Ableitungen und ähnliche Unfälle 2 – Teil 12 (Finale)

Alex

Ich traute meinen Augen nicht. Ein Auto, ich erkannte es als Simons Wagen, hielt mit hoher Geschwindigkeit auf Josh zu. Manfred schlug auf die Hupe ein und blendete auf. Josh wirbelte herum und machte plötzlich einen schnellen Satz über die Grundstücksmauer.

Simon folgte dem kleinen Sprint, trat dann aber auf die Bremse. Es half nicht viel, sein Auto knallte in die Mauer, nur eine Sekunde nachdem Josh dort im Vorgarten verschwunden war. Auch Manfred bremste zügig und sprang aus dem noch rollenden Fahrzeug. Ich beugte mich vor, zog die Handbremse an und informierte seine Kollegen über mein Handy.

Es ging plötzlich alles ganz schnell: Simon kämpfte sich hinter seinem Airbag hervor und versuchte auszusteigen. Manfred war gleich zur Stelle und sein Sohn sprang ebenfalls nach draußen. Sein Gesicht war rot vor Wut und Angst.

Dann stiegen wir alle aus dem Auto. Mum, Linda und Peter gingen direkt zu Florian und dem sichtlich verwirrten Josh und führten die Beiden zum Bus, wo Josh sich erstmal hineinsetzte. Florian blieb an der offenen Tür stehen, lehnte seinen Kopf an den Rahmen und hielt seine Hand. Es war beinahe still, bis Domis Stimme explodierte.

„Lass mich durch, ich polier der Mistsau die Fresse!“ Doch Manfred hielt seinen Sohn fest umklammert.

„Dominik, ich verstehe deine Wut, aber halte dich zurück… Er könnte verletzt sein.“

„Soll er doch verrecken, der Irre. Ich reiß dem Kerl den Arsch auf!“

„Das würde dir wohl gefallen, du kleine Kröte. Ich erwische euch noch, auch du stehst auf meiner Liste.“ Simons gezischte Antwort war gut hörbar.

„Schluss jetzt, beide. Herr Warnebrink, ich rate ihnen zu schweigen. Sie machen es nur noch schlimmer.“ Mein Stiefpaps war wieder ganz der Kommissar, seine versteinerte Miene ließ keine Rückschlüsse auf seine Emotionen zu, allerdings blitzte Wut in seinen Augen auf.

Die Sirenen von zwei Streifenwagen und einem Krankentransport lenkten unsere Aufmerksamkeit in die andere Richtung.

Manfred sprach kurz darauf mit dem Notarzt, welcher dann auch gleich zu Josh kam.

„Ich bin okay, nur etwas durch den Wind, geht schon.“

Der Arzt nickte und ging zu Simon, der bereits vor seinem Auto stand, lässig an das Wrack gelehnt. Dieser stieß den Doc zur Seite.
Die Polizisten standen mittlerweile daneben und diskutierten heftig, wer ihn nun mitnehmen würde. Der Doc wollte ihn zur Sicherheit ins Krankenhaus bringen, die grüne Fraktion hätte ihn am liebsten gleich eingebuchtet.

Ein weiteres Auto rollte heran, Hendrik und Luka hielten hinter Manfreds Auto an. Sofort stürmten sie zu Florian.

„Wo ist Josh? Was ist passiert?“ Luka klang leicht panisch und sah seinen Bandkollegen im Auto sitzen. Hendrik und er atmeten erleichtert auf und sahen dann was wirklich passiert war.

„Das war kein Unfall, oder? Simon wollte euch umbringen?“

Josh nickte Luka zu. Ich selber war noch zu keinem Wort fähig, langsam griff der Schock auf mich über. Einer meiner besten Freunde wäre beinahe, vor unser aller Augen, getötet worden.

„Ich will mit ihm reden.“ Josh umklammerte Florians Hand dabei so heftig, dass Letzterer das Gesicht schmerzlich verzog und leise aufstöhnte, worauf Josh die Umklammerung mit schuldbewusster Miene lockerte.

„Okay, aber ich komme mit“, meinte der Referendar dazu. Sie gingen auf Simon zu und Florian legte seinen Arm schützend um die Schulter seines Freundes.

Grüner ließ sie etwas zögerlich durch.

„Warum, Simon?“

Simon spuckte ihm vor die Füße. „Du hast mein Leben versaut, Arschloch!“

„Ich habe dein Leben versaut? Hab ich dich etwa zu dieser dummen Erpressung gezwungen? Oder dazu, mein Auto zu beschädigen? Ich bin nicht für deine Fehler verantwortlich!“

Simons Körper spannte sich an. „Du selbstgerechter Heiliger. Tust hier so unschuldig und vögelst mit einem Lehrer. Du bist Abschaum und ich mach dich kalt, verlass dich drauf. Da kann dir dein Fickstü…“

Simon konnte das Wort nicht mehr beenden. Josh versuchte zwar ruhig zu bleiben, aber als Warnebrink Junior seinen Freund beleidigte, setzte irgendwas bei ihm aus und seine Faust landete mit einem knirschenden Geräusch auf Simons Nase.

„Josh!“ Florian umklammerte sofort seinen Freund, als dieser weiter auf den ehemaligen Mitschüler losgehen wollte. Dominik war sichtlich begeistert und feuerte ihn an.

„Beruhig dich, Schatz, bitte. Er ist es nicht wert.“ Der Referendar redete beschwichtigend auf ihn ein.

„Du hast mir die Nase gebrochen!“ Simon wurde vom Arzt zum Rettungswagen gebracht.

„Er hat nur getan, was der Airbag vergessen hat!“ Dominiks Begeisterung war unangemessen, aber verständlich. Peter warf ihm einen warnenden Blick zu und er verstummte sofort. Sein Gesichtsausdruck wandelte sich in einen hilflos-verzweifelten.

„Sorry, Pete, echt. Aber du hast doch auch gesehen was er vor hatte.“

„Ich bin auch sauer, schockiert und was weiß ich. Aber dein Vater kümmert sich um den Dreckskerl, damit wir uns nicht auch noch unglücklich machen. Simon ist es nicht wert. Ich versteh dich trotzdem, Domi, aber damit helfen wir keinem. Josh geht es gut und nur das zählt. Es ist niemand“, er warf einen Blick auf Simon, dem das Blut aus der Nase schoss, “fast niemand verletzt.“

Linda spürte, dass es auch in mir brodelte, legte ihre Arme von Hinten um meinen Bauch und kuschelte ihren Kopf auf meine Schulter. Peter hatte ja Recht. Trotzdem hätte ich Simon auch gerne in kleine Stücke gehackt. Selbst jetzt, mit blutiger Nase und einer kommenden Anklage wegen versuchten Mordes, blieb er überheblich, kalt und völlig ungerührt. Er war wirklich überzeugt, dass Josh ihm alles eingebrockt hatte.

Es kam wieder Bewegung in die Reihen der Beamten. Der Arzt bestand darauf, dass Simon zuerst ins Krankenhaus gefahren werden sollte. Einer der Polizisten stieg mit in den Rettungswagen und erklärte ihn für vorläufig festgenommen.

Unsere Clique sammelte sich am Bus und Manfred kam hinzu.

„Also, Simon ist in Gewahrsam. Meine Kollegen werden, für die Dauer des Krankenhausaufenthalts, eine Wache vor dem Zimmer postieren. Möglicherweise hat er ja eine Gehirnerschütterung.“

Dominik platzte dazwischen. „Was soll der sich erschüttert haben? Das ich nicht lache.“

Peter griff nach seiner Hand und Manfred fuhr, seinen Sohn ignorierend, fort.

„Wenn der Arzt grünes Licht gibt kommt er in Untersuchungshaft. Joshua, eigentlich bräuchten wir jetzt noch deine Aussage. Wenn es für dich okay ist machen wir das morgen. Das Wesentliche habe ich meinen Kollegen schon erzählt, sie werden das Protokoll vorbereiten. Wenn du keine Ergänzungen hast müsstest du nur unterschreiben.“

Josh nickte. „Ja, ist okay. Ich will das Konzert heute bringen und es gibt noch viel zu tun. Er läuft ja nicht weg. Werde ich Ärger bekommen?“

„Theoretisch ja, er kann dich wegen Körperverletzung belangen. Allerdings halte ich eine Verurteilung für unwahrscheinlich, du standest schließlich noch unter Schock. Für ihn sieht es allerdings anders aus. Für die Erpressung und die Sachbeschädigung wäre er ja vielleicht noch mit einer Bewährung davongekommen, aber das war ein versuchter Mord. Das Gericht unterscheidet nur bedingt zwischen einem Versuch und einem tatsächlichen Mord. Das du noch lebst verdanken wir nicht ihm. Es gibt keine mildernden Umstände. Im Klartext: er kann mit mindestens 15 Jahren rechnen.“

Plötzlich war es still. Das wäre eine harte Strafe.

„Shit, fuck“, kommentierte Domi, was uns allen ein Lächeln entlockte.

„Naja, erstmal müssen wir ihm nachweisen, dass die Aktion geplant war, sonst kommt er vielleicht mit Todschlag davon. Die Kollegen besorgen sich noch heute einen Durchsuchungsbefehl. Dann schauen wir mal, ob er irgendwas dazu hinterlassen hat. Und jetzt alles einsteigen, ich spendiere ein zweites Frühstück für unser aller Nerven.“

Die Aufforderung brach den Bann über uns. Auch Luka und Hendrik, die Manfred mit eingeladen hatte, begaben sich zu ihrem Auto und folgten uns.

Damit begann nun der schöne Teil dieses wichtigen Tages.

Joshua

Wir saßen bereits ein paar Minuten in einem kleinen Bistro, ganz in der Nähe von Florians Wohnung. Das kurze aufflackern der guten Stimmung war wieder abgeebbt. Mechanisch kaute ich auf meinem Croissant und sah die Bilder des Angriffs immer wieder vor meinem inneren Auge. Meine Knie wurden weich und ich war froh zu sitzen.

„Josh…“ Mein Schatz schaute mich etwas betreten an. „Du weißt, ich verabscheue Gewalt …“ Es folgte eine kleine Pause, die mich nervös machte.

„Aber du hattest verdammt noch mal jedes Recht das zu tun. Und danke, dass du mich verteidigt hast. Es war vielleicht nicht so, wie ich es mir gewünscht habe, es bedeutet mir aber viel, dass du zu mir stehst.“

Ich lächelte ihn an und griff nach seiner Hand.

„Wir gehören zusammen und werden alles durchstehen. Er hätte dich nicht angreifen dürfen, dann wäre nichts passiert. Dieser Typ hat einfach keine Ahnung von Liebe, sonst würde er verstehen was uns verbindet.“

Mit einem Mal schlug die Stimmung in etwas anderes um, alle rutschten etwas näher an ihre jeweiligen Partner und Partnerinnen. Es wurden verstohlene Blicke getauscht.

Domi ließ sich von Peter mit dem mittlerweile dritten Nutellabrötchen füttern. Alex fing an zu kichern und die besagte Naschkatze drehte sich mit dem Gesicht zu uns, eine Augenbraue fragend nach oben gezogen. Plötzlich brachen wir alle in schallendes Gelächter aus. Domi war um Mund und Nase komplett mit der klebrig-süß-braunen Masse verschmiert.

Hastig griff er nach den Servietten und rieb sich notdürftig über das leuchtend rote Gesicht. Aber es reichte nicht.

„Ich verschwinde mal kurz im Waschraum, bis gleich!“ Und schon war er auf dem Weg.

„Ich … äh … geh mal nach dem Rechten sehen“, stotterte Peter und lief Dominik hinterher.

Nach ungefähr zwanzig Minuten kamen sie tatsächlich zurück. Dominik war sauber und grinste entrückt, Peter auch. Wir konnten uns lebhaft vorstellen, was die beiden im Waschraum getrieben hatten. Beide langten noch mal kräftig zu.

Manfred setzte dem Frühstück ein jähes Ende. „Macht euch bitte fertig, auf der Autobahn dürfte die Hölle los sein.“

Wir packten zusammen, Dominik wickelte noch ein Brötchen ein und steckte es in seinen Rucksack. Dann brachen wir auf.

Alex und Florian nahmen mich in ihre Mitte, als wir die Parkplatzstraße überquerten und ich mich suchend umsah. Vermutlich würde ich noch in den nächsten Wochen Angst vor Straßen jeder Art haben. Meine Hand schmerzte etwas, einer der Knöchel hatte sich leicht blau gefärbt, vermutlich hatte ich mir da was gestaucht. Dieser Mistkerl hatte aber auch eine verdammt harte Nase.

„Zum Glück bin ich nur Sänger und nicht Gitarist, sonst könnten wir glatt absagen“, warf ich ein.

„Deine Hand sieht aber viel besser als Simons Breinase aus. Soviel Wumms im Oberarm hätte ich dir nicht zugetraut.“ Florian zog es vor zu dem Thema zu schweigen, deswegen leistete Alex Aufbauarbeit.

„Ich mir auch nicht. Irgendwas im Kopf hat ‚Klick’ gemacht und dann ist es einfach passiert.“
„Er wird es überleben. Vielleicht hast du ihm am Ende sogar noch einen Gefallen getan.“
Ich schaute Alex irritiert an. „Wieso einen Gefallen?“

„Naja, bisher sah er, für ’nen Kerl, ja nicht soooo schlecht aus. Mit der Matschnase interessiert sich im Knast vielleicht kaum einer für ihn. Aua!“

Linda boxte ihm gegen den Arm. „So was Geschmackloses will ich von dir nicht mehr hören.“

Florian grinste nur und nickte bestätigend in ihre Richtung. Ich spürte, dass auch ihm die Situation zusetzte. Vermutlich hatte er mich im Geiste schon von der Motorhaube abkratzen müssen.

Manfred setzte dem Frühstück ein jähes Ende. „Macht euch bitte fertig, auf der Autobahn dürfte die Hölle los sein.“

Wir packten zusammen, Dominik wickelte noch ein Brötchen ein und steckte es in seinen Rucksack. Dann brachen wir auf.

Florian

Wir kämpften uns fast eine Stunde durch den Verkehr, bis wir an der Stadthalle ankamen. Auf dem Platz tummelten sich bereits mehrere dutzend Leute, bauten Stände auf und räumten die Auslagen ein. Es war fast schon wie auf dem CSD. Regenbogenflaggen und Poster der Aidshilfe dominierten das Gesamtbild. Wir stiegen aus und teilten uns auf. Ich wäre gerne bei Josh geblieben, aber wir wollten hier erstmal auf Abstand gehen.

Es fiel mir, gerade jetzt, unheimlich schwer ihn gehen zu lassen. Der Schreck vom Morgen saß noch tief. Für einen Moment glaubte ich ihn verloren zu haben. Aber er hatte es überstanden und war tapferer als je zuvor. So brutal es auch klingen mochte, niemand hatte je für mich einem anderen die Nase gebrochen und ich war irgendwie auch stolz auf ihn.

Alex, Linda und ich schlenderten über den Vorplatz, bis uns ein bekannter Braunschopf auffiel. Jens und Peer hatten ihren eigenen Stand, mit dem Sponsorenbanner von Peers Bank geschmückt.

Jens sah uns und kam sofort auf uns zu. Er betrachtete mich einen Moment und sein Lächeln wechselte zu einem sorgenvollen Ausdruck.

„Hi Flo. Ist was passiert? Du siehst merkwürdig aus.“

Ich erzählte es ihm und Alex setzte die Schilderung fort, als mir die Stimme wegbrach. Jens legte seinen Arm um mich und führte mich zu Peer, dem er die Geschichte kurz umriss.

„Das ist heftig. Warum bist du nicht bei ihm? Er braucht dich bestimmt.“

„Ja schon, aber wir haben es so besproch… verdammt ja, du hast Recht. Die Absprache hatten wir vor der Aktion. Ich geh ihn suchen.“

Alex und Linda blieben am Stand und unterhielten sich, vermutlich ausführlicher, über den hässlichen Vorfall. Ich entdeckte Peter und Dominik weiter vorne, sie gingen Hand in Hand zwischen den Ständen durch. Hendrik und Luka begrüßten gerade Guido, mit dem sie dann in der Stadthalle verschwanden, um die Bühne in Augenschein zu nehmen und alles vorzubereiten.

Josh war nicht zu sehen. Ich machte mir erneut Sorgen und große Vorwürfe. Aber von Manfred und Doro war auch nichts zu sehen. Ich ging zum Parkplatz und suchte nach dem Auto, es war verschwunden. Plötzlich dachte ich an mein Handy und rief ihn an.

„Hi Schatz“, tönte seine sanfte Stimme aus dem Lautsprecher.

„Hey, ist alles okay bei dir? Ich konnte dich nirgends finden und mache mir Sorgen.“

„Sorry, ich bin mit Manfred und Doro unterwegs, wir sind bald zurück. Es ist alles okay. Ich hätte dir Bescheid geben sollen.“

„Allerdings. Aber jetzt ist ja alles okay. Ich liebe dich, bis nachher.“

„Ich liebe dich auch. Bis später, Flo.“ Er drückte das Gespräch weg.

Ich beschloss mich etwas nützlich zu machen und folgte den Jungs in die Halle, vielleicht brauchten sie ja noch Hilfe beim Aufbau. Es würde mir jedenfalls helfen, die aufkeimende Wut abzubauen. Natürlich war nicht alles okay.

Hinter der Bühne klapperte es. „Jungs, braucht ihr Hilfe?“

„Das wäre toll, Guidos Bus steht hinter der Halle und es ist noch massig viel Zeug drin“, rief Luka.

Draußen mühte sich Guido mit einem größeren Lautsprecher ab und ich packte mit zu. Eine knappe Stunde später war alles ausgeladen und die Jungs schlossen alles an. Ich ging vor die Tür auf den fast überfüllten Vorplatz und orientierte mich in Jens’ Richtung Josh stand bei ihm, zusammen mit Manfred, Doro, Alex und Linda. Sie standen alle um ihn herum, strahlten vor sich hin und Alex löste gerade seine Umarmung von ihm.

Linda machte sie ‚unauffällig’ auf mich aufmerksam. Josh schoss in meine Arme.

„Es tut mir wirklich, wirklich Leid, dass ich ohne ein Wort verschwunden bin. Und auch dass ich mich nicht an die Absprache halte, aber es ist mir egal. Darum geht es hier doch, Toleranz.“ Er plapperte wie ein Wasserfall und ich hörte kaum noch hin, da seine Nähe mich völlig einfing.

Plötzlich spürte ich seine Zunge, wie sie sich ihren Weg zwischen meine Lippen bahnte.

Erst als unsere Freunde applaudierten lösten wir uns wieder von einander. Die Welt hatte uns wieder. Peter und Dominik saßen auf einer Bank in der Nähe und versuchten unseren Kuss zu überbieten. Ich hielt das für unmöglich.

„Ich habe nachher noch eine Überraschung für dich“, flüsterte er mir ins Ohr.

Luka

Guido verschwand mit dem letzten leeren Koffer und räumte ihn in den Wagen. Endlich war alles aufgebaut und funktionierte. Hendrik nutzte die Gunst der Stunde und küsste mich leidenschaftlich. Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr mir das die letzten Stunden gefehlt hatte.

Ein Räuspern schreckte mich auf. „Sorry, Guido, ich hoffe du kommst…“

„Ich bin nicht Guido.“ Ich erkannte die Stimme von Max und erstarrte.

„Max, was machst du hier?“ Hendrik wirkte etwas ängstlich, zumal man Max und Simon in den letzten Wochen öfters zusammen gesehen hatte. Er hatte sich ziemlich verändert, weniger divenhaft, nicht mehr so… seltsam.

„Ich muss mit euch reden, mit euch allen. Und noch etwas…“ Es stahl sich so was wie ein Lächeln auf sein Gesicht.

„Herzlichen Glückwunsch, schön, dass ihr mit der Heimlichtuerei aufgehört habt. Aber jetzt schnell, trommelt die anderen zusammen. Es ist wichtig.“

Guido kam zurück und schaute überrascht auf Max.

„Was willst du hier?“

„Ich erkläre es gleich euch allen, aber wir müssen erst zu den Anderen.“

Er wirkte ehrlich und besorgt und giftete nicht wie üblich herum, wenn ihn jemand so behandelte. Also gingen wir wieder an die Luft. Die Truppe war relativ leicht zu finden, sie standen alle um den Stand der hiesigen Bank verteilt.

Alex sah uns und ging gleich in Abwehrhaltung. „Was macht der hier?“

Max erduldete auch diese Zurückweisung tapfer und ergriff sofort das Wort. „Alex, lass uns das später klären. Ich muss etwas Wichtiges loswerden, es geht um Joshua. Ihr müsst heute aufpassen, Simon möchte dir einen Denkzettel verpassen und wollte mich auch einbeziehen. Aber das ist nicht mein Ding. Er plant etwas.“

Josh verlor zum ersten Mal, seit ich ihn kennen gelernt hatte, die Beherrschung. Hass zeichnete sich in seinem Gesicht ab und ich dachte schon, er würde laut brüllen. Aber er tat es nicht, seine Stimme verwandelte sich in ein eisiges Zischen.

„Einen Denkzettel? Haltet ihr Mord für einen Denkzettel? Was hab ich euch eigentlich getan? Er hat selber Schuld an seinem Rauswurf aus der Schule. Das er in den Knast wandert, weil er mich überfahren wollte ist auch sein Problem. Und was ist mit dir? Du warst krank und ich war einfach nur zur rechten Zeit da. Das dein Verhalten der Band auf den Senkel ging ist ebenfalls nicht meine Schuld.“

Er zögerte einen Moment. „Ich kann einfach nicht mehr, lasst mich doch einfach nur in Ruhe und glücklich sein.“

Die Härte verschwand aus seiner Stimme.

„Umbringen? Das wusste ich nicht. Und ich wollte auch nicht mitmachen, wirklich! Dieser kranke Mistkerl… Ich wusste nur, dass er heute Abend was machen wollte. Glaub mir bitte. Und du hast völlig Recht, das mit der Band hab ich mir versaut. Du bist auch wirklich gut.“

Jetzt waren wir alle etwas baff. Er hatte sich scheinbar wirklich geändert.

„Wir haben Platz für zwei Sänger. Jeder von euch hat seine Stärken. Was meint ihr?“ Alex blickte fragend in die Runde und keiner widersprach. „Max, Josh, was meint ihr?“

Josh zuckte mit den Schultern.

„Wenn ihr wollt, ich mache gerne mit.“ Max freute sich ehrlich.

Ein Handy klingelte und Josh griff in die Tasche. „Hallo Mum… shit. Ja, bis später.“

„Was war denn … oh, du hast ihnen nicht Bescheid gegeben?“ Florian sah seinen Freund an und unser Sänger schüttelte zerknirscht den Kopf.

„Die Polizei war eben da, wegen dem Protokoll. Du weißt ja, ich bin noch bei ihnen gemeldet. Sie hat es gelesen und… naja, dass Ergebnis hast du eben mitbekommen. Sie kommen jetzt doch etwas früher, nicht erst zum Konzert.“

Dominik

Die Stimmung sank stetig weiter und nichts schien sie zu verbessern. Dabei sollte der Tag richtig genial werden und nun jagte eine deprimierende Katastrophe die nächste. Die Sache mit Max und der Anruf hatten Josh erneut ziemlich zurückgeworfen, wo er doch gerade wieder zu einer unverkrampften Haltung gefunden hatte.

Peter ging es auch sehr nahe, er empfand noch einiges für ihn. Für mich war das aber kein Grund zur Eifersucht, denn er liebte mich. Der Gedanke an sein Versprechen vom Morgen besserte meine Laune ein wenig.

„Wisst ihr eigentlich schon, was ihr heute singen wollt?“

Meine Frage brachte Unruhe in die Band und damit auch die erhoffte Ablenkung.

„Eigentlich schon“, meinte Alex, „aber wenn Max mitmacht, dann sollten wir noch schnell was umplanen. Jungs, lasst uns reingehen.“

Die gesamte Band lief Richtung Stadthalle zurück. Flo warf mir im vorbeigehen ein leises „Danke“ zu.

Doro grinste. „Du willst nicht zufällig auch die psychologische Laufbahn einschlagen?“

„Ich weiß gar nicht was du meinst“, grinste ich.

Peter kicherte.

„Hey, nimm mich gefälligst ernst! Durchdachtes Handeln schadet meinem schlechten Ruf und der ist hart erkämpft!“

Paps schüttelte nur den Kopf. „Was hab ich da nur groß gezogen“, stellte er fest.

„Deinen einzigen Lieblingssohn“, half ich ihm auf die Sprünge.

„Stimmt, wie konnte ich das nur vergessen!“ Er nahm mich in die Arme und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

Peter und ich machten noch eine weitere Runde über den Platz, der Hunger trieb mich an einen Würstchenstand.

„Eine Currywurst und eine doppelte Portion Pommes rot-weiß.“

„Wo steckst du das eigentlich alles hin? Du bist ja permanent am futtern.“

„Ja, weißt du, dass ist so… wir müssen einfach nur ganz viel Sex haben, dann können wir uns den ganzen Tag lang voll stopfen.“

Peter wurde rot, weil man mich im näheren Umkreis gut verstehen konnte und einige ziemlich anzüglich grinsten.

Wir machten uns wieder auf den Weg zu den Anderen. Joshis Eltern waren mittlerweile auch hier und Paps redete auf sie ein.

„Ich habe leider auch nicht daran gedacht, die Situation hat uns alle sehr aufgewühlt.“

Seine Eltern seufzten auf und umarmten ihren Sohn. „Mach das bloß nie wieder.“

„Wenigstens hast du nicht alles von unserem Training vergessen. Deine Reaktion und der Sprung hört sich sehr gut an“, meinte seine Muter noch.

Florian

Das Treffen mit Joshs Eltern war gut verlaufen und die restliche Zeit verging wie im Fluge. Baumann kam auf uns zu, schüttelte sämtliche Hände und bat uns hereinzukommen, das Showprogramm würde bald beginnen. Bis auf meinen Schatz war die Band auch schon verschwunden.

„Bis später“, verabschiedete er sich von uns und gab mir einen Kuss.

„Ich hoffe, dass es jetzt endlich vorbei ist“, meinte Horst.

„Das ist sehr wahrscheinlich. Simon kommt so schnell nicht aus dem Gefängnis.“

„Hoffen wir es“, warf Angelika ein, „wer weiß, was seinen Eltern und Anwälten noch alles einfällt.“

„Aber ihr könnt echt stolz auf euren Sohn sein, er packt das.“

Wir kämpften uns durch die Menschenmengen zu unseren reservierten Plätzen in der ersten Reihe. Baumann trat auf die Bühne, dicht gefolgt vom Bürgermeister und einem Funktionär der Aidshilfe.

„Meine Damen und Herren, ich übergebe das Wort an Herrn Norbert Baumann, dem wir, gewissermaßen, diese Veranstaltung zu verdanken haben.“ Der Bürgermeister stellte sich hinter den Direx und es donnerte Applaus.

„Danke, Herr Bürgermeister. Aber der Dank gebührt nicht mir, sondern ein paar ganz besonders mutigen Schülern, die sich, wenn auch unabsichtlich, den Vorurteilen gestellt haben. Aber es geht heute nicht nur um Homosexualität an Schulen, oder im Allgemeinen, es geht um Toleranz, um Vorurteile und den Schutz vor Krankheiten. Der Name dieser Veranstaltung, ‚Aids kennt keinen Unterschied’, macht es deutlich. Deswegen stehen die meisten Direktoren der Schulen in diesem Kreis in engem Kontakt und wir erarbeiten einen Aufklärungsplan, den wir in den regulären Unterricht integrieren wollen. Aber genug der Worte, ich übergebe an die Stars dieses Abends, die Band ‚Out Now!’.“

Der Applaus fiel diesmal noch stärker aus und die drei Herren machten den Jungs Platz.

Es wurde still im Saal, wir alle warteten auf den Anfang. Max trat als erster Sänger nach vorne. Er stampfte zweimal mit dem Fuß auf und klatschte in die Hände. Das Publikum verstand die Aufforderung und machte mit, Max präsentierte eine recht passable Version von ‚We will rock you’. Die Stimmung war echt fantastisch.

Nach dem Song trat Alex nach vorne.

„Hallo zusammen, den nächsten Song widmen wir Direktor Baumann. Euch allen noch viel Spaß!“

Endlich trat auch mein Freund ein Stück vor und die beiden starteten mit Pink Floyds ‚Another brick in the wall’. Das Gelächter war groß, aber bald stiegen alle in den Refrain ein. Die Jungs rockten die Bühne und rissen uns mit.

Die Anspannung war völlig aus Josh gewichen, er gab sein Bestes und es war unbeschreiblich. Die Jungs spielten diverse Coverversion der aktuellen Charts, einen Song nach dem anderen und sie wurden nicht müde.

Nach gut neunzig Minuten machten sie eine Pause und kündigten einen letzten Song an, den sie im Anschluss spielen wollten. Josh hüpfte elegant von der Bühne und umarmte mich heftig.

„Ihr seid echt der blanke Wahnsinn“, flüsterte ich ihm ins Ohr.

„Danke. Du, ich bin völlig vertrocknet, hast du noch was zu trinken?“ Ich riss mich von dem sinnlichen Duft seines verschwitzen Körpers los und reichte ihm meine Colaflasche. „Danke, das hab ich gebraucht.“ Grinsend hielt er mir die ehemals volle Literflasche hin.

„Ich muss wieder hoch, gleich geht es weiter.“ Ich bekam noch einen Kuss und er eilte wieder auf die Bühne.

Das Saallicht ging wieder aus und auch die Bühnenbeleuchtung wurde, bis auf einen einzigen Spot, ausgeschaltet. Josh trat in den Lichtkreis.

„Hi Leute, ich bin Josh, das neueste Mitglied dieser Band. Ich habe die Ehre, unseren ersten eigenen Song anzusagen. Aber vorher möchte ich noch etwas loswerden. In den letzten Wochen und Monaten ist sehr viel passiert. Schöne und weniger schöne Dinge. Aber heute stehen wir hier, der Weg hat uns hierher geführt. Heute stehen wir hier, weil wir anders sind. Weil alle Menschen anders sind.“

Er unterbrach sich selbst und suchte meinen Blick in der Dunkelheit des Saals. Seine Augen leuchteten.

„Bevor es weiter geht habe ich noch etwas zu sagen. Es gibt einen Menschen hier im Saal, der ist nicht nur anders, er ist auch etwas ganz Besonderes für mich. Florian.“

Ein weiterer, kleinerer Spot flammte auf und leuchtete mich an. Ich bekam einen Kloß in den Hals, hatte plötzlich eine Vorahnung, wo dass hinführen könnte.

„Flo, seit dem Tag, an dem ich dich über den Haufen fahren durfte, ging es in meinem Leben nur noch aufwärts. Du hast mir geholfen meinen Weg zu finden, mich begleitet und gestützt. Ich bin dir ewig dankbar für deine Liebe und möchte meinen weiteren Weg mit dir zusammen gehen.“

Seine Stimme wurde immer leiser und brüchiger, mir standen bereits Tränen in den Augen und im ganzen Saal schienen alle selbst das Atmen eingestellt zu haben. Josh verließ die Bühne erneut und kam auf mich zu. Ich erhob mich wie in Trance.

„Florian, willst du mein Mann werden und mit mir gemeinsam unseren Weg weitergehen?“

Meine Stimme versagte völlig und mein Krächzen ging nur mit viel Fantasie als ein ‚Ja’ durch. Er zog mich aus dem Scheinwerfer Licht und besiegelte unsere Verlobung mit einem Kuss, im Schutz der Dunkelheit.

„Deswegen war ich heute noch mal weg“, flüsterte er und steckte mir einen Ring über den linken Ringfinger. Zeitgleich setzte tosender Applaus ein.

„Ich liebe dich, Josh.“

Er strahlte mich an. „Ich liebe dich auch.“

Das Bühnenlicht wurde wieder eingeschaltet und man erkannte die feucht glänzenden Augen der anderen Mitglieder. Luka und Hendrik hielten sich an den Händen. Ich hörte Dominik, wie er zu Peter „Ich liebe Dich, mein Froschkönig“ sagte. Die Situation erinnerte mich spontan an den Song ‚Love is in the air’. Es war mehr als spürbar.

Dann setzte die Musik ein und Josh ging zurück auf die Bühne. Von den Leuten ringsum wurde ich beglückwünscht. Joshs Vater lächelte mich an und seine Mutter tupfte mit einem Taschentuch über ihre tränennassen Augen.

Und dann schwebte seine Stimme durch den Raum.

„Jahre ohne Hoffnung, dass Leben ohne Sinn,
Ich lief einfach weiter und kannte nicht das Ziel.
’Das kannst du nicht, das darfst du nicht’ wurde mir gesagt
’Benimm Dich einfach anders, so darfst Du gar nicht sein’.
Doch jetzt geh ich meinen Weg und fang das Leben ein!“

Die Musik wurde etwas rockiger und die Jungs setzten gemeinsam zum Refrain an.

“I have this tickling feeling, right under my skin,
That hiding in the closet wont get you very far.
That showing in the crowds is the only way to win.
Out now!…As different as we are.”

Dann wiederholte Josh den Text alleine auf Deutsch.

„Ich hab dieses prickelnde Gefühl unter meiner Haut
Denn im Verborgenen zu bleiben bringt dich nicht sehr weit
Ihr müsst Euch in der Menge zeigen, mal sehn ob ihr euch traut.
Zeigt euch! So verschieden wie ihr seid.“

Vom Rest des Songs bekam ich nichts mehr mit, hing wie hypnotisiert an seinen Lippen und nur der Klang der Stimme drang noch an meine Ohren.

Erst die ‚Standing Ovations’ rissen mich zurück in die Wirklichkeit. Josh quittierte meinen entrückten Blick mit seinem sexy Lächeln.

Zwei Stunden später waren wir endlich alleine zuhause und feierten unsere Verlobung sehr leidenschaftlich. Ein neuer Lebensabschnitt hatte begonnen.

Epilog (Joshua), ein Jahr später

Einiges war passiert. Simon saß mittlerweile im Gefängnis, rechtskräftig verurteilt. Das Gericht hatte die Anträge auf Schuldunfähigkeit abgeschmettert und ihn wegen versuchten Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. In seinem Computer fand man Dateien, die meine regelmäßigen Termine und Gewohnheiten enthielten. Er hatte mir nachgestellt und mehrere Möglichkeiten durchgeplant, wie er mich effektiv beseitigen konnte. Der Anschlag mit dem Auto war eine Notlösung.

Peter und Dominik wohnten in einer kleinen Wohnung, ganz in der Nähe von Manfred und Doro, die ihnen das kleine Reich auch finanzierten. Außerdem bekam Peter Unterhalt von seinen Eltern, der leider auch gerichtlich erzwungen werden musste, da sie weiterhin keinen Kontakt hatten.

Manfred lebte nun im Haus der Reeds, nachdem er seine eigene Wohnung aufgelöst hatte. Alex und Linda, die ebenfalls noch dort wohnten, planten ihre weitere Zukunft.

Die Band hatte noch einige Auftritte, aber wir zogen dann irgendwann die Bremse, da ein paar von uns mit dem Abitur beschäftigt waren. Es war eine anstrengende Zeit, Flo und ich verbrachten viele Abende mit lernen. Sein Referendariat war mittlerweile beendet und er bereitete sich auf die letzten Prüfungen für das zweite Staatsexamen vor.

Damit war unsere Beziehung nun auch endlich, unerschütterlich und frei von jedem Zweifel legal.

Und nun war es endlich soweit, ich hatte einen Termin mit Direktor Baumann, der mir das Ergebnis meiner Prüfungen mitteilte. Florian wartete ungeduldig auf dem Schulhof.

„Und, wie ist es gelaufen?“

Ich sah in geknickt an. „Ich hab das letzte Ergebnis. Es ist schlechter als erhofft. Aber immerhin bestanden.“

„Herzlichen Glückwunsch, aber ich versteh das nicht, wir sind doch alles durchgegangen. Du hattest doch alles drauf.“

Ich grinste ihn an „Ich hätte aber trotzdem lieber einen glatten Einserschnitt gehabt und nicht 1,1.“

„Du bist doof“, lachte er. „Ich bin stolz auf dich Joshua Dellmer.“

„Danke. Und gewöhn dir das ab, in zwei Tagen darfst du es nicht mehr sagen.“

Er nahm meine Hand. „Wie könnte ich das auch vergessen, zukünftiger Herr Joshua Frederik Dietz.“

Ich warf noch einen Blick auf das Schulgebäude, den Pausenhof und verabschiedete mich endgültig von meinem Schülerleben. Hand in Hand gingen wir der Zukunft entgegen.

Ende

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1 Kommentar

  1. Toll klasse Krimi pur.

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