Fotostudio Plange – Teil 22 – Schlaffes Chilli

Anscheinend sind Familiendramen ja doch von Interesse, also machen wir weiter, denn ihr wolltet es ja so. Man sollte seine Familiengeschichte kennen, denn nur durch die Familie definiert sich ein Mensch. Die Frage ist aber: Sollte man wirklich alles, aber auch wirklich alles, über die Seinen wissen? Wann kann man eine Dummheit in der Jugend verzeihen? Wann ist ein Verhalten als Starrsinn zu bezeichnen? Die Antwort könnt ihr euch nur selber geben.

Der letzte Tag des Jahres begann erfreulich, wir konnten bis halb acht schlafen. Einkaufen brauchten wir nicht, weder für uns oder für Marvins Feier noch für Neujahr, der Tisch beim Griechen war längst reserviert. Mein Schatz und ich waren ja bei Klaas eingeladen und tags zuvor hatte ich mit Florians Mutter Heidemarie, Rufname Heidi, telefoniert. Sie war mehr als froh und dankbar, dass ich unseren Partykeller als Ausweichquartier für die Bagage, wie sie die Stufe ihres Sohnes nannte, zu Verfügung gestellt hatte.
Sie würde im Laufe des Vormittags vorbeikommen und die Sachen für die Party vorbeibringen. Sie bot sich sogar an, in unserer Küche die Käsesuppe, die es zu essen geben sollte, zu kochen. Der Vorschlag war zwar gut gemeint, aber ich lehnte dennoch dankend ab: Erstens mag ich es nicht, wenn Fremde in meiner Küche hantieren und so meine heilige Ordnung durcheinander bringen und zweitens, Heidi hatte am Wochenende schon genug durchgemacht, da konnten ein paar Stunden Ruhe ihre sicherlich nicht schaden.
Frohen Mutes und frisch gestärkt machte ich mich um viertel vor neun zu Fuß auf den Weg zum Amtsgericht, ich war schließlich verabredet. Eine Fahrt mit dem Wagen hätte sich nicht gelohnt, ich hätte, mit Parkplatzsuche, ebenso lang für den Weg gebraucht und Igor wollte vormittags noch mal kurz bei seiner Mutter vorbeischauen und eine mobile Kochstelle holen, brauchte also meinen Wagen.

Gudrun kam zehn Minuten zu spät und sah ziemlich gehetzt aus. „Entschuldige bitte, aber ich musste erst noch diese dumme Vollmacht von Papa suchen. Man kann ja nie wissen …“

Ich musste lachen. „Ist doch nicht schlimm. Na dann, lass uns mal rein und unser Glück versuchen.“

Wir betraten das Amtsgericht und nach dem Passieren der Eingangskontrolle suchten wir die Grundbuchabteilung im zweiten Stock des Altbaus. Viel Betrieb war auf den Fluren nicht, ich hatte schon arge Befürchtungen, das Gewünschte Stück Papier überhaupt zu bekommen, aber wider Erwarten reagierte jemand auf unser Klopfen.
Die Justizhauptsekretärin Schulze-Eversberg, so stand es jedenfalls auf dem Türschild, war gerade damit beschäftigt, die unzähligen Grünpflanzen auf Fensterbank zu gießen, mit Kundenverkehr hatte sie am heutigen Morgen wohl nicht gerechnet. Ihre Stimme klang dennoch freundlich. „Was kann ich für sie tun?“

„Ich bräuchte einen Grundbuchauszug über mein Elternhaus. Da sind wir hier doch richtig, oder?“

„Eigentlich schon, aber Auszüge dürfen wir nur für Eigentümer oder Personen mit berechtigtem Interesse fertigen. Als Tochter gehören sie leider nicht in einer der beiden Kategorien, tut mir leid.“ Sie wandte sich wieder ihren Benjaminen zu.

„Mein Vater ist im Pflegeheim, kann also selber nicht mehr kommen. Aber er will das Haus nun verkaufen und benötigt deshalb den Auszug zur Wertermittlung.“ Gudrun hatte wirklich Schmalz in der Stimme.

Die Frau mit dem Doppelnamen kam zum Tresen, griff in ein Fach und reichte ihr ein Formblatt. „Damit kann ihr Vater dann einen Antrag stellen und er bekommt den Auszug dann zugeschickt, wenn die Gebühren beglichen sind.“

„Das könnte man so machen, aber ich glaube, hiermit müsste ich den schon heute kriegen.“ Sie öffnete ihre Handtasche und reichte der rubenshaften Dame hinter dem Tresen wohl die vorhin erwähnte Vollmacht.

„Diese notariell beurkundete Handlungsvollmacht reicht mir vollkommen. Haben sie zufälligerweise die Grundbuchblattnummer?“ So etwas weiß jeder Mensch natürlich auch auswendig!

Gudrun schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid.“

Frau Schulze-Dingenskirchen, mittlerweile an Ihrem PC, zuckte mit den Schultern. „Naja, dann müssen wir halt suchen. Der Eigentümer ist also Konrad Peckenberg – Moment!“ Sie tippte den Namen in den Rechner und schaute auf den Bildschirm. „Ah, da haben wir ihn. Moment. Ich habe hier drei Grundbücher auf ihn verzeichnet, von welchem seiner Grundstücke wollen sie nun ein Auszug?“

Ich blickte Gudrun verdutzt an, die ebenfalls mehr als erstaunt zu sein schien. „Papa hat mehr als ein Haus?“

„Sieht so aus, Frau Schrader, alle in der Ludwigstraße – von 117 bis 121, drei Grundbücher. Von welchem?“ Ihre Finger scharrten auf ihrer Schreibtischunterlage.

Gudrun war eindeutig verwirrt. „Äh, 117 und 119 gehörten früher meiner Mutter. Ich dachte, er hätte sie nach ihrem Tod verkauft. Jedenfalls sagte er mal so etwas.“

Ein paar Tasten waren zu hören. „Nein, tut mir leid. Sie sind alle noch in seinem Eigentum, ich sehe hier auch keinerlei Vormerkung. Da hat ihr Vater ihnen wohl was Falsches gesagt. Also? Von welchem Grundstück soll es sein?“

„Von allen!“ Ihre Stimme war tonlos.

„Gut, dann alle. Die Kopien beglaubigt oder unbeglaubigt?“

„Unbeglaubigt reicht wohl, ist ja noch nicht alles spruchreif.“

„Wie sie meinen. Macht dann 33 Euro, zahlbar in der Gerichtskasse im Kellergeschoß, Zimmer 25.“ Sie tippte, der Drucker spuckte ein Stück Papier aus. „Sie zahlen erst, füllen dann den Antrag aus und dann …“

Ich griff mir das Papier. „Ich geh dann mal bezahlen und, Gudrun, du kannst ja schon mal …“

Die Zahlstelle im Untergeschoß war besetzt und ich entrichtete die Gebühr. Mit der Quittung trabte ich wieder hoch und übergab sie der Dame mit dem Doppelnamen, die nur nickte. „Danke.“ Mit den Auszügen und den besten Wünschen zum neuen Jahr verließen wir ihr Büro.

Auf dem Vorplatz vor dem Gericht angekommen schauten wir uns beide uns erst mal fragend an. Gudrun hatte zwar ihre Stimme wiedergefunden, aber die Zweifel waren deutlich herauszuhören. „Ein paar Monate nach Mamas Tod meinte er, er hätte jetzt nichts mehr mit ihren Häusern zu tun. Ich dachte, er hätte sie verkauft.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Anscheinend ja nicht. Aber … die sind doch vermietet! Da müssen doch Einnahmen da sein, Mieten, Rechnungen, Quittungen … ein Haus kostet auch Unterhalt!“

Sie nickte. „Und dass ich zu knapp! Ich hab nur die Kontoauszüge von seinen Girokonto, aber … da war er nie etwas in der Richtung, nur von dem Haus, in dem er selbst wohnte. Ich kann es dir auch nicht sagen! Die Sache ist ziemlich merkwürdig, wenn du mich fragst!“

In mir reifte eine Idee. „Wo hat er denn sein Konto?“

Verwirrung lag in ihrem Blick. „Bei der Volksbank. Und das, seit ich denken kann, Mamas Opa war einer der Gründer der Bank hier.“

„Dann lass uns mal dahin gehen, vielleicht erfahren wir ja mehr.“ Ich deutete auf die Filiale, die gegenüber dem Gericht lag. Sie hatte den Vorteil, sie war die nächstgelegenste und vor allem kannte ich den Filialleiter, Holger Wildeshausen, ein Con-Abiturient von mir

Wir betraten den modern eingerichteten Schalterraum, indem es keine Schalter im Wortsinne mehr gab; viel Publikum war nicht anwesend. Eine junge Dame, wohl noch Auszubildende, kam auf uns zu, wurde aber von ihrem Chef angehalten. „Frau Zug, diesen Kunden übernehme ich.“

Ich ging auf den blonden Recken, der in Mathe immer von mir abgeschrieben hatte, zu und wir begrüßten uns herzlich. „Stefan, altes Haus, was gibt es? Willst du deine Millionen sehen?“ Er grinste über beide Backen, scherzen konnte er noch nie gut.

„Wenn ich die mal hätte, aber du kannst uns mal in dein Büro führen.“ Ich deutete auf Gudrun.

Er nickte nur. „Wenn ihr mir folgen wollt?“

Wir taten nichts lieber als das und saßen kurze Zeit später in seinem Büro. Als wir uns gesetzt hatten, blickte er mich fragend an. „Also Stefan, was gibt es?“

„Wir, nein, … Also: Gudrun braucht eine umfassende Auskunft über die Geldgeschäfte ihres Vaters.“ Ich blickte in Richtung meiner ehemaligen Nachbarin, die nur zustimmend nickte.

„Herr Plange! Auch wenn du mich damals in Algebra gerettet hast, das kann ich nicht machen. Es gibt das Bankgeheimnis und daran bin ich gebunden, auch dir gegenüber.“ Er klang irgendwie resigniert.

„Holly, du sollst keine Geheimnisse brechen. Es gibt da was, was wir nicht verstehen und du sollst es uns nur etwas erklären, mehr nicht! Vielleicht hat er es ja auch über eine andere Bank gemacht und du bist aus dem Schneider.“ Ich blickte ihn scharf an und dann sanft zur Nachbarstochter hinüber. „Gudrun, zeigst du ihm bitte deine Vollmacht?“

Die Angesprochene nickte nur, öffnete ihre Handtasche und reichte ihrem Gegenüber die am heutigen Tag schon einmal gebrauchte Urkunde. Holger überflog sie nur, ich glaube nicht, dass er sie richtig gelesen hatte, aber egal! Die Schuld anderer ist nicht meine Schuld!

„Dann bin ich ja auf der sicheren Seite. Also! Ihr wollt was über die Konten von Konrad Peckenberg wissen?“ Wir nickten, er tippte auf seiner Tastatur. „Ihr Vater, Frau Peckenberg, …“

„Schrader, ich heiße Gudrun Schrader. Peckenberg war mein Mädchenname.“

„Okay, Frau Schrader, ich habe hier zwei Sparbücher, zwei Giro-und ein Geschäftskonto für Ihren Vater verzeichnet. Dann gibt es noch ein Wertpapierdepot mit 30.000 Euro an Pfandbriefen. Sein Aktiendepot hat ihr Vater vor drei Jahren aufgelöst.“

„Zwei Konten?“ Gudrun war verunsichert.

„Ja!“ Er tippte erneut, legte seine Stimme in Falten, hantierte wieder auf der Tastatur. „Das ältere der Konten scheint sein laufendes Giro zu sein, denn da gehen seine Rente ein, das Pflegeheim wird abgebucht, GEZ, Zeitung, Telefon … Das zweite Konto trägt den Titel ‚Ludwig 117,119‘. Eingänge nur von einer Hemland-Immobilien GmbH mit dem Stichwort Mieten. Abgänge Stadtwerke und Finanzamt … scheint also das Immobilienkonto zu sein, aber …“ Er tippte erneut. „Wir haben bei diesem Konto einen Überweisungsauftrag: Zwei Wochen nach Quartalsende ist der Betrag, der 20.000 Euro übersteigt, an die West-Jütland-Stiftung zu überweisen.“ Es klapperte erneut. „Der Vermerk des zweiten Sparbuchs lautet ebenfalls auf diese Stiftung. Angelegt wurde es vor drei Jahren, wohl mit dem Erlös aus dem Verkauf der Aktien, und – Moment bitte – die Gutschriften von seinem Anteilskonto und die Zinsen aus den Sparbriefen gehen ebenfalls auf dieses Sparbuch.“

Tiefes Schweigen herrschte, man sah, wie die Köpfe arbeiteten. Große Teile seines Vermögens waren also für diese Stiftung bestimmt, aber, wer zum Teufel, steckte dahinter? Als ich meinem Freund aus Schultagen diese Frage stellte, erschrak er. „Wegen denen hatten wir schon Schwierigkeiten!“

Ich wurde neugierig. „Welche Schwierigkeiten?“

Er druckste herum. „Naja, das sage ich jetzt mal ‚out-of-records‘, wir hatten schon eine Anfrage vom Verfassungsschutz wegen dieser Überweisungen: Wieso wir als Volksbank an eine als – sagen wir es mal so – ultrakonservativ eingestufte Gruppierung regelmäßig hohe Geldbeträge überweisen.“

„Mein Vater ist ein Rechter?“ Gudrun war konsterniert.

„So leid es mir tut, Frau Schrader, das scheint der Fall zu sein.“ Erneutes Schweigen machte sich breit.

„Mein Vater – ein Nazi! Ich fass es nicht!“ Sie kämpfte wirklich mit ihrer Verfassung, ich nahm sie in den Arm und versuchte, sie zu trösten. Aus meiner Jackentasche reichte ich ihr ein Taschentuch, dass sie, so saß jedenfalls aus, dankend annahm. Sie wischte sich die Tränen ab, blickte erst mich und dann den Filialleiter an, um sich dann erneut zu schnäuzen. „Ich habe doch Verfügungsgewalt über die Konten?“

Holly nickte. „Mit dieser Vollmacht … auf alle Fälle!“

Sie atmete tief durch. „Wie viel ist auf dem Sparbuch?“

„Ohne Zinsen? Knappe 79.000.“

Sie atmete tief durch und wirkte urplötzlich gefasst. „Den Verwendungszweck dieses Sparbuch ändern sie in ‚Diakonie‘. Die Erlöse aus den Sparbriefen sollen dem Förderverein des KLC zugute kommen, die Einnahmen aus den Mieten fließen dem Sozial-Projekt unserer Stadt zu, die Gewinne aus den Genossenschaftsanteile kriegt die …“

„AIDS-Hilfe?” Ich mischte mich in den Monolog ein.

Sie schaute mich an und nickte. „Gute Idee! So soll es sein.“

Holger kam gar nicht zu schnell mit dem Tippen nach, wie sie die Anweisungen herunterrasselte. Es dauerte knapp zehn Minuten, da spuckte der Drucker die notwendigen Papiere aus, die Gudrun unterschrieben an den Bankmenschen zurückgab. Beide wirken irgendwie erleichtert.

Als wir die Bank verließen, wirkte sie immer noch niedergeschlagen. „Ich fass es immer noch nicht!“

Ich nahm sie in die Arme, um sie zu trösten. Aber richtig gelingen wollte mir das nicht. „Ach, Gudrun!“

Sie blickte mir in die Augen. „Stefan, du kannst nichts dafür, er ist mein Vater … ich dachte, ich kenne ihn, aber wie es jetzt aussieht, habe ich ihn nie gekannt!“

Arm in Arm in gingen wir zu ihrem Wagen. Sie brauchte drei Anläufe, um den Schlüssel ins Schloss zu stecken. So konnte ich sie einfach nicht fahren lassen. Sie zitterte am ganzen Körper. Ich nahm ihr den Schlüssel ab, geleitete sie zu Beifahrerseite und setzte sie auf den Sitz. Als ich mich auf den Platz, auf dem sie eigentlich sitzen sollte, setzte, blickte sie mich dankbar an. „Und wie willst du gleich nach Hause kommen?“

„Ich kann ein Taxi nehmen oder ich ruf Igor an, dass er mich von dir abholt. Mach‘ dir darum mal keinen Kopf.“ Ich startete ihren BMW und fädelte mich in den üblichen Mittagsverkehr ein.

Als wir ihr Haus in einem der südlichen Vororte erreicht hatten, wollte sie erst nicht aussteigen. Nur mit Hilfe ihres Mannes Werner, den ich aus dem Mittagschlaf geklingelt hatte, konnten wir sie dann doch überreden, das Haus zu betreten.

Werner, eine stattliche Erscheinung, die mir bekannt vorkam, legte seine Frau erst einmal auf dem Sofa ab und eine Wolldecke über ihre Knie. Er gab mir ein Zeichen und ich folgte ihm in die Küche des Bungalows. „Herr Plange, können sie mir verraten, was passiert ist? So habe ich meine Frau ja noch nie gesehen, sie ist ja … fast versteinert.“

Ich schaute ihn an. „Zunächst einmal, ich bin der Stefan. Sie werden es wahrscheinlich nicht mehr wissen, aber auf ihrer Hochzeit war ich eins der Blumenkinder, also der Vorname reicht vollkommen. Tja, ihre Frau hat heute einiges über ihren Vater erfahren, was sie … sagen wir es so, … ziemlich aus der Bahn geworfen hat.“

„Ich bin der Werner und ich mag das Sie auch nicht so! In der Partei sind wir alle Genossen und reden uns mit dem Du an.“ Er hielt mir seine Hand entgegen, die ich auch ergriff und schüttelte. „Also Stefan, was ist passiert?“

Ich gab ihm einen Überblick über die letzten drei Stunden. Je länger ich erzählte, desto bleicher wurde er. Er unterbrach mich kurz, verließ die Küche und kam mit zwei vollen Cognacschwenkern zurück. „Den brauche ich jetzt!“

Der Weinbrand war unheimlich mild, ich hatte eigentlich anderes erwartet. „Mhh, der ist wirklich gut.“

„Den brennt mein Bruder selber, ich bin ja aus einer alten Winzerfamilie. Aber den gibt es nur für die Familie und ganz ausgesuchte Freunde. Seinen Landesvater Beck hat er aus der Liste gestrichen, wenn du willst … ich kann dir eine Kiste mitbringen. Wir fahren gleich in die Pfalz.“ Er grinste mich an.

„Aber immer doch!“

„Aber die Sache mit meinem Schwiegervater muss unter uns bleiben. Versprichst du mir das?“ Er sah mich eindringlich an.

Ich war zwar etwas perplex, aber nickte. „Meine Lippen sind versiegelt!“

„Dann ist gut, denn wenn die Presse davon Wind bekommen sollte, dass der Schwiegervater des Fraktionsvorsitzenden der SPD im Stadtrat ein aktiver Nazi ist, kann ich meine Bewerbung um das Landtagsmandat gleich in die Tonne kloppen.“ Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen, ich kannte ihn aus der Zeitung.

Er schenkte erneut ein und wir prosten uns ein zweites Mal zu. „Äh, Werner, aber was machen wir jetzt mit dem Haus, besser … mit den Häusern?“

Man konnte sehen, wie es in seinem Gehirn arbeitete. „Stefan, mal unter uns Betschwester gesprochen, wie viel Geld hast du für Konrads Hütte in deinem Etat?“

Ich holte tief Luft. „Werner, ich will ehrlich zu dir sein: auf dem Sparbuch, das meine Oma für mich zu meiner Geburt damals eingerichtet hat und eigentlich für meine Hochzeit sein sollte, sind knappe 30.000, auf meinen eigenen ungefähr zehn. Dazu noch ein paar andere Sachen, also mehr als 50.000 Euro hab ich nicht griffbereit, das alte Gemäuer muss ja auch noch renoviert werden! Deine Gudrun sprach von knappen 20.000, wenn das Dingen in die Zwangsversteigerung geht.“
Von dem Gewinn sagte ich erst mal nichts, denn ich wusste weder, wie viel Geld es geben würde, noch kannte ich den Zustand des Gebäudes, dass es zu erwerben galt.

Sein Gesicht wurde ernst. „Meine Schwägerinnen sind, mit Verlaub gesagt, geldgierige Hyänen. Kümmern sich um nichts und wollen nur an die Kohle. Du hättest sie mal hören sollen … die meinten Weihnachten noch, dass Pflegeheim wäre zu teuer, wir sollten doch ein billigeres suchen. Das Haus sei ja nicht mehr viel wert und man müsse doch auch an das Erbe denken.“

„Dann können sie sich ja freuen, jetzt kriegt jede ein Haus.“ Sarkasmus lag in meiner Stimme.

„Die denken vermutlich, er hätte sie schon lange verkauft. Der Alte hat immer wieder betont, er hätte mit Marias Erbe nichts mehr zu tun, es würde jetzt einer guten Sache dienen. Wahrscheinlich meinte er aber eher der Sache!“ Die Betonung lag auf dem Demonstrativpronomen.

„Wie dem auch sei, wir können die Sache eh vergessen.“ Ich stöhnte leicht.

„Wieso?“ Er schaute mich irritiert an. „Ich dachte, du wolltest das Haus kaufen.“

„Werner, es geht mir in erster Linie nicht um das Haus. Ich will endlich einen eigenen Garten haben und meine Freizeit im Sommer nicht nur in unserem kleinen Hof verbringen, den wir hinter dem Haus haben. Das Haus ist ein schöner Nebeneffekt, aber wenn du die Grundbuchauszüge liest, wirst du feststellen, dass sich der Garten deiner Schwiegereltern über alle drei Grundstücke erstreckt.“

Er fasste sich an sein Kinn. „Wie meinst du das denn jetzt?“

„Wie groß ist der Garten in der Ludwigstraße 121?“

Der Gefragte grübelte etwas. „Ich bin kein Landvermesser, Stefan, aber so 1.000 Quadratmeter müssten es sein, wenn nicht mehr sogar.“

Ich nickte zustimmend. „Denke ich auch mal, aber laut Grundbuch ist das Grundstück nur etwas mehr als die Hälfte.“

„Du meinst also, Gudruns Eltern haben die Gärten, die eigentlich zu 117 und 119 gehören, ihrem Garten zugeschlagen?“

Ich nickte. „Sieht ganz so aus und da ihnen alle drei Grundstücke gehörten, konnten sie das ohne weiteres machen. Denn wo eine Mauer gezogen wird, interessiert das Grundbuch nicht. Um den Garten zu kriegen, müsste ich also alle drei Grundstücke käuflich erwerben, dazu fehlt mir leider das Geld. Man könnte zwar das Grundstück, so wie es jetzt ist, katastermäßig neu einmessen lassen und die Grundbücher entsprechend bereinigen, aber das kostet Unsummen an Gebühren.“

Er legte die Stirn in Falten, man sah richtig, dass es in ihm arbeitete. Er brummelte sich was in seinen Bart, kratzte sich am Kinn, rieb sich die Nase. „Ich hab da so eine Idee …“

Neugierig blickte ich ihn an. „Welche denn?“

Er winkte ab. „Nein, jetzt noch nicht. Ich muss erst noch mal darüber nachdenken und dann auch mit Gudrun und einigen anderen Leuten sprechen … Wie lange brauchst du, die 50.000 zu besorgen?“

Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit dieser Frage. Ich zuckte mit den Schultern. „Die Summe müsste ich bei meiner Bank zwar erst anmelden, soviel Bares haben die ja nicht vorrätig. Aber ich denke mal, innerhalb von zwei Tagen kann ich sie auftreiben. Warum fragst du?“

Er grinste. „Es kann sein, dass ich dich im neuen Jahr kurzfristig anrufe und dann muss alles ziemlich schnell gehen. Der Arzt im Pflegeheim meinte, wir sollten im Februar keinen Urlaub machen. Aber apropos Urlaub: Sei mir bitte nicht böse, aber wenn Gudrun und ich noch rechtzeitig bei meiner Familie sein wollen, müssen wir langsam los.“

Ich blickte auf die Uhr und erschrak. „Was! Fast zwei – ach du Heiliger! Ich muss noch für 20 Leute Suppe kochen.“

„Du scheinst ja eine große Party zu geben.“ Seine Lachfältchen traten hervor.

Ich schüttelte den Kopf. „Nenene, ich nicht! Plange Junior rettet die Stufenfete, ich stell‘ nur die Räumlichkeiten und …“

„… hast die Arbeit.“ Er lachte schallend.

„Kannst du mir bitte ein Taxi rufen? Ich muss ja irgendwie nach Hause kommen.“

„Nein, das braucht er nicht.“ Gudrun stand im Türrahmen, sein Lachen hatte sie wahrscheinlich angelockt. „Ich werde dich bringen, mir geht es schon wieder besser. Und Werner!“ Sie blickte ihren Gatten scharf an und deutete auf die leeren Gläser. „Du gehst jetzt duschen und machst dich fertig. Wenn ich wieder zurück bin, fahren wir sofort los und ehe du fragst: Ich fahre!“ Wer in dieser Ehe wohl die Hosen anhatte?

Der Abschied von Gudrun fiel herzlich aus, als sie mich in der Ludwigstraße absetzte. Sie drückte mir beim Aussteigen noch den Haustürschlüssel ihres Elternhauses in die Hand. Ich sollte doch mal nachsehen, ob ich dort was über diese Stiftung ausfindig machen könnte, diese Kraft hätte sie im Moment noch nicht.

Als ich die Küche betrat, blickte ich auf zwei große Klappkisten voller Lebensmittel und in zwei Augen, die mich nicht gerade liebevoll anfunkelten. „Wo warst du so lange, Herr Plange? Ich wollte schon eine Vermisstenanzeige aufgeben! Du meldest dich nicht und dein Mobilknochen hast du hier vergessen und … Hast du etwa getrunken? Du riechst so komisch!“

„Engelchen! Ich hab‘ nur einen Weinbrand mit Werner getrunken, der war wirklich gut … äh, der Weinbrand … nicht Werner, aber der … ist auch gut!“ Ich grinste meinen Schatz schelmisch an.

Igor schüttelte sein Pädagogenhaupt. „Stefan, du redest wirr!“

„Ich glaub‘, ich brauch einen Kaffee!“

„Das denke ich auch mal!“ Während er den Kaffeeknecht befüllte, sondierte ich die Lebensmittel. Es war alles im Übermaß vorhanden, aber wo war das Gehackte? Instinktiv ging ich an den Kühlschrank und siehe da, meine Spürnase hatte keinen Schnupfen. Aber in dem Plastikbeutel waren mindestens fünf Kilogramm.

„Sag mal, weißt du, wie viel Leute kommen?“

Mein Schatz zuckte mit den Schultern. „Marv sagte so was von 20 oder 22 Leuten. Wieso fragst du?“

Ich nahm den Tragesack in die Hand und wog ihn in der Hand. „Mit der Menge kriegst du ne gesamte Kompanie satt. Das reicht für mindestens 50 ausgehungerte Afrikaner! Wo ist eigentlich der Kleine?“

„Der dekoriert gerade mit Florian den Keller. Soll ich sie holen?“

„Flori reicht mir für meine Fragen.“ Während mein Gatte in Spe also in den Keller ging, riss die zugetackerte Plastiktüte auf, um deren Inhalt näher zu inspizieren. Zwei Beutel befanden sich im Inneren, ein größerer, wohl mit gemischten Hack, und ein kleinerer, nur mit reinem Mett befüllt. Ich fragte mich, was ich damit sollte, denn in einer Suppe schmeckt so etwas nicht, jedenfalls nicht mir, da es leicht zu trocken wird.
Über einer Tasse Kaffe brütete ich um des Rätsels Lösung, da stand Blockenberg Junior in der Tür. „Was gibbet?“

Ich blickte ihn an. „Florian, wie viel Leute haben zugesagt und was soll ich mit dem Mett?“

„Wir werden so knappe 24 sein, plus minus zwei, drei Personen. Mama meinte, nach zwölf wären Frikadellen nicht schlecht, so für den kleinen Hunger zwischendurch!“ Er griente mich an. Daher wohl auch der ganze Beutel an Zwiebeln.

Ich nickte geistesabwesend. „Okay, dann weiß ich ja Bescheid. Wollt ihr die Suppe lieber dick oder eher suppig haben?“

„Was ist denn besser?“

„Zum aufwärmen? Eher flüssiger, da kann dann nichts so schnell anbrennen und man muss nicht die ganze Zeit dabeistehen und aufpassen.“

„Dann lieber die pflegeleichte Variante!“

„Okay, ihr beiden macht unten mit der Deko weiter und Igor: Ich brauche aus dem Vorratskeller den Einkochkessel, die Fritteuse, eine, nein, besser zwei Flaschen Olivenöl.“ Das dürfte es gewesen sein.

„Sonst noch Wünsche?“ Was sollte dieser Unterton?

Ich warf erneut einen Blick auf die Lebensmittel, die da auf dem Tisch standen. „Zwei Flaschen von dem französischen Landwein, für den besseren Geschmack.“ Florian grinste.

„Wird gemacht, Sir!“

Ich hatte die Zwiebeln schon von ihrer äußeren braunen Haut befreit, als er mit dem roten Emailletopf auftauchte und diesen auf den Tisch wuchtete, es schäpperte ganz schön. „Wo sind denn die anderen Sachen?“

„Im Topf!“ Igor grinste und zückte sein Taschentuch, wohl um sich den Schweiß, der nicht vorhanden war, abzutupfen.

Ich machte den Deckel auf, er hatte tatsächlich alles darinnen transportiert, sogar die Fritteuse, alles Andere lag oben auf. „Was soll ich mit den Pommes?“

„Äh, ich dachte … ich sollte doch die Frittenschmiede mitbringen…“ Er wirkte etwas ratlos.

Ich nickte. „Stimmt, aber die brauche ich gleich für die Frikadellen. Es gibt Mettbällchen mit Käse und die kommen in die Fritteuse.“

Er schüttelte mit dem Kopf. „Wie? Frikadellen brät man doch in der Pfanne, macht jedenfalls Mama immer so!“

„Ich normalerweise auch, mein Schatz: Ich habe aber nur zwei Pfannen und zweieinhalb Kilo Mett. Pro Frikadelle rechnet man so 80 oder 100 Gramm Fleisch und, je nach Dicke, so zwischen zehn und zwölf Minuten für das Braten. Wie lange willst du in der Küche stehen, um die Klopse anzubraten, denn mehr als sieben gehen nicht in eine Pfanne?“ Er nickte nur und schwieg.

Die restlichen Vorbereitungen liefen ruhig ab, wenn man das bei der großen Menge sagen konnte. Die Küchenmaschine kam aus dem Rotieren zwar nicht mehr heraus, erst die Zwiebeln, dann der Lauch, Möhren und Käse mussten auch noch geraspelt werden.
In sechs Partien briet ich das Gehackte mit einem Teil der Zwiebeln an, drei Durchgänge brauchte der Lauch. Alles wanderte in den Einkochkessel, der sich so langsam füllte. Das teilweise noch dampfende Gemisch wurde mit den zwei Tetrapacks Wein, die in einer der Kisten waren, und zwei Litern Wasser aufgefüllt und mit einem ganzen Glas ‚Gekörnte Brühe Mediterrane Art‘ verrührt auf den Ofen gesetzt und langsam erwärmt.

In die Schüssel mit dem Mett kamen vier Eier, Salz, Pfeffer, Paniermehl, der geriebene Käse und der Rest Zwiebeln, ein guter Schuss Tabasco, Maggi und Paprikapulver. Igor hatte inzwischen die Fritteuse ans Laufen gebracht und raspelte danach die Möhren, Heidi hatte ein ganzes Bund davon gekauft.
Mehr als die Hälfte davon wanderte mit einer Tube Tomatenmark in die Mettmasse, die ich kräftig durchknetete. Nach dem Abschmecken verzog ich das Gesicht, es zwar mir noch nicht scharf genug. Im Kühlschrank stand noch ein angebrochenes Glas Chilischoten, die in durchgehäckselter Form ebenfalls Einzug in die Masse fanden. Nun war ich zufrieden und die Fritteuse einsatzbereit.

„Machst du bitte die Bällchen? Ich kümmere mich dann um die Suppe.“ Ich blickte meinen Russen an, er nickte, holte sich einen Teelöffel aus der Besteckschublade und legte los.

„Schatz, das Zeug klebt an den Händen! Ich krieg‘ die Dinger nicht rund.“ Er klang fast hilflos.

Ich grinste ihn an, griff mir die Flaschen Olivenöl und seine Hände, träufelte etwas von deren Inhalt in seine Handinnenflächen. „Jetzt müssten es besser gehen!“

Der Landwein ergoss sich in den Suppentopf, ich schmeckte mit getrockneter Petersiele und einer Handvoll der französischen Kräuter-Mischung ab. Es mundete vorzüglich. Danach wanderten zwölf Packungen Schmelzkäse, sechs im Kräuter-Outfit, die andere Hälfte waren Vertreter der Sahne-Fraktion, zwecks Auflösung in die vor sich hinköchelnde Masse. Auf die zwei Packungen Crème fraîche verzichtete ich, man muss ja auch an die Kalorien denken! Dafür fanden die restlichen Karotten den Weg in das Käsebad.
Die erste Ladung der Fleischbälle war nun bereit für ihr Bad in 180° Grad heißem Öl. Während ich auf einem Backblech Küchenpapier auslegte, das Fett muss ja irgendwie abtropfen, machte Igor sich daran, das nächste Rennen im öligen Freibad vorzubereiten, man hat ja – Gott sei Dank – zwei Körbe für die Fritteuse.

Ich rührte die Suppe noch einmal um, griff mir einen Esslöffel, schmeckte mein Werk und nickte, ich war mehr als zufrieden mit mir selber. Pustend hielt dich den erneut gefüllten Löffel meinem Engel zum Probieren hin. „Mhh, lecker … aber … ist das nicht etwas zu viel Wein gewesen? Man schmeckt ihn leicht heraus.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein! Das Ganze köchelt jetzt noch eine halbe Stunde vor sich hin, der Alk wird verfliegen. Ich schütte dann gleich, wenn ich den Topf vom Ofen nehmen werde, noch einen Liter Wasser rein und wenn die Truppe die Suppe heute Abend wieder warm machen wird, kommt noch einmal ein Liter Wasser dazu. Also wird das mehr als verdünnt werden!“

Um vier stellte Igor die Fritteuse aus, die Vorbereitungen waren beendet. „Geschafft!“

Ich grinste ihn an. „Noch nicht ganz, die Käseplatte fehlt und die Baguettes müssen noch aufgebacken werden. Aber … das können wir auch nach dem Aufstehen machen.“

„Du willst jetzt noch mit mir ins Bett?“ Er blickte mich lasziv an; Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

„Yepp, ich will ins Bett, aber nur um dort mein müdes Haupt für ein Stündchen etwas zu parken. Die Nacht wird noch lang genug und du weißt, ich bin nicht mehr der Jüngste!“ Ich grinste ihn an.

„Ja Mama!“ Er lachte mich an.

Ich schüttelte konsterniert den Kopf. „Mein Schatz, ich darf dich an Samstag erinnern, doch wohl eher Papa!“

Fast schmollend zog er mich ins Schlafzimmer und nach dem Auskleiden kuschelten wir uns eng aneinander. Es dauerte keine fünf Minuten und ich war weg. Anscheinend hatten mich die Ereignisse des Vormittags doch mehr mitgenommen als gedacht.
Irgendwann wurde ich wach, allerdings nicht durch den Wecker, den ich extra gestellt hatte, ich spürte vielmehr eine Zunge, die langsam mein Rückgrat entlang wanderte. Igor wollte doch nicht? Er wollte! Schon spürte ich den feuchten Waschlappen am Beginn des Talweges, der zwischen den beiden halbhohen Erhebungen hin zum Eingang in die Grottenlandschaft führt.
Ich rekelte mich, er wusste genau, dass sie nicht mehr schlafe, nicht mehr schlafen konnte, auch wenn ich so tat als ob. Er wurde gieriger, fordernder, seine Zungenspitze hatte den Kraterrand erreicht und begann langsam, sich in die Untiefen der Höhle vorzuarbeiten. Ich stöhnte unweigerlich auf, als seine Fingernägel den Weg, den vor kurzem noch seine Zunge genommen hatte, langsam nachzeichneten.
Wie ein Pömpel legte sich sein Mund über den Schachteingang und tat, was Aufgabe einer Saugglocke ist, er saugte und saugte und drang dabei immer tiefer mit seiner Zunge vor. Ein wohliger Schauer nach dem anderen jagte meinen Rücken herunter und dann wieder herauf, ich war einfach nur noch… geil. Der Sog hörte plötzlich auf, er drückte meine Backen auseinander, der Eingang lag wohl geöffnet vor ihm, ich spürte seine Zunge, wie sie langsam eindrang und konzentrierte mich auf den Durchstich, der unweigerlich folgen würde Ich wollte ihn in mir haben, hier und jetzt.

In diesem Moment wurde die Schlafzimmertür aufgerissen und Marvin stürmte hinein. „Aufstehen, ihr Schlafmützen! Es ist schon fast … sechs … aber … ihr … seid …ja … schon … wach, wie ich sehe!“

Ich versuchte mich umzudrehen und wurde etwas, was ich selten werde, nämlich verlegen. An die Reaktion des kleinen Stefans bei Igors Tunnelbauversuchen hatte ich gar nicht gedacht. Zwar wurde mein Mast durch Igors Kopf verdeckt, ich hoffte auf jeden Fall, aber der Aufprall auf seine Backe musste zu hören gewesen sein.
„Marvin Plange! Du tickst ja wohl linksrum! Noch nie was von Privatsphäre gehört? Schon mal an Anklopfen gedacht? Stürmst hier herein, als ob die Welt untergehen würde …“

Der Kleine wurde verlegen, manchmal ist Angriff doch die beste Art der Verteidigung. „Sorry, aber vor einer halben Stunde hatte ich geklopft und es kam keine Antwort, ihr beide habt so schön und friedlich geschlafen. Und ich dachte, ihr würdet es jetzt auch noch machen. Ich konnte doch nicht wissen, dass ihr …“

Igor sprach etwas lauter, er lag immer noch über mir. „Wissen nicht, aber ahnen. Äh, würdest du mal bitte kurz die Tür von außen schließen. Wir wollen …“

Er grinste über beide Backen und mit einem „Okay“ fiel die Tür ins Schloss.

Wir fanden den Kleinen in der Küche, er hatte eine Frikadöse in der Hand und kaute. „Deine Frikadellen sind echt geil, hätte nicht gedacht, dass die so gut schmecken würden!“

„Marv, jetzt lenk bitte nicht ab. Das vorhin …“ Wurde ich wieder verlegen?

„Schon gut, ist ja nur natürlich. Wenn ich einen Freund hätte, würde ich auch nicht wollen, dass du rein stürmst, wenn wir … naja, wenn wir dabei sind.“ Sein Augenaufschlag war unnachahmlich.

Eigentlich wollte ich mich ja bei ihm entschuldigen, aber um die Sache nicht unnötig komplizierter zu machen als unbedingt notwendig, ließ ich es besser. Ich zog ihn an mich und wir knuddelten eine Runde. „Ach Kleiner!“

„Ich will die traute Familienrunde ja nicht stören, aber Schatz, wenn wir gleich los wollen, sollten wir uns langsam fertig machen. Außerdem müssen wir die letzten Vorbereitungen für die Stufenparty treffen.“ Immer diese Pädagogen mit ihrem Ernst!

Was machte der Kleine? „Igor, come and join us – you belong to our family!”

Igor und ich duschten kurz, Marvin war es schon längst. Nach dem Anziehen erledigten wir den Rest der Vorbereitungen, ich machte die Käseplatte fertig und meine Männer trugen den anderen Sachen in den Partykeller, dort waren ja noch die Knabbereien zu verteilen, Kerzen aufzustellen, die Gläser zu überprüfen, kurz gesagt: die letzten Handgriffe waren zu erledigen.
Mit einem ganzen Korb voll Partybrötchen frisch aus dem Ofen und der Platte mit den festen Milchprodukten betrat ich gegen kurz vor halb acht den Partykeller, Florian war mittlerweile auch schon eingetroffen. Nach der Begrüßung druckste er etwas herum. Ich blickte ihn an. „Florian! Was ist los?“

„Naja, ich habe ja schon einige Feiern hier mitgemacht, aber da einige ja rauchen …“ Er wirkte leicht verlegen.

Ich wusste genau, worauf er hinaus wollte, Rauchen war ja normalerweise nur auf dem Hof erlaubt, ich mag, obwohl selbst Raucher, einfach keine verrauchten und nebelschwangeren Räume. Aber die Temperaturen außerhalb waren, etwas unterhalb des Gefrierpunktes, nicht gerade angenehm und einladend, dort im Party-Outfit ein Lungenbrötchen zu vertilgen. Ich könnte zwar hart bleiben und auch Durchsetzung pochen, aber die Solidarität mit den Rauchern siegte. „Also, meinetwegen stellt im Flur zum Hofausgang einen Stehtisch auf und errichtet da eine Art Raucherlounge, ich will ja nicht, dass ihr euch eine Erkältung holt.“

Florians Mitschüler, dem eine Abmagerungskur nicht schlecht zu Gesicht stehen würde – er war einfach nur quadratisch, praktisch und rund – nickte dankbar und griff sich den nächsten freien Tisch. Marv folgte ihm mit zwei Aschenbechern.

„So, dann wünschen wir euch einen fröhlichen Jahreswechsel und bleibt anständig und vor allem … fackelt mir das Haus nicht ab, ich will heute Nacht in meinem eigenen Bett schlafen.“ Ich lachte Florian an, der die Ironie in den Worten wohl nicht so richtig zu schätzen wusste.

Igor stand mit meinem Mantel in der Hand schon wartend in der Tür. „Stefan, können wir? Wir sollten langsam los, wenn wir um acht da sein wollen.“

„Alles klar. So, wir sind dann weg und Marv! Immer sauber bleiben!“ Ich zwinkerte meinem Neffen zu und wir machten uns auf den Weg.

Nach knapp zehn Minuten Fußweg erreichten auch wir den Ort unseres Jahreswechsels, das Refugium von Klaas. Wir waren nicht die ersten Gäste, die eintrafen, aber – Gott sei Dank – auch nicht die letzten Teilnehmer der Feier. Der Abend begann mit einem Glas Sekt in der Hand mit dem üblichen Small-Talk, jeder wollte wohl erst einmal das Terrain sondieren.
Die meisten Leute kannte ich ja, aber es waren auch einige unbekannte Gesichter unter den Gästen. Auch wenn es sich banal anhören mag, ich konnte die Anwesenden quasi dritteln: das erste Drittel kannte ich aus meinem privaten Umfeld, wie Oliver und Marius, die als letztes Paar auf der Bildfläche erschienen, Carsten und Thomas, auch aus David und Lars schien ein Paar geworden zu sein. Das zweite Drittel kannte ich zumindest vom Gesicht her aus der Szene und das letzte Drittel waren halt die Unbekannten. Insgesamt versprach es, ein lustiger Abend zu werden.

Klaus Lange, vormals Wacker, kam auf mich zu und nötigte mich, mit ihm anzustoßen. „Stefan, altes Haus, lange nicht mehr gesehen!“

„Stimmt, wir haben lange nichts mehr unternommen. Aber ich wohne immer noch da, wo ich schon vor vier Jahren gewohnt habe und habe auch immer noch die gleiche Rufnummer.“ Ironie war noch nie seine Stärke. „Ach, da fällt mir ja was ein, herzlichen Glückwunsch zum ersten Hochzeitstag. Ihr habt euch doch vor einem Jahr verpartnert.“

„Danke.“ Er stieß erneut mit mir an. „Wir lieben uns noch wie am ersten Tag!“

Wer es glauben mag, der möge selig werden, dachte ich mir bei diesem Ausspruch. Ich bin zwar nicht gehässig, aber sein jetziger Gatte Ingo fragte mich zwei Tage vor diesem offiziellen Akt, wir kamen gerade aus dem Casablanca und hatten fast den gleichen Weg nach Hause, ob wir nicht zusammen in die Kiste steigen könnten, Klaus wäre eine Niete im Bett und er wolle noch einmal Spaß haben! Kann ich heuchlerisch sein? Ich blickte ihn an. „Das soll ja auch so sein!“

Fortuna schien mir in diesen Tagen hold zu sein: Carsten, mein Versicherungsmakler, kam auf mich zu. „Stefan, mal kurz auf ein Wort …“ Er packte mich am Arm und zog mich in Richtung Billardtisch, sodass uns niemand hören konnte.

Ich blickte ihn an. „Danke dir!“

„Wieso?“ Ich blickte in verdutzte Augen.

„Du hast mich vor Klaus gerettet!“

„Hör mir auch mit dem Idioten! Der kann ja noch nicht mal seine Hausratversicherung von 57 Euro im Jahr rechtzeitig bezahlen, den Storno hab ich letzte Woche auf den Tisch gekriegt. Das als Beamter! Aber was anderes …“ Es ging um die Gebäudeversicherung für die Ludwigstraße. Wir vereinbarten ein Telefonat in den nächsten Tagen: typisch Carsten, immer im Geschäft!

Ich nahm meine allgemeine Beobachtungsposition am Kamin wieder ein, mein Gatte unterhielt sich gerade mit Lars und David. Ingo Lange, der eben bereits erwähnte Lebenspartner von Klaus, stieß zu mir. „Stefan, mal ‘ne kurze Frage: Wer ist die geile Schnitte da drüben?“ Er deutete unzweideutig auf meinen Igor. „Kennst du ihn?“

Sollte ich oder sollte ich nicht? Ich sollte! „Der sieht ja wirklich hervorragend aus, direkt zum anbeißen, eine echte Sahneschnitte.“ Ich leckte über die Lippen. „Mit dem würde ich mal gerne …!“

Er lächelte süffisant. „Nichts da! Ich hab ihn zuerst gesehen, der gehört mir! Wünsch mir Glück!“

„Waidmanns Heil!“ Ich hatte einen inneren Reichsparteitag.

„Waidmanns Dank!“ Er marschierte von dannen.

Ich schlenderte umher, ein Gespräch hier, eine Zigarette da, ein Glas Sekt dort. Gegen kurz nach neun verkündete der Hausherr, dass das Buffet nun eröffnet sei. Die ganze Meute stürmte auch prompt in das Küchenareal der Wohnung, um sich dort mit Tellern zu bewaffnen und an den Fleischtöpfen zu laben. Allerdings lag der fleischliche Anteil, die Töpfe waren mit Chili con Carne gefüllt, nur knapp etwas oberhalb der berüchtigten 5%-Hürde.
Mit einigem Glück konnte ich einen Platz an einem der ultramodernen dreieckigen Stehtische neben meinen Schatz ergattern, ich fing mir zwar einige böse Blicke von Ingo ein, aber das war mir im Moment egal. Wir wünschten uns und unseren Gegenüber einen guten Appetit. Ich schätzte den blonden Pagenkopf, der zur dritten, der unbekannten, Gruppe gehörte, auf Anfang 30.

Nach den ersten zwei Bissen verdrehte Igor die Augen. „Was ist los?“

Er stocherte in der braunen Masse herum. „Ein Chili sollte einen ja umhauen, aber Stefan, das hier auf dem Teller schmeckt irgendwie … laff.“

„Selbst Schonkost ist ein Gewürzfeuerwerk dagegen!“ Der Blonde hatte Sinn für Ironie.

„Man merkt halt, dass Johannes gekocht hat.“ Ich grinste.

„Johannes?“ Meine beiden Tischherren sprachen synchron.

„Der Typ am Herd.“ Ich deutete auf den hochaufgeschossenen Glatzkopf. „Das ist der Ex von Klaas, hat in einer Großküche gelernt und ist heute Küchenleiter im Johannes-Krankenhaus.“

„Da wundert es mich nicht, wenn die Liegezeiten dort immer kürzer und die Sterberate immer höher werden! Bei dem Essen will man ja nur eins: so schnell wie möglich raus!“ Der Typ mit dem Grübchen auf der rechten Wange hatte anscheinend auch einen Hang zum Sarkasmus, er gefiel mir.

„Ich glaube, ich besorge uns mal Salz und Pfeffer. Haltet Ihr mir bitte meinen Platz frei?“ Beide nickten und ich machte mich auf den Weg in die Küche. Zwar konnte ich dort nur eine Dose mit mexikanischer Gewürzmischung entdecken, aber besser als gar nichts. Anscheinend waren auch andere Leute auf die Idee gekommen, das Gericht einer Geschmacksintensivierung zu unterziehen.

Als ich alle wieder an den Tisch trat, atmete Igor kräftig durch. „Endlich! Gut, das du wieder da bist!“

Meine Augen blickten ihn fragend an. „So schlimm ist das Essen doch nun auch wieder nicht.“

„Das nicht, aber wir mussten dein Platz verteidigen. Der Typ, der jetzt bei Johannes steht, wollte sich aufdrängen. Der geht mir schon den ganzen Abend auf den Keks.“ Ich reichte ihm den Streuer.

Ich blickte suchend umher und entdeckte Herrn Lange. „Ach! Du meinst Ingo!“

„Wenn der so heißt, auch gut! Der baggert mich schon die ganze Zeit an und das ziemlich plump!“

Igor schüttelte sich, was bei unserem Gegenüber ein Lachen hervorrief. „Der scheint bei Rhein-Braun zu arbeiten, du weißt schon, die großen Bagger im Tagebau. Erst hat er es bei mir versucht, aber dann kamst du und ich war erlöst. Ich bin übrigens Magnus.“

Igor reichte ihm seine Hand. „Hallo Magnus, ich bin Igor und das ist mein Göttergatte Stefan.“

Er grinste mich an und schüttelte mir meine vordere Extremität. „Dachte ich mir schon!“

„Wie? Das ich Stefan heiße?“ Meine Augenbrauen wanderten in die Stirn.

„Nein, das ihr ein Paar seid: ihr tragt die gleichen Ringe.“ Ein guter Beobachter ist er auch noch!

Igor grinste. „Wir haben uns Weihnachten verlobt, also erst seit einer Woche.“

„Und nicht wie Ingo, der trägt seinen Ring seit einem Jahr, jedenfalls manchmal …“

„Wie? Der Typ hat einen Freund?“ Magnus war ja gar nicht neugierig.

„Sogar einen offiziellen Lebenspartner. Sein Klaus steht da hinten neben Klaas!“ Ich deutete auf den Hausmeister des Arbeitsamtes.

„Das gibt’s doch nicht! Der baggert hier wild rum, will mit mir in die Kiste, und sein Mann steht daneben und sagt nichts.“ Mein Engel wirkte leicht schockiert.

„Ich glaube eher, er will es einfach nicht wahrhaben, dass diese Beziehung gescheitert ist. Ingo war von jeher schon kein Kostverächter, fickte alles, was bei drei nicht auf den Bäumen war. Klaus hat wohl wegen der Seitensprünge zwei- oder dreimal die Hochzeit verschoben. Wir haben ihn zwar alle gewarnt, aber … er wollte nicht hören. Auf mich schon gar nicht, ich war ja der Böse. Wegen der ganzen Verschieberei hatte ich auf der Silvestergala der Anwaltskammer zugesagt und so ihre Hochzeit nicht fotografieren können.“

Igors Augen wurden groß. „Ach, dann waren die das, die bei deinem Geburtstag abgesagt hatten?“

Ich nickte. „Genau die beiden. Und das ist vermutlich auch der Grund, warum er erst Magnus und dann dich an gebaggert hat. Er kennt euch nicht, ihr seid Fremde, für ihn nicht mehr als Frischfleisch, dass es zu besteigen gilt, wenn ich das mal so ausdrücken darf.“

„Darfst du, mein Schatz. Nur gut, dass wir unsere Vereinbarung schon vorher getroffen haben!“

„Welche Vereinbarung, wenn ich fragen darf?“ Magnus war keineswegs neugierig!

Mein Russe grinste erst mich an, wandte sich dann an den Pagenkopf und erklärte ihm seine Theorie der gemeinsamen sexuellen Aktivitäten mit einem Dritten als Konditionierung des Partners gegen ein eventuelles Fremdgehen des anderen Teils der Beziehung. Magnus hörte aufmerksam zu und fing an zu grinsen. „Ihr seid mir ja zwei ganz ausgefuchste Kerlchen!“

„Danke für das Kompliment, aber ich hab da eine Idee!“ Igor tat verschwörerisch.

„Welche denn?“ Ich war ziemlich neugierig, um sicherzugehen.

„Ich geh mir mal eben die Nase pudern, ihr wolltet euch doch am Billardtisch mit diesem Klaus unterhalten oder habe ich das falsch verstanden?“ Er flötete und marschierte von dannen.

Magnus zuckte nur mit den Schultern. „Na dann mal los! Wer auf solche abstrusen Theorien kommt, die aber auch was haben, der hat bestimmt auch gute Ideen. Ehrlich gesagt, ich bin neugierig, was dein Gatte sich ausgedacht hat, lieber Stefan.“

„Nicht nur du, … Manchmal ist es richtig unheimlich, wie viel Weisheit in ihm steckt. Eigentlich sollte ich ja der abgeklärte Part sein, bin ja acht Jahre älter, aber … er überrascht mich immer wieder.“ Wir hatten mittlerweile den Stehtisch abgeräumt und brachten die Teller ins Küchenareal, um uns dort mit neuen Getränken zu versorgen.

„Aber macht dir mal darum keine Sorgen, dass ist der immerwährende Konflikt zwischen Theorie und Praxis. Ihr ergänzt euch hervorragend, wenn ich das mal sagen darf.“

Zugegeben, ich war etwas verwirrt. „Wie meinst du das denn jetzt?“

„Du bist der Ältere, derjenige mit der größeren Lebenserfahrung, also der Praktiker. Dein Igor will Lehrer werden, braucht daher pädagogisches Grundwissen. Ihm fehlt aber bis jetzt der Praxisbezug, er zieht sein ganzes Wissen nur aus Büchern. Ich habe meine Diplomarbeit über Hermann Sörgel und sein Projekt ‚Atlantropa‘ geschrieben, …“

Ich kramte in meinen Geschichtskenntnissen. „Meinst du jetzt den Typen, der das Mittelmeer zum Stausee machen wollte?“

„Genau den! Theoretisch ist sein Projekt mit den heutigen technischen Mitteln durchaus möglich, aber praktisch undurchführbar und das nicht nur wegen der Politik. Meine letzte Bauabnahme war das Gegenteil: da war die Statik, also die Theorie, Schrott, eigentlich hätte der gesamte Anbau so in sich zusammenfallen müssen, aber der Polier war ein ziemlich pfiffiger Mensch. Der hat nur eine Säule um 30 cm verrückt und alles war gut!““

„Du bist Architekt?“ Ich wurde neugierig.

„Ja und Nein. Ich habe zwar Architektur studiert, von daher das Ja. Aber ich friste mein Dasein in deutschen Amtsstuben, erst beim Regierungspräsidium in der Flächenplanung und seit drei Monaten bin ich im Hochbauamt der Stadt hier, verantwortlich für Sanierung und Erhalt der Liegenschaften, eine Sisyphusarbeit bei der Haushaltslage der Stadt, kann ich dir sagen. Ich plage mich also eher mit Verwaltungsvorschriften, Prüfordnungen und ähnlichem Mist herum: Kreativität Fehlanzeige. Daher das Nein!“

„Ich glaube, ich hätte da was für dich. Eine kleine Herausforderung …“ Ich wollte ihm gerade von dem möglichen Hauskauf und der notwendigen Renovierung berichten, da kam Klaus auf uns zu.

„Stefan, hast du Ingo gesehen? Ich such ihn.“

Dar war doch was? Ach ja, wir sollten ihn in ein Gespräch verwickeln. „Tut mir leid, da kann ich dir leider nicht helfen. Ich hab ihn seit dem Essen nicht mehr gesehen.“

„Naja, weit weg sein kann er nicht.“ Er musterte Magnus. „Das ist also Igor! Ich muss zugeben, du hast Geschmack. David hat mir gerade von eurer Verlobung erzählt. Erst mal …meinen herzlichsten Glückwunsch!“ Er schüttelte erst mir die Hände und griff dann die meines Nebenmannes, der es mit sich geschehen ließ.

„Danke für die guten Wünsche, aber leider bin ich nicht der Glückliche. Ich bin Magnus Rödder, städtisches Hochbauamt und eine kurze Affäre des Gastgebers. Mit wem habe ich das Vergnügen?“

Der Kerl war gut! „Magnus, das ist Klaus Lange, geborener Wacker. Auch im öffentlichen Dienst, allerdings bei der Bundesanstalt für Arbeit oder wie heißt euer Haufen gerade?“

Er wollte gerade antworten, da kam Igor wie auf Bestellung angestürmt, Ingo an der Hand mit sich schleppend. „Hi Magnus. Schatz, darf ich mal kurz stören? Das ist Ingo. Er wollte mich erst allein auf dem Klo begatten, aber jetzt will er mit uns einen Dreier machen … gleich nach dem Jahreswechsel. Sollen wir?“

„Schade für mich, Ingo, aber mit den beiden kann ich natürlich nicht mithalten und ich hab‘ mich schon so auf den Neujahrsfick mit dir gefreut.“ Schmollte Magnus tatsächlich?

„Äh, was …“ Klaus blieb die Luft weg.

Igor schaute ihn an und hielt ihm die Hand entgegen. „Ich bin der Freund von Stefan und ab und an nehmen wir einen dritten Mann mit ins Bett, so zur Abwechslung. Aber da Ingo ja auch mit Magnus wollte, können wir ja eine richtige Gangbang machen, was meinst du Stefan?“ Er blickte den Hausmeister an. „Willst du auch mitmachen? Wer bist du eigentlich? Ich bin der Igor!“ Der naive Unterton seiner Stimme war unnachahmlich.

„Das ist mein Mann!“ Er wurde blass wie die weißgestrichene Wand im Hintergrund.

„Auch gut! Dann machen wir halt ‘nen Vierer mit Steuermann, ich mag es sportlich!“

„Von dem ich eigentlich dache, er wäre mir treu. Ingo! Wir müssen uns unterhalten! Sofort!“ Er ergriff den Arm des Krankenpflegers und zog ihn Richtung Ausgang. Die Dezibelzahl der Unterhaltung auf dem Hof lag in der Nähe eines Rockkonzertes, jedenfalls teilweise.

Wir schauten uns erst betreten an und fingen dann an zu lachen. „Schatz, wie hast du das geschafft?“

„Ganz einfach, ich bin auf seine dämlichen Flirtversuche eingegangen. Wir haben erst ein Glas Sekt getrunken und ich musste dann urplötzlich aufs Klo. Aber ich armes, unschuldiges Wesen, ich habe doch schlicht und ergreifend vergessen, hinter mir abzuschließen.“ Er grinste uns schelmisch an. „Der Typ kommt also rein, kriegt glänzende Augen, als er sieht, wie ich an mir spiele. Er sofort auf die Knie, ich stoppe ihn, bevor er seine sabbernde Zunge … naja. Ich tippe ihn auf die Schulter und sage, nicht ohne meinen Mann. Er steht auf, will wissen, um wen es sich handelt. Ich spiel an seinem Gemächte, er schnurrt wie ein Kätzchen. Der Sabber lief ihm nur so aus den Mundwinkeln, er sagt zu!“ Er trank einen Schluck. „Das größte Problem war, dann den richtigen Zeitpunkt abzupassen. Ich musste ihn zugleich geil und auf Distanz halten. Das war es eigentlich!“

Ich legte meinen Arm um ihn. „Und was kannst du denn dafür, dass dein Mann sich gerade mit dem Mann des potentiellen Bettgenossen unterhält. Ich sage nur: Gefickt eingeschädelt!“

Magnus hatte sich mittlerweile auch eingekriegt. „Nenene, ihr seid schon zwei besondere Marken. Ich bedauer ihn nicht, obwohl …“

„Obwohl was?“ Igor hatte wohl den Schalk im Nacken.

„Naja, er hat was gesehen, was ich noch nicht gesehen habe!“ Magnus druckste.

Was macht mein Schatz? Er grinste ihn frech an. „Na, dann stell ich mal gut mit Stefan, vielleicht wirst du ihn dann nicht nur sehen sondern auch spüren!“

Ein besorgt dreinblickender Gastgeber kam zu uns, auch ihm war der Streit auf seinem Hof nicht entgangen, und er erkundigte sich nach dem Geschehenen. Igor erzählte seine Geschichte, ziemlich glaubhaft, wie ich meine, denn sie machte ziemlich schnell die Runde. Das berühmt-berüchtigte: ‚Unter dem Siegel der Verschwiegenheit‘ ist halt immer noch der Beschleunigungsvermerk in der Szene.
Jeder hatte ja gesehen, wie Klaus, Magnus und ich uns unterhielten und Igor, der weder Klaus noch dessen Partnerschaft zu Ingo kannte, mit seiner naiven Frage dazu gestoßen war. Stein des Anstoßes war nicht Ingos Untreue, die ja jeder – außer Klaus selber – kannte, sondern es war vielmehr die Reaktion des Betroffenen („So etwas regelt man normalerweise in privatissimo!“), die Anlass zu gewissen Unmutsäußerungen gab. Auch wurde es mit einigem Interesse aufgenommen, dass, wie mir David im Nachhinein berichtete, ein Stefan Plange nur noch Dreier machen würde.
Nur der Leiter der Hauptwache Mitte, Hauptkommissar Oliver Tramm, wollte die Geschichte nicht so recht glauben, sie war ihm einfach zu glatt. Er nahm mich während des Feuerwerks kurz beiseite und meinte nur, wir hätten irgendetwas daran gedreht. Was meinte er noch einmal? „Dein Igor, mein lieber Stefan, ist alles vieles, aber naiv? Naiv ist er wirklich nicht! Aber wie dem auch sei, er hat heute Abend im Handumdrehen das geschafft, was wir seit Jahren versucht haben, nämlich Klaus endlich die Augen zu öffnen, was für ein Schlitzohr sein Ingo ist.“

Aber zurück zur eigentlichen Zeitlinie. Je heftiger der Streit draußen auf dem Hof wurde, desto tiefer sank die Stimmung im Inneren des Hauses. Ich fühlte mich irgendwie verantwortlich, ich weiß auch nicht warum, aber mein Geliebter war es schließlich, der den Zündfunken zu diesem Disput initiiert hatte.
Igor spürte es instinktiv, das es mir nicht besonders ging. Er führte mich zur nächstgelegenen Sitzgelegenheit, einen Schemel, auf dem er mich platzierte. Ich setzte mich, er legte seine Hände auf meine Schultern und drehte mich um, seine Hände fingen an meinen Rücken zu massieren.
Ich brauchte einige Augenblicke um zuerkennen, wo ich war, nämlich vor einem Piano. Mehr oder minder aus Spaß hantierte ich am Deckel, er war offen. Ich klappte ihn hoch, sah die vergilbten Tasten, es juckte mich in den Fingern. Erst schlug ich das C an, dann das D und schließlich zweimal den Kammerton. Es ging gerade noch, dass Klavier schien eine Ewigkeit nicht mehr gestimmt worden zu sein. Ich ließ einige Fingerübungen folgen, die ich jahrelang, mangels eigenen Instruments, nicht mehr gemacht hatte.

Igor blickte mich fragend an. „Du kannst Klavier spielen?“

Ich nickte. „Ja, Mama wollte, dass ihre Kinder ein Instrument lernen: Klaus wählte die Geige und ich das Klavier, zehn Jahre Unterricht an der Musikschule. Papa hat mein Piano nach dem Rausschmiss auf den Sperrmüll geworfen, aber egal … Ich bin halt nur etwas eingerostet, aber Klavier ist wie Fahrradfahren, man verlernt es nie! Äh, kennst du aus dem Zapfenstreich das ‚Ich bete an die Macht der Liebe‘?“

Er nickte. „Sogar im russischen Original!“

„Dann mal los!“ Ich fing an zu spielen und er an zu trällern, im besten Bariton, wenn ich das so sagen kann. Die Stereoanlage wurde erst runter gedreht, dann ganz ausgemacht, man hörte noch Igors Stimme und das verstimmte Klavier. Er gab mir ein Zeichen, dass er keine Strophe mehr kannte, ich spielte etwas nach und der Applaus brandete auf. Er küsste mich. „Kennst du das Don-Kosaken-Lied?“

„Kennen ja, aber ohne Noten? Vergiss es! Wie wäre es damit?“ Ich intonierte die ‚Stille Nacht‘, er nickte und begann auf russisch zu singen. Als er die erste Stufe beendet hatte, improvisierte ich etwas und antwortete dann in meinem Bass mit der englischen Version. Ein erneutes Zwischenspiel, dann begann es von vorn, diesmal in deutscher Sprache. Nach und nach fiel die anwesende Hörerschaft ein. Mittlerweile waren fast alle Gäste in den Lesebereich der Wohnung übergewechselt.
Ich spielte ein paar bekannte Weihnachtslieder, die Leute sangen mit, hatten ihren Spaß, über die erste Strophe kamen die meisten leider nicht hinaus. Plötzlich tippte mir Magnus auf die Schulter. Ich blickte zu ihm hoch. „Kannst du improvisieren?“

Ich nickte. „Was meinst du, was ich die ganze Zeit mache? Ich habe seit über 15 Jahren nicht mehr am Klavier gesessen. Was brauchst du?“

„Die Ode an die Freude!“

Ich kratzte mich am Kinn. „Beethoven! Die kann ich allerdings nur in der einfachen Bearbeitung.“ Ich spielte die ersten Takte, er nickte.

„Leute, darf ich mal um Ruhe bitten!“ Er blickte in die Runde, die langsam verstummte. „Danke! Es ist nun mal Silvester und wir haben noch eine Viertelstunde im alten Jahr vor uns. Der Moment wird also immer feierlicher, schreit geradezu nach einem Hymnus und, da wir im vereinten Europa leben, gibt es ja nichts Besseres als die Europa-Hymne. Ich darf also um einen Moment der Einkehr bitten, denn auch für uns Schwule gibt es eine Version dieses Werkes – Herr Kapellmeister – ich bitte …“

Ich begann mit einem kurzen Vorspiel, dann legte er los. Zwar hatte ich einige Probleme, ich war wirklich eingerostet, aber die Fehler taten dem Spaß keinen Abbruch. Ich musste mich sehr beherrschen, um während seines Gesangsvortrages nicht laut loszulachen. Der Text war wirklich spitze!

„Freude schöner Götterfunken, Tucken im Delirium, sie betreten feuertrunken, Himmlischer, dein Hintertum, seine Zauber binden wieder, was der Dildo streng geteilt, alle Schwulen werden Brüder, wo die sanfte Gleitcreme weilt.

Wem der große Wurf gelungen, eines Callboys Freund zu sein, wer ein‘ schönen Mann errungen, mische seinen Jubel ein. Ja, wer auch nur eine Seele Sein nennt auf dem Erdenrund und wer´s nie gekonnt hat stehle weinend sich aus diesem Bund.

Freude trinken alle Wesen an den Schwänzen der Natur, alle Guten alle Bösen, folgen ihrer Spermaspur, Küsse gab sie uns und Reben, einen Freund geprüft im Tod, Wollust ward dem Mann gegeben und der Freier steht vor Gott.“

Die Stimmung war endlich wieder normal für eine Feier. Johannes und Klaas gingen mit Tabletts durch die Reihen und verteilten Gläser mit Champagner, der Lokalredakteur hatte sich wirklich nicht lumpen lassen. Ich blickte auf meine Uhr, noch drei Minuten.
Ich hatte mal einen Jahreswechsel in den Staaten verbracht. Ich spielte deren Silvester-Hymne, das altbekannte ‚Auld long syne‘. Ein Stimmengewirr aus verschiedenen Sprachen drang an mein Ohr. Die meisten sangen zwar die deutsche Version ‚Nehmt Abschied Brüder‘ aber neben Englisch war auch die russische Variante zu hören und ich war mir sicher, irgendwo französische Töne zu vernehmen.
Es war zwar nicht geplant, aber nach dem letzten Akkord hörten wir den ersten Schlag der Glocken der Marktkirche, die nicht weit entfernt lag. Ich klappte den Deckel zu, griff mir mein Glas und meinen Igor, wir stießen an, küssten uns innig und wünschen uns ein gesegnetes und frohes neues Jahr.

Ich hätte diesen innigen Moment gerne länger ausgekostet, aber das allgemeine Zuprosten und Anstoßen begann. Neujahrswünsche wurden ausgetauscht und ich küsste Menschen, die ich heute zum ersten Mal gesehen hatte, die allerdings nur auf die Wange. Bei meinen Freunden verzichtete ich auch die französische Variante und wählte den direkten Weg: der Kuss auf den Mund.
Das neue Jahr war noch keine zehn Minuten alt, dann standen wir, in wärmende Mäntel gehüllt und mit Gläsern in den Händen, auf dem Hof, blickten in den Himmel und schauten dem Feuerwerk zu. David sorgte für Sektnachschub und Thomas, eigentlich Nichtraucher, verteilte kubanische Zigarren.
Der aufkommenden Nebel trübte zwar etwas das farbenfrohe Spektakel am Himmel, aber das tat der Stimmung keinen Abbruch. Kurz nach dem Gespräch mit dem Ordnungshüter vibrierte es in meiner Hose, eine SMS war angekommen. Ich griff mir den Mobilknochen, Marvin hatte geschrieben, ich war den Tränen nah: „Dem besten Onkel nur das Beste für das neue Jahr. HDGDL Marv PS: Gib meinem ‚neuen‘ Onkel einen dicken Kuss von mir – aber ohne Zunge *fg“
In dieser Aufforderung kam ich gerne nach, allerdings muss ich zu meiner eigenen Schande gestehen, dass ich den Zusatz nicht beherzigte. Aber ich war mir sicher, mein Neffe würde das verstehen.

Wieder im Warmen wurden wir von Johannes mit Berlinern und frisch gekochten Kaffee überrascht. Die Stärkung tat gut, denn irgendwie verspürte ich ein leichtes Hungergefühl. Nicht nur mir schien es so zu gehen, von dem vollen Tablett war nach drei Minuten nichts mehr zu sehen. Woran das wohl lag?
Nach dieser mitternächtlichen Stärkung, bei der Marius erheblich sein Gesicht verzog, er hatte den Berliner mit Senf erwischt, herrschte allgemeine Aufbruchstimmung. Man wollte wohl weiterziehen. Ich blickte auf meine nähere Umgebung, am Tisch saßen Oliver und Marius, Carsten und Thomas, Magnus, der sich mit einer der wenigen weiblichen Gästen des Abends unterhielt, Igor und meine Wenigkeit. David kam mit Lars und zwei Flaschen Sekt und einer Tüte Chips. „Sorry, Leute, aber mehr hab ich in der Küche nicht mehr gefunden. Oder will jemand was von dem kalten Chili?“ Eine leere Zigarettenschachtel flog als Antwort in seine Richtung.

„Wo ist eigentlich Klaas?“ Die Frage von Thomas war berechtigt, denn der Gastgeber war nirgends zu sehen.

Die Vertreterin der holden Weiblichkeit räusperte sich. „Ich glaube, der ist mit Johannes nach oben gegangen. Jedenfalls habe ich die beiden auf der Treppe zum Schlafzimmer gesehen.“

„Was die wohl machen?“ Magnus erntete nur feixende Antworten.

Ich ging in die Küche, um mich persönlich von der Nahrungsmittelsituation zu überzeugen. Auf dem Herd stand nur noch ein Topf, halb gefüllt mit dem, was eigentlich ein Chile hätte sein sollte. Ich warf einen Blick in den Kühlschrank, leider gab auch die Kälteeinheit nicht viel her. Ich öffnete einige der Unterschränke, fand Töpfe, Pfannen und Geschirr, aber auch einige Konserven und drei Packungen Spaghetti einer bekannten Marke nebst dazugehörender Tomatengewürzmischung.
Mir kam eine Idee, man könnte doch das Hungergefühl aktiv bekämpfen. Ich ging zurück zu den übriggebliebenen Gästen und blickte in die Runde. „Kennt sich jemand mit Gasherden aus?“

Lars Kaltenbach, Marvins Stufenleiter und mein Freund aus Studienzeiten, blickte mich an. „Ich koche mit Gas. Wieso fragst du?“

„Ich krieg den scheiß Herd nicht an. Wenn du … dann gibt es in 15 Minuten was zu essen!“

Unter Anfeuerungsrufen erhob er sich und folgte mir in das Küchenareal. Ich nahm einen großen Topf aus einem der Schränke, füllte ihn mit Wasser. „Larsimaus, ich brauch zwei Platten, eine für die Nudeln und eine für die Soße!“

Er erledigte seine Aufgabe und blickte mich fragend an. „Kann ich dir sonst noch helfen?“

„Gewürze suchen, Tisch decken …“

Es lief ab wie am Schnürchen, alle packten, wohl vom eigenen Hungergefühl getrieben, mit an. Der Inhalt von zwei Salzstreuern wanderte in das sich erwärmende Wasser. Eine Flasche mit Öl hatte ich zwar nicht gefunden, aber die Margarine aus dem Kühlschrank löste sich auch so in dem heißen Wasser auf. Das Chili verlängerte ich mit den zwei gefundenen Dosen Tomatensuppe und den restlichen Gewürzen. Wozu waren die Beilagen in der Packung sonst gut?
Der Rest des Pflanzenfetts wanderte nach dem Abschütten der Nudeln in den Topf schließlich und endlich auf den Tisch. Wir ließen es uns schmecken und es mundete tatsächlich. Was meinte David? „Als Nudelsoße, mit gewissen Verfeinerungen, war das Chili doch gar nicht so schlecht!“

Gegen 2.20 Uhr ließen wir die Tür ins Schloss fallen. Auf dem Hof verabschiedeten wir uns, Igor hatte vorher Magnus noch zu unserem Neujahrsessen beim Griechen eingeladen. Jeder ging seines Weges, mein Igor und ich, Arm in Arm, in Richtung Ludwigstraße.

Als wir um halb bei uns ankamen, stand die Tür sperrangelweit offen. Wir blickten uns an, konnten uns auch keinen Reim darauf machen, und betraten das Haus. Aus dem Keller war noch Musik zu hören. Ich gab Igor meinem Mantel, er ging nach oben, ich folgte den Tönen in Richtung Keller.
Als ich den Kellergang betrat, bot sich mir ein komisches Bild. Florian und eine mir unbekannte Dame saßen eng umschlungen auf der Treppe und schienen zu schlafen. Wo war der Rest der Truppe?
Ich umrundete die Sitzenden und betrat den Partykeller. Meine Augen brauchten einige Zeit, um sich an die diffusen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Zwei Gestalten lagen mehr als sie saßen auf dem Sofa, Benjamin Münster saß vor dem Tresen, Marvin stand dahinter.

Mein Neffe blickte mich an. „Onkelchen! Frohes neues Jahr!“ Er kam auf mich zu und küsste mich, Benni tat es ihm gleich.

„Kann ich noch was zu trinken kriegen?“ Ich zwinkerte ihm zu.

„Aber immer noch! Was willst du haben? Cola, Fanta, Wasser, Bier? Pur oder gemischt? Wir haben aber auch noch Sekt da, mehr als genug!“ Er grinste mich an.

Ich überlegte nicht lange. „Ich bleibe bei der Puffbrause, denn wenn ich jetzt wechseln würde, …“

„Sofort!“ Er stellte mir ein Glas auf den Tresen und hielt mir so das Seinige entgegen, wir stießen an. In diesem Moment betrat mein Göttergatte den Raum und nach seiner Versorgung mit herzlichen Wünschen, Umarmungen, Küssen und einem weiteren Glas wiederholten wir den unterbrochenen Akt.

Zugegeben, ich war neugierig, blickte meinen Neffen fragend an. „Und? Wie war es bei euch?“

Marvin überlegte nicht lange. „Super! Wir haben das Gummibären-Orakel gemacht, war echt lustig! Die Frikadellen sind restlos aufgegessen worden, etwas Suppe ist noch dar, dürfte für uns für morgen reichen, und eigentlich warte ich nur noch darauf, dass der Vater von Christian und Werner endlich kommt, um seine schlafenden Söhne abzuholen.“ Er deutete auf die beiden Gestalten auf dem Sofa.

Igor lachte. „Florian und seine Freundin sollen wohl auf der Kellertreppe übernachten, oder wie?“

Ich blickte in erstaunte Augen. „Was? Der es immer noch da? Der ist doch vor einer halben Stunde schon gegangen, zusammen mit seiner Nicole!“

„Anscheinend nicht, sonst würde er nicht die Treppe belagern.“ Igor und seine Ironie!

Marvin wirkte erschrocken, verließ sofort seinem Platz und rannte fast aus dem Partyraum. Kurze Zeit später kam er in Begleitung eines grauhaarigen Herrn, ich schätzte ihn auf knapp 50, zurück. Ich ging auf den Mann im Trainingsanzug zu und schüttelte ihm die Hand. „Frohes Neues, sie sind wohl das Taxi für die Zwei da.“ Ich deutete auf die Schlafenden.

Er nickte. „Meine Kleinen! Tun so erwachsen, aber nach zwei Bier … naja, das sehen sie ja. Aber wir waren ja mal alle jung. Also, was soll’s! Aber Herr Plange, ich danke ihnen noch einmal, dass Sie ihren Partykeller zu Verfügung gestellt haben. Hätte die Party bei den Blockenbergs stattgefunden, meine Söhne hätten zu Fuß laufen können, wir sind ja fast Nachbarn, aber so … ich habe einfach vergessen, dass ich sie abholen muss. Ich nehm dann Florian und seine Freundin mit.“

„Okay, dann wollen wir sie mal wecken.“

Es dauerte zwar knapp zehn Minuten, aber dann waren alle, die hier nicht nächtigen sollten, im Wagen verstaut. Wir winkten zum Abschied und machten uns wieder auf in den Partyraum. Wir tranken nur noch aus, ließen alles so, wie es war, Aufräumen war erst nach dem Aufstehen angesagt.

Tja, lieber Leser, das war der Jahreswechsel im Hause Plange. Es war eigentlich, wenn man mal die kleinen Probleme außen vor lässt, ein sehr gelungener Abend, eine neue Freundschaft ward geboren. Da ich aber nicht annehme, dass es von großem Interesse ist, wie das Ganze weitergeht und was das Gummibären-Orakel ist, von dem Marvin uns berichtete, werde ich hier enden.

Ich danke Euch für die Aufmerksamkeit, die ihr dieser Geschichte bisher habt zuteil werden lassen, aber wenn Applaus das Brot des Künstlers ist, dann habt ihr, lieber Leser, mich bis jetzt fast hungern lassen. Erst mit vollem Magen werde ich mich wieder an den heimischen Schreibtisch setzen und weiterschreiben. In diesem Sinne wünsche ich euch alles Liebe und Gute im neuen Jahr!

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