfea und Gildofal, Mithval, Tingalen und Eargilin mit ansehen, wie eine Hand voll goldorianischer Soldaten Suman packten und mit sich zu einem Rennboot schliffen. Die Soldaten gaben die Feste auf. Die Schlacht um die Freiheit der Neovikinger war gewonnen, doch zu welchem Preis? Suman war ein Gefangener Goldors.

Der Kampf um Daelbar

»Liebe geht durch den Magen«

Orksprichwort

»Eine Orkarmee?«, fragte Uskav nach, wobei sich seine Stirn verfinsterte. Thonfilas hatte sich still und ohne dabei aufzufallen von Uskav gelöst und blitzschnell angekleidet. Während Franciscus die von den Spähern Daelbars gelieferten Informationen erläuterte, brachte sich auch Uskav in einen gesellschaftsfähigen Zustand. Nachdem der Uruk sein immer noch erigiertes Glied in seiner Lederhose verstaut hatte, war es Franciscus auch möglich seinen Blick von Uskav loszureißen.

»Genau genommen sind es zwei Heere. Eins kommt von Süden, das zweite von Osten angerückt. Sie werden sich in der Ebene von Daelbar vermutlich vereinigen.«

Die Ebene von Daelbar lag vor den Stadtmauern der Stadt. Daelbar selbst war an und auf den Hügeln und Bergen nördlich davon errichtet worden. Südlich davon erstreckte sich eine weite Ebene, umrahmt von Bergketten. Eine Heer, egal ob Orks, Menschen oder Zwerge, die sich auf dieser Ebene sammelten, beging einen tödlichen Fehler. Es gab wenige Rückzugsmöglichkeiten. Die Schluchten, die von Osten und Süden zur Ebene führten waren nicht sonderlich breit. Auf der Ebene selbst gab es wenig Deckung und Rückzugsmöglichkeiten. Zwei Hand voll Drachen genügten, um jeden Feind in Schach zu halten und, wenn nötig, zu vertreiben. Der Angriff zweier Orkheere auf Daelbar war somit äußerst ungewöhnlich.

»Das ist seltsam.«, brachte es Roderick auf den Punkt, »Ein Orkheer, selbst dieser Größe, würden wir innerhalb kürzester Zeit aufreiben.«

»Ja.«, pflichtete Uskav bei, »Da muss mehr hinter stecken. Das muss ich mir näher ansehen.«

Narsul war zwar immer noch eine Jungdrachendame, aber für einen Ausflug mit Uskav war sie auf jeden Fall alt genug, zumal Roderick auf Caransil, Akira Yamato und Johannes, alles erfahrene Reiter, Uskav begleiteten. Man flog in Formation. Akira Yamato mit Seregsil und Johannes auf Kifilan sicherten die Flanken. Roderick übernahm die Führung, während Uskav auf Narsul in der Mitte flog.

Uskav als amtierender Oberbefehlshaber der Streitkräfte und erfahrener Stratege entschied, zuerst das von Osten heranströmende Heer anzufliegen, da dieses bei der Ankunft der Drachenreiter die Sonne vor sich haben würde. Uskav erhoffte sich daraus einen kleinen taktischen Vorteil zu ziehen. Da Narsul immer noch ein Jungdrache war und noch nicht zwischen den Welten fliegen konnte, benötigte man knapp zwei Stunden, um das Orkheer zu erreichen. Als es in Sicht kam mussten selbst die abgebrühten Drachenreiter, wie Johannes und Akira, schlucken. Das Heer war riesig. Wie eine schwarze, zähe Flüssigkeit strömten mehr als zwanzigtausend Orks in Richtung Daelbars.

»Das wird ekelhaft!«, war Uskavs einziger Kommentar. Vorsichtig steuerte er Narsul dichter an die Orks heran, doch plötzlich scheute Narsul.

»Was ist? Narsul, was hast du?«

»Diese Orks! Sie sind… widerlich!«, rief Narsul in Uskavs Kopf und klang dabei, als wenn sie von Ekel befallen war.

Normalerweise folgt ein Drachen den Fluganweisungen seiner Seele blind und ohne zu zögern. Doch Narsul konnte nicht näher an die Orks heran fliegen. So sehr sie sich selbst zwang, den Wunsch Uskavs zu erfüllen, so stark war auch der Widerwille weiter zu fliegen. Diese Orks waren widerlich. Narsul verstand es nicht. Wie alle Drachen hasste sie Orks und hätte keinen Wimpernschlag gezögert, über sie her zu fallen, doch sich diesen Orks zu nähern, war einfach unmöglich. Ja näher sie kam, desto größer stärker keimte in ihr ein Ekel auf, der sie regelrecht lähmte. Narsul musste abdrehen. Uskav fühlte, dass sein Drache Probleme hatte und überließ es Narsul, den Flugweg zu bestimmen.

»Uskav, es tut mir Leid, aber ich kann diesen Orks nicht näher kommen. Es ist… widerlich!«

»Es ist gut, meine Kleine! Es ist gut!«, tröstete Uskav Narsul und streichelte ihre Flanke, »Lass uns ein wenig zurück fliegen.«

Die kleine Flugstaffel drehte ab und flog ein gutes Stück zurück. Uskav beobachtete seine Freunde und stellte wenig überrascht fest, dass sie ebenfalls Probleme mit ihren Drachen hatten. Nachdem sie alle eine Strecke zurückgelegt hatten, für die die Orks gut zwei Stunden brauchen würden, ließ Uskav die Staffel landen.

»Was war da eben los? Was ist mit unseren Drachen?«, fragte er unmittelbar nach der Landung.

»Hast du es nicht gespürt?«, fragte Roderick verwundert.

»Was?«

»Dieser Ekel! Caransil und mir ist in der Nähe dieser Orks so übel und schlecht geworden, ich hätte mich fast übergeben.«

»Diese Orks sind widerlich! Ich komme nicht gegen sie an! Ich kann mich ihnen nicht nähern!«, erläuterte Caransil.

»Ihr habt alle das gleiche gespürt? Euch geekelt?«, fragte Uskav nach. Drachen und Drachenreiter nickten.

»Du nicht?«, fragte Akira.

»Nein, überhaupt nicht.«, erwiderte Uskav nachdenklich, »Was auch immer mit diesen Orks ist, mich scheint es nicht zu betreffen.«

Uskav überlegte. Wenn er die Situation richtig einschätzte, hatte jemand ein Mittel gefunden, das Orks für Drachenreiter und Drachen unangreifbar machte. Zwei Heere dieser neuen Art Orks marschierten auf Daelbar zu. Die Stadt war schutzlos. Kein Drache und Drachenreiter würde gegen diese Orks kämpfen können. Damit war die Stadt verloren. Die Bäcker, Tischler, Lehrer, Maurer und Händler der Stadt waren keine Krieger. Vielleicht konnten die Zauberer in der Drachenreiterschule etwas gegen einige der Orks ausrichten, aber nicht gegen zwei riesige Heere von insgesamt über 50.000 Orks.

Jemand hatte ein Mittel gefunden mit dem man Daelbar besiegen konnte. Man brauchte ein Gegenmittel. Mann? Nein, Uskav brauchte ein Gegenmittel. Nur wie sollte man dies beschaffen, wenn man nicht wusste, was es war, das die Drachen und ihre Reiter zurückweichen ließ.

»Uskav, mein Freund, was überlegst du?«, Roderick hatte sich zu Uskav gesetzt.

»Turondur hat die Verantwortung über Daelbar in meine Hände gelegt. Und momentan sieht es so aus, als wenn unsere Stadt unter meinen Händen zerstört werden wird. Die Drachen können nicht gegen diese Orks kämpfen. Die Stadt ist wehrlos. Fliehen? Die Drachen könnten fliehen, aber was ist mit all den anderen, die in Daelbar leben? Wir sind ihr Schutz. Sie geben uns Drachen ein Heim und Nahrung, während wir ihre Stadt, ihren Frieden und ihre Freiheit beschützen. Wir können nicht fliehen. Wir müssen diese Orks besiegen!«

»Wie sollen wir das tun?«, fragte Roderick, »Du hast keine Vorstellung davon, wie lähmend der Ekel vor diesen Orks ist. Wäre Caransil näher heran geflogen, wir wären ohnmächtig geworden.«

»Dann gibt es nur eine Lösung!«, Uskav hatte einen Entschluss gefasst, »Wir müssen erfahren, was an diesen Orks anders ist. Da ich der einzige bin, der sich ihnen nähern kann, werde ich gehen. Ich werde mich unter sie mischen und versuchen, etwas in Erfahrung zu bringen. Wir müssen schnell handeln. Für eine Weile muss ich wieder Uskav, die Mordmaschine werden.«

»Aber nicht so! Du siehst nicht mehr aus wie ein Ork noch riechst du so!«, mischte sich Narsul ein.

Der Drache hatte Recht. Uskav roch zwar herb und würzig, aber er stank nicht mehr nach Blut und Tod. Uskav überlegte. Es gab eigentlich nur eine Möglichkeit nach Uruk zu stinken: ein ordentliches Blutbad.

»Ihr habt Narsul gehört?«, alle nickten, Uskav riss sich sein Kettenhemd von der Brust, knöpfte sein Schwertgehänge ab und reichte beides Roderick, »Heb dies bitte für mich auf. Es ist zu elegant und sauber für einen Ork. Ich werde jetzt in die Wälder rennen und ein paar Wildschweine erlegen, zerfleischen und in ihrem Blut baden. Ich kann verstehen, wenn ihr euch den Anblick nicht antun wollt.«

»Ich bleibe!«, entgegnete Roderick fest, »Ich weiß, dass das nicht du bist!«

Uskav ging auf Roderick zu, umarmte ihn und küsste ihn tief und intensiv: »Ich liebe dich, mein Freund!«

»Beiß mich!«, antwortete Roderick und schockierte Uskav.

»Was sagst du?«, Uskav war entsetzt.

»Du weißt so gut wie ich, dass Wildschweinblut nicht überzeugend ist. Nicht diese Orks! Doch der Geruch von frischem menschlichen Blut…«, Roderick sprach nicht weiter.

»Ich weiß, was du meinst, aber das kann ich nicht tun!«, rief Uskav, wohl wissend, dass sein Freund recht hatte. Wollte er als umherstreunender Uruk durchgehen, musste er wie ein Uruk riechen.

»Doch du kannst und du wirst es tun!«, entgegnete Roderick fest entschlossen, »Beiß mir ins Bein oder in meine Schulter! Caransil wird mich sofort nach Daelbar bringen, wo mich die Heiler sofort behandeln wird. Es kann nichts passieren.«

Die anderen Drachenreiter standen sprachlos daneben. Was Roderick vorschlug, war schockierend und beängstigend. Aber der Neovikinger hatte wirklich Recht.

Uskav ging auf Caransil zu: »Was sagst du?«

»Kannst du Roderick beißen, ohne ihn zu verstümmeln oder zu töten?«

Uskav sah dem Drachen direkt in die Augen: »Ja, das kann ich. Ich liebe diesen Mann, ich würde mich eher selbst töten, als Roderick Schaden zuzufügen.«

»Dann tu gefälligst, was er sagt!«

Uskav grinste. Dies war eine typische Drachenantwort. Der Uruk ging zurück zu Roderick: »Schulter oder Bein?«

Der Neovikinger schloss seine Augen: »Schulter!«

»Ich liebe dich, Neovikinger!«, sprachs und rammte seine Fänge in Rodericks Schulter. Dieser brüllte vor Schmerzen auf. Uskav hatte tief und fest zugebissen, ohne jedoch dabei eine wichtige Ader verletzt zu haben. Trotzdem blutete es kräftig, außerdem fehlte ein Stück von Rodericks Schulter.

»Schnell, Verbandszeug!«, rief Uskav, der Roderick in seinen Armen hielt. Akira war als erstes mit Verbandsmaterial zurück und Uskav konnte wieder einmal seine detaillierten Kenntnisse über menschliche Anatomie unter Beweis stellen. Innerhalb kürzester Zeit hatte er Rodericks Blutungen gestoppt und die Wunde fachgerecht versorgt.

»Und, wie schmecke ich dir?«, fragte Roderick mit einem schmerzverzerrten Grinsen auf den Lippen.

»Ehrliche Antwort?«, antwortete Uskav mit blutverschmiertem Mund.

Roderick nickte: »Immer!«

»Delikat!«, grinste Uskav und wurde danach sofort ernst, »Schnell, setzt ihn auf Caransil und fliegt alle zurück nach Daelbar. Narsul, meine Liebe, du bleib bitte in der Nähe. Sollte ich Erfolg haben, werde ich dich brauchen.«

Uskav half noch mit Roderick auf Caransil zu setzen und in seinem Sattel festzubinden. Kaum bereit, sprang Caransil in die Luft, beschleunigte und tauchte mit einem Blitz zwischen die Welten ein. In wenigen Momenten würde Roderick in guten Händen sein.

»Meine Freunde, fliegt auch ihr zurück. Mobilisiert die Stadt. Ich weiß nicht, wie lange ich brauchen werde, um Antworten zu finden. Die Zeit könnte knapp werden. Daelbar muss vorbereitet sein!«

Die anderen Drachenreiter nickten schweigend. Sie wussten nur zu gut, dass Uskav aller Wahrscheinlichkeit nach in seinen sicheren Tod rannte. Denn die Chancen wirklich etwas zu erfahren, waren verschwindend gering. Uskav hatte viel größere Chancen, zum Appetithappen einer seltsamen neuen Orkrasse zu werden.

»Was du heute für Daelbar tust, wird niemals vergessen werden!«, sprach Johannes aus, was alle dachten.

 

Nachdem die Drachenreiter in Richtung Daelbar aufgebrochen waren, begann Uskav in die Entgegengesetzte Richtung zu rennen, den Orks entgegen. Uruks waren Wesen von erstaunlicher Kraft und Ausdauer. Es dauerte nicht lange, da konnte er das Orkheer bereits hören. Uskav schlug sich in die Büsche, abseits des Hauptwegs und wartete.

Orkheere marschieren nicht, wie die Armeen der Menschen, in strammer und geordneter Linie, sondern ungeordnet und chaotisch. Rangeleien und sogar Schlägereien unter den Orks gehörte zur Tagesordnung und wurde von den höhergestellten Uruks teilweise geduldet, teilweise mit harter Hand unterbunden.

Verborgen in seinem Versteck musste Uskav nicht lange warten, bis die ersten Orks an ihm vorbeimarschierten. Von Sekunde zu Sekunde wurden es mehr, bis ihn bald eine wahre Orkflut umströmte. Obwohl Uskav tief in sich hineinhörte und fühlte, verspürte er keinen Ekel oder Benommenheit, wie seine Drachenreiterfreunde und Drachen. Doch etwas war an diesen Orks anders. Sie rochen anders, sie sahen auch etwas anders aus und wirkten kräftiger, als normale Orks. Dieser Geruch erinnerte Uskav an etwas.

»Dann mal los!«, dachte Uskav und erhob sich aus seinem Versteck, um im Strom der Orks einzutauchen. Wie er erwartet hatte, bemerkte niemand, dass er nicht dazu gehörte. Viel mehr hielten die Orks eher etwas Abstand zu Uskav, schließlich war er ein Uruk, dessen Zorn man nicht erregen wollte.

»Gut, das hat schon mal geklappt!«

Selbst Uskav als verwandte Art mochte keine Orks. Sie waren dumm, gewalttätig und nur bedingt kontrollierbar. Doch ihr schlimmster Fehler war ihre enervierende Redseligkeit, doch gerade auf die setzte Uskav seine ganze Hoffnung. Er musste nur zuhören, früher oder später, so hoffte er, würde einer etwas Interessantes ausplappern.

»Oh, wie ich mich auf das Drachenfleisch freue!«, gackerte ein Ork.

»Träum weiter! Die Drachen sind nur für die Oberen. Wir bekommen nur den Abschaum!«

»Einen Elben? Sag mir, kann ich einen Elben fressen?«

»Du? Einen Elben? Du bekommst vielleicht einen fetten alten Zwergen zu fressen, aber bestimmt keinen Elben!«

»Auch gut!«, rief der erste Ork, voller Vorfreude, »Oh, diese widerlichen Echsenmenschen werden Augen machen, wenn sie uns sehen!«

Uskav spitzte seine Ohren. Das Gespräch schien interessant zu werden.

»Oh ja!«, pflichtete dem ersten Ork ein anderer bei, »Sie sind so jämmerlich, diese Drachen, sie können niemanden ihrer Art töten und fressen.«

»Stimmt!«, dachte Uskav, »Das machen nur Orks und Uruks.«

Uskav stutzte. Niemand ihrer Art? Was bedeutete das? Waren die Orks Drachen? Uskav wäre fast vor Schreck stehen geblieben. Dieser neue Geruch der Orks, sie rochen ganz entfernt nach Drachen. Wie konnte das möglich sein?

»Das Drachenblut!«, gleißend hell flammte die Erkenntnis in Uskavs Schädel auf. Wozu hatte Boldin Drachenblut benötigt? Um eine neue Orkarmee zu züchten, gekreuzt mit der magischen Essenz der Drachen. Kein Wunder, dass die Drachen sich ekelten. Für die Drachen waren die Orks einer Scheußlichkeit, die sie krank machten. Das Drachenblut muss, so überlegte Uskav, durch Beschwörungen und schwarze Zauberkraft in etwas Dunkles und böses verwandelt worden sein. Wie Schwarzelben für andere Elben, war die Nähe zu diesen Orkdrachenbastarden für die Drachen pures Gift. Der einzige Grund, warum Uskav immun war, schien daran zu liegen, dass er ein Uruk war und schwarze Magie durch seine Adern pulsierte.

Doch was bedeutete dies für Daelbar und seine Bewohner? Gab es eine Rettung? Uskav hatte Schwierigkeiten sich zu konzentrieren, zu bedrückend war die Erkenntnis um das Geheimnis der Orks. Uskav musste plötzlich an Thonfilas und Roderick denken, seine Freunde, die ihm das Wesen der Liebe gezeigt hatten. Er konnte sie nicht ihrem Schicksal überlassen. Er, Uskav, musste eine Lösung finden.

»Uskav!«, hörte er plötzlich eine vertraute Stimme in seinem Kopf, »Du kennst die Lösung – Drachenblut!«

Inferno

Eargilin

Dämmerung

»Vorbestimmung? Weissagungen? Ein interessantes Konzept, an das ich allerdings nicht glaube.«

»Tritt sie ein, war es Vorbestimmung, wenn nicht, nur ein dummer Irrtum.«

Aus den Erinnerungen des Propheten Mik’Ro Max

»Sie haben Suman!«, schrie Gilfea noch bevor Mithval gelandet war.

Eargilin mit Gildofal landete neben Mithval, direkt daneben kam eine traurige Tingalen zum stehen. Lars und seine Männer liefen auf die zwei Drachenreiter und drei Drachen zu.

»Was ist passiert?«, fragte Gildofal.

Aus einer von Gilfeas Satteltaschen kam Schiefergrau herausgekrabbelt, um dann zu Gilfea zu laufen. Traurig sah er den verwunderten Drachenreiter an: »Es war Steinschlag!«

»Wo kommst du denn her?«, Gilfea starrte den Wolf verdattert an, »Was hast du gesagt? Steinschlag?«

»Ich hab’ gesehen, wie er aus einer von Sumans Gepäckrollen raus gekrochen kam. Ich wollte dich noch warnen, doch da hatte Steinschlag Suman schon gebissen. Es tut mir Leid!«

Gilfea streichelte Schiefergrau durch sein dichtes Fell. Er mochte diesen Wolf, obwohl er sich als blinder Passagier eingeschmuggelt hatte.

»Es muss dir nicht Leid tun.«, Gilfea kraulte Schiefergrau hinter den Ohren, »Du kannst ja nichts dafür.«

Gilfea schaute in die Runde. Offenbar wartete jeder darauf, dass er etwas Gescheites von sich gab. Hätte sich Gilfea selbst sehen können, er hätte sofort begriffen, wieso. Ein Drachenreiter auf einem gigantischen Drachen sitzend, neben ihm, ebenfalls auf dem Drachen sitzend, ein stattlicher Wolf. So präsentierte sich Gilfea den Umstehenden. Hinzu kam, dass Gilfea von einer Aura umgeben schien, die ihn wie einen Kriegerfürst erschienen ließ. Selbst Gildofal war sprachlos. Noch nie hatte er Gilfea dermaßen erhaben erlebt.

Im Gegensatz zur allgemeinen Wahrnehmung fühlte sich Gilfea alles andere als erhaben oder gar als großen Kriegsfürsten. Ihn quälte eher das Gefühl versagt zu haben. Suman war in der Gewalt des Feindes. Nicht auszudenken, was die mit ihm anstellten.

»Tingalen, wie geht es Suman? Hast du Kontakt mit ihm?«

»Meine Seele lebt, mehr weiß ich nicht. Ich kann ihn spüren, doch sein Bewusstsein ruht. Entweder ist Suman besinnungslos oder betäubt.«, antwortete Tingalen auf Gilfeas Frage.

»Lars«, richtete Gilfea sich an den Anführer der Neovikinger, »wünscht Ihr, dass wir die Festung Goldors zerstören oder wollt ihr sie zum Besitz eures Volkes erklären?«

»Zerstör sie!«, entgegnete Lars knapp.

Ohne weitere Worte zu wechseln erhoben sich Mithval und Eargilin in die Lüfte und zerstörten gemeinsam mit ihrem Feuer die Festung, die Goldor widerrechtlich im Land der Neovikinger errichtet hatte. Tingalen hockte am Boden und schaute gedankenverloren zu. Ihre Gedanken galten einzig und allein Suman, ihrer Seele.

 

»Ah, kommt der Dreckskerl wieder zu Bewusstsein?«

Lag es an Sumans schmerzenden Schädel oder besaß der Eigentümer der Stimme wirklich ein dermaßen scheppernd, krächzendes Organ. Suman war sich nicht ganz sicher. Überhaupt war er sich vieler Dinge nicht sicher. Eine ganze Hitliste von Fragen kreisten in seinem hämmernden Gehirn umher, angefangen bei »Wo bin ich?« bis zur alles entscheidenden Frage »Was ist eigentlich passiert?«. Ein Teil der letzten Frage beantwortete sich auf recht schmerzhafte Weise, als Suman versuchte sich zu bewegen und sich die Bisswunde Steinschlags in Erinnerung brachte.

»Dieser verdammte Drecksköter!«, fluchte Suman innerlich.

Die Erinnerung an Steinschlag diente als Initalzündung. Sumans PDA-Implantat aktivierte sich und füllte einige Lücken in Sumans Erinnerung aus. Es ist schon recht praktisch, alles was die eigenen Augen jemals erblickt hatten, erneut ansehen zu können, in diesem Fall sogar den eigenen Sturz vom Drachen.

»Aua!«, dachte Suman, als er seinen Aufprall auf das Schnellboot betrachtete, »Du befindest dich also auf einem Schnellboot eines Sonderkommandos der königlichen Goldorianischen Streitkräfte.«

»Mit 85 prozentiger Wahrscheinlichkeit!«, bestätigte Sumans PDA-Implantat ungefragt.

»Hey, Drachenjüngelchen!«

Einer der Soldaten sprach Suman an, wobei er, ganz Sonderkommando, seiner Ansprache mit einem Fußtritt noch etwas Nachdruck verlieh. So ein Tritt gilt gemeinhin als wenig freundlich und zivilisiert, doch in diesem Fall bewirkte er, dass Suman auffiel, dass er bisher seine Augen fest geschlossen hielt. Vorsichtig begann er, seine Augenlider zu öffnen, dabei war diese Vorsichtsmaßnahme gar nicht notwendig. Die Umgebung war eher dunkel. Während sich der Nebel vor Sumans Augen langsam verzog, kristallisierten sich ein paar Formen heraus. Suman lag auf einer Pritsche in einem spärlich beleuchteten Raum. Der Art des Raums nach, musste er sich unter Deck des Schnellbootes befinden. Vor ihm standen zwei Soldaten, ihre Waffen im Anschlag.

»Mach keine falschen Bewegungen, Jüngelchen, oder du bist Fischfutter!«

 

»Ich habe eine Verbindung! Suman ist wach!«, rief Tingalen.

Die Erleichterung und Freude in Tingalens geistiger Stimme war kaum zu überhören. Nach der Zerstörung des Festung hatten sich die Drachenreiter von Lars und seinen Männern verabschiedet und waren in Richtung Süden aufgebrochen. Es war ein hastiger Abschied, denn es galt Suman zu retten.

»Ich danke euch!«, sprach Lars zu Gilfea und Suman, während seine ganze Truppe hinter ihm stand, »Ich nenne euch >Freunde der Neovikinger!< und bitte euch, so bald wie möglich zu uns zurück zu kehren, damit wir uns angemessen für eure Hilfe bedanken können.«

»Wir werden kommen!«, versprach Gilfea und umarmte Lars, der nicht zurück wich und die Umarmung erwiderte.

»Jetzt rettet Suman!«, Lars hielt Gilfea, »Rettet euren Freund!«

Die Reiter bestiegen ihre Drachen, welche sich sofort in die Lüfte erhoben. Mit einem Gruß der Reiter und einem Feuerstoß Mithvals, sausten die Drachen davon. Eargilin und Mithval hatten die deprimierte Tingalen in ihre Mitte genommen. Schweigend flog man nebeneinander her. Jetzt bremsten alle drei Drachen gleichzeitig ab und landeten an Ort und Stelle, wobei es sich immer noch um einen Streifen Sandstrand handelte, der sich entlang der Flugroute dahin zog.

»Was sagt er?«

»Es geht ihm soweit gut. Er ist auf einem Boot, vermutlich dem Schnellboot, das wir gesehen haben. Er ist ein Gefangener Goldors. Sie bringen ihn nach Tharbad!«

Mit geballten Fäusten und wütendem Blick stand Gilfea am Rand des Wassers und schaute auf das Meer hinaus.

»Tharbad?«, Gilfea Blick wanderte nachdenklich den Horizont entlang. Schiefergrau hatte sich neben ihm niedergelassen, während die drei Drachen und Gildofal ein paar Schritte hinter Gilfea standen.

Er war kein Elb, wie Gildofal, er war auch kein Sohn eines Zauberers, wie Segato oder ein großer Krieger, wie Lars. Gilfea war nur ein junger Mann, doch die drei Drachen und auch Gildofal sahen etwas anderes. Es begann bei den Wölfen. Doch erst richtig deutlich fiel es auf, während sie bei Lars und seinen Männern weilten. Gilfea war gewachsen. Nicht an körperlicher Größe, doch an Persönlichkeit. Gilfea schien selbstbewusster, entschlossener, nachdenklicher und weiser geworden zu sein. Das Bild, das sich Gildofal bot, unterstrich den Eindruck: Gilfea am Rande des Meeres, neben ihm ein Wolf, auf dem Gilfeas Hand ruhte.

»Gilfea, wer bist du?«, flüsterte Gildofal.

Gilfea drehte sich um, Tränen standen in seinen Augen: »Ich weiß es nicht!«

Während Gilfea zu Mithval hoch schaute, senkte der Drache seinen Kopf herab.

»Du bist Gilfea! Du bist Mithval! Aber du bist auch mehr. Etwas ruht in dir, das langsam dabei ist, zu erwachen. Erinnerst du dich an Meister Arbogast, den Hüter der Zukunft? Er hat dich behütet, beschützt. Erinnere dich an dein Dorf, an den Dämon und die Orks, die es zerstört haben.«

»Was bin ich? Wer bin ich?«, flehte Gilfea, alles andere als stark.

Sehr zärtlich schlossen sich zwei Arme um Gilfea und zogen ihn zu einem Körper heran, der pure Liebe verströmte.

»Wer immer du bist, du bist der Mann, den ich liebe.«, flüsterte Gildofal Gilfea ins Ohr, während seine Wange die seines Geliebten berührte, »Du hast eine Bestimmung, Großes zu vollbringen. Ich kann es an deiner Aura sehen. Was immer ich tun kann, ich werde dir helfen.«

Diese Worte waren Balsam für Gilfeas verunsicherte Seele. Er klammerte sich an Gildofal, saugte die Liebe des Elben regelrecht auf, ließ von ihm streicheln und halten. Was auch immer in Gilfea ruhte und nun erwachte, er war dankbar, dass er Freunde, sogar Geliebte hatte, die ihm beistanden.

»Danke, danke, dass du nicht nur mein Geliebter, sondern auch mein Freund bist!«, ein Ruck ging durch Gilfea, »Jetzt komm, lass uns Suman retten!«

»Lass uns Suman retten!«, strahlte Gildofal über Gilfeas neue Stärke und Kraft.

 

Statt einfach blind links nach Tharbad zu fliegen, setzten sich Gildofal und Gilfea zusammen mit ihren Drachen und Tingalen auf den Strand und überlegten, wie sie Sumans Rettung angehen sollten. Die Hauptschwierigkeit bestand darin, dass Gilfea Tharbad nicht wirklich kannte, wenn man vom eher spärlichen theoretischen Wissen absah, welches er in der Drachenreiterschule Daelbars erworben hatte. Was man benötigte, war ein Plan.

»Wisst ihr Echsen eigentlich, dass ihr ziemlich unpraktisch sein könnt?«

»Pöh!«, machte Mithval und ließ sein kleines Feuerbällchen seinen Nüstern entfleuchen.

Doch Gilfea hatte Recht. Mithval und die anderen Drachen waren in manchen Situationen einfach unhandlich. Eine Monsterechse, wie Gilfeas, ließ sich schlecht verstecken geschweige denn, übersehen. Einfach mit drei Drachen nach Tharbad zu fliegen, war somit nicht unbedingt eine glückliche, geschweige denn, sinnvolle Wahl.

»Tharbad ist ein Seehafen. Wir könnten versuchen von der Seeseite in die Stadt zu kommen. Wenn sich meine Erinnerungen nicht täuschen, so erzählte mein Erdkundelehrer von einem Freihafen.«

Man vergaß leicht, dass Gildofal seine Jugend in Goldor verbracht hatte und dessen Bildungssystem genossen hatte. Der Unterricht wurde zwar von Klerikern der unifizierten Technokratie bestritten, doch deren politisch tendenziöse Färbung beschränkte sich zumeist auf gesellschaftliche Themen. Obwohl es Lehrer gegeben haben soll, die sogar das Kunststück vollbracht haben sollen, der Mathematik eine politische Seite zu verleihen. Tharbad hingegen war ein absolutes Lieblingsthema der klerikalen Geographielehrer. Tharbad galt als Vorbild für eine moderne, von den Grundsätzen der Technokratie geprägten, Stadt, frei von Magie und Aberglaube, ein leuchtender Stern des Fortschritts und Zukunft. So verwunderte es nicht, dass Gildofal über profunde, wenn auch nur theoretische Kenntnisse, über Tharbad verfügte.

»Dann bräuchten wir eine Schiffspassage.«, überlegte Gilfea, »Die Zeit läuft uns davon. Die Drachen sind zwar schneller als das Schnellboot…«

»Moment!«, unterbrach Gildofal aufgeregt, »Warum jagen wir sie dann nicht? Wir holen das Schnellboot ein und befreien Suman!«

»Nein, denk mal nach!«, entgegnete Gilfea sanft, da er Gildofal Begeisterung verstehen konnte, »Wir müssten sie auf offener See angreifen. Was meinst du, was die goldorianischen Soldaten mit Suman machen würden.«

»Sie würden ihn umbringen… Du hast Recht!«, seufzte Gildofal traurig und schaute vor sich auf den Boden.

»Ich versteh dich.«, Gilfea nahm Gildofals Hände in die seinen, »Ich kann es auch nicht ertragen, dass Suman ein Gefangener ist. Ich könnte vor Wut explodieren, es zerreißt mich innerlich. Doch wir müssen ganz genau überlegen, wie wir unserem Freund am besten helfen können.«

Gildofal überlegte eine Weile. Gilfea hatte Recht, es musste eine andere und bessere Lösung geben, als das Schnellboot direkt anzugreifen und damit Sumans Leben zu gefährden. Das Schnellboot? Gildofal stutzte. Wie groß war eigentlich die Reichweite eines solchen Fahrzeuges? Die Soldaten Goldors konnten es unmöglich direkt bis Tharbad schaffen. Gildofal versuchte sich zu erinnern. Wehrkunde war zwar ein Hauptfach an seiner Schule gewesen, doch war dies gattungsbedingt nicht unbedingt sein Lieblingsfach gewesen. Die meisten Elben pflegten eher ein weniger militaristisches Leben als dies in Goldor kultiviert wurde. Krotos, sein orkscher Mitschüler, kannte jeden Panzer, jede Fregatte, jeden Jagdgleiter und hätte vermutlich auch den Verbrauch des Schnellbootes auf die dritte Nachkommastelle genau gewusst. Nur war, den Göttern sei Dank, Gildofal nicht Krotos. Alles, woran sich Gildofal erinnern konnte war, dass Schnellboote dieser Art reine Kurzstreckenfahrzeuge waren.

»Es könnte sein, dass wir Suman doch noch vor Tharbad befreien können!«, verkündete Gildofal, »Wenn ich mich nicht sehr irre, wird das Schnellboot mindestens zwei Tankstopps einlegen müssen, wenn nicht sogar drei. Gab es nicht entlang der Küste ein paar Siedlungen?«

Gilfea kramte eine Karte aus einer seiner Satteltaschen hervor und breitete sie zwischen sich und Gildofal aus. Tatsächlich war eine Reihe von Siedlungen auf der Karte verzeichnet. Die meisten trugen den Vermerk nur in den Sommermonaten von den Seenomaden bewohnt zu sein, einem Stamm seltsamer Menschen, denen man am besten aus dem Weg ging. Nur vier Orte verdienten die Bezeichnung Stadt und waren groß genug, um über ein Tanklager zu verfügen. Das Gebiet zwischen Goldor und den Ländern der Neovikinger, dessen Grenze die nun zerstörte südliche Festung bildete, war völkerrechtliches Niemandsland, was soviel hieß, dass sich für diesen öden und kargen Landstrich, bis auf die Seenomaden und ein paar Glücksritter, niemand interessierte.

Die vier Orte verdankten ihrer Existenz kleinen Gold- und lächerlich kleiner Mithrilfunde. Die Mengen an geschürftem Edelmetall waren so gering, dass sich der Abbau für die großen Bergbaugilden nicht lohnte, doch immer noch groß genug, um ein paar heruntergekommene Goldgräberorte am Leben zu erhalten. Reich wurde niemand. Dafür sorgten die Aufkäufer, die für die gefundenen Nuggets unverschämt mickrige Preise zahlten. Eigentlich lohnte sich die Schufterei nicht, weswegen die meisten Gold- und Mithrilgräber ihren Frust in Alkohol ertränkten und dabei über nichts anderes sprachen, als alles hinzuschmeißen und die ganze Plackerei aufzugeben. Interessanterweise tauchten immer dann spektakuläre Funde von Gold- oder Mithrilklumpen auf, wenn aus dem Gedanken, die Goldgräberei aufzugeben, die Tat zu werden drohte.

»Der nächste Ort wäre Erzsee.«, sprach Gilfea seine Gedanken aus, »Wenn du sagst, dass das Schnellboot nachtanken muss, dann dort. Schau dir die Karte an.«

Gildofal wurde sofort klar, was Gilfea meinte. Erzsee lag auf der Strecke zwischen der südlichen Feste und Tharbad etwa auf der Höhe des ersten Viertels. Es war das längste Teilstück von allen. Wenn sie Treibstoff bunkern mussten, dann dort.

»Wir sollten hinfliegen, allerdings in sicherer Entfernung vor dem Ort landen. Ich vermute, dass Goldor Leute in Erzsee hat.«, schlug Gilfea vor, »Wir sollten sehr vorsichtig sein.«

Die Entscheidung war gefallen. Gildofal und Gilfea schwangen sich auf ihre Drachen. Gilfea packte Schiefergrau vorsichtig in eine Gepäcktasche, aus der er herausschauen konnte, wenn er wollte.

»Willkommen, mein kleiner Flohfänger!«, wurde der Wolf von Mithval nun auch offiziell begrüßt. Gilfea schmunzelte.

 

Erzsee erfüllte alle Klischees und Vorurteile, die jemals gegenüber einer Goldgräberstadt vorgebracht wurden. Die Häuser waren bessere Bretterbuden, die Straßen schlammige Pisten, die Bevölkerung… Nun, man könnte es so formulieren. Wer sich nach einer Prügelei sehnte, brauchte nicht lange suchen. Das Stadtleben drehte sich um einige wenige zentrale Gebäude, den Häusern der beiden Erzhandelsgilden, einer Bank und und zwei Händen voll Kneipen. Die Bank und die Erzhandelsgilden bewohnten die einzigen massiven Häuser und waren besser gesichert, als die Bank von Crossar. Um dieses wirtschaftliche Zentrum herum, wobei wirtschaftlich eine interessante Doppelbedeutung zukam, gruppierten sich die Wohnbehausungen der Goldgräber. Daneben gab es noch drei Warenhäuser und einen kleinen Hafen mit Tank- und Poststation. Gesetzeshüter schien es nicht zu geben.

Gilfea und Gildofal hatten die Drachen rund zwei Meilen vor der Stadt versteckt und waren zum Beginn der Dämmerung den Weg bis zum Ort gelaufen. Das schwächer werdende Tageslicht, so hoffte Gilfea, sollte ihre Ankunft weniger auffällig machen, doch entpuppte sich diese Vorsichtsmaßnahme als vollkommen überflüssig. Niemand nahm von zwei Typen, die über den arg staubigen Nordpfad in die Stadt hereinschlenderten und ihrem großen Hund sonderlich Notiz. Es interessierte nicht einmal, dass einer der beiden Typen ein Elb war.

Gilfea steuerte eines der beiden Warenhäuser am Hafen an, Sörens Ausrüstungshaus. Hier gab es alles, was das Goldgräberherz begehrte, von der klassischen Spitzhacke bis zum exklusiven magischen Steinbohrer, den sich aber kaum ein Goldgräber kaufte, da er viel zu viel von seinem Geld versoff, um ihn sich leisten zu können. Die Spitzhacke hingegen war ein echter Verkaufsrenner.

»Guten Abend die Herren!«, wurden Gilfea und Gildofal von einem Verkäufer des Warenhauses begrüßt. Dem Auftreten nach musste es sich um Sören, den Inhaber handeln. Immerhin schien er ein Neovikinger zu sein, »Was kann ich für Sie tun?«

»Wir sind Prospektoren…«, begann Gilfea.

»Prospektoren«, wiederholte der Kaufmann. Dabei quetschte er soviel Bedeutung in die Aussprache dieses einzelnen Wortes, dass nicht der geringste Zweifel daran blieb, dass er Gilfea kein einziges Wort glaubte, es ihm aber auch scheißegal war, was oder wer Gilfea war.

»Wasserflaschen, Kleidung und einen Rucksack!«, sprang Gildofal ein, »Auf unserer Wanderung haben wir einen Rucksack verloren. Schlechte Qualität. Wir brauchen Ersatz!«

»Ein Rucksack?«, wiederholte der Kaufmann erneut ein einzelnes Wort, wobei er Gildofals elbischen Rucksack fixierte. Der Mann mochte ein Händler in einer schäbigen Goldgräberstadt sein, doch dumm war er nicht. Er erkannte den Wert echter Elbenarbeit und auch den Unterschied zu dem Schund, der in den Reservaten Goldors verhökert wurde. Gildofals Rucksack war unbezahlbar. Die beiden Prospektoren hatten einen neuen Rucksack so nötig, wie einen dritten Arm. Aber das war egal. Kunde war Kunde und somit willkommen, Hauptsache er zahlte.

Gildofal legte eine Mithrilmünze auf die Ladentheke: »Meinen Sie, dass sich für uns etwas finden lässt?«

Der Kaufmann schielte auf die Münze, versicherte sich, dass außer Gildofal und Gilfea niemand in seinem Laden war, nahm die Münze in seine Hand, um sie Gildofal zurück zu geben: »Ich bin überzeugt, dass ich Ihre Wünsche zur vollsten Zufriedenheit erfüllen kann. Wenn mir die Herren bitte folgen würden.«

Der Kaufmann führte die beiden Drachenreiter eine Treppe hinauf. Das Warenhaus war groß und verfügte über zwei Stockwerke. Außer einem umfangreichen Sortiment Goldgräber geeigneter Kleidung lungerte auch ein junger Neovikinger im Obergeschoss herum, bei dem es sich den Gesichtszügen nach um einen Familienangehörigen handeln musste.

»Anger, kümmere dich bitte mal um den Laden. Wir haben eine Anprobe!«

»Ja, Paps!«

Der Junge sprang auf, nickte im Vorübergehen freundlich, und sprang die Treppe herunter, während Angers Vater Gilfea und Gildofal in ein kleines Büro führte.

»Willkommen in Erzsee, ich bin Palle, der Inhaber von Sörens Ausrüstungshaus. Ihr müsste Gilfea und Gildofal sein.«

Gaunerehre

»Ein zusätzliches Ass im Ärmel kann zuweilen recht Hilfreich sein, kann allerdings auch unter unglücklichen Umständen zum Verlust von Zähnen führen.«

»Bitte bedenkt: Die Gildeversicherung deckt nur die Hälfte berufsbedingten Zahnersatzes ab.«

Aus einem Lehrbuch der Falschspielergilde

»Ich würde Ihnen raten sich nicht zu bewegen!«, fügte der Pensionswirt mit ausgesprochen gelassener Stimme hinzu. Diese Gelassenheit bezog er aus einer Waffe, die er in seiner Hand hielt und die nicht wirklich harmlos aussah. Es war durchaus sinnvoll, der Empfehlung des Wirts zu folgen. Wir, Ivo und ich, standen still und ruhig da.

»Sagte Golfindel nicht, das Elbenstübchen sei relativ sicher?«

»Vermutlich lag die Betonung auf >relativ<. Schauen wir mal, was der Typ will.«

»So, ihr zwei schrägen Vögel. Ihr erzählt mir jetzt mal schön langsam, was ihr auf meinem Dach wolltet und wohin ihr von dort gegangen seid.«

Gegangen? – Ich schaute zu Ivo, dachte unser lieber Herr Wirt etwa, wir wären über die Dächer geklettert? Dann wusste er nicht, dass wir ein Drache waren.

»Habt ihr wirklich geglaubt, ich merke nicht, wenn jemand versucht übers Dach zu verschwinden? Ich hab’s nicht gern, wenn Gäste meinen die Zeche prellen zu müssen. Doch da ihr wieder da seid, scheint ihr etwas anderes im Schilde zu führen. Ihr baldowert doch was aus. Plant ihr ‘nen Bruch? Ist mir eigentlich auch egal, was ihr vorhabt. Hauptsache ich bekomme meinen Anteil, denn von nun an, sind wir Partner.«

Sollten wir lachen oder weinen? Der Wirt hielt uns für einfache Kriminelle, die einen Bruch oder einen Überfall planten. Seine Denkmuster verliefen in den Bahnen dessen, was man in Tharbad erwarten musste. Immerhin schien die ganze Situation nicht ganz so brisant zu sein, wie sie sich zuerst präsentierte. Ein Spion der Wache der Stadt oder ein geldgieriger Denunziant, der es auf eine Belohnung abgesehen hatte, wären schlimmer gewesen. Doch wir hatten es nur mit einem geldgierigen Erpresser zu tun. Wir hatten Glück, dass er nicht wusste, wer wir wirklich waren.

»Partner?«, fragte Ivoricalad.

»Partner!«, entgegnete unser Wirt selbstzufrieden, »Wie heißt ihr zwei eigentlich? Ich bin Carl!«

»Ich bin Segg!«, Segato G’Narn wäre ein etwas zu verräterischer Name gewesen, »Und das ist mein Partner Ivo!«

»Segg und Ivo? Seltsame Namen. Wo kommt ihr her? Euer Akzent klingt südländisch.«, Carl, der Wirt, studierte uns.

»Wir sind aus Crossar.«, entgegnete ich knapp.

»Aus Crossar, so, so…«, Carl zog seine Augenbrauen hoch und musterte uns genauer, »Stimmt, du könntest tatsächlich aus Crossar stammen. Dann kennst du sicherlich die Callegribrüder, oder?«

Unser Wirt verstand sein Handwerk, oder auch nicht, denn er hatte sich soeben als Gauner enttarnt. Seine Frage war eine Falle. Bei Familie Callegri handelte es sich um niemand geringeren als um eine der beiden mächtigsten Verbrecherorganisationen Crossars. Die Callegris hatten so gut wie überall ihre Finger drin, sei es Schutzgeld, Schmuggel, Menschenhandel, Diebstahl und Einbruch. Sie handelten sogar mit den Traumkristallen der Barden von Sansusinal, was in Crossar durchaus ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Die Großreeder verstanden bei Traumkristallen nicht wirklich Spaß. Natürlich stellten die Callegris auch jeweils einen der drei Vorsitzenden der Diebes-, Einbrecher, Schmuggler und Erpressergilden. In Crossar lief nichts, ohne dass die Callegris davon wussten. Was wiederum die meisten Bewohner nicht wussten, war das kleine aber feinde Detail, dass nicht etwa die Brüder des Clans, sondern die Schwestern das Zepter schwangen, Sofia, Maria und Celeste, drei ebenso schöne, wie tödliche Damen.

Genau mit diesem Detail wollte Carl unsere Glaubwürdigkeit testen. Wir hatten Glück, dass ich ein paar Jahre als nicht lizenzierter Taschendieb auf der Straße gelebt hatte und wusste, wie die Dinge in meiner Stadt liefen.

»Ich glaube kaum, dass Sofia, Maria und Celeste es sonderlich nett finden würden, sie als Brüder zu bezeichnen. Die drei Damen legen sehr viel Wert auf ihre Weiblichkeit.«

Was ich sogar sehr genau wusste, da ich es selbst erlebt hatte. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen Maria und Celeste, während meiner Ausbildung zum Gildebruder, persönlich kennen zu lernen. Während eines Wohltätigkeitsbasars der Gilde, bei dem ich ältere, aber nicht zu wertvolle Bücher verkaufen sollte, wurden mir die beiden ehrenwerten Damen von Erogal vorgestellt. Ich vermutete sogar, dass dieser Kontakt von Erogal geplant war und den einzigen Grund darstellte, warum ich Bücher verkaufen sollte, die offensichtlich niemand haben wollte. Ich verkaufte exakt ein einziges Buch, einen alten Prachtkodex über Crossarsche Handelsfamilien. Es ging, oh Wunder, an Celeste.

»So, so…«, knurrte Carl, »Na gut. Damit das klar ist, ich bekomme 60 Prozent!«

»60, wovon träumst du nachts? Wir kennen das Ziel, du nicht. Ich hatte eigentlich gedacht dir 10 Prozent anzubieten, aber bei soviel Unverschämtheit sind sogar 5 Prozent eigentlich noch zu viel.«, bluffte ich, schließlich gab es keinen Plan. Jedenfalls keinen, der irgendetwas mit einem Einbruch zu tun hatte.

»Hey, hey, hey…«, polterte der Wirt, »Nicht frech werden. Ich halte eine Waffe in der Hand. Warum sollte ich nicht einfach einen von euch beiden abknallen und für den anderen eine Belohnung kassieren? Ich wette, dass auf eure Köpfe eine schöne Summe Golddukaten ausgesetzt ist.«

Wenn ein Preis auf unsere Köpfe ausgesetzt war, dann eher Mithrilmünzen, dachte ich.

»Warum willst du dich mit einem lächerlichen und unsicheren Kopfgeld zufrieden geben, wenn du so viel Geld abstauben könntest, um dich in Xengabad zur Ruhe setzen zu können?«, mischte sich Ivo ein.

»Xengabad?«, Carl pfiff durch seine Lippen, »Das muss aber ein ziemlich dickes Ding sein, das ihr da drehen wollt.«

»Wir bieten dir 30 Prozent!«, fügte ich mit fester Stimme hinzu, »Akzeptier oder lass es bleiben. Doch wenn du akzeptierst… Du hängst dann mit drin. Es ist gefährlich.«

»Gefährlich?«, Carl lachte, »Das ganze Leben ist gefährlich. Ich habe keine Angst, drauf zu gehen. Wenn es das ist, was du meinst. Wenn die Beute groß genug ist, geh ich jedes Risiko ein!«

»Bist du dir sicher?«, fragte Ivo nach, der meine Idee verstanden hatte und übernahm, »Wenn die Sache daneben geht… Es gibt schlimmeres, als den Tod…«

Carl sah uns unsicher an. Ivo hatte seiner Stimme ein leichtes, kaum hörbares Drachenfauchen beigemischt. Dies reichte aus, um seinen Worten jene Bedrohlichkeit zu geben, die Carl erschauern ließ: »Was habt ihr vor?«

»Sagt dir Boldin Dynamics etwas?«

 

»Boldin?«, kreischte Carl und wurde so blass, dass dies sogar beim mickrigen Schein der Stehlampe sichtbar war, »Hegt ihr irgendwelche Todessehnsucht? Niemand beklaut Boldin! Wer es trotzdem versucht oder nur daran denkt, verschwindet einfach. Ihr seid wahnsinnig!«

Eigentlich konnten wir froh sein, dass Carl uns bei unserem nächtlichen Ausflug erwischt hatte. Mit einem halbseidenen, aber eben auch ortskundigen Typen wir ihm, ergaben sich ganz andere Möglichkeiten. Wer eine Pension in Tharbad betrieb und die Callegrischwestern kannte, musste einfach über Kontakte in die einschlägigen Kreise verfügen. So einer konnte bestimmt diskrete Nachforschungen anstellen.

»Sehen wir so aus?«, fragte Ivo, »Es ist alles nur eine Frage perfekter Planung, wozu unter anderem exakte Informationen zählen.«

»Und da kommst du jetzt ins Spiel!«, griff ich Ivos geniale Vorlage auf, »Für deine 30 Prozent wirst du auch etwas beitragen müssen.«

»Scheiße!«, fluchte Carl und begann seine Waffe auf Ivo zu richten, »Ich sollte euch doch abknallen!«

»Zu spät!«, entgegnete Ivo von Carls Waffe völlig unbeeindruckt, »Was meinst du, wo wir heute Abend waren? Es wäre keine gute Idee, uns abzuknallen. Der Stadtwache wirst du vielleicht noch irgendeine Geschichte verkaufen können, doch Boldins Leuten…«

Man konnte die Zahnrädchen fast sehen, die sich in Carls Kopf drehten. Der Gute war ziemlich nervös geworden und bereute offensichtlich bereits, sich in unsere Angelegenheiten eingemischt zu haben.

»Also gut, wenn ich schon Selbstmord begehen soll, dann will ich auch wissen, worum es geht. Was wollt ihr von Boldin Dynamics?«

Eine gute Frage. Wenn wir unseren Bluff, der eigentlich keiner war, aufrechterhalten wollten, dann mussten wir Carl einen Köder anbieten. Ich schaute mit fragendem Blick zu Ivo, der mit den Schultern zuckte und nickte. Meine Echse hatte offensichtlich eine Idee.

»Wir wissen, dass Boldin Dynamics im Besitz von Drachenblut ist.«

Dieser Köder, ließ selbst mich schlucken. Carl verschlug es erstmal gänzlich die Sprache. Alles, was seinem Mund entwich, war Gestammel: »Dra… Dra… Drachenblut?«

»Eine der wertvollsten Substanzen die es gibt!«, setzte ich nach und log dabei noch nicht einmal.

»Drachenblut?«, quietschte Carl, der seine Sprache wieder gefunden hatte, »Ihr seid komplett wahnsinnig! Ihr legt euch nicht nur mit Boldins Leuten an, ihr riskiert auch noch von diesen Echsenviechern verspeist zu werden!«

»Echsenviechern?«, lachte Ivo in meinem Kopf, »Wir sollten mal etwas gegen unseren schlechten Ruf unternehmen. Also wirklich, Echsenviecher! Ich bin ein seltener, edler Kristalldrache. Sehr dekorativ und stubenrein!«

Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sich als dekorativ zu bezeichnen, zeugte schon von einem gerüttelten Maß Unterstatements.

»Was gibt’s denn da zu lachen?«, jammerte Carl panisch, »Nehmen wir nur mal an, euch gelingt es wirklich bei Boldin Drachenblut zu klauen, was glaubt ihr wohl, wer dann alles hinter euch her sein wird?«

»Hinter uns her sein wird!«, korrigierte Ivo, was ihm diebisches Vergnügen bereitete.

»Hinter uns her sein wird.«, wiederholte Carl, »Die Wache der Stadt wird den Einbruch verfolgen, doch diese Typen dürften unsere geringste Sorge darstellen. Aber es gibt ja noch andere Typen. Da wäre der goldorianische Geheimdienst. Boldin Dynamics stellt Rüstungsgüter her. Ein Einbruch bei ihm, bringt den Geheimdienst sofort auf den Plan. Glaubt mir, ich habe es selbst erlebt. Vor ein paar Jahren hat schon mal jemand versucht, in eines von Boldins Werken einzubrechen. Der Geheimdienst hat massenweise Leute verhaftet, manche sind nie wieder aufgetaucht. Aber selbst wenn wir dem Geheimdienst entschlüpfen sollten, gibt es immer noch Boldins Spezialtruppe. Der fette Zwerg sieht es gar nicht gern, wenn man sich in seine Angelegenheiten einmischt oder gar versucht ihn zu beklauen. Man fand den Kerl, der den Einbruch versucht hat eines Tages angekettet am großen Fahnenmast vor dem Rathaus. Wie er dahin gekommen ist, weiß niemand. Doch wie man ihn gefunden hat, weiß jeder. Der Typ war nackt, auf seiner Brust klebte ein Zettel mit seinem Geständnis, doch das schlimmste war, er lebte noch. Dabei hatte man ihm die Augen und die Zunge entfernt und die Trommelfelle zerstört. Der Typ war blind, taub und stumm. Damit konnte er weder sagen, wer ihm das angetan hatte, noch irgendjemanden identifizieren. Es war eine Warnung. Wer sich mit Boldin anlegt, dem soll klar sein, dass es schlimmeres gibt, als den Tod. Da ist die vierte Gruppe, mit der wir uns anlegen, vermutlich noch die Harmloseste, die Drachen! Kennt ihr Drachen?«

»Ähm, nöh…«, stammelten Ivo und ich.

»Ich auch nicht, aber ich habe einiges gehört. Es soll eine Stadt der Drachen geben, Daelbar. So wie wir uns Rinder und Schweine halten, um sie zu essen, werden dort Menschen und angeblich sogar Elben in Stallungen gehalten, um später gefressen zu werden.«

»Ich gebe dir Recht. Wir sollten dringend etwas für unseren Ruf tun. Die Propaganda des Königs und der Kirche verbreiten ja schaurige Geschichten.«

»Eben! Außerdem würde mir ein Typ wie Carl eh nicht schmecken.«

Carl war mit seinen Schauergeschichten noch nicht zu Ende: »Wenn diese Viecher erfahren, dass wir das Blut von einem der Ihrigen haben, werden die ebenfalls hinter uns her sein und uns bis an das Ende der Welt verfolgen.«

»Ich sagte doch, dass es sich lohnen wird.«, versuchte ich Carls Argumentation zu drehen, »Eine Substanz, die so begehrt ist, muss extrem wertvoll sein. Alles, wofür wir sorgen müssen, ist, dass niemand auf die Idee kommt, uns der Tat zu verdächtigen.«

»Oh!«, Carls Gesicht erhellte sich, seine Gier stachelte seinen kriminellen Instinkt an, »Ich ahne, was du sagen willst. Wenn es einen anderen Tatverdächtigen gibt, wird man nicht in unsere Richtung schauen.«

Es war wirklich schön, dass Carl so überaus berechenbar war: »Deswegen brauchen wir alle Informationen, die es über die Werke Boldin Dynamics’ irgendwie zu beschaffen gibt. Personal- und Dienstpläne, Grundrisse der Werke. Lieferzeiten und Lieferanten. Sicherheitstechnik. Eben alles!«

»Das wird nicht einfach…«, murmelte Carl, wobei man deutlich sah, dass er bereits an Lösungen arbeitete, »Sollte sich aber machen lassen. Das Kostet aber einiges!«

»Kein Problem, solange es eine Filiale der Blaufurter Stadtbank gibt.«, meinte ich gelassen.

»Sehr geschickt und sehr diskret!«, zollte mir Carl Respekt, »Es gibt eine am Rathausplatz. Eine Frage hätte ich aber noch, an wen wollen wir das Blut verkaufen?«

»An die Drachen natürlich!«, meinte Ivo trocken, »Die sollen jeden Preis dafür zahlen! Ist wohl so ein religiöses Ding. Keine Ahnung und ist mir auch egal, Hauptsache sie zahlen gut!«

Ich hätte mich fast an meiner eigenen Spucke verschluckt. Mir wurde gerade klar, dass ich mit Ivo niemals Pokern sollte. Carl reagierte etwas heftiger, er verschluckte sich an seiner Spucke, musste husten, röchelte, ließ seine Waffe fallen, die er immer noch in seiner Hand hielt. Ivo reagierte blitzschnell. Innerhalb eines Wimpernschlags hielt er Carls Waffe in seiner Hand.

»Verdammt!«, knurrte Carl.

»Verdammt!«, knurrte Ivo, »Die Waffe ist nicht mal geladen! Der Typ hat geblufft!«

»Hat aber funktioniert!«, bemerkte Carl keck, »Jungs, wir haben einen Deal! Gaunerehre!«

Ivo atmete durch seine Nase hörbar aus. Ich wunderte mich, keine kleinen Flammen zu sehen, obwohl, konnte Ivo überhaupt schon Feuer speien?

»Ja, wir haben einen Deal.«, sicherte ich Carl zu. Dafür gab es einen einfachen Grund. Wir brauchten Carl. Ein Typ, der einen Drachen und seinen Reiter mit einer ungeladenen Waffe in Schach halten konnte, musste einfach für unsere Aufgabe geeignet sein.

»Ihr wollt das Blut den Drachen geben?«, Carl wurde nachdenklich, »Wenn die wirklich so gut bezahlen, nun ja, warum nicht. Doch wie wollt ihr mit denen in Kontakt treten, ohne dass die euch zum Frühstück vernaschen?«

»Oh, wir haben da so unsere Kontakte…«, ein Schmunzeln umspielte Ivoricalads Mund.

»Und ihr seid euch sicher, nicht gefressen zu werden?«, Carl war nicht überzeugt, »Ich trau den Viechern nicht über den Weg. Die fressen Menschen!«

»Du musste nicht alles glauben, was die Pfaffen der Kirche erzählen.«, mir gingen Carls Vorurteile ein klein wenig gegen den Strich.

»Wie jetzt? Willst du mir ernsthaft erzählen, dass das Quatsch ist?«

»Was Segg sagen will, ist, dass uns bisher noch keiner gefressen hat. Eigentlich sind sie ganz nett, wenn man sie erstmal näher kennen lernt. Vielleicht etwas albern.«

»Wer seid ihr wirklich?«, fragte Carl mit neu gewecktem Interesse.

»Segg und Ivo, zwei Freunde, die sehr an Boldin Dynamics interessiert sind.«

Blutgeruch

»Schuldig bis zum Beweis des Gegenteils!«

I. Fundamentalprinzip der goldorianischen Rechtsprechung

»Und was wirst du jetzt tun?«

Es war für Erogal D’Santo keine wirkliche Überraschung, dass die Gilde Wind von der Sache mit der nicht befolgten Omegadirektive bekommen hatte. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit. Trotzdem war es ein seltsam beunruhigendes Gefühl zu wissen, dass auf den eigenen Kopf ein Preis ausgesetzt war. Selbst für einen so besonnenen und rationalen Mann wie ihn.

»Nichts!«, antwortete Perseus Z’Ul, »Ich hielt die Omegadirektiven schon immer für etwas übertrieben. Sie auf dich und deinen Schützling anzuwenden, ist ausgemachter Schwachsinn. Aber es wird dich freuen, dass nicht alle Meister bereit sind, der Direktive zu folgen.«

»Was?«, schrieb Erogal entsetzt in sein Meisterbuch.

»Du hast verstanden, was ich schrieb!«, entgegnete Perseus, »Septimus, Egmont, Meridus… Du kennst deine Verbündeten. Es ist genau das eingetreten, wovor du dich immer gefürchtet hast.«

Eine Spaltung der Gilde – Das war es, was Erogal D’Santo seit langem befürchtet hatte. Viele seiner Meisterkollegen wollten die Warnzeichen nicht sehen, wollten nicht wahrhaben, dass etwas im Argen lag und die Gilde von innen zerstörte. Dabei waren die Meister gar nicht das Problem. Es waren die Präfekten, Sekretäre, Buchhalter, Haushofmeister der Gilde. In den letzten Jahren war eine Kaste von Gildebrüdern entstanden, die nicht verstanden oder nicht verstehen wollten, worum es der Gilde ging. Handel zu treiben, Unternehmen zu lenken war seid Alters her ein Mittel, Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen. Ein Unternehmen am richtigen Ort konnte denen Arbeit geben, die sonst in Armut lebten und für gefährliche Ideen anfällig waren. Doch diese neuen Gildebrüder verstanden diesen Zweck wirtschaftlichen Handelns nicht. In ihren Augen war ein Unternehmen dazu da, Profite zu erwirtschaften. Entfremdung war die Folge. Die Meister entfremdeten sich von ihren Gildebrüdern. Traditionen degenerierten zu Gildefolklore.

»Es ist gut, ein paar Freunde auf unserer Seite zu wissen.«

»Um unsere Meisterbrüder mach ich mir die geringste Sorge. Selbst Parek T’Kal würde dich nicht einfach umbringen, obwohl er dein schärfster und erbitterter Gegner im Rat ist. Mir bereiten die einfachen Brüder Sorgen, die nur den Befehl erhielten, euch zu töten. Sie wissen nicht warum. Diese schwachsinnigen Direktiven! Sie schaden mehr, als sie nützen!«

»Zu ihrer Zeit waren sie sinnvoll.«, gab Erogal zu bedenken, »Unsere Schwäche besteht darin, unser Handeln zu wenig zu hinterfragen.«

»Du hast, wie immer, recht!«, Perseus Schrift wirkte nachdenklich, »Aber das ist nicht der Grund, warum du mit mir in Kontakt getreten bist.«

»Nein, sicherlich nicht. Was weißt du über Boldin Dynamics?«

Es dauerte eine Weile, bis Perseus antwortete: »Interessant, dass du mich gerade auf Boldin Dynamics ansprichst.«

Erogal D’Santo las, was Perseus in sein Meisterbuch schrieb. Was er schrieb, klang beunruhigend. Merkwürdige Dinge gingen in einem der Werke Boldins vor. Wachen waren verstärkt worden. Es gab seltsame Transporte zwischen dem Barad Baul und jenem Werk. Gelegentlich erhellten unheimliche Lichterscheinungen den Himmel, die ebenfalls von jenem Werk ausgingen.

»Ich weiß nicht«, schrieb Perseus Z’Ul, »Ob es eine Verbindung zu Boldin Dynamics gibt, aber in den letzten Monaten wurden arme Schlucker, Menschen ohne Familie und Heim, von der Geheimpolizei des Königs aufgegriffen und zum Barad Baul gebracht. Ich mache mir ernsthafte Sorgen. Etwas sehr dunkles und böses scheint im Gange zu sein. Das Auftauchen einer Beschwörungsglyphe bestärkt mein ungutes Gefühl nur noch. Mein Freund, ich werde meine Augen und Ohren offen halten. Und ich werde auch Ausschau nach deinem Freund, Segato, halten. Sobald ich mehr weiß, werde ich mich bei dir melden.«

Gleichzeitig beunruhigt und erleichtert kehrte Erogal D’Santo in die Lagerhalle mit den Drachen zurück. Die Zwillingsbrüder Sulomile und Sulogorn hatten es sich in einer Ecke gemütlich gemacht und dösten vor sich hin. Das schnarchende Echsenhäufchen verströmte eine Friedlichkeit, die Erogals Herz und Seele ergriff und ihn aufmunterte. Mit leichten Schritten durchquerte er die Halle und hockte sich neben die beiden Drachen, um sie zu streicheln.

»Wir finden dich Segato!«, flüsterte Erogal.

»Ja, wir werden ihn finden!«

Erogal wirbelte herum. Er hatte Olsons Kommen nicht gehört. Der Neovikinger verstand sein Handwerk. Erogal lächelte amüsiert: »Hättest du einen Auftrag über mich, wäre ich jetzt vermutlich tot.«

»Nein…«, entgegnete Ole gelassen, »Du wärst mit Sicherheit tot. Allerdings würde ich dich wohl nie töten. Sowas, glaube ich, würde unsere Freundschaft ein wenig belasten.«

»Das wäre anzunehmen…«, Erogal schmunzelte. Ole Olson gefiel ihm von Sekunde zu Sekunde besser.

»Ich habe ein paar siechen Kontakten neues Leben eingehaucht. Sollte in dieser Stadt etwas ungewöhnliches passieren, werden wir es erfahren. Es wird dich interessieren, meine Brüder, die Mördergilde, erhielt vor einer Stunde zwei Aufträge. Sie gelten dir und Segato. Die Auftragssumme ist stattlich, man muss damit rechnen, dass die Besten meiner Zunft sich dieser Sache annehmen werden.«

»Weiß man, dass wir befreundet sind?«, fragte Erogal.

»Natürlich, ich habe es ihnen gesagt. Man meinte, es wäre nicht persönlich gemeint, aber ich gelte nicht länger als Unbeteiligter.«

Was soviel hieß, dass Ole Olson seine Unantastbarkeit verloren hatte. Bei einem Auftragsmord durften keine Unbeteiligten zu Schaden kommen. Wer diesen Status nicht genoss, hatte im Allgemeinen schlechte Karten.

»Nun ja«, grinste Ole, »Es hat mich schon immer gereizt, gegen einen meiner Brüder anzutreten.«

Soviel Selbstvertrauen überraschte Erogal. Ole Olson schien die ganze Angelegenheit eher von der sportlichen Seite zu nehmen, dabei war diese Art von Wettkampf einer, den man nur ungern verlor. Eine Niederlage hatte einfach diesen unangenehmen Geruch der Endgültigkeit.

»Nun, dieses Haus ist sicher, außerdem haben wir das schwarze Band der Vorwarnung noch nicht erhalten.«

Oles Worte, obwohl gut gemeint, waren nicht unbedingt dazu angetan Erogal zu beruhigen. Nach Erogals Geschmack trachteten ihm zurzeit einfach zu viele Leute nach dem Leben. Eine Erfahrung, die selbst dem abgebrühten Gildemeister leichte Nervosität bescherte. Ole hingegen schien die ganze Sache wesentlich locker zu nehmen. Er summte ein munteres Lied und spielte mit den beiden Drachen.

 

Was Erogal D’Santo am meisten nervte, war das Warten. Warten auf Informationen, warten darauf, dass sich Perseus meldete, warten darauf, dass einer von Oles Informanten sich meldete, warten darauf, dass irgendwas passierte. Erogal war ein Mann der Tat, er hasste es, untätig herum zu sitzen und zu warten. Nach endlosen Tagen verschärften Däumchendrehens, ertappte sich Erogal dabei, dass ihm selbst der Besuch eines Attentäters der Mördergilde als willkommene Abwechselung erschien.

»Unrastig?«, bemerkte Sulogorn mit drachentypischer Ironie in seiner geistigen Stimme.

»Witzbold!«, knurrte Erogal.

»Wart’s ab, in ein paar Stunden wirst du dich nach einer ruhigen Minute sehnen.«

»Weißt du etwas, was ich nicht weiß?«

»Wissen ist zuviel gesagt… Ich fühle etwas… Ich glaube, es könnte ein Drache in der Stadt sein. Das Gefühl ist recht schwach und merkwürdig…«

Immerhin etwas. Besser einem schwachen Gefühl eines Jungdrachen nachgehen, als Spinnweben ansetzen. Erogal kribbelte es in den Fingern. Ole Olson hatte wenigsten ein paar Kontakte, die gepflegt werden wollten. Erogal nur massenweise Leute, die hinter seinem Hals her waren.

»Es ist ein merkwürdiges Gefühl.«, fügte Sulomile, Sulogorns Zwillingsbruder hinzu, »Nicht richtig drachenhaft, aber doch irgendwie… Ach, ich weiß auch nicht…«

Frustrierte Drachen sehen lustig aus. Die Zwillingsbrüder sahen sehr lustig aus, was Erogal veranlasste Ole einen verwirrten Blick zu zuwerfen. Der Neovikinger zuckte ratlos mit seinen Schultern, kam dann aber doch auf eine Idee.

»Als Kind hatte ich mal einen Jagdhund…«

»Was hast du vor?«, Sulomile klang sehr aufmerksam.

Ole räusperte sich und schaute seinen Drachen eine Weile verlegen an, bevor er seinen Plan schilderte. Oles Idee war eigentlich recht einfach. Er wollte die zwei Drachen in einen Transportwagen stecken und mit ihnen die Stadt abfahren. Die Echsen sollten in sich hineinlauschen und sagen, ob ihr Gefühl stärker oder schwächer wurde.

»Sehen wir etwa wie Trüffelschweine aus?«, kommentierte Sulogorn den Vorschlag gespielt erbost.

»Wenn du frisst, schon!«, bemerkte Erogal knapp und verkniff sich ein Grinsen.

»Versuch du mal mit diesen Klauen ein Besteck zu halten!«, erwiderte Sulogorn und hielt demonstrativ seine Vorderläufe hin.

Ole lachte und besorgte einen ausreichend großen Transporter, was gar nicht mal so einfach war. Die Zwillinge hatten in den letzten Tagen ordentlich an Größe zugelegt. Noch vier Wochen und man könnte anfangen, auf ihnen zu reiten.

 

Einen Tag später begann Ole seine Idee in die Tat umzusetzen und manövrierte den Wagen über die Schnellstraßen Tharbads. Der Begriff Schnellstraße besaß in Tharbad eine etwas andere Bedeutung als in anderen Städten. In anderen Städten kam man auf einer Schnellstraße schnell voran, was dem Wort Schnellstraße auch irgendwie gerecht wurde. In Tharbad war der gleiche Begriff eher mit einer relativen Geschwindigkeit verbunden. Auf normalen Straßen wurde man von Fußgängern überholt, auf Schnellstraßen drehte sich diese Situation meistens um.

So schwamm Ole Olson mit eher gemächlichem Tempo im Strom der anderen Verkehrsteilnehmer dahin und lauschte dabei den Bemerkungen zweier Jungdrachen im Laderaum seines Transporters.

»Nee, in diese Richtung nimmt das Gefühl ab…«, ließ sich Sulomile vernehmen. Der Transporter steuerte eine Ausfallstraße Richtung Osten entlang, weg vom Stadtzentrum und weg vom Meer. Offensichtlich handelte es um die falsche Richtung, was Ole Olson bei nächster Gelegenheit änderte, als er in den Ring 2 einschwenkte. Die vier Ringe Tharbads waren Ringstraßen, die die Stadt umringten. An sich gut gedacht, fielen sie nicht in die Kategorie Schnellstraße und waren mithin eher nutzlos, weil permanent verstopft. Doch Ole Olson hatte Zeit. Seine Informanten zeigten sich stumm und erforderten somit wenig Aufmerksamkeit.

Nach zwei Stunden Fahrt (ein absurder Begriff für gelegentliches Bewegen), meldeten sich die Drachen: »Es wird deutlicher…«

»Und verwirrender…«

»Es fühlt sich wie Drachen an…«

»Und auch wieder nicht…«

»Könnt ihr das irgendwie präzisieren?«

»Nein!«

»Nein!«

Ole Olson seufzte, schüttelte frustriert seinen Kopf. Ausgesprochen untypisch für Tharbad lichtete sich der Verkehr, so dass man recht flüssig vorankam. In zehn Minute kam der Transporter weiter als in den zwei Stunden zuvor.

»Stopp!«, rief Sulomile, »Fahr mal links!«

Der Fahrer und Drachenreiter zuckte mit seinen Schultern und fuhr links.

»Das ist die richtige Richtung! Dieses merkwürdige Drachengefühl wird immer stärker!«

Die Fahrt steuerte vom Stadtzentrum weg in Richtung der Docks und Industrieanlagen. Die Ansagen der Drachen kamen immer präziser. Je näher man der Quelle kam, desto deutlicher wurde die Empfindung, so dass die Drachen eine Art Karte in ihren Köpfen zeichnen konnten: »Demnächst rechts!«, »In zweihundert Meter rechts!«,»Jetzt rechts!«, »Wenn möglich, wenden!« und schließlich »Sie haben ihr Ziel erreicht!«

Ole Olson kratzte sich am Kopf: »Warum überrascht mich das jetzt nicht?«

»Wo sind wir?«

Am Ende der Straße erhob sich ein großer Flachbau, auf dessen Wand mit große Zwergenrunen der Name des Unternehmens geschrieben stand: »Boldin Industries«

Was hatte Boldin mit Drachen zu tun? Die Frage war eigentlich nicht sonderlich interessant, denn die Antwort war klar und wurde von Sulomile und Sulogorn sofort bestätigt. Ihr merkwürdiges Gefühl einen anderen Drachen zu spüren aber eben nicht so richtig, lag schlicht daran, dass dieser Drache schlicht weg tot war. Es musste das Drachenblut von Mithvals Mutter sein, das in diesem Werk Boldins gelagert, wenn nicht sogar verarbeitet wurde. Die beiden Drachen meinten, es würde einfach ekelhaft nach Tod stinken und baten Ole, den Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Der Neovikinger hatte damit keine Probleme, man hatte alles erfahren, was es auf einfache Weise zu erfahren gab. Außerdem wollte er sich nicht zu lange in der Nähe des Werks aufhalten. Nachher fiel man noch auf.

Ole wendete den Transport und schlug den Rückweg ein, der vorerst in Richtung Stadtmitte führte. Man kam leidlich voran, der Verkehr wurde wieder dichter. Ole wollte gerade auf eine Schnellstraße einschwenken, als sich Sulomile meldete.

»Warte, fahr weiter gerade aus. Ich fühle einen weiteren Ort mit Drachenblut.«

Und wieder ließ sich Ole Olson von den Drachen leiten. Je weiter er kam, desto zäher wurde der Verkehr. Der Weg führte immer tiefer in die Innenstadt. Eine dunkle Ahnung beschlich Ole Olson, die mit jedem Meter, den ihn die Drachen näher an den Ursprung brachten, deutlicher wurde. Irgendwann ignorierte der Neovikinger die Richtungsangabe seiner Echsen und steuerte direkt auf den Ort zu, den er für den Ursprung hielt. Die Drachen mussten seinen Weg nicht korrigieren. Ole Olsons Vermutung bestätigte sich. Die zweite Stelle in Tharbad an dem sich Drachenblut befand, war kein geringerer Ort, als der Barad Baul.

»Fahren wir heim!«, verkündete Ole und sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die ganze Geschichte würde noch sehr unerfreulich werden, wirklich sehr unerfreulich.

 

Die Rückfahrt ging erstaunlich zügig vonstatten. Ole steuerte den Wagen mit flotter Fahrweise durch einen relativ flüssigen Verkehr, der zudem mit der Zeit immer dünner wurde. Ein Neovikinger und zwei Drachen erreichten in Rekordzeit die Lagerhalle, die ihnen und Erogal als Unterschlupf diente. Ole wollte gerade die Fernbedienung des äußeren Zauntors betätigen, als sich sein Assassinsinn meldete. Der Sinn hatte nichts mit Magie zu tun, sondern war durch langes und intensives Training erlernt worden. Noch bevor Ole wusste, was nicht in Ordnung war, wusste er dass etwas nicht in Ordnung war. Ohne anzuhalten, fuhr er an der Einfahrt des Lagergeländes vorbei.

»Was ist los? Warum fährst du nicht in die Halle?«

»Ich weiß nicht, irgendetwas stimmt nicht. Gorni, sag Erogal er soll in Deckung gehen!«

»Wenn du mich noch einmal Gorni nennst, mach ich Frühstücksflocken aus dir!«, knurrte Sulogorn, »Erogal weiß Bescheid, er verkriecht sich im Büro!«

Ole Olson parkte den Wagen zwei Straßen weiter, außerhalb der Sichtweite der Lagerhalle. Berufsbedingt kannte er sämtliche Lage-, Straßen- und Baupläne seiner Objekte auswendig. In einem Beruf wie dem seinen waren Fluchtwege und alternative Zugangsrouten von enormer Wichtigkeit, weswegen jedes Objekt von Ole mit Bedacht ausgewählt worden war. Dies galt auch für die Lagerhalle und das Gelände auf dem sie stand. So verband zum Beispiel ein weit verzweigtes Tunnelsystem die verschiedenen Firmengrundstücke miteinander. Diese Tunnel dienten der Versorgung, sei es mit Wasser, Gas oder Energie. Etwa 200 Meter von der Lagerhalle entfernt befand sich ein kleines Zugangsgebäude, zu dem sich Ole schon vor längerer Zeit Nachschlüssel besorgt hatte.

Vier Minuten später befand sich Ole Olson auf dem Gelände seines Lagerhauses in einem kleinen Schuppen einer Transformatorstation. Vorsichtig lugte er durch die Belüftungsschlitze des Gebäudes hinaus. Sein prüfender Blick galt der Umgebung, irgendetwas war anders. Oles Blick wanderte vom Tor den Zaun entlang, der das Grundstück von der Straße trennte. Wie alle Zäune, die etwas auf sich hielten, war auch dieser Zaun mit einem Fence-O-Matic Sicherheitssystem gesichert, jedenfalls sollte er es sein.

»Also doch!«, murmelte Ole.

Jeder Mensch mit einem konventionellen Beruf hätte es nicht bemerkt, doch Ole Olson ging keiner konventionellen Berufung nach. Das Überwinden von Sicherheitssystemen gehörte zu seinem Handwerk und so wusste er genau, worauf er achten musste. Der Zaun glitzerte, und zwar genau dort, wo seine Maschen durchtrennt worden waren, um einen Durchgang zu schaffen. Anschließend hatte der- oder diejenige das Loch wieder vorsichtig geschlossen. Dazu war es nötig den Draht zu durchschneiden, aus dem der Zaun geflochten war, was unweigerlich einen ohrenbetäubenden mördermäßigen Alarm ausgelöst hätte. Hätte, wäre da nicht dieses Glitzern gewesen. Jemand hatte den Zaun mit einem Zauber belegt.

»Nicht schlecht und sehr aufschlussreich!«, dachte Ole.

Zaubersprüche dieser Art fand man nicht in einer Müslipackung, man musste sie lernen. Es gab nicht viele Möglichkeiten, solche Sprüche zu lernen, in einer Gildeschule, beim Geheimdienst Goldors, bei der Bruderschaft der Meuchelmörder, bei der Kirche soweit man ein ausreichend hohes Amt bekleidete oder bei einem freien Zauberlehrer, die allerdings horrende Honorare verlangten und meistens nur Hokuspokus verkauften. Dies engte den Kreis möglicher Täter ein.

Ole spähte weiter und richtete seinen Blick auf das Lagerhaus.

»Aha, die Türen sind gesichert. Also, welchen Weg hast du gewählt, mein Freundchen?«

Was niemand wusste, Ole Olson hatte sein Lagerhaus ebenfalls mit verschiedenen Zaubern belegt. Sehr defensiven und unauffälligen Zaubern. Einer dieser Zauber war besonders pfiffig. Er verflog, sobald man ihn berührte. Mit diesem Zauber hatte Ole die Feuertreppe, die vom Dach herunterführte, gesichert. Er brauchte nur zu überprüfen, ob der Zauber noch vorhanden war, um zu wissen, ob die Treppe benutzt worden war.

Der Zauber war verschwunden. Vorsichtig verließ Ole sein Versteck und folgte dem Einbrecher. Er war sich ziemlich sicher, dass sich ein Attentäter auf dem Gelände herumtrieb, wenn es sich dabei auch um keinen Mörder der Bruderschaft handeln konnte. Es fehlte das schwarze Band zur Ankündigung des nahen Ablebens. Außerdem hätte ein Kollege der Bruderschaft der Meuchelmörder keine offensichtlichen Spuren hinterlassen.

Das Dach der Lagerhalle beherbergte eine Reihe kastenförmiger Aufsätze die verschiedene technische Apparate für Belüftung, Aufzug und dergleichen beinhalteten. Die größeren besaßen sogar Türen, die insbesondere auch als Flucht- und Notausgang genutzt werden konnte. Oder als Zugang für Einbrecher, kommentierte Ole die Entdeckung eines manipulierten Schlosses an einer der Türen.

Bevor Ole Olson die Tür öffnete, um selbst in die Lagerhalle hinein zu schlüpfen, rief er sich den inneren Aufbau der Halle in Erinnerung. Dieses Lagerhaus war eines seiner größeren. Er hatte es mit Bedacht gewählt, da es einerseits günstig, nämlich etwas abseits, gelegen war und andererseits den Drachen genug Platz bot, um auch mal die Flügel auszubreiten und umherzuflattern. Die Halle war größer als jede Drachenhöhle, nur wusste Ole bisher noch nichts von Drachenhöhlen. Irgendein Architekt fand es sinnvoll, die Halle mit umlaufenden Gitterblechlaufflächen an den Wänden zu versehen. Es gab insgesamt vier Ebenen, die über Treppen an zwei gegenüberliegenden Seiten miteinander verbunden waren. Die oberste Ebene verfügte als Fluchtweg zusätzlich eine Treppe zum Dach, die genau an der Tür endete, vor dessen anderer Seite Ole gerade geduckt hockte.

Jede Art Magie besaß einen nicht zu unterschätzenden Unsicherheitsfaktor. Ein Spruch für diskretes Licht in feindlichem Umfeld konnte, sei es aus Konzentrationsschwäche oder undeutlicher Aussprache, zu einem unerwarteten und wenig diskreten Blitzlichtgewitter mutieren. Von daher zögerte Ole Magie während konkreter Aktionen einzusetzen, doch in diesem Fall war ein wenig Magie durchaus angesagt. Ole belegte die Tür mit einem Antiquietsch- und -Knarzzauber. Auch dieser Zauber galt als alles andere als perfekt. So wurde auf der Meuchelmörderschule vom tragischen Fall des Bruders Theoparsus berichtet, der es bei einem seiner Aufträge fertig gebracht hatte, eine Geheimtür grunzen zu lassen. Es wurde zu seinem letzten Auftrag.

Die Tür auf dem Dach der Lagerhalle grunzte nicht, als Ole Olson sie vorsichtig einen kleinen Spalt öffnete. Der kleine Zauberspruch tat das, was man von ihm erwartete und unterband alle verräterischen Geräusche. Mit einem kleinen Spiegel, der an einem Teleskopstab befestigt war, lugte der Neovikinger vorsichtig in die Halle hinein. Und tatsächlich. Auf der 4. Ebene lag ein dunkel gewandeter Typ und war damit beschäftigt, mit einer Waffe mit magischem Zielsucher Erogal in der Halle ausfindig zu machen, was gar nicht so einfach war, da sich der Gildebruder in der kleinen Wohnung befand, die von einem Teil der Fläche des Lagerhauses abgetrennt war. Dadurch war Erogal etwas geschützt, wenn auch nicht ganz, denn die Wohnung besaß eine große Fensterfront, die zur Lagerfläche blickte. Der Attentäter suchte mit seiner Waffe genau diese Fensterfläche ab, um beim ersten Auftauchen seines Ziels den tödlichen Fangschuss zu setzen.

Ole tat der junge Attentäter ein klein wenig Leid. So, wie er die Sache anging, sah es nicht so aus, als wenn er jemals zu einem alten Attentäter werden würde. Die Frage, die sich Ole eigentlich nicht wirklich stellte, lautete schlicht der Attentäter oder Erogal. Erogal war ein Drachenreiterbruder und ein Freund, der Attentäter hingegen… Es ist nicht persönlich gemeint!, lautete Oles Motto in solchen Fällen.

Körperbeherrschung und ein klein wenig Zauber versetzten Ole in Sekundenbruchteilen von seinem Ausgangspunkt an der Tür zum Endpunkt neben dem jungen Attentäter. »Schattenlauf« war ein Zauber, dessen Name völlig unsinnigerweise von der Idee abgeleitet war, sich schneller bewegen zu können, als der eigene Schatten. Dabei bewegte man sich in Wirklichkeit nur verdammt schnell, so schnell, dass die Bewegung als solche für die Augen der meisten Lebewesen verwischten. Es sah so aus, als ob man an einem Ort verschwand, um an einem anderen wieder aufzutauchen. Für den jungen Attentäter tauchte Ole sehr unerwartet auf, zumal er voll und ganz mit dem Zielsuchsystem seiner Waffe beschäftigt und offensichtlich überfordert war.

Ole Olson entschied den Typen vorerst nicht von der Last seiner irdischen Existenz zu erlösen. Stattdessen ließ er seine bloßen Finger mit einer blitzschnellen Bewegung über delikate Nervenpunkte des Attentäters wandern und fein modulierten Druck ausüben. Noch bevor der Berührte überhaupt merkte, dass er von jemand anderem, der eben noch gar nicht da war, berührt wurde, war die Berührerei bereits erledigt.

»Was?«, entfuhr es dem Attentäter gefolgt von einem entsetzten »Oh!«, als er bemerkte, dass er sich nicht mehr bewegen konnte.

»Ich würde dir raten, dich nicht zu bewegen.«, Ole hatte die Verwirrung des Attentäters bemerkt, »Was du gerade spürst, ist eine Technik dir sich »Finger des Todes« nennt. Nein, du wirst nicht sterben, jedenfalls noch nicht, aber das hängt ganz von dir ab. Ich habe dich nur gelähmt, indem ich einige deiner Nerven kurzgeschlossen habe. Solltest du dich dagegen wehren, verstärkt sich der Effekt und könnte so unschöne Dinge wie Atemlähmung nach sich ziehen. Haben wir uns verstanden?«

»Ok!«, röchelte ein sehr ängstlicher und, wie Ole gerade feststellte, wirklich sehr junger Attentäter.

Nachdem die Situation geklärt war, schulterte sich der Neovikinger das junge Kerlchen und trug ihn nach unten, wo er Erogal zurief, dass die Gefahr vorbei sei. Als der Gildemeister aus seinem Versteck auftauchte, drückte Ole ihm die Waffe des Attentäters in die Hand und meinte, er würde erst mal die Echsen holen, die immer noch im Transporter warten würden. Erogal nickte zustimmend und wandte sich dem Attentäter zu, den Ole auf einer Liege im Wohnbereich der Lagerhalle abgelegt hatte.

»Du wolltest mich also töten. Ich könnte sowas persönlich nehmen. Aber zuerst erlaub mir eine Frage: Findest du nicht, dass du für einen Attentäter nicht ein wenig jung bist?«, bemerkte Erogal amüsiert, was den jungen gelähmten Attentäter sichtlich irritierte. Erogal fuhr fort: »Wie heißt du eigentlich?«

»Sebastian!«, jappste der Attentäter.

»Ein Priester…«, Erogal zögerte, mustere Sebastian, »Nein, ein Novize unserer allseits beliebten unifizierten Technokratie.«

Der klerikale Attentäter wollte gerade etwas entgegnen, als sich das Rolltor der Lagerhalle öffnete, der Transporter hinein fuhr und, nachdem sich das Tor wieder geschlossen hatte, zwei junge Drachen dem Wagen entschlüpften. Die Augen des Attentäters weiteten sich, wurden größer und schließlich riesig, als die beiden Echsen sichtlich neugierig in Richtung Wohnbereich hopsten. Auf Sebastian machten die Drachen einen hungrigen, einen sehr hungrigen Eindruck.

»Und, was machen wir mit unserem Gast?«, fragte Ole Olson, während er auf Sebastian zuging und ihm seinen dunklen Mantel auszog. Er wollte ihn sich etwas genauer betrachten. Der Novize der unifizierten Technokratie war nicht nur jung, sondern auch ganz appetitlich gebaut. »Eigentlich schade ihn an die Echsen zu verfüttern…«, dachte Ole Olson und kratzte sich, aus Verlegenheit und weil er nicht wusste, wohin er sonst mit seinen Händen sollte, an der Nase.

»Unser Gast ist ein Novize der U.T. und heißt Sebastian. Sonst hat er noch nichts gesagt. Vielleicht sollten wir das ändern.«, bemerkte Erogal und zwinkerte Ole verschwörerisch zu, bevor er sich direkt an Sebastian wandte: »Du weißt sicherlich, dass ich ein Bruder der Gilde bin. Als Gildebruder verabscheue ich natürlich jede Form von Gewalt. Mein Freund hier ist da hingegen ganz anders strukturiert. Sein Hauptberuf ist der eines Meuchelmörders. Ich habe Gerüchte gehört, dass man als Meuchelmörder endlose Methoden erlernt, ein Ziel in den gewünschten leblosen Zustand zu überführen. Darunter soll es wohl auch recht, sagen wir mal, extrem unerfreuliche Varianten geben. Du weißt sicher, dass es von ihnen natürlich niemals persönlich gemeint ist. Auftrag ist halt Auftrag…«

Während Erogal sprach, zog Ole Olson seine Jacke aus, lockerte seine Handgelenke und ließ seine Finger hörbar knacken. Panik zeigte sich in Sebastians Gesicht.

»Aber ich dachte, euer Ehrenkodex verbietet es, eure Ziele zu quälen?«, stammelte der Jungattentäter verunsichert.

»Was soll ich sagen…«, bemerkte Erogal gedehnt, »Ihr im Allgemeinen lebloser Zustand gestaltet es außerordentlich schwierig, sich hinterher noch zu beschweren.«

Die ausgesprochen beunruhigende Logik dieser letzten Bemerkung war nicht unbedingt dazu angetan, Sebastian zu beruhigen, sondern zeigte eine eher gegenteilige Wirkung.

»Schon gut! Schon gut! Ich rede!«, brabbelte das mörderische Kind los, »Ich bin Zacharias von Rochsinasul unterstellt. Jemand hat den Residenten gebeten Erogal D’Santo aus dem Weg zu räumen. Die Bitte kam aus eurem eigenen Laden! Die Gilde will dich tot sehen!«

Jagdfieber

»Unsere Liebe ist käuflich!«

(20 % Rabatt für Gildeschüler, Stadtwächter und Priester aller Konfessionen)

Leitsatz der professionellen Liebesdienstleister Crossars

»Drachenblut!«

Das Wort kreiselte unaufhörlich in Uskavs Kopf umher und fraß sich dort fest. Was wollte ihm Mithval mitteilen? Er wusste, dass Spuren von Drachenblut die Adern der Orks durchströmten, so wurden die Orks teilweise zu Drachen. Dann müsste…

Eine Idee formte sich in Uskavs Schädel. Da sie von spontanem Brechreiz begleitet wurde, musste sie die richtige Idee sein. Wenn Drachenblut die Orks für die Drachen zu unangreifbaren Scheußlichkeiten verändert hatte, konnte dann Orkblut das Gegenteil bewirken? Orkblut? Uskav schaute sich um. Orkblut gab es genug. Uskav hatte die Wahl zwischen hunderttausenden Blutproben. Es gab nur ein kleines Detailproblem zu lösen. Kein Ork gab sein Blut gerne und erst recht nicht freiwillig her. Überhaupt, wie sollte er das Blut transportieren? Die Zeit drängte, die Orks waren schnell. Mit jeder Minute, die verstrich, näherte sich das Herr Daelbar und dessen voraussichtlichem Untergang.

Uskav entschied, zu handeln. Da er über kein geeignetes Behältnis zur Aufbewahrung von Blut verfügte, entschied er sich, das Blut in sein natürliches Behältnis zu transportieren, in einem Ork. Uskav zögerte etwas bei dem Begriff »natürliches Behältnis«. Natürlich war etwas, das er nur schwer mit einem Ork in Verbindung brachte, eher mit dem Gegenteil.

Orkblut in einem Ork zu transportieren, bedeutete nichts geringeres, als eben einen solchen zu fangen. Kniffelig, wenn auch nicht ganz unmöglich. Das ganze musste relativ unbemerkt erfolgen. Erschwerend kam hinzu, dass sich Orks, wie die meisten Lebewesen, nur sehr ungern fangen ließen. Dies war eine durchaus nachvollziehbare Abneigung, da insbesondere Orks selten gefangen wurden, um mit ihnen etwas, aus Sicht des Orks, Nettes anzustellen. Im Allgemeinen traf das Gegenteil zu. Meistens sparte man sich das Fangen, und legte sie der Einfachheit halber gleich um.

Die besten Chancen unbemerkt einen Ork zu fangen, rechnete sich Uskav eher am Rand des Orkstroms aus. Vielleicht bot sich dort die Möglichkeit, ein ahnungsloses Opfer mit sich ins Unterholz der Umgebung zu reißen. Mit dem Strom aus Orks und vereinzelten Uruks schwimmend, bahnte sich Uskav einen Weg an den Rand des Heeres. Frustriert musste er feststellen, dass sein Plan so nicht funktionieren konnte, zumindest nicht auf dieser Seite des Heeres. Es gab kein Unterholz, sondern nur eine steil aufsteigende Hügelflanke. Uskav hätte nicht einmal allein unbemerkt fliehen können. Ein prüfender Blick zur anderen Seite des Stroms zeigte das gleiche Bild. Der Herr floss quasi in einem Bergtal dahin.

Die Zeit rannte davon. Das Heer kam nicht nur Daelbar immer näher, Uskav entfernte sich auch immer mehr von der Stelle an der er Narsul zurückgelassen hatte. »Ich brauche einen Ork!«, fluchte Uskav innerlich, »Oder Daelbar ist verloren!«

Manchmal hilft der Zufall, obwohl es in diesem Fall auch ein Akt der Vorsehung gewesen sein könnte. Direkt vor Uskav begannen zwei Orks eine ihrer ureigensten Tugenden zu pflegen, sie begannen miteinander zu streiten. Aus einem anfänglich harmlosen Streit, der, orktypisch, aus dem Nichts entstand und keines besonderen Anlasses bedurfte, entstanden, ebenfalls orktypisch, schnell Handgreiflichkeiten. Innerhalb kürzester Zeit waren bereits fünf Orks damit beschäftigt fröhlich aufeinander einzudreschen. Prompt geriet der Orkstrom ins Stocken, der Streit drohte sich auszubreiten und sich auf das restliche Heer auszudehnen.

»Du!«, brüllte ein Uruk Uskav zu, der sowas wie ein Offizier zu sein schien, »Pack du die drei, ich nehme diese beiden!«

Uskav wusste nicht, warum der Uruk von ihm wollte was er von ihm wollte, tat aber, was man ihm sagte. Ganz nach dem Motto: »Bloß nicht auffallen!«

Der Offiziersuruk krallte sich mit erbarmungsloser, urukscher Härte zwei der Streithähne, die lauthals protestierten und den Uruk als neuen Spielgefährten betrachteten. Doch der Uruk hatte andere Pläne, er fesselte die Orks mit einem Seil zusammen, warf sie sich auf seine Schultern und trug sie aus dem Strom des Heeres heraus, den Hügel am Rand empor, wobei er Uskav im vorbeigehen ein zweites Seil zuwarf. Die restlichen Orks des Heeres sahen nicht glücklich aus und betrachteten die Szene mit einer Mischung aus Furcht und Erleichterung.

Uskav wusste noch nicht recht, was er von der ganzen Sache halten sollte und folgte daher dem Beispiel des Offiziersorks. Er packte die drei anderen Orks, fesselte sie und ging dem Uruk nach, der bereits den Höhengrat des Hügels erreicht hatte. Die Orks zappelten, kreischten und wehrten sich. Offensichtlich wussten sie mehr, als Uskav.

»Ihr kennt das Gesetz!«, empfing der Uruk die drei Orks, die Uskav anschleppte. Er packte sie mit seinen Pranken und reihte sie nebeneinander auf, »Ihr wisst, dass wir eine Aufgabe zu erfüllen haben. Aber ihr musstet ja mit einer euren lächerlichen Streitereien und eurer Schlägereien das Heer aufhalten. Ihr wisst, was man euch gesagt hat. Jede Verzögerung ist Hochverrat! Hiermit verurteile ich euch Kraft meines Amtes zum Tode! Du!«, damit war Uskav gemeint, »Richte sie mit deinem Schwert!«

Uskav hätte es wissen müssen. Orks waren nicht nur hässlich, gemein, gefräßig, unzuverlässig und tödlich, sie waren vor allem billig. 1000 Stück der Handelsklasse C bekam man bereits für ein paar Goldmünzen mit Mengenrabatt bei Abnahme von mehr als 10.000 Stück. Und selbst wenn diese besondere Züchtung etwas teurer sein sollte, 5 Orks von hunderttausenden machten den Kohl wirklich nicht fett. Außerdem sollte man niemals die abschreckende Wirkung einer zünftigen Exekution unterschätzen.

Uskav zog sein Schwert und sah sich dabei um. Sie befanden sich auf dem Grat des umgebenen Hügels, der zu beiden Seiten abfiel. Eine Möglichkeit winkte in Uskavs Hirn. Zwei Schritte auf die andere Seite des Grates und niemand aus dem Heer würde sie sehen können. Doch zuerst war da noch eine Aufgabe zu erfüllen. Uskav holte aus.

»Komisch, früher hätte mir das Spaß gemacht!«, dachte sich Uskav und begann den ersten Ork zu enthaupten, »OOPS, es macht immer noch Spaß! Wie durch Butter!«

Ein Ork nach dem anderem verlor Kopf und Leben, bis auf den letzten. Dem verpasste er, unbemerkt vom Uruk, der die ganze Sache überwachte, einen Tritt, dass dieser die vom Heer entgegen gesetzter Hangseite hinunter kullerte.

»Der Kerl haut ab!«, schrie Uskav empört und sprang, den Offiziersuruk mit sich ziehend, hinterher. Noch während sie dem Ork hinterher rannten, packte Uskav erneut sein Schwert und, als er sicher war, dass ihn niemand sehen konnte, trennte er den Kopf des Offiziersuruks sauber vom Hals. Der Uruk schaute ein wenig entsetzt, als er feststellt, dass er sprichwörtlich seinen Kopf verloren hatte. Der ehemals fürs Denken zuständige Körperteil des Uruks leistete sich mit Uskav noch ein Wettrennen, wobei er haushoch gewann. Als dahinrollender Schädel war er einfach im Vorteil. Mit einem leisen »Plop!«, kam er schließlich am Ork zur Ruhe. Der Ork wiederum schaute entsetzt drein, als ihn die Todesfratze seines Offiziers anglotzte.

»So mein Herzchen, für dich habe ich eine besondere Überraschung!«, lachte Uskav den letzten überlebenden Ork an, bevor er ihn mit einem Hieb auf den Hinterkopf ins Land der Träume beförderte. Danach ging alles sehr schnell. Uskav warf sich den Ork auf die Schulter und rannte los, direkt in Richtung Narsul. Jetzt kam es drauf an. Er hatte seine Blutprobe, doch die musste nun so schnell wie möglich Daelbar erreichen. Die Zauberer, Alchemisten, Wissenschaftler und Hexenmeister der Drachenreiterschule standen bereit. Wenn es jemandem gelingen sollte, eine Art Gegenmittel aus dem Blut des Orks zu gewinnen, dann ihnen.

»Nein! Stop! Komm mir mit diesem Vieh nicht zu nahe!«, kreischte Narsul, als Uskav seine Drachendame endlich erreichte.

»Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?«, Uskav verdrehte seine Augen, »Dieses Ork muss nach Daelbar und zwar jetzt!«

Narsul schaute angewidert den Ork an und versuchte sich ihm zu nähern. Es ging nicht! Es ging einfach nicht! Überhaupt nicht! Etwa vier Meter vor dem Ork hatte Narsul das Gefühl gegen eine Wand aus Ekel und Gestank zu prallen. Selbst, als sie alle Willenskraft zusammen nahm und sich noch einen weiteren halben Meter näherte, hatte dies nur zur Folge, dass sie schließlich doch zurückweichen und sich in einen nahe gelegenen Busch übergeben musste.

»Also so geht’s dann offensichtlich nicht!«, kommentierte Uskav die Situation, kratzte sich am Kopf und dachte nach, »Wie weit könntest du auf Dauer an den Ork ran?«

»Auf Dauer? Fünf Meter, mindestens! Das Viech ist so ekelhaft! Du machst dir keine Vorstellung davon wie ekelhaft das ist!«

Uskav ging zu Narsul und streichelte sie sanft: »Geht es dir besser?«

»Es geht… Solange, das Ding da mir nicht zu nah kommt!«, knurrte Narsul in Uskavs Kopf, während der in seinen Satteltaschen herumwühlte.

»Ha!«, rief der Uruk, als er fand, was er suchte. In seiner Hand hielt er ein Seil in die Höhe, »Das sollte funktionieren.«

Der Ork war, obwohl ihm das nicht sonderlich gefiel, bereits gefesselt. Uskav befestigte das Seil an den Fesseln und überprüfte, ob alles fest saß und hielt. Zufrieden mit dem Resultat verknotete er das andere Ende des Seils zu einer Schlaufe, die Narsul bequem mit ihren Klauen fassen konnte.

»Oh, oh, du böser, böser Uruk!«, scherzte Narsul, »Ich ahne, was du vor hast. Das könnte tatsächlich funktionieren.«

Uskav grinste seine Drachendame an, die frech zurückgrinste. Dann wandte er sich dem Ork zu, der langsam wieder zu sich kam und nun feststellen musste, dass er nicht nur gefesselt, sondern auch geknebelt war.

»Hör zu!«, begann Uskav, »Du lebst und ich vermute mal, dass du daran interessiert bist, dass das auch so bleibt.«

Der Ork knurrte wütend, nickte aber.

»Na, dann freu dich mal auf einen Freiflug!«, lachte Uskav und schwang sich auf Narsul. Die krallte sich das Seil, sprang in die Luft und gewann schnell an Höhe, bis sich mit einem Ruck der am Seil baumelnde Ork bemerkbar machte. Das Seil war lang genug, dass er in ausreichender Entfernung unterhalb von Narsul hängen konnte, ohne in ihr Übelkeit und Ekel auszulösen. Etwas nervös lugte Uskav zur Erde hinab, stellte dann aber beruhigt fest, dass sie sich nicht näherte sondern entfernte. Narsul gewann also weiter an Höhe.

»Keine Angst! Dieser Kotzbrocken ist nicht zu schwer!«, versicherte Narsul Uskav ihre ausreichende Transportkapazität, wobei sie ein wenig hochstapelte, »Allerdings sollte er mit der Zappelei aufhören!«

Das gemeinsame Gewicht von Uskav und dem Ork zerrte schon ganz ordentlich an Narsuls Konstitution, hinzu kam, dass der Ork alles andere als begeistert war, als eng verschnürtes Päckchen durch die Luft zu segeln, und wie ein Wilder umherzappelte. Bei aller Kraft und Größe war Narsul immer noch ein Jungdrache und alles andere als ausgewachsen. Das wusste Uskav und er wusste auch, warum sich Narsul dermaßen ins Zeug legte. Seine Drachendame schämte sich, den Ork nicht einfach packen zu können, obwohl sie daran keine Schuld trug. An dem Problem ihrer Überladung hätte sich ebenfalls nichts geändert, doch Narsul hatte ihren Stolz, ein Wesenszug, der bei roten Feuerdrachen und dort besonders bei ihren weiblichen Vertretern, sehr verbreitet war.

»Wenn du nicht sofort still hältst, lass ich dich von meinen Drachen gegen den nächsten Felsen klatschen. Du kannst es dir also aussuchen, ob du als blutiger Fleck enden möchtest oder den Flug genießt.«

Der Ork entschied sich für die zweite Alternative und hielt still. Selbst Orks schätzten, auf eine krude und verschrobene Weise, das Leben, insbesondere, wenn es sich um ihr eigenes handelte. Das nachlassende Gezappel ihres Gefangenen erleichterte es Narsul sich und ihre Fluggäste in der Luft zu halten und weiter an Höhe zu gewinnen. Je höher sie kamen, desto mehr verschwanden einzelne Konturen der Landschaft, boten dabei allerdings einen besseren Überblick.

Der Strom der Orks schien sich ein wenig verlangsamt zu haben. Trotzdem wand sich das Heer wie ein Lindwurm durch die Landschaft. Im Schein des Feuers der Fackeln schien es auszusehen, als ob ein Fluss aus Feuer sich einen Weg zwischen den Bergen hindurch bahnte – Ein Fluss des Todes!

»Schneller!«, Uskav strich seinem Drachen über die Flanken, »Schneller, meine Liebste! Daelbar ist in Gefahr! Unsere Freunde sind in Gefahr! Flieg, flieg um dein Leben! Flieg um unser alles Leben!«

Und Narsul flog! Plötzlich entfalteten sich ungeahnte Kraftreserven, Narsul machte einen Satz, der am Seil baumelnde Ork kreischte, Narsul streckte sich, legte sich in den Wind und schoss davon. Uskav wollte seinen Augen nicht trauen. Narsul Schwingenenden glühten, Funken lösten sich und hinterließen eine glitzernde Leuchtspur am Himmel. Entsetzte Schreie stiegen vom Orkheer auf und erreichten Uskavs Ohren. Narsuls Erscheinen hatte Verwirrung unter den Orks ausgelöst und ihren Marsch ins Stocken gebracht.

»Gut! Sehr gut!«, schrie Uskav, »Das wird sie ein wenig aufhalten.«

Der Fahrtwind zerrte an Uskav. Narsul flog, als wenn sie der Teufel persönlich reiten würde. Das Orkheer hatte sie innerhalb weniger Minuten hinter sich gelassen und eilten nun Daelbar entgegen. Auf halbem Weg kamen ihnen Kifilan mit Johannes und Seregsil mit Akira entgegen, flogen einen Bogen um Narsul und schwenkten auf ihre Flugbahn ein, um den linken und rechten Flankenschutz zu übernehmen. Etwas später stieß auch noch Benedict auf Lindal hinzu.

Daelbar machte mobil. Als die Viererstaffel die Stadt weit nach Mitternacht erreichte, erstrahlte sie in hellem Licht. Auf allen Plätzen, Straßen, Startrampen und Wegen herrschte Aktivität. Der Himmel war mit Drachen erfüllt. Steinmetze, Maurer und Zauberer sicherten die Stadtmauer. Verteidigungsgeschütze wurden in Stellung gebracht.

Uskav kannte diesen Anblick. Es war das Zeichen des Krieges. In diesem Fall eines hoffnungslosen Krieges. Der General in Uskav erwachte. Mit dem kalten, analytischen Blick eines Strategen und Taktikers berechnete er die Chancen. Es gab keine. Die Stadt würde von den Orks überrannt werden. Es sei denn…

Narsul hielt direkt auf die Drachenreiterschule zu. An der großen Hauptstartrampe warteten bereits die Leiter der einzelnen wissenschaftlichen und magischen Abteilungen. Narsul drehte eine Runde über der Schule, um dann in eine stationäre Position über der Rampe einschwenken. Langsam ließ sie sich durchsacken, bis der gefangene Ork wohlbehalten den Boden erreicht hatte. Befreit von der Last, drehte Narsul bei und steuerte eine andere Startrampe an, um dort zu landen.

»Präsident Uskav!«, rief der Direktor der Drachenreiterschule, nachdem Uskav von Narsul gesprungen war und sofort auf die wartenden Wissenschaftler, Hexer und Magier zu gerannt war. Einige sahen grün aus, als wenn sie einen Anfall von Übelkeit erlitten hatten.

»Die Orks, die uns bedrohen sind etwas anders.«, begann Uskav sofort, »Ich weiß nicht, wie viel ihr schon wisst. Weder Drachenreiter noch Drachen können sich diesen Orks nähern. Sie sind ein Ekel und erzeugen unüberwindlichen Brechreiz.« Die Drachenreiter unter den Anwesenden nickten. Uskav fuhr fort: »Ich scheine der einzige zu sein, den diese Übelkeit nicht befällt. Ich bin ein Ork, ein Uruk. Ich glaube zu wissen, was an diesen Orks anders ist. Es ist das Blut! Erinnert euch daran, dass Erogal und Suman Drachenblut bei Boldin fanden. Ich bin mir sicher. Boldin hat Orks gezüchtet, deren Blut mit dem eines Drachen vereint wurde.«

Unter den Fachleuten entflammte sofort eine hitzige Diskussion. Drachenblut, das war in der Tat der Schlüssel. Welch kranker Geist konnte das Blut eines Drachens nur dazu verwenden, Werkzeuge des Todes zu züchten?

»Ich weiß nicht, wieso, aber Mithval hat zu mir gesprochen und meinen Verdacht bestätigt.«, unterbrach Uskav die Diskussion, »Es ist nur eine Idee, ein Strohalm an den ich meine Hoffnung klammere, aber wenn das Blut eines Drachens Orks gegen uns immunisieren kann, vielleicht kann dann das Blut eines solchen Orks das Gegenteil bewirken.«

Die Experten stimmten zu und gingen sofort an die Arbeit. Man schnappte sich den Ork und wollte mit ihm gerade in die Laboratorien gehen als Uskav seine Stimme erneut erhob: »Lasst ihm am Leben. Ich habe ihm versprochen, sein Leben zu verschonen.«

»Ich glaube nicht, dass er dir deine Milde danken würde.«, meinte Akira trocken.

»Nein«, lachte Uskav, »Er würde nicht zögern, jeden von uns zu töten.«

Die Aufgabe war gestellt. Die Zauberer, Wissenschaftler und Hexer gingen an die Arbeit und suchten nach einem Gegenmittel oder einer Art Impfung gegen die Wirkung der Orks. Uskav kehrte der Schule den Rücken und bestieg Narsul. Uskav musste nichts sagen, Narsul wusste, wohin ihre Seele wollte. Sanft schwang sie sich in die Lüfte, umkreiste die Schule und hielt auf die Häuser der Heiler zu. Ebenso sanft wie sie gestartet war, landete Narsul wenig später am Hauptportal. Ein einzelner Elb stand an der Startrampe und erwartete Uskav. Der lief direkt auf ihn zu und umarmte ihn, klammerte sich fast an ihn, obwohl dies bei der ungleichen Massenverteilung etwas seltsam aussah.

»Wie geht es ihm?«, wollte Uskav wissen, »Wie geht es Roderick?«

Thonfilas streichelte Uskav sanft, was bei einem Uruk immer irgendwie seltsam aussah, »Es geht ihm gut. Er ist wach und tyrannisiert das Pflegepersonal.«

»Roderick zu beißen, war das Schlimmste, was ich je machen musste.«, erwiderte Uskav.

»Er hat mir erzählt, warum du es getan hast. Ihr hattet keine…«, versuchte Thonfilas Uskavs Gewissensbisse mit rationalen Argumenten beizukommen. Doch Uskav unterbrach ihn: »Du verstehst nicht! Es war so schlimm, so qualvoll, weil es mir gefallen hat! Von Roderick zu kosten, war himmlisch. Dieser Mann schmeckt einfach köstlich! Du hast keine Ahnung, wie sehr ich mich zwingen musste, ihn nicht zu verschlingen, mein Fänge nicht in sein Fleisch zu rammen und das köstliche Fleisch… Verdammt, ich bin ein Uruk, ein Monster. Wie könnt ihr sowas wie mich lieben?«

»Das fragst du wirklich?«, Thonfilas trat einen Schritt zurück, breitete seine Arme aus, drehte sich um seine eigne Achse und zeigte damit auf ganz Daelbar: »Uskav, schau dich um! Schau mich an! Schau Narsul an! Schau Lindor an! Schau dir ganz Daelbar an! Wir lieben dich – Alle! Ja, du hast Roderick gebissen und er hat dir geschmeckt. Verdammt, du bist ein Uruk, es wäre seltsam, wenn dir Roderick nicht geschmeckt hätte. Aber du vergisst eins, du hast Roderick eben nicht gefressen! Du hast ihn nicht gefressen, weil du ihn liebst, weil er dir etwas bedeutet und du dich um ihn sorgst. Dafür lieben wir dich! Dafür liebe ich dich! Uskav, du bist eines der liebenswertesten Wesen, dass mir in meinem langen Leben begegnet ist.«

Uskav war geplättet, so hatte er die Sache noch überhaupt nicht betrachtet. Stimmt, er hatte Roderick nicht gefressen. Aber Thonfilas hatte Recht. Er hätte Roderick fressen können, aber er tat es nicht. Sein Verstand, seine Seele und seine Liebe, hatte über sein biologisches Verlangen gesiegt.

»Außerdem«, fügte Thonfilas süffisant hinzu, »ist der Sex mit dir einfach megageil!«

Mit diesen Worten ging Thonfilas auf Uskav zu, umarmte und küsste ihn. Uskav wurde es warm ums Herz. Von jemandem geliebt zu werden, war für einen Uruk immer wieder ein überwältigendes Gefühl.

»Und jetzt komm! Roderick wartet auf dich!«, Thonfilas rümpfte seine Nase und grinste breit, »Junge, du solltest mal duschen, du stinkst wie ein Ork!«

Das Warenhaus zu Erzsee

»Drachenfeuer – Ein Kräuterbitter der Extraklasse«

»Für die Herstellung dieses Produkts wurden keine Drachen verletzt, getötet oder anderweitig in Mitleidenschaft gezogen. Überhaupt, wer glaubt schon an Drachen?«

Aus einem Werbetext der Spirituosenbrennerei Steinbrand (Lieferant des königlichen Goldorianischen Hofs)

»Palle?«, fragte Gilfea skeptisch und hob leicht verwundert seine linke Augenbraue.

»Ja!«, sagte Palle, »Das ist mein Name. Ihr wundert euch, woher ich weiß, wer ihr seid.«

»Diese Frage drängt sich auf…«, entgegnete Gilfea scheinbar locker, doch jeder im Raum spürte die Anspannung, insbesondere als Gilfea begann mit seinem Schwert zu spielen.

»Entspannt euch!«, beruhigte Palle, »Ich wurde informiert, dass vermutlich ein Mensch und ein Elb unsere kleine Stadt besuchen könnten. Die Beschreibung, die man mir gab, trifft auf verblüffende Weise auf euch beide zu. Vielleicht würde es helfen, wenn ich euch sage, dass meine Informationen von jemanden namens Lars stammen.«

Gilfea lächelte freundlich, spielte aber weiterhin versonnen mit seinem Schwert. Es stand vor ihm, die Schwertspitze auf dem Boden, ließ er es hin und herkreiseln.

»Du könntest auch ein Agent Goldors sein. Jeder, der die Ereignisse der letzten Stunde kennt, weiß von Lars und vermutlich auch von uns.«

»>Den drei liebenden Kämpfern und den heilenden Händen sei auf ewig gedankt. Der Kodex ruht! Wahrheit leitet von nun an unseren Weg!<, diese Worte überbringe ich euch von Lars. Ich weiß nicht, was sie bedeuten, aber sie sollen meine Aufrichtigkeit beweisen.«

Gilfea entspannte sich, denn er wusste, worauf Lars in seiner Nachricht anspielte. Während des Angriffs auf die nördliche Feste wurde Lars verletzt. Gilfea wollte ihn heilen, doch kannte er Lars Abneigung gegenüber Männern, die Männer lieben, und war sich daher nicht sicher, ob der Neovikinger von ihm geheilt werden wollte. Der Zauber des Heilens verband Heiler und zu Heilenden auf eine sehr persönliche und intime Weise. Es gab nur eine Möglichkeit, Lars musste die Wahrheit über Gilfeas, Gildofals und Sumans Liebe erfahren. Überraschenderweise war Lars wesentlich weiter, als Gilfea gedacht hatte und hieß Gilfeas Hilfe bedingungslos willkommen. Da außer Lars und Gilfea niemand anderes bei dieser Begebenheit anwesend war, konnte auch niemand anderes davon wissen. Palle war vertrauenswürdig.

»Ich sehe, du kennst die Bedeutung der Worte.«, bemerkte Palle.

»Ja und es sagt mir, dass wir dir vertrauen können.«, antwortete Gilfea deutlich entspannter.

Palle nickte, stand auf und holte drei Gläser und eine Glasflasche mit einer goldfarbenen Flüssigkeit: »Wir sollten einen Schluck trinken, denn das, was ich euch zu erzählen habe wird euch nicht gefallen. Dieser Trunk stammt aus meiner Heimat und nennt sich >Wasser des Lebens< oder, wie wir es nennen, >Aquavit<. Vorsicht, das Zeug hat es in sich.«

Der Neovikinger sollte recht behalten, das Zeug hatte es in sich. Gildofal verschluckte sich und lief rot an. Eine erstaunliche Reaktion für einen Elben. Palle behielt aber auch bei einem anderem Punkt recht. Sein Bericht gefiel wirklich nicht. Lars hatte ihn gebeten, Gilfea und Gildofal jede Hilfe zukommen zu lassen, die sie brauchten, wozu insbesondere die Versorgung mit frischen Informationen gehörte.

»Es war eine gute Sache, dass ihr geholfen habt, unser Land zu befreien.«, meinte Palle, »Es wurde zu einem Weckruf für unser Volk. Viel zu lange haben wir auf unsere Kriegerfürsten gehört und uns von ihnen entmündigen lassen. Sie haben gesagt was gut für uns ist und wir haben brav pariert. Wo hat uns das hingebracht? Goldor hat seine Finger nach unseren Landen ausgestreckt, während wir zu einem zerrissenen und gespaltenen Volk wurden. Lars ist ein guter Mann, ich glaube, er kann etwas ändern.«

Prinzipiell war Erzsee nicht mehr, als eine unabhängige Gold- und Mithrilgräberstadt, was aber nicht bedeutete, dass es keine Vertreter der Interessen Goldors gab. Genauso wie es jemanden gab, der im Sinne der Neovikinger handelte. Die Stadt war klein genug, dass jeder jeden kannte. Jeder wusste, dass Palle die Seite der Neovikinger vertrat und es sich bei Petronius, dem Wirt der größten Bar Erzsees, um einen treuen Sohn Goldors handelte. Man kannte sich, man respektierte sich, man brachte sich nicht um. Jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Doch dies hatte sich mit den Angriffen auf die beiden Festungen schlagartig geändert. Man brachte sich zwar immer noch nicht um, war aber nah dran. Man konnte die Atmosphäre in der Stadt auch als spannungsgeladen bezeichnen.

Der Fall der beiden Festungen hatte Wellen geschlagen. Obwohl Goldor seine Festungen völkerrechtswidrig auf fremdem Territorium errichtet hatte und damit ihre Beseitigung vollkommen legitim war, schienen alle Zeichen darauf hin zu deuten, dass der König innerhalb der nächsten zwei Tage den Neovikingern den Krieg erklären würde. Dies war sehr überraschend, steckte man doch bereits im Süden mitten in kriegerischen Auseinandersetzungen mit Harrasland. Selbst ein schwacher König, wie der amtierende Herrscher Goldors II, sollte wissen, dass man nicht gleichzeitig an zwei Fronten kämpft.

Mit anderen Worten, die Zeichen standen auf Sturm. Erzsee blieb nicht von den Auswirkungen der sich verdüsternden Großwetterlage verschont. Petronius hatte seine Leute mobilisiert. Was Palle wiederum zwang, seine Truppen in Stellung bringen. Man belauerte sich und registrierte ganz genau, was der jeweilige Gegner tat, bis vor zwei Stunden Petronius Palle zu einem Gespräch auf neutralem Terrain einlud.

»Ich will nicht um den heißen Brei herumreden, alter Freund.«, begann Petronius, »In ein paar Stunden wird ein Schnellboot Erzsee erreichen, aber das weißt du natürlich schon. Das Boot wird auftanken und weiterfahren. Sollte einer deiner Jungs bezüglich dieses Boots auf dumme Gedanken kommen, könnte das für alle Seiten sehr unerfreulich werden. Ich habe bei dieser Sache den Stadtrat auf meiner Seite. Man meint, es wäre nichts, was Erzsee angehen würde.«

Suman in Erzsee zu befreien, fiel also flach. Goldor war vorbereitet. Gildofal seufzte frustriert. Denn eins stand unverrückbar fest, sie mussten Suman befreien, egal wie.

»Ich sage es nur ungern, aber ich befürchte, euren Freund auf offener See befreien zu können, erscheint mir eher unwahrscheinlich. Petronius Männer bewachen den Pier. Kommt ihr auch nur in die Nähe, ist euer Freund tot. Doch es kommt noch schlimmer. Meine Quellen melden, dass drei weitere Schnellboote zur Verstärkung aus Tharbad die Küste hoch kommen, um sich mit eurem Boot zu treffen.«

Gilfea wusste, was dies bedeutete, zurück zu Plan A und Suman in Tharbad befreien. Womit man wieder bei dem Grund angelangt war, warum man Plan A fallen gelassen hatte. Wie sollte man mit drei Drachen unbemerkt nach Tharbad kommen?

»Palle, du weißt, wie wir hier hergekommen sind?«, Gilfea entschied Palle etwas mehr zu vertrauen. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Gildofal und Gilfea konnte jede Hilfe gebrauchen, die sich ihnen bot.

»Lars erwähnte etwas von Reptilen Freunden von erstaunlicher Größe.«, Palle grinste breit, »Hab ich eigentlich schon von meinem Sohn Anger erzählt? Nein? Es wird euch interessieren, dass er die Bucht von Erzsee wie seine Jackentasche kennt. Mit seinem Boot besucht er gelegentlich die großen Transportschiffe, die hier die Küste entlang kommen. Mit manchen Besatzungen ist er, so wie ich auch, recht eng befreundet. «

Gilfea wurde hellhörig. Gildofals eh schon spitze Ohren wurde noch etwas spitzer. »Erzählt mir noch etwas mehr von eurem Sohn…«, forderte Gilfea den Kaufmann auf.

»Ich glaube mich zu erinnern, dass mein Sohn erwähnte, dass sich ein recht großes Schiff mit geräumigem Laderaum auf einem Kurs nach Tharbad befindet und in den nächsten Stunden die Gewässer vor Erzsee kreuzt. Der Kapitän ist ein netter Mann mit einem guten Namen, Gustavson, mein Sohn kennt ihn und kennt auch sein Schiff. Er würde es gerne wieder einmal besuchen, nur… Das Boot liegt am Pier und Petronius war sehr deutlich, was den Pier betrifft.«

Die beiden Drachenreiter schauten sich an und fragten sich, ob sie alles richtig verstanden hatten. Ihr fragender Blick ließ Palle erst grinsen und dann eine absolute Unschuldsmine aufsetzten: »Tja, wenn man in der Lage wäre, fliegen zu können…«

Sie hatten Palle richtig verstanden. Gildofal ergriff das Wort: »Anger würde eine Weile unterwegs sein.«

»Ach, so eine Seefahrt schadet ihm nicht.«, grinste Palle, »Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass sich mein Sohn recht gut im Freihafen von Tharbad auskennt? Nicht? Schade…«

Palle wurde ernst: »Ganz im Vertrauen, ihr braucht Anger. Wenn ich das richtig sehe, dann war keiner von euch beiden jemals in Tharbad. Ich will eure Fähigkeiten gar nicht in Frage stellen, aber Anger könnte bei eurer Aufgabe eine echte Hilfe sein. Er kennt sich dort aus, weiß, wo man Informationen erhält, wo nicht und wo die Informationsbeschaffung gefährlich sein könnte. Das Schiff, von dem ich sprach, ist groß genug, dass man selbst Drachen darin verstecken kann. Es steuert direkt den Freihafen von Tharbad an. Tharbad ist durch und durch korrupt. Bisher hat immer noch die Höhe des Bestechungsgelds darüber bestimmt, wer im Barad Baul sitzt und wer nicht. Wenn ihr euren Freund befreien wollt, solltet ihr weniger in militärischen sondern in wirtschaftlichen Dimensionen denken.«

»Scheint wohl die einzige Chance zu sein, Suman zurück zu gewinnen.«, meinte Gildofal und schaute fragend zu Gilfea. Der nickte: »Es sieht wirklich so aus, als wenn wir Suman erst in Tharbad befreien können. Wenn überhaupt. Wann müssen wir aufbrechen?«

»Sofort!«

 

Sofort bedeutete tatsächlich sofort. Palle erhob sich und führte die beiden Drachenreiter aus dem Büro zurück in das Erdgeschoss. Anger, ein Junge von etwa Mitte zwanzig, schaute hinter dem großen Verkaufstresen des Ladens hervor, als die drei Männer dir Treppe vom Obergeschoss herunter kamen. Ein Blick zu seinem Vater reichte aus, dass Anger nach unten griff und einen Rucksack zu Tage beförderte, den er auch sofort schulterte.

Die ganze Sache schien geplant zu sein, was Gildofal veranlasste, das Wort zu ergreifen. Das heißt, er wollte etwas bemerken, wurde aber von Palle unterbrochen: »Sehr gut Anger, wie ich sehe, hast du die Sachen der Herren schon zusammengepackt. Das macht dann 15 Silber- und 10 Bronzemünzen.«

Erst jetzt entdeckte Gildofal eine weitere Person, die sich viel zu bemüht als Kunde verhielt, um wirklich einer zu sein. Gildofal öffnete seine Geldbörse, ging zur Kasse und bezahlte.

»Ob uns Ihr Mitarbeiter die Sachen bis zu unserem Lager bringen könnte?«, fragte Gilfea höflich.

»Selbstverständlich!«, jubelte Palle ganz Kaufmann, »Anger, wärst du bitte so nett und begleitest die Herren?«

»Ja Papa!«, meinte Anger und setzt sich in Bewegung Richtung Ausgang. Gilfea und Gildofal verabschiedeten sich und folgten. Es benötigte keines großen Agentenwissens, um zu entdecken, das Palles Kaufhaus von etlichen Personen überwacht wurde. Doch schien sich niemand für Gilfea und Gildofal zu interessieren, die mit gemütlicher Schlendergeschwindigkeit mit Anger im Schlepptau zum Ortsausgang eilten.

Ein fahler Halbmond erleuchtete den Weg zurück zu den Drachen. Wie es schien, wurde man nicht verfolgt, was Gilfea verwunderte. Anger schien Gilfeas Gedanken zu erraten. Eineinhalb Meilen vom Stadtrand entfernt, begann er das erste mal, seit dem sie den Laden seines Vaters verlassen hatten, ein Wort zu sprechen: »Ihr seid sehr jung! Kein Wunder, dass die Goldorpenner euch nicht ernst genommen haben.«

Ein Effekt Drachenreiter zu sein, bestand darin, dass man das Gefühl für sein eigenes Alter verlor. Gilfea war rein körperlich im gleichen Alter wie Anger. Allerdings fühlte er sich nicht so. Es war schwer zu beschreiben, als Drachenreiter fühlte er sich gleichzeitig jung, uralt und zeitlos. Je nachdem, auf welchen Aspekt seines komplexen Lebens er hörte, also, ob er sich mehr als Mensch, Drache oder Kombination davon verstand.

»Wir sind so alt wie du.«, bemerkte Gildofal, um Anger das fast unmögliche Schätzen seines Elbenalters zu ersparen, »Du willst uns wirklich helfen unseren Freund zu finden?«

»Klar!«, kam es wie aus der Pistole geschossen. Anger schien ein flinkes, waches Kerlchen zu sein, »Wenn auch nur ein Teil von dem stimmt, was man über euch erzählt…«

Anger brach mitten im Satz ab. Wie aus dem Nichts hatte er plötzlich ein langes Messer in der Hand und sprang schützend vor Gilfea und Gildofal. Ein großer Wolf kam auf die Gruppe zu gerannt: »Bleibt zurück! Das erledige ich.«

Über soviel Mut musste Gilfea einfach schmunzeln. Der kleine war tapfer, wenn auch im falschen Moment: »Anger, steck dein Messer weg. Schiefergrau gehört zu uns!«

Schiefergrau kam angerannt, bremste in sicherer Entfernung ab und ging langsam zu Gilfea, der sich hinhockte und seinem treuen Freund das Fell kraulte: »Und alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung, niemand hat uns entdeckt. Ich habe die ganze Zeit patrouilliert.«, bellte Schiefergrau, was aber nur Gilfea und Gildofal, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, verstehen konnten.

»Guter Junge!«

»Ihr sprecht mit dem Wolf?«, fragte Anger, »Und ihr könnt ihn verstehen?«

»Ja!«, meinte Gilfea, »Er heißt übrigens Schiefergrau.«

Gildofal schmunzelte in sich hinein. Ob es Anger wohl nervös machen würde, wenn er sich ebenfalls in einen Wolf verwandelte? Es war zwar nur Halbmond, doch das Mondlicht als solches weckte in Gildofal das Verlangen sich zu verwandeln.

Zu viert wanderten sie weiter. Schiefergrau lief ständig hin und her, schnüffelte in der Luft und spähte in die Weite. Doch niemand verfolgte sie. Das hätte seine Nase sofort bemerkt. Nach einer weiteren halben Meile erreichten sie die drei Drachen. Mithval, Eargilin und Tingalen hatten es sich auf dem Strandsand gemütlich gemacht. Genau genommen hatten sie den halben Strand umgegraben und Sandburgen gebaut.

»Phantastisch!«, war das einzige Wort, das Anger herausbrachte, als er die drei Echsen sah. Als sich dann auch noch Mithval zu voller Größe erhob und seine Flügel ausbreitete, wäre der junge Neovikinger fast auf seinen Hintern gefallen. Soweit hatte er sich zurück gebeugt, um den Mithrildrachen in seiner ganzen Dimension zu sehen.

»Wen habt ihr uns denn da mitgebracht?«, fragte Tingalen und gähnte.

»Die sprechen!«, rief Anger und reagierte so, wie es offenbar jeder tat, der einen Drachen das erste mal von Angesicht zu Angesicht sah.

»Sicher kann ich sprechen!«, frotzelte Tingalen, »Seh ich etwas wie ein Dorsch oder Karpfen aus?«

»Nicht wirklich, nein!«, frotzelte Anger zurück, »Die Schnauze hat mehr was von einer Kröte…«

Tingalen kicherte innerlich. Der junge Neovikinger gefiel ihr. Mit einem Satz war sie auf ihren Beinen. Sie reckte sich und schob ihren Kopf auf wenige Zentimeter an Anger heran. »Buh!«, machte die Drachendame und ließ zwei kleine Feuerbällchen aus ihren Nüstern entweichen.

»Dass euer Drachen Sodbrennen hat, hättet ihr mir sagen müssen. Ich hätte Magentabletten mitnehmen können.«, meinte Anger trocken.

»Ich glaube, in Anger hast du einen ebenbürtigen Gegner gefunden!«, meinte Gilfea, während er Schiefergrau sicher auf Mithval verstaute, »Lasst uns aufbrechen. Anger, du wirst auf Tingalen reiten und uns den Weg zeigen. Wir folgen dir.«

»Was?«, kreischte Anger erschrocken, »Ich soll auf einem Drachen reiten? Allein?«

»Sicher!«, entgegnete Gildofal, »Was hast du denn gedacht, wie wir das Schiff finden sollen. Tingalen mag dich. Sie wird dich sicher auf ihrem Rücken tragen und dich nicht fallen lassen.«

»Komm Kleiner, klettere auf mich rauf.«, tönte Tingalen in Angers Kopf und hockte sich so hin, dass Anger über die Flügel zum Sattel empor klettern konnte.

»Ähm, und wie soll ich dich steuern?«, Anger sah sich auf dem Sattel um. Es gab nur ein Seil zum festhalten, »Ich seh keine Zügel. Soll ich dir die Richtung zurufen.«

»Zügel?«, rief Tingalen mit gespielter Empörung, »Junge, du sitzt auf einem Drachen. Ich weiß, was du denkst und fühle, wohin du willst. Zügel, also wirklich!«

»Alle bereit?«, rief Gilfea und schaute sich um, »Na dann, los!«

Mit einem Satz, dessen Windschleppe Anger auf Tingalen spüren konnte, war Mithval in der Luft. Ihm folgten Tingalen und als Nachhut Eargilin. Anger krallte sich am Sattel fest und kreischte. Er hatte das Gefühl, jeden Moment abzustürzen und als feuchter Fleck auf dem Strand zu enden.

»Entspann dich! Ich lass dich nicht fallen. Keine Angst!«, beruhigte Tingalen, »Zeig mir lieber den Weg.«

Anger reckte sich vorsichtig und schaute sich um. Sie kreisten in einiger Höhe über dem Strand. In der Ferne waren die Lichter Erzsees zu sehen, in entgegen gesetzter Richtung schob sich die Landspitze Eiswindhuk ins Meer. Damit war Anger die eigene Position klar. Wenn man die Huk als zwölf Uhr annahm, musste das Schiff auf Höhe von etwa 8 Uhr liegen. Noch bevor Anger diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, war Tingalen bereits auf den neuen Kurs eingeschwenkt.

Die Gewässer entlang der Küste galten als viel befahrene Wasserstraße. Aus der Höhe wurde Anger erst klar, wie viele Schiffe die Bucht entlang kamen. Mit bloßem Auge konnte er gut fünf Schiffe ausmachen, die teils Richtung Norden, teils Richtung Süden unterwegs waren. Tharbad lag im Süden, womit nur zwei Schiffe in Frage kamen. Zum Glück hatte man mit dem Kapitän ein spezielles Lichtsignal vereinbart, das man nur sehen konnte, sollte man das Schiff überfliegen.

Das erste Schiff entpuppte sich gleich als Treffer. Drei violette, ein grüne und zwei weiße Lampen waren auf dem Deck zu einer Kette aufgereiht. Als erstes setzte Tingalen zu Landung an. Anger zuckte nochmals zusammen, als die Echse in einen Sturzflug überging. Gerade, als Anger schreien wollte, kam Tingalen zum Stillstand und landete sicher auf dem Achterdeck des Schiffs.

»Hallo Anger, mein Junge!«, rief ein Seebär von einem Mann.

»Hallo Onkel Gustavson. Erlaubnis an Bord zu kommen?«, fragte Anger, kletterte von Tingalen herunter und umarmte seinen Onkel.

»Erlaubnis erteilt.«, lachte der Kapitän und sah, wie zwei andere Drachen sich auf dem Deck seines Schiffes niederließen.

 

»Onkel, darf ich dir Gildofal, Gilfea, Mithval, Tingalen, Eargilin und nicht zuletzt Schiefergrau vorstellen?«, fragte Anger und zeigte auf seine neuen Freunde.

»Sehr erfreut und willkommen an Bord!«, begrüßte Frederick Gustavson seine Passagiere freundlich, wurde dann aber ernst, »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber da ich annehme, dass ihr unentdeckt bleiben wollt, sollten die Drachen unter Deck gehen. Die Ladeluke sollte groß genug sein.«

Die Drachen waren wenig begeistert in einem Lagerraum versteckt zu werden, sahen aber ein, dass es notwendig war. Der Verkehr in den Gewässern war so stark, dass sich die Routen der Schiffe ständig kreuzten und auf fernglasweite einander näherten.

»Euer Freund wird in etwa vier Stunden Erzsee erreichen.«, begann der Kapitän mit einer improvisierten Lagebesprechung direkt im Lagerraum, »Das Nachtanken kostet viel Zeit und zehrt den Vorteil eines Schnellbootes schnell auf. Nach Erzsee werden sie mindestens noch einmal bunkern müssen. Ich glaube nicht, dass die Jungs aus Goldor Tharbad vor uns erreichen werden.«

»Das klingt gut…«, meinte Gilfea.

»Wie man es nimmt«, gab Gustavson zu bedenken, »Die werden sicherlich nicht den Freihafen anlaufen. Im schlimmsten Fall, wovon ich ausgehe, werden sie versuchen, direkt am Pier des Barad Bauls anzulegen. Wenn ihr etwas vorbereiten wollt, bleibt euch wenig Zeit.«

»Und was, wenn wir es nicht schaffen?«, fragte Gildofal, obwohl er die Antwort kannte.

»Werdet ihr euren Freund niemals wieder sehen.«

Seitenwechsel

»Und es wird erscheinen ein Licht am Himmel der verfluchten Stadt«

2. Prophezeihung der blinden Frau vom Berg.

»Was macht unser Gast?«

»Versucht unsere beiden Echsen davon zu überzeugen, ihn nicht als Zwischenmahlzeit zu verspeisen.«

Ole Olson und Erogal D’Santo grinsten hintersinnig. Jungattentäter Sebastian, Vikar der unifizierten Technokratie, hatte ziemlich nervös reagiert, als er sich unerwartet zweier Drachen gegenüber sah, die zudem noch den ausdrücklichen Befehl erhielten, ihn auf keinen Fall laufen zu lassen. Notfalls sollten sie ihn einfach als Snack betrachten. Dass Ole Olson die letzte Anweisung alles andere als ernst meinte, konnte der Jungpriester natürlich nicht wissen und versuchte seitdem die beiden Drachen davon zu überzeugen, dass er alles andere als eine wohlschmeckende Mahlzeit sei.

»Zacharias von Rochsinasul…«, ließ Erogal den Namen des Auftraggebers über seine Lippen rollen.

»Du kennst ihn?«, fragte Ole.

»Oh ja!«, antwortete Erogal gedankenverloren, die Augen auf einen imaginären Punkt in seinen Erinnerungen gerichtet, »Einer unserer ernsthaftesten Gegenspieler. Vermutlich einer der mächtigsten Männer Goldors. Manche meinen, in den nördlichen Territorien des Königreiches wäre er mächtiger als der König. Es überrascht, dass er mich töten will. Septimus Na’Tohl unser Gegenstück zu Zacharias hält ihn für einen vernünftigen Mann, der sein Geschäft versteht. Mordaufträge passen nicht zu ihm. Es sei denn, es ist etwas besonderes vorgefallen.«

»Die Gilde hat dich verstoßen und will dich töten.«, schlug Ole vor.

»Das könnte natürlich eine Möglichkeit sein. Ich kenne die meisten Brüder, womit sie im Nachteil wären. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gilde sich an Zacharias wendet, um mich aus dem Weg zu schaffen.«

»Wie dem auch sei. Was machen wir mit unserem Gast? Wir können ihn schlecht laufen lassen. Andererseits verspüre ich kein Bedürfnis ihn umzulegen.«, Ole zuckte verlegen mit den Schultern. Ein diebisches Grinsen schlich sich auf seine Lippen, »Es wäre wirklich schade um ihn…«

Erogal grinste zurück: »Möchtest du dich persönlich um seine Bewachung kümmern?«

»Was du wieder denkst…«

»Solange wir hier sind, werden wir ihn nicht laufen lassen können.«, Erogal überlegte, »Es ist ja nichts passiert. Ich lebe schließlich noch. Da ich uns prinzipiell für die Guten halte, verbietet es sich von selbst, ihn für seinen dilettantischen Versuch mich zu töten ins Gras beißen zu lassen.«

»Gut! Und jetzt lass uns was Essen! Ich bin am verhungern.«, wie auf Bestellung knurrte Ole Olsons Bauch und verlieh dem Wunsch nach Nahrungsaufnahme zusätzlichen Nachdruck.

 

»Hey, Sebastian, hast du auch Hunger?«, rief Ole Olson dem Jungattentäter zu, der immer noch ängstlich zwischen Sulomile und Sulogorn hockte, »Komm her und setz dich zu uns.«

Sebastian gehorchte und schien sogar froh zu sein, von den Echsen weg zu kommen. Wieselflink rannte er in den Wohnbereich des Lagerhauses und fand sich schließlich an einem gut gedeckten Tisch wieder. Ein Grundmotto Erogals lautete, »Wenn du schon gegen das Böse in der Welt kämpfst, dann nicht mit leerem Magen!«, welches er gleichzeitig als Ausrede dafür benutzte der Kunst des Kochens zu frönen. So gesehen war Erogal nicht nur ein Meister der Gilde, sondern auch ein Meister der Küche.

»Was… Was habt ihr mit mir…«, stammelte Sebastian, dem ein Konzept für seine momentane Situation fehlte. Seine bisherige Planung bestand darin Erogal aufzulauern, umzulegen und schließlich diskret und unauffällig in den Schoß der Kirche zurück zu kehren. In Gefangenschaft zu geraten, stand nicht auf dem Plan.

»…mit dir vor?«, vervollständigte Ole Olson den Satz, während er sich eine ordentliche Portion des vorzüglichen Essens auf seinen Teller schaufelte, »Nichts, jedenfalls im Moment nicht. Iss erst mal, dann werden wir uns ein wenig miteinander unterhalten.«

Irgendwie war Sebastian die ganz Situation nicht ganz geheuer. So weit er wusste, gehörte es nicht zu den üblichen Reaktionen eines Attentatsziels, seinen, wenn auch gescheiterten, Attentäter zum Essen einzuladen. Sebastian fühlte, wie ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, als im plötzlich klar wurde, dass seine momentane Situation alles andere als optimal zu nennen war. Er hatte dass Attentat verbockt und wurde enttarnt. Ein Attentat zu verbocken war an sich kein Problem, solange es niemand bemerkte, sich schnappen zu lassen hingegen schon. Entsprechend unerfreulich sahen die Konsequenzen aus. Ein Agent des Geheimdienstes Zacharias von Rochsinasul war verpflichtet sich nötigenfalls zu opfern, statt in die Hände des Feindes zu geraten. Nun neigt der Mensch dazu, am Leben zu hängen und sich ungern selbst zu entleiben, soweit man einmal von den Fanatikern der fundamentalistischen Technotronikern absah, die ihre Erfüllung darin verstanden, sich und ihre Körper zu höchst komplexen Bomben umzubauen. Dies wussten natürlich auch die Führungsoffiziere der Geheimdienste, wie Zacharias von Rochsinasul, und schufen eine kleine Motivationshilfe. Jeder enttarnte Agent, der sich nicht sofort selbst aus dem Verkehr zog, durfte sich auf eine geheime Anklage vor einem Militärgericht des Königs wegen Hochverrats freuen. In Goldor wurde Hochverrat noch nach guter alter Sitte bestraft, grausam und erbarmungslos durch langsames Pfählen. Dies war man dem Volk, das nach kurzweiliger Unterhaltung lechzte, einfach schuldig und nichts war unterhaltsamer, als eine zünftige Hinrichtung nach alter Sitte, ein großer Spaß für jung und alt.

Nach kurzer Abwägung der Alternativen entschied Jungattentäter Sebastian, dass ein schneller Gifttot einem mehrtägigen, qualvollen Dahinscheiden vorzuziehen wäre. Doch der Griff in seine Kutte ging ins Leere. Das winzig kleine Giftdöschen, das jeder Attentäter der Kirche bei sich trug, war verschwunden.

»Suchst du dies?«, hörte Sebastian eine Stimme fragen. Ole hielt das vermisste Giftdöschen Sebastian vor die Nase, »Ich glaube, du bist noch zu jung für solch einen Abgang. Iss, jetzt!«

Der erfolglose Jungattentäter stellte fest, dass er nicht einmal einen kultivierten Selbstmord auf die Reihe brachte und erstach aus lauter Frustration einen Klumpen Rindfleisch, der auf seinem Teller lag. Der Klumpe zeigte keine Gegenwehr und ließ sich ohne weitere Hindernisse in mundgerechte Stücke zerteilen. Es war einzig und allein der Kochkunst Erogals zu verdanken, dass sich unmittelbar nach Verzehr des ersten Stück Fleischs Sebastians Stimmung dramatisch verbesserte. Wer so gut kocht, konnte eigentlich kein böser Mann sein, obwohl ihm dies seine Auftraggeber mehrfach nachdrücklich versichert hatten.

»Euch ist schon klar, dass ich so tot wie dieser göttlich schmeckende Rinderbraten bin?«, fragte Sebastian, der keinen Sinn mehr darin sah, mit irgend etwas hinter dem Berg zu halten.

»Willkommen im Club!«, Erogal war von seiner sarkastischen Stimmung selbst überrascht, darum setzte er etwas weniger ätzend hinzu, »Doch im Moment, fühle ich mich quicklebendig. Lass uns lieber überlegen, wie wir unseren augenblicklichen Zustand erhalten können.«

»Sprecht bitte nur für euch selbst. Mich hat bisher niemand auf der Abschussliste!«, grinste Ole breit und spülte ein Stück des hervorragenden Menüs mit einem Schluck des ebenfalls hervorragenden Weines herunter.

»Ihr versteht nicht!«, jammerte Sebastian, »Ich habe versagt! Die werden mich wegen Hochverrats dran kriegen. Ihr habt keine Ahnung, was die mit einem anstellen!«

»Oh, glaub mir, wir haben.«, meinte Ole und schob sich ein Stück Mohrrübe in den Mund, »Wir wissen ganz genau, welch archaischer Geist die Goldorianische Rechtsprechung durchweht. Als Meuchelmörder dreht sich mir der Magen um. Ein wenig Respekt vor unseren Aufträgen kann doch nicht zuviel verlangt sein, oder?«

»Wer seid ihr?«, fragte Sebastian schüchtern, während er gedankenverloren in seinem Salat herumstocherte.

»Du weißt nicht, wie deine Ziele heißen?«

»Er war nicht mein Ziel. Ihr ward mein Ziel. Ich sollte nur Erogal D’Santo umbringen.«

»Dann muss ich mich wohl vorstellen? Ole Olson, Meuchelmörder und Transportunternehmer, zu euren Diensten!«

»Ihr seid Ole Olson?«, quiekte Möchtegernmeuchelmörder Sebastian erschrocken auf, wurde rot und fuchtelte dabei so mit seinen Händen rum, dass er fast sein Weinglas umschmiss.

»Ähm, ja, ich denke schon…« Ole Olson war von Sebastians Reaktion etwas überrascht.

»Ihr seid eine Legende! Eure Arbeiten sind Pflichtlektüre für jeden Attentäter der Kirche. Wie du den klandistanischen Obristen, Gonzales de Silva beseitigt hast, ist Legende! Er soll als Leiche so glücklich ausgesehen haben. Wie hast du das gemacht?«, ein paar Erbsen flogen von Sebastians Gabel quer über den Tisch.

Ein diabolisches Lächeln brach an Oles Mundwinkel aus. Die Beseitigung Gonzales de Silvas war nicht nur ein überaus einträglicher Auftrag gewesen, sondern ebnete Klandistanien auch den Weg in die Demokratie. De Silva war bis dato Kopf einer brutalen Militärjunta, die sein Volk nach allen Regeln der Diktaturkunst unterdrückte. Niemand, außer Ole, wusste genau, wie de Silva gestorben war. Auffällig war nur, dass der verhasste Despot mit einem ausgesprochen glücklichen Lächeln, aber vergiftet, in seinem Bett aufgefunden wurde.

»Das möchtest du nicht wissen…«, meinte Ole den Sebastians Begeisterung amüsierte, »Ich will es mal so ausdrücken, de Silva verließ sehr befriedigt diese Welt.«

Diese Bemerkung veranlasste Erogal D’Santo sich in die Unterhaltung einzumischen: »De Silva, dass warst du?«

»Oh, doch, ja, er war eine meiner Arbeiten.«

Oles versonnenes Lächeln weckte Erogals Neugierde, die sich fröhlich zu Sebastians bereits hellwacher Neugierde gesellte.

»Also, die Ermordung de Silvas ist eines der größten Geheimnisse unserer Zeit. Sei ein lieber Drachenreiter und verrat es einem deiner Drachenreiterbürder.«

»Oh, ja, ich wusste, dass du irgendwann diese Karte ausspielst und an meine Ehre als Drachenreiter appellierst.«, Ole verdrehte gespielt genervt die Augen, »Gut, wenn ihr es unbedingt wissen müsst. Ich habe mit ihm geschlafen.«

»Was?«, kam es gleichzeitig von Erogal und Sebastian, »Du hast was?«

»Ich hab’ ihn gefickt!«, Ole grinste breit, »Er mochte ein Despot gewesen sein, doch er sah auch verdammt gut aus.«

»Stimmt!«, entfleuchte Sebastians Mund schneller, als es sein Hirn verhindern konnte. Zum Ausgleich lief der junge Möchtegernattentäter krebsrot an.

»Als ich mich auf de Silva vorbereitete, erfuhr ich, dass er auf junge Männer stand und ich wohl in sein Beuteraster fiel. Nut gut, er selbst war auch erst Anfang dreißig und sah ziemlich gut aus. Die Sache war eigentlich ganz einfach. Ich arrangierte, dass er mir zufällig über den Weg lief und man sich näher kam. Der Rest ging ganz von selbst. Wir trafen uns dann etwa drei Wochen mehr oder weniger regelmäßig. Bis ich schließlich das schwarze Band bei ihm deponierte. Von da an wusste er, dass ein Meuchelmörder einen Auftrag auf seinen Kopf angenommen hat. Irgendwie sind alle Diktatoren gleich. Statt jetzt auf seine Sicherheit zu achten und vorsichtiger zu werden, lachte er nur und meinte, es würde schlimmeres geben, als von einem Meuchelmörder erlegt zu werden. Eigentlich hätte ich in jenem Moment stutzig werden sollen, doch ich war noch ziemlich jung, gerade einmal ein Jahr älter, als unser Sebastian hier und de Silva mein erster richtig großer Auftrag. Wann hatte man schon mal Gelegenheit einen Diktator erlegen zu können? Wie auch immer, wir stiegen miteinander ins Bett und trieben es miteinander. Ich fickte ihn nach allen Regeln der Kunst durch, bis er glücklich und zufrieden in meinen Armen lag. Was er nicht wusste, war, dass ich das Gleitgel vergiftet hatte. Ich steckte noch tief in ihm drin, als er langsam müde wurde und dann für immer einschlief.«

Nach Oles Erzählung herrschte eine Weile Schweigen im Raum. Jungattentäter Sebastian musterte Ole mit einer Mischung aus Verehrung, Furcht und Faszination. Erogal hingegen schüttelte gedankenverloren seinen Kopf. Er war sich plötzlich seiner eigenen Überzeugungen nicht mehr sicher. Obwohl er Ole Olson respektierte und in ihm einen guten Freund sah, war er sich nicht sicher, ob er dessen spezielle Art des Broterwerbs so ohne weiteres gut heißen konnte. Andererseits war Gonzales de Silva eine echte Pestbeule gewesen. Auch wenn er den Meuchelmord als Methode der Politik eigentlich ablehnte, weinte er de Silva keine Träne nach. Er war sich sogar sicher, dass diejenigen, die unter de Silvas Diktatur gelitten hatten, Oles Mordmethode als viel zu nett empfinden würden.

Ole zuckte verlegen mit den Schultern: »Was soll ich sagen, es war ein Job und ihr habt sehr gut bezahlt.«

»Wie bitte?«, sein Essen erschien Erogal plötzlich nebensächlich, »Der Auftrag gegen de Silva kam von der Gilde?«

»Aber ja. Von einem Gilderepräsentanten in Blaufurt. Wieso, was ist daran so überraschend?«

Erogal sah sehr ernst und sehr nachdenklich aus: »Nichts gegen deinen Berufsstand, aber wir beauftragen keine Meuchelmörder. Das ist gegen unsere Prinzipien. Wenn also ein Mitglied der Gilde, vielleicht sogar ein Meister, euch beauftragt hat, dann sind unsere Probleme noch viel größer, als ich bisher befürchtet habe. Aber Blaufurt… Das passt. Der perfekte Ort, wenn man Dinge ohne viel Aufmerksamkeit durchziehen will.«

Während Erogal und Ole darüber diskutierten, wie es angehen konnte, dass jemand aus der Gilde einen Meuchelmörder beauftragen konnte, wurde Sebastian langsam nervös: »Was ist jetzt mir?«

»Was soll mit dir sein?«, fragte Erogal. Man merkte, dass er mental eigentlich noch bei seiner Gilde war.

»Hallo?«, meinte Sebastian, »Was habt ihr jetzt mit mir vor? Bin ich euer Gefangener? Oder wollt ihr mich an eure Drachen verfüttern? Ich mein’, zurück zur Kirche kann ich wohl kaum.«

»Stimmt, der Kleine hat recht!«, meinte Erogal und spießte ein Stück Kartoffel auf, »Ole, vielleicht solltest du ihn doch entsorgen?«

»Tja, du hast wohl recht.«, entgegnete Ole Olson mit mächtig viel Bedauern in seiner Stimme, »Tja, sorry, Kleiner, es ist nichts persönliches.«

»Darf ich erst noch aufessen?«

Eine Weile schaute man sich gegenseitig betreten an, dann brach ein allgemeines Schmunzeln aus. Ole grinste sowas von breit, dass es Erogal und Sebastian zum Kichern brachte.

»Keine Angst, wie werden dir nichts antun.«, beruhigte Erogal, »Wir werden dich auch nicht einfach fort schicken. Du scheinst ein netter Kerl zu sein, der eine unglückliche Berufswahl traf. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass dich deine Leute anklagen, verurteilen und hinrichten würden. Tod durch langsame Pfählung… Barbarischer geht es wohl kaum noch. Welcher kranke Geist denkt sich sowas aus? Wie auch immer, hier ist mein Vorschlag. Du kannst bei uns bleiben und uns helfen. Voraussetzung wäre, dass du ehrlich zu uns bist, das heißt, dass du nicht mehr versuchst, deinen Auftrag doch noch durchzuziehen. In dem Fall würden weder Ole noch ich zögern, dich ohne weitere Diskussion kalt zu machen. Was hältst du davon, die Seiten zu wechseln?«

Sebastian dachte nach: »Ähm, welche Seite wäre das? Für die Gilde sprichst du wohl kaum, oder?«

»Das Kerlchen ist schlauer, als er aussieht.«, grinste Ole Olson breit.

»Hey, wieso nennt ihr mich immer Kerlchen. Ich bin 22 Jahre alt. Du bist bestenfalls 26, also gerade mal 4 Jahre älter.«, rief Sebastian auf eine niedlich entrüstete Art.

»Glaub mir, Ole fühlt sich inzwischen älter, viel älter.«, war Erogals geheimnisvolle Antwort, »Aber du hast Recht. Ich spreche nicht für die Gilde, nicht mehr. Ole und ich sind Drachenreiter Daelbars. Unsere Seite ist die Seite der Drachen.«

»Die Seiten wechseln und meine Leute verraten…«, Sebastian dachte nach. Der Mordauftrag gegen Erogal entwickelte sich ganz anders, als er es geplant hatte. Auf der anderen Seite, hatte man ihn nicht ebenfalls verraten? Niemand hatte ihm gesagt, dass Erogal D’Santo ein Gildemeister war, geschweige denn über einen hungrig aussehenden Drachen verfügte.

»Vielleicht kann ich dir die Entscheidung etwas leichter machen.«, Ole Olson setzte eine verschwörerische Miene auf, beugte sich zu Sebastian vor und flüsterte ihm ins Ohr: »In Daelbar musst du nicht mit der Angst leben, dass man deine geheime Leidenschaft entdecken könnte. Ganz im Gegenteil…«

Sebastian reagierte, wie Ole vermutet hatte, er lief knall rot an, schaute dann aber Ole verträumt an. In diesem Moment erstrahlte plötzlich der Himmel außerhalb der Lagerhalle in einem wahrlich magischen Licht. Ole und Erogal fühlten, dass die Erscheinung bedeutend war. Ole rief sofort »Zum Dach!« und hechtete los. Erogal und Sebastian folgten. Sie liefen die Treppen innerhalb der Lagerhalle empor und gelangten über den Notausgang innerhalb einer Minute aufs Dach.

»Es kommt aus dem Werftenteil des Hafens.«, meinte Sebastian, der sich in Tharbad gut auskannte, »Wenn ich mich nicht täusche, müsste das die alte Königswerft sein. Dort arbeitet seit Jahrzehnten niemand mehr. Was ist das?«

»Das Licht stammt von einem Drachen während eines Wachstumsschubs.«, meinte Ole, der von seinem Wissen überrascht war. Seele eines Drachens zu sein, schienen unerwartete Seiteneffekte zu besitzen.

»Es sind Segato und Ivoricalad!«, meinte Erogal D’Santo, ebenfalls von sich selbst überrascht. Andächtig schaute er über die nächtliche Stadt hinweg, »Ole, fühlst du das?«

»Ja!«, entgegnete Ole irritiert, »Die beiden haben sich miteinander vereinigt. Wie kann das gehen? Segato ist doch ein Mensch… Soweit ich mich erinnern kann, sogar ein sehr attraktiver Junge.«

»Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass wir etwas tun müssen. Außer uns dürften noch andere die Erscheinung bemerkt habe. Die beiden sind in Gefahr!«

Blutzoll

»Zeit ist eine Illusion, eine fixe Idee, die uns so genannte Wissenschaftler einzureden versuchen, um von ihrer Inkompetenz das magische Ganze zu begreifen abzulenken.«

Xelmachus von Emd – Prorektor des Lehrstuhls für angewandte Magie der Hochschule für Drachenkunde zu Daelbar

»Na, mein Freund, willst du dir einen Nachschlag holen?«

Die Häuser der Heilung verströmten einen ganz anderen Charakter, als jene, die Uskav noch aus seiner Zeit als General des Königs in Goldor kannte. Jene Krankenhäuser, wie sie dort genannt wurden, schienen sich dem Prinzip der wundersamen Selbstheilung verschrieben zu haben. Anders ließ sich nicht erklären, dass so viele Patienten spontan gesundeten, sobald ein Aufenthalt in einem jener Heilhäuser zur Diskussion stand. Nun, sie gesundeten vielleicht nicht wirklich, doch versuchte jeder zumindest den Anschein zu erwecken.

Eigentlich tat man mit diesem Verhalten den Krankenhäusern Unrecht an. Die Mediziner, dass heißt, sowohl die, die eine Ausbildung an der königlich medizinischen Hochschule genossen hatten, als auch die, die wirklich etwas von Medizin verstanden, versuchten ihr Menschen-, Gnom- beziehungsweise Zwergen möglichstes, um kranke Wesen zurück in den Zustand der Gesundheit und nicht in den der Leblosigkeit zu befördern. Leider wurden sie dabei von etwas behindert, gegen das selbst die mächtigste Medizin machtlos war, dem Pflegepersonal, welches, nach Überzeugung der Ärzte, alles daran setzte, kranke Patienten zu noch kränkeren Patienten zu machen. Interessanterweise war das Pflegepersonal der Meinung, dass der Grund für den fortwährend kranken Zustand der Patienten einzig und allein bei den Ärzten zu suchen sei. Denn wenn es etwas gab, so die Überzeugung der Pfleger, dass kranke Patienten zu noch kränkeren Patienten machte, dann die unendliche Unfähigkeit der Ärzteschaft. Es verwundert nicht, dass sich die meisten Patienten während der Visiten als störendes Beiwerk empfanden. Mit dieser Meinung waren sie nicht allein, denn dies war der einzige Punkt, in dem Pflegepersonal und Ärzte hundertprozentig überein stimmten – Patienten waren ebenso überflüssig wie lästig.

Nichts von alledem fand sich in den daelbanischen Häusern der Heilung. Uskav fand Roderick bei bester Laune in einem großen freundlichen Raum, der statt nach Desinfektionsmitteln wie eine Wiese nach einem sanften Regen roch. Elbenlichter tauchten alles in ein weiches, angenehmes Licht und setzten Roderick wunderbar in Szene. Der hockte mit entblößtem Oberkörper und fachgerecht verbundener Schulter in einem großen Bett und grinste Uskav frech an.

»Wenn noch etwas da ist.«, entgegnete Uskav auf Rodericks Frage und entblößte ein seine messerscharfen Reißzähne.

»Warst du erfolgreich?«, wechselte Roderick das Thema.

Uskav antwortete nicht sofort, sondern ging auf Roderick zu, nahm dessen Kopf in seine Hände und küsste seinen Freund: »Ich bin froh, dass es dir gut geht.«

»Mir geht es gut, dank dir. Die Ärzte meinten, du hättest einen Präzisionsbiss. Du hast nichts verletzt, was in irgendeiner Weise gefährlich sein konnte. Einer der Ärzte, ein Hochelb, hat die Wunde mit einer Salbe versorgt. Das Muskelfleisch wächst bereits nach. Uskav, es ist nichts geschehen. Mir geht es wirklich gut. Also, sag mir, warst du erfolgreich?«

»Ich hoffe es!«

In den nächsten Minuten schilderte Uskav Roderick, was er bei dem Orkheer erlebt und in Erfahrung gebracht hatte. Uskav sparte nichts aus und schilderte jedes Detail. Roderick war sein Freund, seine Liebe, vor der er nichts verheimlichen wollte, auch nicht, dass ihm das Enthaupten von ein paar Orks verdammt viel Spaß gemacht hatte.

»Du alte Killermaschine!«, scherzte Roderick, wobei er darauf achtete, dass Uskav den Scherz richtig verstand, »Doch wenn ich dich richtig verstehe, wirst du bald noch sehr viel mehr Spaß haben.«

Uskav seufzte, bevor er mit bitterer Stimme antwortete: »Wenn unsere Magieprofis nichts finden, werd ich noch verdammt viel Spaß haben. Mehr Spaß, als man ertragen kann. Ich…«

»Was…«, fragte Roderick leise nach, als Uskavs Stimme stockte.

Uskavs Blick wanderte zu Roderick und ließ den Neovikinger erschrecken. Uskav zeigte ein Gefühl, das er noch nie bei einem Ork, geschweige den bei einem Uruk, gesehen hatte, das er bei ihnen überhaupt nicht für möglich gehalten hätte: »Roderick, ich habe Angst! Ich habe richtige Angst!«

Statt zu antworten, erhob sich Roderick vorsichtig von seinem Krankenbett und nahm den riesigen Uruk in seine Arme.

 

Eine derartige Ansammlung geballter Intelligenz, sei es naturwissenschaftlicher oder magischer, hatte der große Saal der Drachenreiterschule in seiner fast tausendjährigen Geschichte noch nicht erlebt. Sämtliche Abteilungen waren vertreten, um an dieser Lagebesprechung teilzunehmen. In den letzten Stunden hatte ein Heer von Magiern, Physikern, Chemikern, Hexen, Biologen, Drachen und transdimensionalen Entitäten mit einer kleinen Probe Orkblut gekämpft. Wobei die beteiligten Drachen von Helfern begleitet wurden, die für den Fall der Fälle große Blecheimer bereithielten. Niemand wollte gern in einen Haufen Drachenkotze treten. Wie richtig und wichtig diese Eimer waren, zeigte sich bei einer Versuchsreihe, die von Lindor durchgeführt wurde. Thonfilas schuppiger Freund versuchte die abwehrende Wirkung des Orkbluts so gut wie möglich zu ignorieren, was ihn Frühstück, Mittagessen und Abendbrot der letzten drei Tage kostete.

»Also gut, wo stehen wir?«, fragte Uskav in die Runde, nachdem sich die anfängliche Unruhe gelegt hatte.

»Wir wissen, womit wir es zu tun haben. In dem von dir beigebrachten Spezimen der Gattung orcanis vulgaris manifestieren sich hohe Dosen sowohl transetherischer, als auch submetronischer Plastoentitäten des 2. und 3. Grades. Zusammen mit einem etherischen Phaseauszug von magia draconis der 7. und Epsilon-Tau-Energieebene, kommt es zu einer retrofraktischen Komplexrefraktion der Seelenkopplung, was zu einer induzierten multiphasen…«

»Ähm…«, unterbrach Uskav den Wortschwall des referierenden Gnoms namens Blob höflich, »Lieber Blob, stell dir einfach vor, ich wäre ein dummer Uruk.«

»Ähm…«, machte Blob, lief blauviolett an, was für Gnome ein Zeichen war, dass ihm etwas sehr peinlich war (Je mehr die Farbe ins bläuliche ging, desto peinlich fühlte sich der Gnom – Blob war sehr blau.), räusperte sich, sah sich verlegen um und meinte dann: »Entschuldige Uskav, aber die letzten Stunden waren… anstrengend. Um es vereinfacht auszudrücken: Es handelt sich um eine Allergie, wie Heuschnupfen. Die Kombination von schwarzer Dämonen- und heller Drachenmagie stört die Verbindung zwischen Seele und Drache, was zu massiver Ausschüttung von Histaminen führt. Ich kann nur davon abraten, sich zu lange im Wirkbereich dieser Orks aufzuhalten. Im schlimmsten Fall droht ein anaphylaktischer Schock.«

Unter den Anwesenden brach Gemurmel aus. Blob war der mit Abstand kompetenteste Multispeziesbiologe mit Schwerpunkt transmagischer Symbiosen. Seine Arbeit über die Verbindung zwischen Drachen und ihren Seele galt als das Standardwerk und war Pflichtlektüre im Lehrgang höhere Drachenkunde IV. Niemand zweifelte seine Kompetenz an.

»Und was kann man dagegen tun? Ein Nasenspray nehmen?«, hakte Uskav nach.

»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Blob. Er war ein Diagnostiker, mit der Suche nach Lösung sollten sich andere beschäftigen.

»Gut«, knurrte Uskav, gleichzeitig verärgert aber auch zutiefst beeindruckt von Blobs Arbeitsgruppe, »Hat jemand eine Idee, wie wir das Problem in den Griff bekommen könnten.«

Am anderen Ende des Saals begann sich Professor Xelmachus von Emd zu räuspern: »Ähm… ja, äh… nun, wir…«

»Professor, raus mit Sprache. Wenn du eine Idee hast, dann sprich sie aus!«

»Also, Manni und ich, also, Professor Bogenhausen und ich, wir glauben zu wissen, wie man ein Gegenmittel herstellen könnte«, der gute alte Xelemachus wandte sich wie ein Aal, was nur bedeuten konnte, dass die Sache einen Haken hatte.

»Es würde mindestens eine Woche dauern. Aber das ist nicht das eigentliche Problem.«, sprang Manfred von Bogenhausen seinem Freund und Kollegen bei. Die beiden Wissenschaftler pflegten wohl die seltsamste Freundschaft Daelbars. Während von Bogenhausen durch und durch Naturwissenschaftler war, lebte Xelmachus nur für die Magie, Alchemie und Hexenkunde. Doch gerade deswegen pflegten beide Familien einer innigen Freundschaft.

»Ich kann mir eigentlich kein größeres Problem vorstellen, als eine Woche auf das Gegenmittel zu warten. Ich weiß ja nicht, ob euch klar ist, dass das Heer in etwa 30 Stunden an unsere Haustür klopft.«, Uskav merkte, dass er dabei war, die Kontrolle über sich zu verlieren. Er musste sich zusammenreißen, sich ständig sagen, dass alle wirklich großes leisteten und mehr in Erfahrung gebracht hatten, als man hätte erwarten können, »Entschuldigt! Bitte, Freunde, entschuldigt. Ich wollte euch nicht anfahren. Ich…«

»Uskav«, unterbrach Xelmachus mit für ihn absolut untypisch sanfter Stimme den Uruk, »Das mit der Woche, das würden wir schon hinbekommen. Zeit ist eh nur eine Erfindung der Uhrmacher, wenn nicht sogar eine Fiktion. Das eigentliche Problem ist ein anderes…«, Xelemachus stockte und sah Hilfe suchend zu Manfred von Bogenhausen hinüber. Der schaute nur betreten auf den Boden und schüttelte den Kopf, um schließlich leise zu verkünden: »Wir brauchen das Blut eines Drachens.«

 

Über den Saal senkte sich eine bedrückende Stille herab. Jeder wusste um die Konsequenzen. Drachenblut … Die wohl kostbarste Substanz der Welt. Man gewann sie nicht, in dem man einem Drachen den Flügel abband und sich eine Vene suchte. Drachenblut zu gewinnen hieß, einen Drachen töten zu müssen. Uskav fröstelte bei diesem Gedanken. Wenn er in die Augen der schlausten, weisesten und wissenden Wesen Daelbars schaute, dann sah dort Trauer, Angst und Verzweiflung. Sollte dies wirklich das Ende Daelbars sein?

Uskav trat an ein Fenster des Saals, von dem aus man ganz Daelbar überblicken konnte. Die Morgendämmerung hatte bereits eingesetzt. Die Lichter der Nacht, die die Stadt erhellten und die Dunkelheit vertrieben, erlöschen eines nach dem anderen. Die oberste Kante der Sonnenscheibe erschien am östlichen Horizont und schickte ihre tastenden Strahlen aus. Daelbar wirkte so friedlich. Nein, es wirkte nicht nur so, sagte sich Uskav. Daelbar war der Frieden. Hier in dieser Stadt hatte er etwas gefunden, von dem er niemals zu träumen gewagt hätte – Liebe.

»Nein!«, rief Uskav laut, »Nein, so darf es nicht enden!«

»Und so wird es auch nicht enden!«, rief eine Stimme aus Richtung Tür.

»Turondur!«, alle Köpfe drehten sich in Richtung der Stimme, »Du bist zurück!«

Aristokratisch, hochelbisch und gemessenen Schrittes trat Turondur in den Saal, hielt auf Uskav zu und umarmte ihn.

»Wie ich sehe, kann man dich keine fünf Minuten alleine lassen, ohne dass du einen Krieg beginnst.«, lachte Turondur fröhlich.

Es war nur ein Scherz, den Uskav auch verstand, doch schien ihm, als wenn Turondur damit etwas überspielen wollte. Der Elb schien der gleiche arrogante, hochnäsige Aristrokratenschnösel zu sein, der er immer war. Doch trotzdem, Uskavs Uruksinne nahmen eine dunkle, traurige Unterschwingung in Turondurs Gestik war.

»Hier!«, mit diesem Wort warf Turondur Xelmachus einen Datenkristall zu, »Mit den besten Grüßen von Feressea. Auf dem Datenkristall findet ihr die kompletten Konstruktionspläne der Hybridorks. Schaut sie euch an, während ich Uskav für einen Moment entführe.«

Uskav folgte Turondur vor die Tür, ließ sich auf den Hof der Drachenreiterschule führen, wo sie von Toldin erwartet wurden.

»Ich habe gehört, du hast einen Hybridork entführt und hergebracht. Was habt ihr rausbekommen?«

»Blob meint, die Drachen reagieren in gewisser Weise allergisch auf die Orks. Es ist theoretisch möglich ein Gegenmittel zu entwickeln, doch das braucht Zeit und… das Blut eines Drachens.«

»Ja, ich verstehe, was du meinst.«, antwortete Turondur nachdenklich, »Es deckt sich mit den Informationen, die ich dem Datenkristall entnommen habe.«

»Das ist es also? Das Ende?«, Uskav schaute Turondur traurig an, »Turondur, ich habe die Armee gesehen. Es sind hunderttausende. Wenn die Drachen nicht kämpfen können ist Daelbar verloren. Es gibt nichts, was diese Monster aufhalten könnte. Das darf nicht geschehen! Dieser Ort, Daelbar, ist zu meinem Heim geworden. Ich habe seinen Bewohnern, Thonfilas, Roderick, Gildofal, Gilfea, dir, ich habe euch so viel zu verdanken. Ich würde alles tun, um diesen Ort zu retten!«

»Alles?«, fragte Turondur, auf seinen Augen lag ein unheimlicher, dunkler Glanz, als wenn sie etwas anderes, eine andere, ferne Welt schauen würden.

»Alles!«, antwortete Uskav fest, »So lange auch nur ein Funken Leben in diesem Körper steckt, werde ich kämpfen und Daelbar verteidigen.«

»Das meinte ich nicht!«, ein Windstoß erfasste Turondurs Gewänder, ein Sonnenstrahl verfing sich in ihrem Stoff und ließen Turondurs Kleidung wie Flammen erscheinen, die an ihm hoch züngelten. Toldins silberner Panzer funkelte im Licht des Morgens. Turondur trat an die Brüstung des Plateaus heran auf dem die Drachenreiterschule errichtet war und ließ seinen Blick in eine unbestimmte Ferne schweifen, als er leise, kaum hörbar fragte: »Du weißt, was ich meine.«

Uskav zuckte, wie vom Schlag getroffen, zusammen, starrte Turondur sekundenlang an und erblich, als er begriff, was Turondur von ihm verlangte: »Nein, Turondur, nein! Das kannst du nicht von mir verlangen! Das kann ich nicht tun! Bitte, «, Uskav flehte Turondur an, »Bitte, verlang dies nicht von mir!«

»Uskav, du bist der einzige, der es tun könnte. Es gibt niemand anderen, der dazu in der Lage wäre.«

Turondur dreht zu Uskav um, mit festem, entschlossenem Blick schaute er Uskav in die Augen, »Es ist deine Bestimmung. Ich sehe jetzt klar. Es ist kein Zufall, dass du zu uns gekommen bist. Kein anderer Drachenreiter könnte tun, wozu du, und nur du, in der Lage bist!«

Uskavs Augen füllten sich mit Tränen: »Nein, bitte, Turondur, bitte nicht!«

»Du weißt, dass es keinen anderen Weg gibt. Ich bin bereit mein Opfer für Daelbar zu bringen. Mein Teil dieser Geschichte hat sich erfüllt. Die einzige Chance Daelbar und seine Bewohner zu retten besteht darin, ein Gegenmittel zu brauen. Wir brauchen das Blut eines Drachens. Wir, Toldin und ich, sind bereit unser Blut zu geben, denn auch wir würden alles für Daelbar tun. Unser Opfer sichert euch die Chance zu leben.«

»Nein!«, Uskav zitterte am ganzen Körper, Tränen flossen ungehemmt seine Wangen herunter, seine Beine versagten Uskav vor seelischem Schmerz den Dienst, so dass der Uruk vor Turondur auf die Knie fiel.

»Uskav, bitte weine nicht. Denk an Roderick und Thonfilas und all die Zeit, die ihr noch miteinander verbringen könnt, wenn dieser Krieg gewonnen wird.«, Turondur lächelte, doch auch seine Augen zeigten einen erhöhten Feuchtigkeitspegel, »Ich vermache dir meine gesamte Habe. Der Rat hat eine Empfehlung erhalten, dich zu ihrem Präsidenten zu ernennen. Ich lege die Geschicke Daelbars in deine Hände. Uskav, ich danke dir…«

»Turondur, du…«

»Warte!«, stoppte Turondur seinen Freund, »Es gibt da noch etwas… Eine Bürde, die ich verpflichtet bin, an dich weiter zu geben.«

Kaum hatte Turondur diese Worte gesprochen, verwandelte sich sein Kopf in den eines Wolfs. Noch bevor Uskav reagieren konnte, schnappten Turondur zu und biss Uskav in den Schildarm.

»Uskav, du musst jetzt dein Schwert ergreifen! Streck mich nieder! Ramm mir den Stahl in mein unsterbliches Drachenherz oder alles wird verloren sein! Uskav, ich flehe dich an, töte mich! Töte mich jetzt!«

»Ahhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrg!«, mit einem infernalischen Schrei sprang Uskav auf, zückte sein Schwert, dessen Stahl im Schein der Sonne funkelte. Mit unvorstellbarer Kraft stürzte er auf Toldin, der sich vor ihm aufgerichtet hatte, um den kalten Stahl zu empfangen. Uskav stieß mit einer Kraft zu, zu der nur ein Uruk fähig war. Er bohrte die Schneide tief in die Brust Toldins, »Ihr Drachen der Welt, verzeiht mir!«

»Uskav, alles wird gut… Unser Geist wird dich immer begleiten. Nimm nun mein Blut und rette die Zukunft, auf dass weiter Drachen auf unserer Welt, die wir lieben, wandeln können!«

Mörderjagd

»Ein Auftragsmord besteht zu 98 % aus Informationsbeschaffung und nur zu 2 % aus direkter Aktion«

Aus dem Erinnerungen eines Profimörders von Ole Olson

»Toldin!«

Ein Albtraum riss mich aus dem Schlaf. Schweißgebadet und mit rasendem Puls schoss ich in meinem Bett hoch. Im ersten Moment fühlte ich mich desorientiert und wusste nicht, wo ich war. Bis es mir wieder einfiel – Tharbad. Ich schaute zu Ivoricalad hinüber, der neben mir lag. Seine Augen waren weit geöffnet. Der Drache im Menschengestalt weinte. Es war kein Albtraum. Es war die Wirklichkeit. Toldin war tot.

»Ist es wahr?«

Ivo schaute mich traurig an, »Ja, es ist wahr! Toldin und Turondur haben unsere Welt verlassen. Segato, bitte halt mich…«

Ich legte mich wieder hin, rutschte zu Ivo heran und nahm meinen Drachen in den Arm. Gegenseitig gaben wir uns Kraft. Ein trauriger Tag begann. Der Tag, an dem Toldin von uns ging.

Tharbad war eine graue Stadt ohne Farbe, doch an diesem Tag wirkte sie noch um einige Schattierungen grauer und noch trostloser als sie eh schon war. Wir kamen überhaupt nicht richtig in Gang. Schweigend nahmen wir unser Frühstück ein. Ivo saß mir gegenüber. Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke kreuzten, sahen wir Traurigkeit in den Augen des Anderen. Toldins und Turondurs Tod lastete schwer auf unserer gemeinsamen Seele.

»Es reicht!«, schrie Ivo plötzlich in meinem Kopf, »Was immer auch passiert sein mag, wir müssen uns zusammenreißen. Wenn wir uns jetzt ablenken lassen, sind wir die nächsten toten Drachen! Und tot zu sein, würde mir persönlich überhaupt nicht gefallen. Abgesehen von ein paar Nekrophilien würde niemand mehr mit mir poppen.«

Manchmal überraschte mich mein Drache. Eben noch zu Tode betrübt, schaffte er es uns rückwärts aus dem Stand aus fast jedem emotionalen Loch zu reißen. Sein zugegeben etwas derber Witz wirkte wie ein Tritt in den Allerwertesten. Bei aller Trauer um Turondur musste ich schmunzeln. Meine Laune besserte sich. Dieser verrückte Drache hatte einfach Recht. Trauer lenkt ab und Leute, die abgelenkt sind, begehen Fehler. Fehler wiederum, konnten in Tharbad fatale Folgen haben.

»Mir sind ein paar Informationen zugeflogen, die euch interessieren dürften.«

Carl, unser Wirt und unfreiwilliger Partner bei vermeintlich illegalen Tätigkeiten, hatte sich zu uns an den Tisch gesetzt. Außer Ivo und mir war der Frühstücksraum der Pension (Frühstückskammer hätte den Ort besser beschrieben) noch leer. Es war früher Morgen. Die meisten anderen Gäste würden erst in etwa einer halben Stunde eintrudeln und beginnen, das Frühstücksbuffet zu belagern.

Carl wirkte nervös. Eigentlich wirkte er immer nervös, seit er zu unserem Partner wurde. Die Idee, Boldin Dynamics zu beklauen, behagte ihm überhaupt nicht. Nur seine Gier auf Gold, die größer war als seine Furcht erwischt zu werden, hielt ihn psychisch stabil. Trotzdem suchte er ständig nach Gründen, die ganze Sache abzubrechen.

»Ich habe mich, sehr vorsichtig und ganz dezent, in der Stadt umgehört. Ihr solltet wirklich noch mal über euren Bruch bei Boldin nachdenken.«

»Unseren Bruch!«, korrigierte Ivo, um Carl deutlich zu machen, dass er ganz tief in der Sache mit drin hing.

»Gut, unseren Bruch. Wie auch immer.«, schob Carl Ivos Einwurf beiseite, »Irgendwer hat Wind von der Sache bekommen und einen Meuchelmörder auf euch angesetzt. Habt ihr schon mal von Ole Olson gehört? Er ist in der Stadt und stellt Nachforschungen über Segg an.«

In den Wochen seit meiner Flucht aus Daelbar hatte ich an meine Verletzung der Omegadirektive überhaupt nicht mehr gedacht. Die Gilde offensichtlich schon. Vermutlich dachte sie ausschließlich daran. Sie schien meinen Verrat ganz oben auf die Agenda gesetzt zu haben, wenn sie einen Spitzenklassemörder wie Olson auf mich ansetzte. Ole Olson, dieser ebenso attraktive wie mörderisch gefährliche Mann war also hinter mir her. Ein unerfreulicher Gedanke. Schlimmer noch, er war mir klar im Vorteil. Nach allem, was ich aus den Dossiers der Gilde wusste und in meinem PDA-Implantat gespeichert hatte, kannte Olson Tharbad wie seine Westentasche. Ein Typ wie er verfügte über Kontakte, über gute Kontakte. Wenn sich jemand in Tharbad aufhielt, den er suchte, dann würde er dies erfahren – Früher oder später.

Ich wechselte einen Blick mit Ivo. Ole Olson mochte gefährlich, sogar brandgefährlich sein, aber auf keinem Fall ein Grund mich von einem Besuch bei Boldin Dynamics abzuhalten. Nötigenfalls müsste man sich eben erst mit dem Neovikinger beschäftigen. Ich wollte ihn zwar nicht unbedingt beseitigen, doch wenn es auf ein »ich oder er« hinauslief, war meine Position ziemlich eindeutig.

»Was werdet ihr tun?«, fragte Carl.

»Uns um diesen Ole Olson kümmern.«, meinte Ivo lakonisch.

Carl verschlug es die Sprache. Unser Wirt schnappte nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen.

»Ihr… ihr… Ihr könnt euch doch nicht mit einem Profikiller anlegen…«

»Warum nicht?«, fragte Ivo in entwaffnender Schlichtheit.

»Ihr seid wahnsinnig!«, knurrte Carl frustriert, was wir allerdings nicht zu ernst nahmen, da er dies ständig über uns behauptete.

Trotz seiner Frustration versorgte er uns dann doch mit allem, was er über Ole Olson wusste. Wie es schien, war unser Profikiller ein recht umtriebiges und ausgesprochen geschäftstüchtiges Wesen. Allein in Tharbad nannte er fünf Immobilien sein Eigen, wovon zwei im Freihafen, eins im Zentrum und die beiden restlichen in zwei unterschiedlichen Industriegebieten lagen.

»Der Typ«, Carl meinte Ole Olson, »scheint es mit dir wirklich ernst zu meinen. Meine Informationsquellen behaupten, sie hätten noch nie erlebt, dass er dermaßen Druck macht.«

»Und wo steckt Ole Olson?«

»Das ist die Frage aller Fragen. Wenn er nicht gefunden werden will, findet man ihn auch nicht. Er findet dich. Man vermutet, dass er, außer den offiziellen Adressen Olson Transportation LLCs noch weitere, geheime Verstecke besitzt. Immerhin gibt es einen Hebel, bei dem man ansetzen könnte. Krossav, ein Orkhauptmann der Wache, steht auf Olsons Informatenliste. Er hat den Typen irgendwie in der Hand. Fragt mich nicht, woher ich das weiß, aber Krossav will Olson heute Mittag treffen. Möglicherweise, könnte sich euer Problem damit von selbst erledigen.«

»Wie meinst du das?«

»Krossav ist ein Typ, der Olson nie von sich aus kontaktieren würde, es sei denn, er will ihn in eine Falle locken.«

Eins musste man Carl zubilligen, er wusste, wie man Informationen beschaffte. Er lieferte uns nicht nur Zeit und Ort des Treffens, er hatte sogar den Grundriss des Etablissements, eines zwielichtigen Sexclubs, beschafft. Ich fand, dass es Zeit war, unseren Freund ein wenig zu motivieren.

»Hier!«, ein Türmchen von 12 Goldmünzen wanderte über den Tisch, »Wo die herkommen, gibt es noch mehr, vorausgesetzt, du stellst keine Fragen und kommst nicht auf die wirklich dumme Idee, dass jemand anderes mehr zahlen könnte. Ich hoffe, du hast unsere Kontakte nicht vergessen.«

Carl schluckte, nahm aber das Gold: »Keine Angst. Wir sind Partner. Und ich habe wirklich keine Lust, als Snack im Magen einer geflügelten Echse zu landen.«

»Brav!«, lobte Ivo mit sybillinischem Grinsen auf den Lippen.

 

Der Sexclub lag in dem herunter gekommenen Stadtteil Tharbads. Eigentlich hätte man für diese spezielle Heruntergekommenheit eine vierte Steigerungsform, nach Komparativ und Superlativ, erfinden müssen. Etwas in der Art wie Ultralativ. Vermutlich war es der einzige Ort Tharbads, den selbst Ratten und Kakerlaken mieden. Liefen sie doch Gefahr, in einem der unzähligen Sexclubs als Lustobjekt zu laden. Hier wurde wirklich jeder noch so abartige Wunsch erfüllt, vorausgesetzt, man verfügte über die notwendigen Mittel. Und wenn ich »jeden Wunsch« schreibe, dann meine ich auch jeden Wunsch. So war ein Club, soweit man Carl glauben konnte, dafür berühmt, seine Kundschaft mit den härtesten Phalli der Welt beglücken zu können. Die Schwänze waren im wahrsten Sinne des Wortes steinhart, da es sich bei ihren Eigentümer ausnahmslos um Bergtrolle handelte. Es wunderte mich nicht zu hören, dass die Mortalitätsrate in jenem Etablissement recht hoch sein sollte.

Die Lokalität an der sich Krossav mit Ole treffen wollte, musste man wohl eher zu den konventionellen Clubs zählen. Sein Vergehen bestand gerade einmal darin, dass die Damen des Gewerbes nicht notwendigerweise freiwillig arbeiteten. Für Tharbad eine fast schon lässliche Sünde.

Da Ole mich kannte und vor allem nach mir suchte, hielten wir es für angebracht, dass sich Ivo in den Club begeben und ich ihm aus sicherer Entfernung den Rücken decken sollte. Unser Plan bestand darin, Ole unter dem Vorwand aus dem Club zu locken, Informationen über mich liefern zu wollen.

Ivo, der sich mehr und mehr an seine menschliche Form gewöhnte, zeigte überraschende athletische Fähigkeiten als er einer Spinne gleich die Fassade des Sexclubs empor kletterte, wozu wir uns in eine dunkle Seitenstraße zurückgezogen hatten. Auf dem Dach angekommen, schlüpfte mein Drache durch eine Dachluke (Was täten wir nur ohne Dachluken) ins Gebäude.

Ivo hatte unsere mentale Verbindung verstärkt, so dass ich alles sehen und hören konnte, was er sah und hörte. Zwei Bilder gleichzeitig zu sehen, war anfangs etwas verwirrend, doch in der dunklen Seitengasse konnte ich die Welt vor meinen eigenen Augen halbwegs ausblenden.

Ivos Weg führte über eine Besenkammer in das oberste Stockwerk, dort einen Flur entlang, der von vielen Zimmern gesäumt wurde. Den Geräuschen nach mussten die Geschäfte des Clubs blendend laufen. Über eine Treppe gelangte Ivo ein Stockwerk tiefer. Das Gebäude besaß einen blödsinnigen Aufbau. Es gab keine Treppe, die von ganz unten nach ganz oben führte. Stattdessen verband eine Treppe immer nur jeweils zwei Stockwerke miteinander. Um zum übernächsten Stockwerk zu gelangen, musste man von einem Ende des Gebäudes durch einen Hauptflur zum gegenüberliegenden Ende laufen und die dortige Treppe nehmen.

»Hier scheint momentan wirklich Stoßbetrieb zu herrschen.«, ließ mich Ivoricalad wissen.

»Deine Witze waren auch schon mal besser.«, knurrte ich, »Du musst die nächste Kreuzung…«

»Warte!«, unterbrach mich Ivo, »Hier stimmt was nicht. In diesem Stockwerk ist es still, zu still.«

Ivo hatte recht. Im Flur des Stockwerks, in dem sich Ivo gerade befand, war es mucks Mäuschen still. Kein Gestöhne, kein Quietschen von altersmüden Bettgestellen drang durch die Türen. Über allem lag eine lauernde, fast bedrohliche Stille. Ivo tastete sich vorsichtig vor. Als er die von mir erwähnte Kreuzung erreichte, an der ein Korridor vom Hauptflur abzweigte und zu einem kleinen Saal führte, schmiegte sich Ivo dicht an die Holztäfelung der Wand.

Wo hatte der Kerl von einem Drachen sowas nur gelernt? Zückte Ivo doch tatsächlich einen kleinen Spiegel aus der Beintasche seines Kampfanzuges und lugte damit um die Ecke des Flurs. Nichts. Der Gang war leer. Ivo ging weiter, bis er zu einer Tür kam, die einen Spalt offen stand. Und wieder überraschte mich Ivo. Aus dem Stand sprang Ivo hoch über die Tür und kam fast lautlos seitlich neben dem Spalt zu stehen. Ivo ging in die Hocke, zückte ein Messer und tippte damit den Türflügel an. Die Tür schwang ein Stück auf. Das Messer fest gepackt und bereit sofort zu zustechen, wartete Ivo ein paar Sekunden. Nichts geschah. Wieder kam der Spiegel zu Einsatz. Nichts. Ivo sprang, wirbelte, drehte sich quer durch die Luft und flog geradezu in das Zimmer. Ein hinter der Tür lauernder Angreifer wäre völlig überrumpelt gewesen. Es lag jemand hinter der Tür. Es war sogar möglich, dass es sich um einen Angreifer gehandelt haben könnte, doch dies wäre reine Spekulation. Der Mann war tot.

»Genickbruch!«, diagnostizierte Ivo, während ich mich fragte, seit wann mein Drache über das notwendige anatomische Wissen verfügte.

»Ich erkenne die Uniform. Sie gehört zu einer geheimen Spezialtruppe der königlichen Sicherheitspolizei.«, endlich konnte ich auch mit meinem Wissen glänzen.

»Wer diesen Polizisten erledigt hat, war ein Profi. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Typ sich gewehrt hätte. Den hat sein Tod vollkommen überrascht. Ich geh’ mal weiter.«

Es war unheimlich zu sehen, wie Ivo sich absolut geräuschlos den Gang entlang schlich. An diesem Drachen war ein Assassin verloren gegangen. Ohne weitere Unterbrechungen erreichte er den in den Bauzeichnungen als Speisesaal bezeichneten Raum. Vor den eigentlichen Saal vergrößerte sich der Flur zu einer Art Foyer mit Garderobe. Ivo sicherte sich auch hier ab und wurde hinter dem Garderobentresen fündig. Dort lagerten zwei weitere Leichen, ebenfalls Polizisten. Ihr Mörder schien Sinn für Humor zu besitzen. Beide leblosen Sicherheitspolizisten hatte man eine Garderobenmarke auf die Stirn gelegt.

Ivo schlich sich zur Saaltür vor. Diese war nicht ganz geschlossen, sondern stand einen Spalt offen.

»Nett!«, lachte Ivo in meinem Kopf, »Der Typ gefällt mir. Hat die Tür mit einem Quietscher gesichert.«

Ein »Quietscher« war ein eben so simpler wie effektiver Zauberspruch, der genau das tat, was sein Name ausdrückte, er quietschte. Genau genommen quietsche der Gegenstand, der mit diesem Spruch belegt war, beispielsweise ein Türflügel. Sollte jemand versuchen eine solche Tür, egal wie vorsichtig er dabei vorging, zu öffnen, würde dies auf jeden Fall von einem deutlichem, unüberhörbaren Quietschen begleitet werden. Es sei denn, man verwendete den Gegenspruch namens »Öler«, was Ivo natürlich sofort tat.

»Krossav, mein Freund«, hörte ich Ole Olson Stimme durch Ivos Ohren, »Was soll ich davon halten, mir eine Falle zu stellen?«

»Ole, bitte, du musst mir glauben!«, flehte eine Orkstimme, »Die wussten alles! Die haben nur darauf gewartet, dass jemand sich nach diesem Segato erkundigt. Ich bin direkt in ihre Falle gelaufen. Ich hatte keine Wahl. Die wussten alles über mich, sogar meine Speisegewohnheiten. Die stellten mich vor die Wahl, entweder ich brächte dich dazu, hier her zu kommen oder sie würden mich zu Hackfleisch verarbeiten. Das meinen die wörtlich.«

»Ähm, störe ich?«

Ich weiß nicht, welcher Floh Ivo plötzlich gebissen hatte, denn der öffnete die Saaltür und stolzierte fröhlich hinein.

Ole Olson stand hinter einem fetten Ork, der wohl gerade damit beschäftigt war, etwas zu verzehren, das entfernt an einen Zwerg erinnerte. Im Moment fraß der Ork allerdings nichts, sondern hockte ängstlich auf seinem Stuhl, was in Anbetracht der blitzenden Klinge an seiner Kehle durchaus nachvollziehbar war.

»Um ehrlich zu sein, ja! Du störst!«, entgegnete Ole Olson, wobei er als einziges Zeichen seiner Verwunderung die Augenbrauen zusammen zog.

»Oh, dass tut mir Leid.«, entschuldigte sich Ivo, »Ich wollte dich nicht stören. Man sagte mir, du suchst jemanden mit dem Namen Segato?«

»Ähm, ja, Moment!«, entschuldigte sich nun Ole Olson und zu Krossav gewandt: »Tja, damit wäre unsere Zusammenarbeit wohl beendet.«

Mit einer wirklich eleganten Bewegung schnitt Ole Olson dem Ork die Kehle auf. Schwarzes Orkblut sprudelte aus der Wunde und ergoss sich, wie eine klebrige Soße über den Zwergenbraten.

»Bäh!«, meinte Ole angewidert, während er sein Messer mit einer Serviette säuberte, »Einfach ekelhaft, diese Orks.«

»Ist das gefüllter Zwerg auf dem Tisch?«, fragte Ivo ebenfalls leicht angeekelt.

»Ich befürchte, ja. Krossav liebte alles, was sich auf zwei Beinen bewegte.«, Ole lächelte zynisch, wandte sich dann aber Ivo zu, »Du möchtest mir also Informationen über Segato anbieten?«

»Oh, mehr als das!«, entgegnete Ivo und zeigte ein wahrlich strahlendes Lächeln, das Ole Olson sichtlich beeindruckte, »Ich könnte dich zu ihm führen.«

Ole Olson musterte Ivo auf zweierlei Arten. Einmal schien er ihn mit seinen Augen komplett auszuziehen, was ich durchaus nachvollziehen konnte. Ivo besaß einfach einen megageilen Körper. Doch Ole Olson musterte Ivo auch auf eine andere Weise, die, mit der ein Profikiller ein Ziel musterte. Mir schien, als wenn er nicht sicher war, was er von Ivo halten sollte. Niemand anderes hätte auf Krossavs Exekution dermaßen lässig reagiert, wie Ivo. Ole Olson war absolut klar, dass Ivo gefährlich war. Nur wusste er nicht, wie gefährlich.

»Wir haben ein Problem.«, meinte der Neovikinger schließlich.

»Und das wäre?«

»Ich trau dir nicht.«

»Oh, ich dir auch nicht.«, entgegnete Ivo, »Ich hoffe, du nimmst mir das nicht persönlich.«

»Nein, absolut nicht!«, beeilte sich Ole Olson.

Die beiden Männer belauerten sich. Keiner wagte den ersten Schritt zu machen. Eine Sekunde der Ablenkung genügte, um von einem Profikiller erledigt zu werden.

»Du gehörst nicht zur Bruderschaft der Meuchelmörder, oder?«, fragte Ole.

»Nein, nicht wirklich.«, Ivo lächelte freundlich, war aber hell wach.

»Freischaffender Assassin? Legion der Exekutoren?«

Ivos Drachensinnen entging nicht, dass Ole versuchte ihn mit seinen Fragen abzulenken. So bemerkte er sofort, dass der Neovikinger begann, seinen linken Arm so zu halten, dass die Innenseite von Hand und Handgelenk für Ivos Augen verdeckt waren. Ivo brauchte nicht zu sehen, was vorging, es reichte, dass er es hörte. Ein leises Klicken entwich Oles Ärmel, als der dort drin verborgene Mechanismus ein Wurfmesser in Oles Hand beförderte.

Der Neovikinger war schnell, Ivo war schneller. Als das Messer die Stelle erreicht, an der Ivo gestanden hatte, traf es nur noch auf eins, auf Luft, flog daher unvermindert weiter und beendete seinen Flug in der Holztäfelung des Saals. Ivo stand zwei Meter gelangweilt daneben, verfolgte die Flugbahn des Messers, schüttelte amüsiert den Kopf und kommentierte das im Holz steckende und noch zitternde Messer: »Tstststs, dass wird dem Clubbesitzer bestimmt nicht gefallen. «

Wenn Ole Olson überrascht war, dann zeigte er dies nicht, stattdessen entgegnete er trocken: »Ein bisschen Möbelpolitur und der kleine Kratzer ist nicht mehr zu sehen. Du nimmst mir meinen kleinen Versuch dich zu beseitigen doch wohl nicht übel, oder?«

»Ich bitte dich!«, meinte Ivo freundlich, »Ich wäre gekränkt, hättest du es nicht versucht. Ich möchte dich allerdings darum bitte, es nicht weiter zu versuchen. Es könnte sonst noch jemand zu schaden kommen und das werde garantiert nicht ich sein.«

Ole Olson starrte Ivo verwundert an. Dieses Mal schien er genauer hinzusehen. Dabei versuchte er, sich nicht von Ivos überirdisch attraktivem Körper ablenken zu lassen, was gar nicht so einfach war. Nach ein paar Sekunden zog der Neovikinger seine Augen zusammen und hielt den Kopf leicht schief: »Moment, du bist kein Mensch, oder?«

Ivo strahlte fröhlich: »Nein, ich bin kein Mensch. Aber das hilft dir auch nicht weiter. Mein Angebot steht, ich kann dich zu Segato führen.«

»Was bist du?«

»Das willst du nicht wissen!«, antwortete Ivo, »Entweder kommst du mit oder du lässt es bleiben. Glaub mir, wenn ich dich hätte töten wollen, würdest du Krossav längst schon Gesellschaft leisten.«

»Gutes Argument!«, gab Profikiller Ole Olson zu, »Sollen wir?«

»Nach dir!«, entgegnete Ivo freundlich und wies Ole mit einer Geste den Weg. Der ging voran und sammelte im vorbeigehen sein Messer wieder ein.

An der Kreuzung, an der der ihr Gang in den Hauptflur einmündete, wollte Meuchelmörder Olson den Weg Richtung Erdgeschoss einschlagen, stoppte aber, als ihnen Stimmen entgegenschlugen, die weniger nach Sexclubkundschaft sondern mehr nach Staatsmacht klangen.

»Ähm, vielleicht sollten wir…«, kommentierte Ole lässig das herannahende Problem.

»Yap, suchen wir unser Heil in der Höhe.«, pflichtete Ivo mit unerschrockener Fröhlichkeit bei.

Ole und Ivo vollführten eine Drehung um 180 Grad und liefen in Richtung Dachgeschoss. Beide Männer waren so leise, dass niemand ihr Kommen und Gehen bemerkte. Ohne auf weitere Hindernisse zu stoßen, erreichte man das Dach.

»Und jetzt?«, fragte Ole, der ebenso wie Ivo den Grundriss des Clubs kannte und wusste, dass es vom Dach aus keinen Fluchtweg gab.

»Klettern wir runter. Du erlaubst?«

Ivo wartete Oles Antwort nicht ab, sondern packte ihn mit seiner linken Hand und hob ihn hoch, als würde der Neovikinger über keine signifikante Körpermasse verfügen. Mit seiner anderen Hand krallte sich mein Drache an der Dachkante fest und schwang sich hinunter. Jeden noch so kleinen Vorsprung nutzend, krabbelte Ivo die Wand hinunter, als würde sie horizontal und nicht vertikal verlaufen. Ich hatte mich in einer absolut finsteren Ecke verkrochen, in der mich Ole nicht entdecken konnte. Im Gegensatz zu ihm wusste Ivo genau, wo ich mich befand und setzt Ole mit dem Rücken zu mir ab.

Ivo baute sich vor Ole auf: »Und jetzt solltest du nicht mal daran denken, auch nur mit dem kleinen Finger zu zucken.«

Ole schluckte. Ivos Demonstration körperlicher Perfektion, Kraft und Beweglichkeit, sagten ihm, dass er einem Gegner gegenüber stand, dem er auf keinen Fall gewachsen war. Ganz vorsichtig gab er Ivo mit einem fast nur angedeuteten Nicken zu verstehen, dass er ihn verstanden hatte.

Ich trat aus meinem Versteck und stellte mich hinter Ole Olson: »Man sagte mir, dass du mich suchst?«

Ole schluckte erneut: »Segato, bist du das?«

»Ja und ich empfinde es als ausgesprochen unfreundlich, von einem Profikiller gesucht zu werden.«

»Ich will dich nicht umbringen. Ich bin mit Erogal nach Tharbad gereist, um dich…«

»Erogal, natürlich!«, unterbrach ich Ole, »Ich sollte mich geehrt fühlen, dass mein lieber Lehrer die Omegadirektive selbst umsetzen will.«

»Oh, Segato, mein lieber Segato!«, hörte ich plötzlich Erogals Stimme hinter mir, »Hast du immer noch nicht gelernt, dass ich dir nie etwas Böses antun könnte?«

Lokril

»Frieden? Wer kommt den auf solche perverse Ideen?«

Entsetzter Kommentar General »Cornelis Secundus« zum Friedensschluss von Weißenfurth

Kein normales Schwert wäre unter normalen Umständen jemals in der Lage gewesen, der Haut eines Drachen auch nur einen Kratzer zuzufügen. Doch weder Uskavs Schwert noch die Umstände waren normal. Sie waren alles andere als normal. Toldin wollte verletzt, ja sogar getötet werden. Ein Drache war zu vielem fähig, zu schönen, zu beängstigenden, zu komischen und auch zu grausamen Dingen. Über eines sprachen sie nicht, denn es betraf ihr Innerstes, die Quelle ihrer Kraft und Unverletzlichkeit. Sie war nicht physisch gegeben. Keine Funktion von Haut und Schuppen. Für normale Waffen unverletzlich zu sein, war für einen Drachen eine Entscheidung, es entsprach ihrem magischen Wesen. Eine Drache konnte entscheiden, auf seine Unverletzlichkeit zu verzichten.

Uskavs Schwert war ebenfalls etwas Besonderes. Es war ein Meisterwerk magischer Schmiedekunst. Verziert mit Runen der Stärke, Unbeugsamkeit und Kraft. Es verlor nie an Schärfe, lief nicht an, rostete nicht, wurde nicht schartig und zerschmetterte zu Not auch Stein, wenn sich jemand fand, der entschlossen genug war, die Klinge richtig zu führen.

Toldin spürte, wie der heißkalte Stahl in ihn eindrang, sich seinen Weg zum Herz bahnte und es tödlich verletzte. Der große silberne Drache seufzte. Eine einzelne silberne Träne quoll aus seinem Auge, lief seine Wange entlang und bildete einen Tropfen. Glänzend verweilte der Tropfen an Toldins Kinn, fing das Sonnenlicht auf und schien es in sich zu bündeln und aufzusaugen. Dann fiel er herab. Er stürzte nicht, er schwebte. Die Zeit schien zu gefrieren, alles Leben hielt für einen Moment inne. Die Stille der Ewigkeit breitete sich auf dem Plateau der Drachenreiterschule und darüber hinaus auf ganz Daelbar aus. Jedes lebende Wesen in Daelbar fühlte diese Stille und tief in ihr die lautlose Melodie eines Drachens und seiner Seele.

Dann prallte der Tropfen auf und zerstob in Myriaden glitzernder silberner Funken. Toldins Herz hatte aufgehört zu schlagen. Der große Silberne Drache schloss seine Augen, legte sich langsam auf den Sonnen beschienenen Boden, lächelte zufrieden und starb.

Und so, wie das Leben aus Toldin wich, wich es auch aus Turondur. Uskav war sofort zu ihm geeilt. Der Elb griff sich an die Brust. Er spürte den Schmerz des Stahls in Toldins Herzen. Turondur wankte, strauchelte, doch Uskav fing ihn auf, hielt ihn und hockte sich sanft mit ihm zusammen auf den Rasen. Die großen Augen des Elbs schauten Uskav an. Sie wirkten traurig, aber nicht verbittert.

»Es tut mir Leid, dass ich euch nicht mehr beistehen kann.«, flüsterte Turondur, dessen Kräfte zusehends schwanden. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, keins, dass Humor ausdrücken wollte, sondern ein Lächeln der Zufriedenheit. »Sei nicht traurig, mein liebenswerter Uruk. Wir, Toldin und ich, haben unseren Weg gewählt. Keine Bitterkeit und kein Bereuen! Uskav, mein Freund, sei stark! Kämpfe für uns. Kämpfe für alle Drachen und für all das, für was wir stehen. Kämpfe für das Gute in der Welt!«

Uskav weinte. Ein Uruk ergab sich seiner Trauer und ließ seinen Tränen freien Lauf. Turondurs Kopf und Oberkörper ruhten auf Uskavs Brust. Der Uruk hatte sich über Turondur gebeugt, hielt ihn zärtlich und stand seinen letzten Momenten bei.

»Was seh’ ich da? Ein weinender Uruk?«, scherzte Turondur an der Schwelle des Todes. Uskav war unfähig zu antworten. Mit einer Zärtlichkeit, die niemand einem Uruk zugetraut hätte, strich er Turondur über Wagen und Haar. Stockend und gebrochen bekam er ein paar Worte heraus: »Turondur, Toldin, Elb der Drachen, bitte verzeih mir.«

Noch einmal lächelte Turondur Uskav mit offenen, strahlenden Augen an: »Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müsste. Ich, Turondur, Drache Toldin, bin es und werde es immer, über alle Zeit und allen Raum, sein, dein, dich liebender, Freund.«

Dies waren die letzten Worte des Turondurs. Er schloss seine Augen, lächelte zufrieden und starb. Uskav spürte wie die Kraft, das Leben, aus dem Körper des Elben wich. Ein tiefer Schmerz durchbohrte die Seele des Uruks. Er hob den Körper Turondurs sanft an und drückte ihn an sich. Noch nie in seinem Leben, hatte Uskav einen derartigen Schmerz empfunden. Uskav war ein Kämpfer, eine Mordmaschine, für die es eine Lust war, zu töten. Doch dies war keine Lust, dies war bitterer als Galle, quälender als jeder Schwerthieb. Das erste mal in seinem Leben hasste Uskav, ein lebendes, empfindendes Wesen getötet zu haben – Toldin und Turondur, seinen Freund.


In seiner Trauer bekam Uskav nicht mit, was um ihn herum geschah. Mit Toldins Tod waren Heerscharen von Zauberern, Alchemisten und Biologen erschienen, hatten sich dem Drachen respektvoll genähert und begonnen, sein Blut, das aus der einen Brustwunde sickerte, aufzufangen. Alles geschah, ohne dass auch nur ein einziges Wort fiel. Schweigend ging man seiner Arbeit nach. Doch ein Blick in ihre Gesichter sprach Bände. Jeder empfand Trauer, fühlte den schmerzhaften Verlust eines Freundes, eines Vorbildes oder einfach nur eines guten Elben. Jeder spürte das Loch, das Turondurs Opfer in ihr Herz riss, doch war auch jedem klar, dass Toldins Opfer die einzige Chance für Sie aller Rettung war. Es gab nur eins, was sie tun konnten, ihre Aufgabe erfüllen und aus dem Blut ein Mittel gegen das Orkheer erschaffen.

Während die schlausten Köpfe der Drachenreiterschule ihrer Arbeit nachgingen, erschien ein Drache nach dem anderen und erwiesen Toldin und Turondur die letzte Ehre. Sie kreisten über dem friedlich im Gras vor der Drachenreiterschule liegenden silbernen Drachen, ließen sich neben ihm nieder, verbeugten sich, verweilten einen Moment und flogen schweigend wieder davon. Die ganze Zeit kniete Uskav daneben, hielt Turondur in seinen Armen und versank in einen Zustand seelischer Isolation, die alles um ihn herum ausblendete. Es gab nur noch Uskav, den Schmerz in seiner Brust und die Trauer.

 

Eine Hand legte sich auf Uskavs Schulter. Sie tat es weder sanft, noch mit sonderlich viel Nachdruck. Sie lag einfach da, ruhig und Anteil nehmend.

»Komm mein Freund, es wird Zeit Turondur gehen zu lassen.«

Es war die Stimme Thonfilas, die Uskav zurück in die Wirklichkeit holte. Er schaute auf und blickte in die traurigen, aber auch dankbar strahlenden Augen seines Freundes und Liebhabers. Niemand anderes, nicht einmal Roderick, hätte Uskav aus jenem Schockzustand der Trauer befreien können, in den ihn Toldins und Turondurs Tod versetzt hatte. Nur Thonfilas weiche, elbische Stimme, seine fast schon ätherische Berührung und seine Liebe zu Uskav, besaß die notwendige Kraft, den trauernden Geist des Uruks, zurück in die Wirklichkeit zu holen.

»Thonfilas, mein Freund, was habe ich getan?«

»Was notwendig war und was nur du tun konntest!«

Thonfilas kniete sich neben Uskav hin, legte eine Hand auf Turondurs Stirn, schloss dessen Augen und verharrte eine Weile.

»Danke, mein Bruder. Dein Opfer wird nicht vergebens sein. Jeder Drache wird deinen Namen in Ehre halten, jede Seele wird deiner gedenken. Du gabst dein Leben, um das unsere zu retten. Geh nun Heim zu den Gestaden deiner Vorväter und finde Frieden.«

Mit jenem Wort auf den Lippen packte Thonfilas vorsichtig Turondurs Körper und legte ihn zu Toldin auf den Rasen. Dort lagen sie, friedlich beschienen von einer strahlenden Sonne. Es war, als schienen sie einfach nur zu schlafen, sich etwas auszuruhen, von den Mühen des Tages. Thonfilas begann leise einen sehr alten hoch elbischen Text, eine Art Gebet, zu rezitieren. Während er dies tat, tauchten plötzlich alle möglichen Leute, Freunde und Weggefährten Toldins und Turondurs auf, stellten sich still zueinander, weinten, griffen nach der Hand des anderen neben sich und gaben einander Trost, während sie Thonfilas Worten lauschten und Toldins und Turondurs gedachten.

Uskav wollte seinen Augen nicht trauen und glaubte, die Trauer würde seine Sinne benebeln und ihm einen Streich spielen. Doch tatsächlich, Toldin und Turondurs leblose Körper veränderten sich. Sie begannen durchsichtig zu werden, ihre Haut schien nur noch ein Geflecht aus silbernen Fäden zu sein, die in der Sonne glitzerten. Doch es war wahr, Drache und Seele entschwanden der Welt. Die silbernen Fäden lösten sich auf, wurden zu kleinen funkelnden Punkten, die langsam in den Rasen sanken und verschwanden.

Von jenem Tag an war der Garten vor den Toren der Drachenreiterschule nicht mehr derselbe. Alle Pflanzen in ihm schienen üppiger, kräftiger und lebendiger zu wachsen. Die Blüten der Blumen blühten kräftiger, ihre Farben leuchteten kräftiger, farbiger, dass es nur so eine Pracht war. Doch auch die Menschen, Elben, Zwerge, ja jedes Lebewesen, das durch den Garten wandelte, fühlte eine Veränderung. Wer sich hier aufhielt, den erfasste sofort eine weiche, melancholische Art von Glücklichkeit. Sehr schnell wurde dieser Ort zu einem Zufluchtspunkt derer, die Ruhe suchten, weil sie mit sich haderten, Trost brauchten oder einfach ihrer Seele etwas Balsam angedeihen lassen wollten.

Mit Turondurs und Toldins körperlichem Verschwinden verschwand auch die Trauer. Sie war nicht vergessen, doch sie lastete bei weitem nicht mehr so schwer auf der Seele. Uskav schöpfte neuen Mut und neue Kraft. Er schaute zu Thonfilas, der weiterhin neben ihn stand und fragte: »Wird Toldins Opfer uns wirklich retten?«

»Soweit es ein Gegenmittel betrifft, ja, das wird es. Aber Daelbar braucht jemanden, der uns in die kommende Schlacht führt. Jemand, der weiß, wie Kriege zu gewinnen sind. Uskav, wir brauchen dich, wir alle. Die Zeit des Gedenkens wird kommen, doch jetzt ist die Zeit des Kampfes. Dort liegt dein Schwert, ergreife es!«

Thonfilas hatte Recht. Uskavs Schwert lag genau an der Stelle auf dem Rasen, wo Uskav es nach seinem tödlichen Stich fallen gelassen hatte. Der Uruk ging hin, zögerte einen Moment, bevor er das Heft packte und sein Schwert vom Rasen hob. Die Waffe hatte sich verändert. Ein magischer Glanz lag auf der Klinge. Uskav schaute hin. Sein Gesicht spiegelte sich im blank polierten Metall der Schneide, doch sah er noch mehr. Es schien, als ob man in den Stahl hinein schauen konnte. Lodernde Flammen wirbelten in dem Metall umher. Ein wahrer Feuersturm tobte im Inneren des Schwertes. Ein Sturm, den man auch fühlen konnte. Die Klinge schien brennend heiß zu sein. Vorsichtig tippte Uskav dagegen. Sofort spürte er eine brennende Hitze, die aber an den Stellen verschwand und kühl wurde, an denen er, Uskav, das Metall berührte.

»Was ist das?«, fragte Uskav Thonfilas.

»Toldins letztes Geschenk an dich. Was du in den Händen hältst, ist Lokril, die Drachenflamme. Führe es als leuchtende Fackel der Freiheit und in Gedenken an Toldin, der sein Blut für uns gab.«, verkündete Thonfilas feierlich.

Voller Ehrfurcht hielt Uskav sein Schwert, packt es mit beiden Händen, riss es senkrecht hoch über seinen Kopf. Mit einem Blitz flammte die Schneide auf, Flammen züngelten empor. Das Schwert loderte wie eine Fackel.

Als Toldins Blut die Klinge benetzte, verband es sich, durch den Willen Toldins, mit dem Metall. Wie Thonfilas sagte, es war ein Geschenk. Toldins Blut hätte genau so gut die Klinge auch verätzen und auflösen können, doch der Drache hatte anders entschieden und die Klinge, die ihn tötete, veredelt.

»Lokril, Drachenflamme, Fackel der Freiheit!«, rief Uskav laut aus.

Als ob das Schwert wusste, was Uskav vorhatte, erlosch die Flamme sofort, als er sein Schwert senkte. Die Klinge wurde schlagartig kalt und Uskav konnte sie gefahrlos in ihrer Scheide verstauen.

»Komm, mein Freund, wir haben eine Schlacht zu gewinnen!«, forderte Thonfilas Uskav auf, ihm zu folgen.

 

Die Nacht vor Schlacht brach an. Späher kehrten von ihren Erkundungen zurück und berichteten, dass das Orkheer noch etwa vier Stunden von Daelbar entfernt sei. In den Laboratorien der Drachenreiterschule arbeiteten Chemiker, Magier, Drachenkundler, Hexer und Druiden unermüdlich am Gegenmittel. Toldin hatte ihnen mehr als genug Blut hinterlassen. Das Problem der langwierigen Prozedur wurde vom Dekan des Lehrstuhls für höhere, transmethaphasische Quantenmagie, sehr elegant mit Hilfe einer Zeitkapsel gelöst, die kurzerhand das ganze Labor einhüllte. Kurz vor Mitternacht war es soweit, dass man sich wieder im großen Saal der Drachenreiterschule versammeln konnte.

»Es ist vollbracht!«, die Professoren Xelmachus und Bogenhausen, »Allerdings…«

»Was?«, fragte Uskav nervös nach.

Vor auf dem Tisch vor ihm stand die erste Phiole des Gegenmittels. Einen sanften goldenen und blauen Schimmer ging von ihr aus, was im Allgemeinen ein untrügliches Zeichen für Magie darstellte. Xelmachus kratzte sich verlegen am Kopf.

»Die Jungs von »Boldin Dynamics« hatten mehrere Jahre Zeit ihre Drachenorks zusammenzustoppeln. Wir hatten nur ein paar Stunden.«, erklärte Bogenhausen.

»Drei Wochen. In der Zeitkapsel.«, korrigierte Xelmachus, wohl wissend, dass Bogenhausen die Existenz von Zeitreisen aus prinzipiellen Gründen leugnete.

»Wie auch immer!«, knurrte Bogenhausen, »Es könnte zu, ähm… zu Nebenwirkungen kommen.«

»Nebenwirkungen?«, hakte Uskav skeptisch nach, der sich langsam fragte, ob die ganze Sache Toldins Opfer wert gewesen war.

»Ähm, das Feuer der Drachen…«

»Ja?«

»Es kann sein, dass es zu Anfang nicht zündet und wenn es dann zündet, kann es zu merkwürdigen Effekten kommen.«

»Du meinst, die Drachen können ihr Feuer nicht nutzen?«, Uskav stöhnte. In knapp vier Stunden würden sie einem Heer von hunderttausenden Orks überrannt. Das Einzige was zwischen Überleben und Untergang stand, waren ein paar hundert Drachen, deren größte und effektivste Waffe ihr Feuer war. Doch statt mit diesem Feuer zuschlagen zu können, sollten ihnen nur Krallen, Klauen und Fänge bleiben? Uskav überlegte, spielte schnell ein paar Kampfszenarien durch. Massen tumber, unerfahrener Orks gegen ein paar hundert, Kampf erfahrene Drachen?

Uskav knurrte frustriert. Ein paar hundert Drachen? Vielleicht. Ja, es könnte funktionieren. Sie hatten eine Chance, wenn auch keine große. Hier war Taktik und Strategie gefragt. Eins war Uskav klar, selbst wenn sie siegen würden, so stand ihnen zuvor eine hässliche und blutige Schlacht bevor.

»Es ist nur eine Reaktion auf das Gegenmittel.«, versuchte Xelmachus zu erklären, »Wir vermuten, dass das Feuer schnell zurückkehren wird. Zu Anfang könnte es aber zu ein paar magischen Effekten kommen.«

Uskav nahm die Phiole in die Hand, betrachtete sie eine Weile und nickte: »Gut! Verteilt das Gegenmittel. Die Stadt soll sich bereit machen. Die Drachenreiterstaffeln sollen sich bei ihren Startbasen einfinden. Alle anderen sollen die Wehrtürme und -mauern besetzen.«

Uskav hielt einen Moment inne. Neben den Wissenschaftlern und Magiern hatten sich auch die Mitglieder des Rates von Daelbar eingefunden. Uskav ließ seinen Blick schweifen. Man schaute zu ihm, Uskav, dem Uruk auf, man harrte seiner Entscheidungen, seiner Worte. »Sie erwarten, dass du sie anführst, dass du sie rettest. Sie vertrauen dir.«, dachte Uskav. In einer hinteren Reihe entdeckte er Roderick und Thonfilas, die ihm respektvoll zunickten.

Uskav reckte sich, kletterte auf einen Stuhl, dass ihn jeder sehen und hören konnte: »Drachenreiter, Drachen, Bürger, Daelbaner, Freunde – Daelbar, zur Zeit meines Dienstes für den König Goldors war dies der Name des Feindes. Ihr alle habt mich eines Besseren belehrt. Daelbar ist ein funkelnder Stern der Freiheit, ein Ort, an dem jeder, egal ob Mensch, Elb, Zwerg, Gnom oder sogar ein Uruk glücklich werden kann. Hier, bei euch, mitten unter euch, lernte ich den Wert des Friedens. Es gibt keine Worte, die meine Dankbarkeit dafür auch nur ansatzweise angemessen wiedergeben würden. Es gibt nur eins, was ich tun kann, etwas, für dass ich erschaffen wurde, den Kampf. Wenn ich früher in den Kampf zog, dann weil mir jemand anderes dafür einen Befehl erteilt hat. Doch hier und jetzt werde ich kämpfen, um als freier, unabhängiger Uruk das zu verteidigen, was mir mehr bedeutet, als alles andere in der Welt, meine Freundschaft und Liebe zu dieser Stadt und ihren Bewohnern. «

Mit einer blitzschnellen Bewegung zog Uskav sein Schwert aus der Scheide und reckte es hoch empor. Lokril, die Drachenflamme loderte hell auf.

»Freunde, ich rufe euch auf. Folgt mir in die Schlacht, lasst uns unsere Freiheit Seite an Seite verteidigen. Für Daelbar, für die Freiheit!«

»Für Daelbar, für die Freiheit!«, schallte es Uskav entgegen. Daelbar zog in den Krieg.

Schiffsmeldungen

»Der schnellste Weg im Barad Baul zu landen? Beauftrage einen Anwalt deinen Fall zu vertreten.«

Tharbadianisches Sprichwort

»Tharbad«, verkündete Kapitän Frederick Gustavson als sein Schiff in den Hafen der größten Seestadt Goldors einlief.

Von der Seeseite aus war der Anblick der Stadt durchaus imposant. Obwohl Tharbad in Wirklichkeit Stein gewordene Hässlichkeit repräsentierte, wirkte sie aus der Entfernung durchaus beeindruckend. Überragt von der spitzen Nadel des Barad Bauls erstreckte sich entlang der Bucht von Tharbad eine stolze Skyline. Man durfte nur nicht darüber nachdenken, um was es sich beim Barad Baul wirklich handelte.

Kurz nachdem man in die Bucht eingeschwenkt hatte, kam ein Lotse an Bord, der das Schiff zu einem der Anlegeplätze des Freihafens manövrierte. Kaum hatte man die Kaimauer erreicht, wurden Taue geworfen, mit denen das Schiff sofort sicher festgemacht wurde. Minuten später rollten Kräne heran, um die Ladung zu löschen.

Tharbad war ein Hafen, der keinen Feierabend kannte. Rund um die Uhr kamen Schiffen, wurden beladen und gelöscht. Bei so viel Betrieb war es natürlich schwierig, unentdeckt vom Bord zu gelangen, insbesondere, wenn man kein Mensch, sondern ein Drache der Extragröße, wie Mithval war. Frederick Gustavson war ein weiser Kapitän, der dieses Problem vorausgesehen und entsprechend disponiert hatte. Statt einen der Hauptpiers anzusteuern, wählte er einen etwas abgelegenen, an dem nicht ganz so viel Betrieb herrschte.

Der erste, der das Schiff verließ, war Anger, Kapitän Gustavsons Neffe und Palles Sohn. Bevor er verschwand, gab er Gilfea und Gildofal den dringenden Rat, sich selbst, aber insbesondere Mithval, Tingalen und Eargilin nicht blicken zu lassen. Die Drachen und ihre Reiter warteten, während die Ladung des Schiffs gelöscht wurde. Nach knapp eineinhalb Stunden tauchte Anger wieder auf.

»So, alles vorbereitet.«, verkündete er, »Heute Nacht, wenn hier sowieso am wenigsten los ist, wird völlig unerwartet und überraschend die Flutlichtanlage des Piers ausfallen. Ich schätze, wie haben dann knapp fünf Minuten Zeit mit den Drachen in den Lagerschuppen meines Vater zu verschwinden.«

Eine genaue Uhrzeit, zu der das Licht ausfallen sollte, konnte Anger leider nicht sagen. Es sollte dann passieren, wenn am wenigsten los war. So würde die Suche nach dem Fehler länger dauern und die Drachen mehr Zeit haben, um im Schuppen zu verschwinden.

Eine unruhige Wache begann. Gildofal, Anger und Gilfea packten ihre Sachen und deponierten sie griffbereit an Deck. Die drei Drachen hockten im Laderaum, der nur von einer locker aufgelegten Plane bedeckt war, die, sobald das Licht ausfiel, blitzschnell entfernt werden konnte. Die ganzen Vorbereitungen benötigten nicht mal eine Stunde, dann begann das Warten. Mit Einbruch der Dämmerung begannen überall starke künstliche Lichter aufzuflammen, die ein kaltes, blauweißes Licht abgaben. Es war alles andere, als ein schönes Licht, das die Lampen verbreiteten. Die wohlige Wärme und Brillanz von Elbenlichtern war etwas völlig anderes, als diese kühle, gleißende aber effiziente Arbeitsbeleuchtung. Das Licht war dermaßen effektiv, dass Gilfea fast schon das Gefühl hatte, besser als bei Tageslicht sehen zu können. Er meinte sogar beobachten zu können, wie die Geschäftigkeit am Pier zunahm.

Stunden vergingen, ohne, dass im Hafen auch nur ansatzweise etwas Ruhe einkehrte. Kräne fuhren hin und her. Lastgleiter tauchten auf, wurden mit Containern beladen und verschwanden wieder, während andere Gleiter frische Container anlieferten, die entweder am Pier gestapelt oder in die Bäuche wartender Schiffe verfrachtet wurden.

Erst gegen Mitternacht schien langsam die Geschäftstätigkeit ein klein wenig abzuflauen, was hauptsächlich daran lag, dass zu jener Zeit das Haupttor des Freihafens für vier Stunden geschlossen wurde, und daher keine Ware von der Landseite den Freihafen erreichen oder verlassen konnte. In dieser kurzen Zeit wurden nur noch die Dinge verladen, die sich bereits im Hafen befanden, was aber immer noch eine Menge darstellte.

Eine halbe Stunde später wurde es dann spürbar ruhiger. Anger kam zu Gilfea an Gildofal und meinte: »Haltet euch bereit. Es müsste jeden Moment soweit sein.«

Am Liegeplatz von Frederick Gustavsons Schiff waren die Ladearbeiten beendet. Alle Stauer, Packer, Kranführer und Staplerfahrer waren verschwunden. Der Kai wirkte verwaist. Erst ein paar hundert Meter weiter herrschte an einem anderen Schiff wieder hektische Betriebsamkeit, bis es passierte.

Die Scheinwerfer der Flutlichtanlage begannen zu flackern, um plötzlich mit einem kurzen finalen Aufblitzen auszufallen. Der halbe Hafen tauchte sofort in absolute Dunkelheit.

»Jetzt!«, rief Anger und packte zusammen mit Gilfea und Gildofal die Abdeckplane zum Laderaum. Blitzschnell zogen sie sie weg und gaben die große Ladeluke frei. Anschließend packten sie ihre Sachen und sprangen auf die drei Drachen. Tingalen machte wieder den Anfang, da Anger genau wusste, wo sie hin mussten. Die Drachendame katapultierte sich aus dem Lagerraum, sprang zur Wasserseite über Bord, schwebte im Tiefflug das Hafenbecken entlang, drehte an einer Kreuzung in ein anderes Becken, flog dieses entlang, hielt auf die Kaimauer am Ende zu, um direkt davor mit einem Satz aufzusteigen. Direkt am Pier, etwa hundert Meter vom Wasser entfernt, lag ihr Ziel. Ein großer Lagerschuppen, dessen Rolltore weit geöffnet standen. Tingalen schwebte direkt hinein, dicht gefolgt von Eargilin und Mithval. Noch bevor die zwei anderen Drachen landeten, war Anger bereits abgesprungen und zum Rolltor gelaufen. Mithvals Schwanz hatte das Tor noch nicht durchquert, als der junge Neovikinger es bereits begann zu schließen. Doch die Torflügel waren schwer und bewegten sich nur langsam, weswegen Gilfea und Gildofal sofort mit anpackten. Genau im dem Moment, als sich das Tor schloss, flammten die Scheinwerfer der Fluchtlichtanlage wieder auf und tauchten den Hafen in gleißende Helligkeit.

»Puh, das war knapp!«

Angers Bemerkung traf die Situation präziser, als es sein flapsiger Tonfall vermuten ließ. Das Flutlicht hatte seine volle Helligkeit noch nicht erreicht, da füllten bereits wieder die ersten Stapler die Fläche vor der Lagerhalle.

»Sind wir hier sicher?«, Gildofal war zu Anger gelaufen, der durch ein schmutziges Glasfenster nach draußen schaute.

»Vorerst.«, meinte Anger, »Dieses Lagerhaus gehört meinem Vater. Hier wird ein Großteil des Warenverkehrs der Neovikinger abgewickelt. Der Freihafen ist exterritoriales Gebiet. Der König selbst hat Tharbad die Freihafenrechte verliehen, weil sein Reich auf den Handel angewiesen ist. Bestimmte Bodenschätze muss Goldor importieren, zu einem Teil auch von seinen Feinden. Da man von ihnen nicht direkt kaufen kann und will, gibt es den Freihafen. Unabhängige Kaufleute treten als Zwischenhändler auf und niemand muss mit seinem Feind direkte Geschäfte tätigen. Nur aus diesem Grund ist der Freihafen für uns halbwegs sicher. Natürlich wimmelt es von Spionen und Agenten. Jeder will wissen, was der andere tut. Daher solltet ihr vorerst in Deckung bleiben.«

»Und was ist mir dir?«

»Ich?«, Anger grinste frech, »Ich bin doch nur der kleine Sohn vom Chef. Mich nimmt doch niemand ernst.«


»Ah, sind wir wieder aufgewacht?«

Zwei Tage waren vergangen, seid Suman in Gefangenschaft geraden war. Oder waren es drei? Suman war sich nicht sicher. Er hatte sich Stunden über Stunden wach gehalten, doch irgendwann weigerte sich sein Körper weiter die Augen offen zu halten und er schlief ein. Wie lange er geschlafen hatte, wer konnte das schon sagen? Man hatte ihn unter Deck in eine Kammer ohne Fenster gesperrt. Sein PDA-Implantat, das ihm das genaue Datum und die Uhrzeit hätte sagen können, war gestört. Wobei nicht klar war, ob dies durch den Sturz von Tingalen oder irgendetwas, das seine Bewacher getan hatten, verursacht wurde. Selbst zu seinem Drachen kam Suman nicht richtig durch.

Sie waren auf hoher See, das zumindest war sicher. Einmal mussten sie ihre Reise unterbrochen haben. Das Dröhnen der Motoren setzte aus und das Boot schaukelte nicht, während man an Deck Stimmen und Fußgetrappel hören konnte. Suman schätzte diesen Aufenthalt auf etwa zwei Stunden, dann wurde die Fahrt fortgesetzt.

Während der ganzen Zeit ließ man ihn zufrieden, was hieß, dass man, außer um ihm etwas Essen zu bringen, sich nicht einmal blicken ließ. So vergingen Stunden über Stunden. Die kleine Kammer, die schlechte Luft, die trübe Beleuchtung begannen an Sumans Nerven zu zerren. Zum Glück beherrschte er einige Entspannungs- und Konzentrationstechniken, um dem drohenden Effekt einer Einzelhaft entgegen zu wirken. Trotzdem, der Verlust seines Zeitgefühls ärgerte Suman. Auch das PDA-Implantat, das eigentlich über eine Selbstreparaturfunktion verfügen sollte, meldete nach wie vor eine Störung.

»Essen! Du kennst die Prozedur, stell dich mit den Händen an die Wand!«, tönte es durch ein paar Lüftungsschlitze.

Suman kannte die Prozedur. Sie wiederholte sich mit enervierender Regelmäßigkeit. Immer, wenn einer seiner Bewacher seine Kammer betreten wollte, musste er aufstehen und sich mit Händen auf und dem Gesicht zur Wand hinstellen. Erst dann öffnete sich die Tür.

»Was habt ihr mit mir vor?«

Nachdem er bisher geschwiegen hatte, meinte Suman seine Strategie, soweit man es als eine solche bezeichnen konnte, zu ändern. Warum sollte er nicht versuchen, etwas über seine Gegner in Erfahrung zu bringen.

»Wir? Nichts!«, lachte sein Bewacher bösartig, »Wir bringen dich nur zum Barad Baul. Dort wird man sich intensiv um dich kümmern.«

»Wenn ihr mich als Spion hinrichten wollt, dass ginge auch gleich hier auf hoher See.«

»Wer sagt denn, dass man dich hinrichten will? Nein, mein Freund, du wirst bereits sehnlichste erwartet. «

»Wer erwartet mich?«

»Das, mein Lieber, ist ja gerade die Überraschung. Jemand, der dich sehr, sehr gern hat, wartet bereits sehnsüchtig auf dich. Oh, du wirst euer Wiedersehen richtig genießen!«, nach diesen Worten brach der Wächter in ein fieses Gelächter aus und ließ Suman in seiner Kammer verwirrt zurück.

 

»Wie sieht es aus?«

Den ganzen nächsten Tag warteten die drei Drachen, Gilfea und Gildofal im Lagerschuppen auf die Ankunft des Schnellboots mit Suman an Bord. Anger hatte den Lagerschuppen verlassen, um die Lage zu sondieren und sofort Alarm zu schlagen, sollte Suman eintreffen. Gegen späten Nachmittag kehrte er zurück. Das Boot mit Suman war nicht eingetroffen. Während Anger auf Suman wartete, vertrieb sich Gilfea die Zeit damit, nervös im Schuppen umher zu laufen. Erst als Gildofal ihn sanft packte und in den Arm nahm, wurde Gilfea etwas ruhiger. Doch kaum kehrte Anger zurück, riss sich Gilfea los und stürmte auf den Neovikinger zu.

»Schlecht! Keine Spur von eurem Freund. Die Boote hätten längst in Tharbad sein sollen.«, beantwortete der junge Neovikinger Gilfeas Frage. »Die Wachen am Barad Baul und seinem Anleger wurden verstärkt. In der Stadt wimmelt es von Geheimpolizei und Klerikern. Man könnte meinen, Tharbad stehe kurz vor einer Explosion. Jedenfalls bereitet man sich auf etwas verdammt großes vor.«

»Wie stehen die Chancen, unseren Freund zu befreien?«

»Kniffelig«, Anger wirkte nicht wirklich optimistisch, »Wollt ihr meine ehrliche Meinung hören?«

»Natürlich!«

»Die Stadt steht unter totaler Überwachung. Euren Freund auf dem Weg vom Boot zur Kerkerfestung abzufangen, halte ich für ausgeschlossen. Allerdings könnten wir versuchen euren Freund aus dem Barad Baul zu befreien.«

»Moment, ich dachte der Barad Baul sei absolut aus- und einbruchssicher?«

»So sagt man.«, Anger grinste breit, wobei er zwei Reihe schneeweißer Zähne entblößte, »Jeder behauptet, der Bral Baul wäre absolut sicher. Nicht mal eine Kakerlake würde das Gebäude betreten können, ohne dass die Wächter dies nicht bemerken würden. Oh, Tharbad ist mächtig stolz auf seinen Superknast. Ausgerüstet mit den modernsten Sicherheitssystemen könne einfach niemand dort einbrechen und jemanden herausholen. Nun ja, vielleicht sollten wir sie eines besseren belehren? Ihre größte Schwäche ist nämlich ihre vermeintliche Perfektion. Die Wächter verlassen sich vollständig auf die Sicherheitssysteme. Solange die nicht >Pieps< machen, dösen sie gelangweilt vor sich hin.«

»Hm, das klingt zwar nach einer interessanten Idee, doch für die Umsetzung eines solchen Plans bräuchten wir einen Profi, der sich mit Sicherheitssystemen und Einbrüchen auskennt.«, gab Gilfea zu bedenken.

»Vielleicht gibt es jemand, der uns da helfen könnte. Ich kenne jemanden, der genug Erfahrung besitzt und verrückt genug wäre, um so etwas durchzuziehen. Er treibt sich viel in der Welt rum, scheint aber gerade in der Stadt zu sein. Wenn er nicht gerade mit anderen Dingen beschäftigt ist, könnte ich bei ihm mal vorfühlen, ob er, gegen ein entsprechendes Honorar, sich nicht unserer Sache annehmen könnte.«

»Gegen ein Honorar? Der Mann ist ein Söldner?«, Gilfea war nicht überzeugt, ob die Idee wirklich so gut war. Überhaupt, konnte er es riskieren, Sumans Leben einem Fremden anzuvertrauen? Andererseits stellte sich die Frage, welche Optionen es überhaupt noch gab. Gilfea musste sich eingestehen, dass er zwar ein Drachenreiter mit einem wirklichen Monster von einem Drachen war, ihn aber sonst nichts für solche Aufgaben, wie militärisch präzis geplante Rettungsaktionen, qualifizierte. Ihm fehlten die Erfahrung und das nötige Wissen. Uskav wüsste, was zu tun war. Doch Gilfea war nicht Uskav. Wenn also ein Profi, ein Söldner, Suman befreien könnte, warum sollte man es dann nicht versuchen?

»Und dieser Profi, ist er vertrauenswürdig?«, fragte Gilfea und wählte dabei einen Tonfall, der klar machte, wie wichtig ihm die Frage war.

»Ja!«, war Angers knappe Antwort, »Absolut!«

»Anger, warum tust du dies alles für uns?«

»Ist das nicht klar?«, Anger schaute zu Mithval, Eargilin und Tingalen hinüber, »Ich möchte ein Drachenreiter werden!«

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