Eingeschneit!

Fabian

Oh the weather outside is frightful

But the fire is so delightful

And since we’ve no place to go:

Let it snow, let it snow, let it snow!

Wäh… Meine rechte Hand zuckte zum Autoradio, und kurz darauf wurde das vorweihnachtliche Gedudel des lokalen Rundfunks vom sommerlichen Mix der selbstgebrannten CD im CD-Wechsler ersetzt. Schon besser. Auch wenn das »sommerlich« nicht unbedingt zu Wetter und Jahreszeit passte, und schon gar nicht zu den Straßenbedingungen. Vorsichtig lenkte ich den schweren Geländewagen die schmale Nebenstraße entlang, von der irgendwann im weißen Dickicht die Zufahrt zu unserer Berghütte abzweigen würde. Wenn ich die Zufahrt bei dem herrschenden Schneefall überhaupt erkennen würde.

Vielleicht war es ja gar keine so gute Idee gewesen, dem Familienstreß unbedingt auf der einsamen Hütte entkommen zu wollen. Aber ich hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Noch vier Tage bis zum ach so heiligen Abend, und das Haus lief bereits über vor lauter Verwandtschaft, die es sich nicht entgehen lassen wollte, die Feiertage im tief verschneiten Bergland zu verbringen. Ich hatte ja eigentlich nichts gegen die Familie, aber ein Set Großeltern, dazu drei Tanten, zwei Onkel, zwei Neffen und eine Nichte waren eine harte Prüfung für meine eigentlich auf Erholung eingerichteten Nerven. Das Fass zum Überlaufen brachte dann der elterliche Befehl, mein Heiligtum (sprich: mein Zimmer) für die nächsten Tage mit meinem kleinen Bruder zu teilen. Okay, Tom war nur ein gutes Jahr jünger als ich, wir kamen meist gut miteinander aus – aber das lag nur daran, dass wir uns nicht ständig auf der Pelle hockten. Eine Woche oder länger in einem Zimmer? Das würde in Mord und Totschlag enden.

Ich erkämpfte mir also die Freiheit, mich vorläufig auf unsere Hütte zurückziehen zu dürfen. Erst wollte man mir meine beiden Neffen noch aufdrängen, die ganz scharf auf Wald und Schnee waren, aber das konnte ich abblocken. Ich wurde vergattert, unbedingt zum 24. zurück zu sein, und dann durfte ich mich verdrücken.

Das Wetter hatte mir noch ein glückliches Zugeständnis serviert: ich durfte den Mazda Tribute meines Vaters benutzen, mit meinem kleinen 3er wäre die Fahrt noch abenteuerlicher geworden. Den Kofferraum des großen Geländewagens hatte ich mit Fressalien und Klamotten vollgepackt, so stand erholsamen Tagen nichts mehr im Wege. Nichts außer dem Wetter, aber länger als eine halbe Stunde würde ich nun sicher nicht mehr brauchen.

Ein Teil meines Gehirns war bereits damit beschäftigt, was ich in den nächsten Tagen mit mir und der Welt anfangen würde. Ein wenig Skifahren, etwas Wandern, Lesen, und ganz allgemein Faulenzen fernab von der Zivilisation. Auf der Hütte gab es kein Telefon, kein Fernsehen, keinen Computer – für das bißchen Strom, das gebraucht wurde, sorgte ein Dieselgenerator. Zwar hatte meine Mutter darauf bestanden, dass ich mein Handy mitnahm, aber ich hatte nicht vor, es einzuschalten. Außer für den abendlichen Kontrollanruf, aber das sollte für die nächsten Tage mein einziger Kontakt zur Außenwelt sein. Was für eine herrliche Vorstellung…

Aber was war das? War das schon meine Hüttenzufahrt? Und warum hing da ein Kleinwagen im Straßengraben, schön eingekeilt zwischen einem Baum und einer Schneewehe? Ich hielt an und stieg aus. Nein, das war noch nicht die Zufahrt zu unserer Hütte, das war nur ein Forstweg. Und warum der Kleinwagen da so unpassend herumhing, wurde mir nach einem kurzen Blick auf die Reifen klar. Sommerschlappen. Aber die alte Kiste hatte doch Kennzeichen aus unserer Gegend! Welcher Einheimische war denn so doof?

Der Wagen war nicht sonderlich zerbeult, er war wohl nicht schnell gefahren und einfach seitlich weggerutscht. Im Schnee waren deutlich die Spuren der Versuche zu sehen, den Wagen wieder freizubekommen. Tja, keine Chance, aus eigener Kraft kam die Kiste frühestens im Frühjahr wieder weg. Ich ging noch näher heran und spähte in das Auto, welches ich mittlerweile als Ford Fiesta identizifiert hatte, hinein. Leer. Ich warf einen Blick in die Umgebung.

»Hallo? Jemand da?«

Keine Antwort. Die Sache wurde immer seltsamer. Ein Eingeborener würde sich niemals mit Sommerreifen auf diese Fahrt begeben. Und er würde sich nach einem Unfall in der Wildnis auch nicht vom Auto entfernen, sondern vor Ort auf Hilfe warten.

Wenn er allerdings kein Handy dabei hatte… Hm. Mir war seit dem Verlassen der Hauptstraße kein Auto mehr begegnet. Da konnte man lange auf Hilfe warten. Ich legte eine Hand auf die Motorhaube. Schon ziemlich kalt. Wer weiß, wie lange die Kiste schon hier rumstand. Andererseits war bisher kaum Schnee auf der Karosserie liegengeblieben. Ich wurde jedenfalls nicht so recht schlau aus der Situation. Und was macht man in einem solchen Falle? Richtig. Man fragt jemanden, der sich besser auskennt. Ich ging zurück zu meinem Wagen, stieg ein und griff zum Hörer am Armaturenbrett.

»Wolf Eins für Wolf Eins-Siebzehn – kommen!«

»Wolf Eins hört – mensch, Fabian, ich hab dir doch gesagt, dass du die Finger vom Funkgerät lassen sollst!«

Hehe, das hatte er tatsächlich. Ich hätte ja auch das Handy benutzen können, aber der Funk war irgendwie cooler.

»Sorry, Paps, es ist wichtig. Ist euch ein Unfall auf der Kreisstraße 87 bekannt?«

»Ein Unfall? Ist mit dir alles okay?«

»Ja, mir geht es gut. Aber hier klebt ein Auto an einem Baum, und keine Menschenseele ist weit und breit zu sehen.«

»Moment…«

Ich wartete und schaute noch ein wenig in alle Richtungen. Es war wirklich außer mir kein lebendes Wesen in Sicht.

»Ich hab gerade noch mal bei der Frühschicht gefragt – uns ist kein Unfall gemeldet worden. Kannst du mir mal das Kennzeichen geben?«

»X Trennung YZ 32.«

»Ich prüfe. Und du sagst, es ist niemand vor Ort?«

»Nein, nur das leere Auto. War wohl kein schwerer Crash, aber die Karre hat nur Sommerreifen drauf und hängt fest.«

»Hm. Laut Kennzeichen ist das ein Ford, Saisonkennzeichen, eigentlich von November bis April stillgelegt. Ich versuche mal, den Halter zu erreichen. Bleibst du bitte noch vor Ort?«

»Alles klar. Ich schau mich mal um, ob ich irgendwelche Spuren entdecken kann.«

»Gut. Ich melde mich gleich wieder. Wolf Eins Ende.«

Zur Erklärung: Bei Wolf Eins handelte es sich um das Rufzeichen der Polizei-Einsatzzentrale des Kreises. Mein Erzeuger hatte dort momentan Dienst, er hatte als Polizei-Hauptkommissar den Hut auf. Und damit war er in meinen Augen genau der richtige Ansprechpartner für Unfälle und andere Mysterien.

Ich stieg also wieder aus und begab mich zum verunglückten Ford zurück. Es waren einige Fußspuren um das Auto herum zu sehen, aber eine davon war die interessanteste: sie führte anscheinend vom Auto weg, den Forstweg entlang in den Wald. Wegen des Schneefalls war davon nicht mehr viel

zu sehen, aber dort, wo der Weg besonders gut von Bäumen geschützt

war, konnte ich eindeutig Fußabdrücke entdecken. Ziemlich große Fußabdrücke…

»Wolf Eins-Siebzehn für Wolf Eins – kommen!«

Ich sprintete zurück zum Wagen.

»Eins-Siebzehn hört.«

»Faby, beim Halter erreiche ich niemanden. Hast du noch irgendwas gefunden?«

»Ja, Fußspuren, die in den Wald hineinführen. Forstweg 12a ist das übrigens.«

»In den Wald hinein? Was ist das denn für ein Idiot!«

»Wolf Eins, Funkdisziplin!«

»Klappe, Stift.«

»Paps, vielleicht dachte er, es wäre die 14a? Dann würde er über den Weg zur Steintalbaude kommen. Das wäre nicht mal halb so weit wie die K87 zurück zur Hauptstraße.«

»Dann erwartet ihn aber eine unangenehme Überraschung.«

Allerdings. Forstweg 12a führte in einem weiten Bogen quer durch den Wald, mit nur einem einzigen Abzweig, welcher über einige steile Anstiege hinweg zu unserer Hütte führte. Bei diesem Wetter und der aktuellen Schneelage bräuchte man dafür mehrere Stunden.

»Was soll ich machen? Schickst du jemanden her?«

»Muß ich ja wohl. Ich alarmiere die Bergrettung und schicke einen Streifenwagen zu dir. Kommt man mit einem normalen Auto noch durch, oder muß ich einen Allradler schicken?«

Ich schaute mich schnell um. Die Straße war schon ziemlich schneebedeckt, und es schneite weiterhin. Zwar nicht sonderlich stark, aber kontinuierlich.

»Bis hierher würde es ein normaler Wagen wohl noch schaffen – wenn er aber auch wieder zurück soll, wäre ein Allradler sicherer.«

»Klugscheißer. Okay, ich leite alles ein.«

»Soll ich mal der Fußspur folgen?«

»Fabian, das ist kein Abenteuerspiel. Ich möchte nicht, dass meine Leute dann nicht nur den Unfallfahrer sondern auch noch dich suchen müssen.«

»Ich kann mit dem Wagen in den Forstweg reinfahren, durch die Bäume ist der Schnee hier nicht so hoch.«

Die Antwort dauerte einen Moment, da war wohl jemand schwer am Überlegen.

»Gut. Aber nur so weit, wie du mit dem Auto kommst, ich möchte nicht, dass du versuchst, den Fahrer zu Fuß zu finden! Versprich mir das!«

»Versprochen.«

»Gut. Melde dich alle Viertelstunde, egal ob du was gefunden hast oder nicht. Wolf Eins Ende.«

Ich legte den Hörer in seine Halterung, stieg aus, ging ums Auto herum und setzte mich auf den Fahrersitz. Sobald der Motor lief, ließ ich beide vorderen Seitenscheiben hinunterfahren und schaltete das Funkgerät aus – vielleicht würde ich ja irgendwelche Hilferufe hören. Dann bugsierte ich den Geländewagen vorsichtig von der Straße auf den Forstweg hinunter. Zum Glück hatte ich schon etwas Erfahrung mit solchen Fahrsituationen. Zwar hatte ich meinen Führerschein erst seit meinem gerade mal sechs Monate zurückliegenden 18. Geburtstag, aber meine besorgten Eltern hatten mir ein Fahrsicherheitstraining spendiert – und zwar bei dem Profi, welcher auch die örtlichen Polizei- und Rettungsdienste ausbildete. Zum Kurs gehörten auch einige Stunden Geländefahrten, die mir jetzt zugute kamen.

Erfreulicherweise befand sich unter dem lockeren Neuschnee eine festgefahrene Schneedecke – offensichtlich war der Forstweg in den letzten Tagen öfters benutzt worden. Trotzdem rollte ich mehr oder weniger nur im Schrittempo voran, ich wollte keinerlei Risiko eingehen.

Hinter der ersten Wegbiegung fand ich – nichts. Hinter der zweiten ebenso, und auch als ich um die dritte herumkam, sah ich nichts als Schnee und Bäume. Auch zu hören war außer dem Motor nichts – der Schnee dämpfte alle Geräusche. Da jedoch neben den immer wieder auftauchenden menschlichen Fußspuren auch die von Tieren zu sehen waren, war klar, dass ich doch nicht so ganz alleine im Wald unterwegs war.

Wie weit ich mittlerweile in den Wald hineingefahren war wußte ich nicht, ich hatte vergessen, auf den Kilometerzähler zu schauen. Aber ich war schon gut 20 Minuten unterwegs und erinnerte mich zum Glück noch daran, dass ich ja eigentlich meinem Vater regelmäßig Meldung machen sollte. Ich schaltete den Funk wieder ein.

»Wolf Eins für Wolf Eins-Siebzehn, kommen.«

»Wolf Eins hört.«

»Sorry, bisher hab ich noch nichts entdecken können. Aber die Spuren führen weiter in den Wald.«

»Okay, fahr weiter, aber schön vorsichtig. Wir haben hier noch ein and…«

»Moment!«

»Was ist, Faby?!?«

Interessante Frage. Ich hatte jemanden gefunden – oder besser gesagt: jemand hatte mich gefunden. Allerdings konnte es sich kaum um den verunglückten Fahrer handeln.

»Paps, hier kommt ein Hund auf mich zugerannt.«

»Ein Hund?«

»Ja, er kam um eine Wegecke herum, und jetzt steht er vor dem Auto und wedelt mit dem Schwanz.«

»Paß bloß auf, nicht dass das ein Streuner mit Tollwut oder was auch immer ist.«

Ein Streuner, mitten im Winter? Wohl eher nicht. Außerdem sah das Tierchen viel zu gepflegt dafür aus.

»Sieht nicht so aus, Paps. Ein Golden Retriever, und der steht gut in Futter und Pflege. Jetzt bellt er das Auto an.«

Der Hund bellte, wedelte, drehte sich immer wieder in die Richtung, aus der er gekommen war. Vielleicht wollte er, dass ich ihm folge? Tatsächlich, er lief ein paar Schritte weg, drehte sich um, bellte wieder und wartete. Das war ja fast wie in Lassie.

»Paps, ich fahr dem Hund hinterher und melde mich dann wieder.«

»Tu das, aber wie gesagt: paß auf dich auf.«

»Mach ich. Ende.«

Ich wandte mich wieder voll der Fahrerei und der Verfolgung des Vierbeiners zu, der nun, als er merkte, dass ich ihm hinterher kam, in einen gleichmäßigen Trott verfiel. Nach zwei weiteren Wegbiegungen raste er plötzlich davon, um etwa hundert Meter weiter um einen Menschen herumzutollen, der auf einem Stapel gefällter Bäume saß. Der Mensch umarmte den Hund und streichelte ihn – war also vermutlich noch nicht erfroren. Langsam rollte ich näher.

»Wolf Eins für Wolf Eins-Siebzehn, kommen!«

»Wolf Eins hört.«

»Ich glaube, ich hab den Fahrer. Hockt hier auf einem Stapel Baumstämme und sieht noch recht lebendig aus. Ich steige jetzt aus.«

»Empfangen.«

Ich war in der Zwischenzeit am Holzstapel angekommen, hielt den Wagen an und stieg aus. Der Hundebesitzer erhob sich von seiner Sitzgelegenheit, und ich musterte ihn von oben bis unten. Jeans, Anorak, Stiefel, Schal, Handschuhe und Mütze – naja, zumindest sich selbst hatte er Winterausstattung spendiert, wenn schon nicht seinem Auto. Er war jung und – soweit das durch die dicken Klamotten erkennbar war – sportlich, und unter der Mütze hervor schauten mich braune Augen groß an.

Ach du scheiße… Nein! Nicht der! Warum gerade ich? Das durfte doch nicht wahr sein…

Ich hatte plötzlich erkannt, wer mir da gegenüberstand, und auch der Hund fügte sich nunmehr nahtlos ins Bild ein. Und auch meinem Gegenüber wurde klar, mit wem er es zu tun hatte, die eben noch grinsend nach oben gezogenen Mundwinkel fielen in sich zusammen, und die Kinnlade klappte herunter.

»Du?«

»Du?!?«

Reiko

Unglaublich. Ausgerechnet Fabian. Okay, ich war mächtig froh, dass mich überhaupt jemand gefunden hatte, noch dazu jemand mit einem verlockend warm aussehenden Auto, aber mußte das nun unbedingt gerade Fabian sein?

Aber mal von Anfang an. Vor ein paar Stunden war mein Leben noch in Ordnung, und ich war auf dem Weg zu meiner Freundin Melanie. Ich war einen Tag früher als geplant von einer Ausbildungsfahrt des DRK, wo ich seit Jahren in der Jugendgruppe mitarbeitete, heimgekommen, und wollte Melanie mit meinem Besuch überraschen. Wir hatten in letzter Zeit öfters mal Streß gehabt, und ich hoffte, mit einem Blumenstrauß und einem kleinen Geschenk die Dinge etwas verbessern zu können. Die Überraschung gelang – allerdings war es keine schöne Überraschung. Sagen wir mal so: die Freundin mit dem bis dahin besten Freund im Bett vorzufinden, gehörte nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Als Ergebnis fehlte mir jetzt eine Freundin, und meinem bis dahin besten Freund fehlten zwei Zähne.

Nachdem ich dafür gesorgt hatte, dass unser örtlicher Zahnklempner Arbeit bekam, rannte ich nach Hause. Ich war wie im Tran, und wußte gar nicht so recht, was ich eigentlich tat. Als mich zuhause dann auch noch meine Schwester blöd anmachte von wegen »Sturm im Liebesland« oder so war mir klar, dass ich weg mußte. Tante Resa in Rabach lag mir eh schon lange in den Ohren, ich solle sie doch mal besuchen (und bei der Gelegenheit doch ihre Duschkabine reparieren), also beschloß ich, mich dorthin auf den Weg zu machen. Ich packte schnell ein paar Sachen zusammen, schnappte mir Arko, unseren (genaugenommen meinen) Golden Retriever, und machte mich auf den Weg. Blöderweise war mein Auto in der Werkstatt, aber da stand ja noch der alte Fiesta meiner Mutter in der Garage. Den fuhr eh kaum noch jemand.

Dummerweise befand sich das Auto in einem entsprechenden Zustand, was mir erst auffiel, als ich die geräumten Straßen des Ortes hinter mir gelassen hatte. Ich konnte den Wagen kaum in der Spur halten, aber zum Glück war kaum Verkehr, sodass ich fast immer die ganze Straßenbreite zu meiner Verfügung hatte. Wäre ich bei klarem Verstand gewesen, wäre ich wohl trotzdem umgekehrt, aber so kam was kommen mußte.

Ich kämpfte mich gerade die K87 entlang, als plötzlich die Räder den letzten Halt verloren und ich samt Auto steuerungslos in den Straßengraben rutschte. Zum Glück war ich eh sehr langsam unterwegs, sodass alles fast wie in Zeitlupe ablief und sich weder Arko noch ich verletzten. Auch das Auto schien keine größeren Schäden erlitten zu haben, allerdings war mir nach wenigen glücklosen Versuchen klar, dass ich es auf keinen Fall alleine wieder flottbekommen würde.

Ich saß also fest. Nachdem ich einige Minuten gewartet und gehofft hatte, dass irgendein anderes Auto auftauchen und Hilfe bringen würde, sah ich ein, dass ich mir wohl würde selbst helfen müssen. Nun ja, ich hatte ja mein Handy dabei…

…oder etwa nicht? Mir fiel es wie Schuppen aus den Haaren. Das Handy war in meinem Rucksack. Mein Rucksack war dort, wo ich ihn das letzte Mal abgestellt hatte: im Flur von Melanies Wohnung. Der Tag wurde wirklich immer besser!

Nach weiteren fünf Minuten ohne dass irgendeine Menschenseele auftauchte wurde mir klar, dass ich mich wohl besser auf den Weg zurück in die Zivilisation machen sollte. Ich schaute mich um und erkannte die Gegend. Oder glaubte zumindest, die Gegend zu erkennen. Von hier aus wären es rund 10 Kilometer die Straße entlang zurück zur Hauptstraße – über diesen Waldweg jedoch käme ich zur Steintalbaude, nur drei oder vier Kilometer, immer schön bergab, und von dort konnte ich telefonieren. Ist ja wohl klar, für welchen Weg ich mich entschied, oder?

Also stapften Arko und ich durch den verschneiten Winterwald. Dem Hund schien das alles einen Riesenspaß zu machen, jedenfalls raste er begeistert in großen Runden um mich herum.

Anfangs kam ich sogar ganz gut voran, unter dem Neuschnee befand sich fester Boden, sodass ich nicht sonderlich tief einsank. Die klare Luft sorgte außerdem dafür, dass langsam aber sicher auch mein Verstand aufklarte, was mir aber die Verarbeitung der Sache mit Melanie und René nicht wirklich einfacher machte. Wie gesagt, zwischen Melanie und mir hatte es Probleme gegeben, aber ich dachte eigentlich, dass es kleine Probleme wären, die wir gemeinsam hätten lösen können. Offenbar war Melanie da anderer Meinung gewesen…

Wann ich zum ersten Mal merkte, dass mit meinem Weg irgendwas nicht in Ordnung war, kann ich nicht mehr sagen. Ich war bestimmt schon eine Dreiviertelstunde unterwegs, als meine Zweifel immer größer wurden. Irgendwie hatte ich den Weg anders in Erinnerung, er ging vor allem nicht ständig bergab wie es eigentlich hätte sein müssen. Aber vielleicht ja hinter der nächsten Ecke…

Pustekuchen. Nach der nächsten Ecke kam nur eine weitere Ecke, und mir wurde immer deutlicher, dass dies nicht der Weg zur Steintalbaude war. Was nun? Sollte ich zurück zum Auto marschieren und hoffen, dass dort doch noch jemand langkommen würde? Während ich überlegte und nur noch langsam weiterlief, rutschte ich plötzlich aus, und im nächsten Moment lag ich auf dem Waldboden.

Zum Glück war es kein harter Sturz, ich konnte mich einigermaßen abfangen, und der weiche Schnee half auch. Trotzdem mußte ich beim Aufstehen feststellen, dass meine rechte Hüfte etwas abbekommen hatte, und ich nur mit Mühe laufen konnte. Da kam der Holzstapel am Wegrand gerade richtig, und ich setzte mich hin, um erstmal meine Gedanken zu sammeln und zu überlegen, wie es jetzt weitergehen sollte.

Arko hatte bemerkt, dass etwas mit mir nicht in Ordnung war, und setzte sich vor mir in den Schnee.

»Na, Großer, da hab ich mich ja schön in die Scheiße geritten.«

»Wuff!«

Das sollte wohl heißen »Allerdings, du Blödmann!«. Ich streichelte ihm sanft über das seidige Fell auf seinem Kopf. Plötzlich zuckte dieser Kopf hoch, und Arko stellte die Ohren an.

»Hörst du was, Arko?«

»Wuffwuff!«

Übersetzung: »Na klar, du taube Nuß!«

Als ob ich etwas dafür konnte, dass Hunde soviel besser hören als Menschen. Nach einer Weile hörte ich es aber auch: Motorengeräusch! Irgendein Fahrzeug kam den Weg entlang, langsam aber stetig kam es näher. Es war ein schwerer Motor, naja, ein Kleinwagen würde den Weg auch nicht bewältigen.

»Lauf, Arko, schau nach und hol Hilfe!«

Der Hund hatte mich anscheinend verstanden, denn er raste fort, in Richtung der Lärmquelle. Einige Minuten später tauchte er wieder an der Wegbiegung auf, gefolgt von einem großen, roten Geländewagen, der sich langsam den Weg entlangtastete. Gerettet. Gott sei Dank!

Als Arko mich erblickte, stürzte er zu mir und sprang mich an, und kurz darauf spürte ich seine Zunge in meinem Gesicht. Der war wohl auch froh darüber, dass wir nicht mehr alleine in der Wildnis waren.

In der Zwischenzeit kam der Geländewagen immer näher, bis er in drei oder vier Metern Abstand von meinem Holzstapel anhielt. Die Fahrertür ging auf, der Fahrer sprang aus dem Wagen und kam auf mich zu. Ein großer, schlanker, junger Mann mit einer Fellmütze mit Ohrenklappen näherte sich mir bis auf einen Meter, um dann völlig verdutzt und verdattert stehenzubleiben.

»Du!«

Und auch ich hatte ihn mittlerweile erkannt.

»Du?!?«

Fabian

Reiko. Reiko Heilmann. Eishockeystar unseres Städtchens, ständig von Weibern umflattert, mit ziemlicher Sicherheit dumm wie Bohnenstroh (ich sage nur: Sommerreifen) und ganz allgemein jemand, auf dessen Rettung ich durchaus hätte verzichten können.

Während ich ihn und er mich anstarrte, sprang sein Hund fröhlich um uns herum, und ich konnte nicht widerstehen, ich mußte ihn einfach streicheln. Ich ging in die Knie und fing an, ihn durchzuknuddeln. Der konnte ja schließlich nichts für sein dämliches Herrchen.

»Na du schlaues Kerlchen, hast mich aber schön hergelockt.«

»Ja, Arko ist ein ganz Kluger.«

Ich schaute nach oben in Reikos Gesicht, wo die Überraschung einem leichten Grinsen Platz gemacht hatte.

»Muß er ja auch sein, er muß ja für dich mitdenken.«

Das Grinsen verwandelte sich wieder in eine starre Maske.

»Wieso fährst du mit Sommerreifen durch den Schnee, und wieso latscht du dann völlig orientierungslos in der Wildnis herum?«

»Das geht dich nichts an!«

»Ja, klar. Aber dich aus der Scheiße zu holen, das geht mich was an, oder?«

»Ich hab nicht darum gebeten, von dir gerettet zu werden!«

»Na prima, dann kann ich ja wieder verschwinden!«

Wir standen uns dicht gegenüber und starrten uns wütend gegenseitig in die Augen. Dann ertönte ein tiefes, drohendes Knurren. Arko schien von unserer Streiterei nicht begeistert zu sein.

Ganz langsam enstpannten wir uns wieder, und wir würden uns diesmal wohl (noch?) nicht an die Gurgel springen.

»Kannst du mich irgendwohin bringen, wo ich telefonieren und darauf warten kann, dass mich jemand abholt?«

Ich seufzte. Nunja, wo ich schonmal hier war…

»Steigt erstmal ins Auto.«

»Soll Arko hinten rein?«

»Nein, den mußt du zu dir nehmen, der Kofferraum ist voll.«

»Okay.«

Als Reiko nun zur Beifahrertür ging, sah ich zum ersten Mal, dass er humpelte.

»Hast du dich beim Unfall verletzt?«

»Nein, ich bin vorhin ausgerutscht.«

»Schlimm?«

»Nein. Wieso die plötzliche Sorge um mich?«

»Ich will bloß keine halbe Leiche im Auto haben, die mir unterwegs dann komplett abkrepelt.«

»Keine Bange, so leicht wirst du mich nicht los.«

Mist. Ich stieg auf der Fahrerseite ein. Der Motor lief noch, ich ließ die Fenster hochsurren und drehte die Heizung auf volle Kraft. Reiko saß neben mir, der Hund vor ihm im Fußraum. Ich griff zum Funkgerät.

»Wolf Eins für Wolf Eins-Siebzehn, kommen!«

»Wolf Eins hört.«

»Ich hab den Fahrer gefunden.«

»Irgendwelche Verletzungen?«

»Nur eine leichte Prellung von einem Ausrutscher und ein angeknackstes Ego.«

»Na dann ist ja gut. Ich habe mittlerweile die Eltern erreicht, die sind ziemlich in Sorge.«

»Wie gesagt, alles okay. Fahrer und – viel wichtiger – Hund sind wohlauf. Ich bring die beiden jetzt runter in die Stadt, das kann aber ein Weilchen dauern.«

»Faby, da gibt es ein Problem. Die K87 ist in beiden Richtungen dicht. Schneeverwehungen und umgeknickte Bäume, da ist vorläufig auch nichts dran zu ändern.«

Ohoh, das hörte sich gar nicht gut an.

»Und was bedeutet das jetzt für mich?«

»Für euch bedeutet das jetzt, dass ihr am besten zur Hütte fahrt. Und zwar möglichst schnell, nicht dass der Weg dorthin auch noch blockiert ist. Dort könnt ihr gemütlich im Warmen abwarten bis sich die Lage wieder entspannt hat.«

Hilfe! Nicht das auch noch. Ich schaute rüber zu Reiko, welcher mich ebenfalls gequält anblickte.

»Meinst du nicht, dass wir mit dem Geländewagen in den Ort durchkommen?«

»Nein! Die Gefahr, dass ihr liegenbleibt, ist viel zu groß, und dann müßte ich noch mehr Leute in das Schneechaos rausschicken, um euch zu retten. Also los jetzt, sputet euch! Meldet euch, wenn ihr an der Hütte angekommen seid. Wolf Eins, Ende!«

Reiko

Ausgerechnet die Schul-Schwulette mußte mich finden! Fabian Dingsbums hatte vor zwei Jahren an unserem Gumminasium für den Skandal der neueren Schulgeschichte gesorgt, als er auf das hingeworfene »Bissu schwul, Alter?« eines Achtklässlers mit »Ja, bin ich. Noch ne Frage?« geantwortet hatte.

Okay, wie er das so furztrocken rausgeknallt und damit 50 Leute in der näheren Umgebung abrupt zum Schweigen gebracht hatte, dafür mußte ich ihm irgendwie Respekt zollen. Hätte ich ihm nicht zugetraut. Ich hatte ja eigentlich auch nichts gegen Schwule, aber was danach von ihm kam, fand ich trotzdem doof. Als ihn jemand fragte, was ihn zu diesem völlig überraschenden Coming Out gebracht hatte, antwortete er sowas in der Art wie »Jetzt kann ich endlich ganz offiziell den geilen Typen hinterhergucken.« Und genau das tat er von da an auch ausführlich. Es gab wohl keinen einigermaßen gutaussehenden Jungen über 14 in der Schule, den er nicht angeflirtet hätte.

Dies und sein Status als Schulgenie (er hatte sogar eine Klasse übersprungen und war daher ein Jahr früher mit dem Abi fertig gewesen als ich, obwohl wir gleich alt waren) trugen dazu bei, dass wir uns immer mehr entfremdeten. Im Kindergarten waren wir die besten Freunde gewesen, in der Grundschule bis zu seinem Klassenwechsel auch noch recht gute Freunde, aber ab dann ging es bergab. Ich konnte mit seiner »hochintellektuellen« Welt nicht viel anfangen – und er nichts mit meiner Eishockeywelt. Nach einer Weile hielt ich ihn nur noch für einen Streber-Bücherwurm und ließ ihn das auch spüren. Im Gegenzug machte er es sehr deutlich, dass er mich für eine gehirnamputierte Sportskanone hielt. Von da an gingen wir uns tunlichst nur noch aus dem Wege. Und nun mußte ausgerechnet er mich finden…

Fabian machte mir auch jetzt wieder ganz schnell klar, dass ich in seinen Augen ein absoluter Blödmann war. Okay, einfach so in den Wald hineinzulaufen, noch dazu in den falschen Weg, war sicherlich keine Glanzleistung – aber einfach an der menschenleeren Straße zu warten wäre wohl auch nicht ideal gewesen.

Und nun saß ich also neben ihm im Auto, Arko zu meinen Füßen, darauf hoffend, dass die Heizung bald für eine angenehme Temperatur sorgen würde. Mein Retter griff zum Wählhebel der Automatik, und der Wagen rollte los. Komischerweise weiter in die Richtung, in die ich marschiert war, und die uns nur noch weiter weg von der Straße führen würde.

»Wo willst du denn hin?«

»Einen Platz zum Wenden suchen? Oder soll ich die ganze Strecke rückwärts fahren?«

Womit ich ihm wohl meine Doofheit mal wieder bewiesen hätte. Nach etwa zweihundert Metern erreichten wir eine Weggabelung, die Fabian jetzt nutzte, um das Auto zu wenden. Da erinnerte ich mich an etwas.

»Sag mal, führt dieser Weg hier nicht auch zu eurer Hütte?«

Ich war zwar nie dort gewesen, wußte aber in etwa, wo sie sich befand.

»Ja.«

»Warum fahren wir dann nicht hier lang?«

»Der Weg ist zu steil, jedenfalls bei den Wetterbedingungen. Wir fahren zurück zur Straße und nehmen dann die richtige Zufahrt.«

»Okay. Dann kann ich ja noch meine Tasche aus dem Auto rausnehmen, die wollte ich vorhin nicht mitschleppen.«

»Wow. Eine vernünftige Idee. Du machst dich…«

»Arschloch!«

»Angenehm, Röcker.«

Ich wollte es nicht, aber ich mußte ein wenig grinsen. Schlagfertig war Fabian schon immer gewesen, das war etwas, was ich schon als kleiner Junge an ihm bewundert hatte.

Wir fuhren schweigend weiter durch die weiße Pracht, und eine Viertelstunde später hatten wir den unkonventionellen Parkplatz meines armen kleinen Autos erreicht. Fabian hielt an, und ich machte mich daran auszusteigen.

»Autsch…«

»Was ist?«

»Nichts weiter, nur meine Hüfte tut etwas weh.«

»Bleib sitzen und gib mir die Schlüssel, ich hole deine Tasche.«

Ich schaute Fabian verwundert an. Er wollte mir helfen? Ganz freiwillig, ohne dass ich ihn darum gebeten hätte? Meine Überraschung muß wohl deutlich erkennbar gewesen sein, denn er zuckte mit den Schultern und hielt mir die rechte Hand hin, die Autoschlüssel fordernd. Ich kramte in meiner Jackentasche und gab sie ihm.

»Hier. Die große Sporttasche aus dem Kofferraum, und den Beutel daneben. Da ist Futter und so für Arko drin.«

Fabian

Hm. Der Vierbeiner schien ihm sehr am Herzen zu liegen, was mich ein wenig in Schwierigkeiten brachte. Einerseits war ich der Überzeugung, dass jemand, der Tiere liebte, kein wirklich schlechter Mensch sein konnte – andererseits: Reiko war halt Reiko.

Ich stieg aus und ging zu dem unglücklichen Sommer-Ford. Je schneller ich das über die Bühne brachte, umso schneller wären wir an der Hütte – und ein wenig machte mir die Vorstellung, irgendwo eingeschneit im Auto festzusitzen, doch Angst.

Das Schloß der Kofferhaube war eingefroren, aber ich hatte als erfahrener, winterharter Bergbewohner natürlich ein Fläschchen Enteiser-Spray in der Jackentasche. Kurz darauf packte ich die geforderte Sporttasche und den Beutel mit Hundeutensilien in den Mazda-Kofferraum.

»Brauchst du sonst noch was aus dem Auto?«

»Nein, danke, das ist alles. Ich reise mit kleinem Gepäck.«

Auch gut. Ich verschloß den Fiesta wieder, zog meine dicke Jacke aus, die ich im nunmehr gut geheizten Auto nicht mehr brauchte, stieg ein, und los ging die Fahrt, die uns nun hoffentlich endlich zur Hütte bringen würde. Beim Anfahren drehten die Räder ein wenig durch, dann aber griffen die elektronischen Helferlein ein, und es ging einigermaßen zügig voran.

Es schneite immer heftiger, von der festgefahrenen Schneedecke auf der Straße war nicht mehr viel übrig. Nach etwa einem Kilometer entdeckte ich die Hüttenzufahrt und lenkte den Wagen vorsichtig in den tief verschneiten Weg hinein. Reiko schaute etwas zweifelnd durch die Frontscheibe.

»Kommen wir da durch?«

»Ja, kein Problem. Hier ist kein normaler Waldboden drunter sondern ein Schotterweg.«

Da wir die Hütte auch vermieteten, war eine vernünftige Zufahrt zwingend erforderlich gewesen. Nicht dass uns irgendein Großstadtfuzzi mit tiefergelegtem Proll-Golf wegen Schäden an seiner Karre verklagen könnte.

Der Weg führte etwa zwei Kilometer durch den Wald, immer leicht bergauf, und nach einer größeren Anzahl an Kurven öffnete sich vor uns die Bäume, und auf einer Lichtung erblickten wir die Hütte.

»Kneif mich mal!«

»Wieso? Damit dein Hund mich beißt oder wie?«

»Das ist eure Hütte?«

»Ja?«

Mittlerweile waren wir angekommen, und ich griff zum Funkgerät.

»Wolf Eins für Wolf Eins-Siebzehn – kommen!«

»Wolf Eins hört.«

»Wir sind wohlbehalten bei der Hütte angekommen, Paps.«

»Danke für die Info, ich werde das an deine Mutter und Reikos Eltern weiterleiten, damit alle beruhigt sind.«

»Sag Mutti einen schönen Gruß von mir.«

»Mache ich. Die wird sehr traurig sein, dass du Heiligabend wohl nicht da sein wirst, ich glaube kaum, dass die Straßen bis dahin wieder alle frei sind.«

Und ich bedauerte das erst, die schöööööööne Familienfeier! Allerdings…

»Paps, das sind doch noch vier Tage! Meinst du, dass das Wetter so schlimm wird?«

»Wir haben gerade eine Unwetterwarnung vom Wetterdienst reinbekommen, in den nächsten zwei bis drei Tagen ist mit Neuschnee bis zu einem Meter zu rechnen. Dazu kommt starker Wind mit den entsprechenden Verwehungen. Rechne also lieber nicht mit einer baldigen Rückkehr.«

Das hörte sich nicht so gut an, heute vormittag hatte der Wetterbericht noch ganz anders geklungen. Aber so war das halt in den Bergen, das Wetter änderte sich manchmal zwischen dem Zuschnüren des linken und des rechten Schuhes.

»Okay, Paps, wir werden es überleben.«

Hoffentlich. Mit Reiko auf der Hütte. Tagelang.

»Na das denk ich doch auch, ihr seid doch beide alt genug. So, ich muß mich um andere Dinge kümmern. Wenn irgendwas ist, ruf an oder melde dich im Notfall über Funk. Deine Mutter wird heute abend garantiert anrufen, also schalte das Handy ein!«

»Mach ich.«

»Gut. Wolf Eins – Ende!«

Ich legte den Hörer vom Funkgerät wieder auf, und wir stiegen aus dem Wagen aus. Reiko glotzte immer noch mit großen Augen in der Gegend herum.

»Hütte nennt ihr das?«

»Wie sonst?«

»Mensch, das ist ein ausgewachsenen Haus!«

Nun ja, so konnte man es wohl auch sehen. Ich ging zur Tür und schloß auf.

»Komm rein, ich werf erstmal schnell den Generator und die Heizung an.«

In der Hütte war es dunkel, was daran lag, dass die Fensterläden geschlossen waren und nur durch die geöffnete Tür Licht hinein fiel. Ich schnappte mir eine griffbereit liegende Taschenlampe und marschierte zum Technikraum. Hinter einer schweren, dick gepolsterten Tür verbarg sich der Dieselgenerator, den ich nun mit einem Knopfdruck startete. Erfreulicherweise sprang er sofort an. Ich verließ den Technikraum, und nach dem Schließen der Dämmtür war kaum noch etwas vom Generator zu hören.

»Es werde Licht!«

Mit diesen Worten betätigte ich den Lichtschalter des Hauptzimmers. Dieses war eine Kombination aus Wohnraum und Küche, wobei unter »Küche« ein flaschenbetriebener Gasherd mit drei Brennern und Backröhre, eine Spüle, eine Kaffeemaschine und eine Mikrowelle zu verstehen war. Eine kleine Theke mit drei Barhockern trennte den Küchen- vom Wohnbereich, in welchem vor einem Kamin zwei Sessel, ein Zwei- und ein Dreisitzer herumstanden. Zu Füßen der Sitzgelegenheiten fand sich das sprichwörtliche Bärenfell – allerdings ein künstliches solches. Ansonsten war der Raum – wie auch der gesamte Rest der Hütte – mit Holzbohlen ausgelegt.

»Wow, ein Palast.«

»Nun übertreib mal nicht…«

»Gibt es noch mehr Räume?«

»Ja, oder glaubst du, wir schlafen hier auf dem Bärenfell?«

»Klingt romantisch…«

Da mußte ich Reiko zustimmen. Sollte ich bei Gelegenheit vielleicht mal mit einem passenden Schnuckel ausprobieren.

»Es gibt noch zwei Schlafräume, einen großen mit einem Doppel- und zwei Einzelbetten, und einen kleinen mit einem Doppelbett.«

»Wie sieht es mit einem Bad aus?«

»Ist auch vorhanden, inklusive Dusche.«

»Puh, gut das zu hören. Ich hab da draußen das Klohäuschen gesehen und schon das Schlimmste befürchtet.«

Na das wäre ja wirklich extrem unangenehm gewesen, besonders jetzt im Winter!

»Nee, das ist schon ewig nicht mehr in Benutzung, das ist nur noch Dekoration.«

»Also doch ein Palast. Wie kommt ihr eigentlich zu der Hütte? Hier draußen darf doch offiziell gar nicht gebaut werden.«

»Das ganze Ding gehörte ursprünglich dem Bundesgrenzschutz, die hatten hier eine Basis für Grenzpatroullien. Nach der Wiedervereinigung wurde das natürlich nicht mehr gebraucht, und da konnten wir die Hütte preiswert erwerben. Den Generator haben sie auch gleich dagelassen, wir haben dann noch die Sanitärinstallation erneuert und ein wenig renoviert, und das wars dann auch schon.«

Reiko

Hier ein wenig renoviert, da ein wenig erneuert, das wars dann auch schon. Das konnte man wohl als die Untertreibung des Jahres bezeichnen. Ich mußte zugeben, dass ich von dem Haus im Wald beeindruckt war.

»Ich hab gehört, dass ihr die Hütte auch vermietet. Wieso ist dann jetzt zur besten Saisonzeit alles leer?«

»Eigentlich wäre die Hütte belegt, aber wir haben vor zwei Tagen eine Absage bekommen. Die Leute haben einen Todesfall in der Familie und mußten nach Australien fliegen. Jetzt kommt erst am 29. eine Familie, die dann bis zum 5. Januar bleibt.«

»Dann muß ich mich wohl bei den Absagern dafür bedanken, dass du jetzt überhaupt hierher unterwegs warst und mich finden konntest.«

»Retten. Nicht finden. Großer Unterschied. Ja, bedank dich bei denen.«

Blablabla… Das würde er mir wohl jetzt mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder aufs Brot schmieren.

»Hilfst du mir dabei, die Fensterläden zu öffnen?«

Naja, das war ja wohl das mindeste, was ich tun konnte.

»Klar.«

»Okay, du machst von innen die Fenster und die Verriegelung der Läden auf, ich geh außen rum und befestige die Läden.«

Cool, da brauchte ich nichtmal wieder raus in die Kälte.

»Nur hier in diesem Raum?«

»Nein, dort durch die Tür geht es zu den Schlafräumen. Fang aber hier im Wohnzimmer mit dem Fenster ganz links an.«

»Wie du willst.«

Fabian ging wieder nach draußen, Arko guckte zwischen der Tür und mir hin und her, dann entschied er sich, meinem Gastgeber zu folgen. Untreuer Geselle. Naja, der Hund war regelrecht schneegeil, kein Wunder, dass er jede Chance nutzte um rauszukommen.

Ich ging zum ersten Fenster, öffnete es, löste die Verriegelung der Holzläden und schubste diese auf.

»Autsch! Sag mal, willst du mich erschlagen oder wie?«

Ups… Fabian hatte schon vor dem Fenster gestanden und darauf gewartet, dass ich es öffnen würde. Mit meinem Schwung hatte er wohl nicht gerechnet.

»Sorry! Ich kann ja nicht ahnen, dass du direkt davor stehst. Alles okay?«

»Ja, nichts passiert, war wohl mehr der Schreck.«

Ich mußte leicht grinsen. In meinem Kopf sah ich die Schlagzeile der morgigen BLÖD-Zeitung: Tod durch Fensterladen! Exklusivbericht auf Seite 2 bis 5!

In der Zwischenzeit hatte Fabian die Fensterläden an der Hauswand festgehakt, und wir gingen zum nächsten Fenster. Dort war ich beim Aufdrücken der Fensterläden wesentlich vorsichtiger, aber auch Fabian hatte reichlich Abstand gehalten.

»Ganz so weit brauchst du nicht in den Wald zu verschwinden, oder hast du Angst vor mir?«

»Reiko, du bist unberechenbar, vor dir muß man Angst haben.«

Hmpf. Wollte der mir das jetzt ständig vorhalten?

»Da bin ich wohl nicht der einzigste, so von wegen unberechenbar.«

»Wie meinst du das?«

»Wie war das doch gleich mit deiner völlig überraschenden Antwort auf eine gewisse Frage eines gewissen Achtklässlers? Das war ja wohl auch nicht unbedingt berechenbar!«

Das schien Fabian etwas nachdenklich zu stimmen, jedenfalls hängte er schweigend die Fensterläden ein, und wir wanderten weiter zum nächsten Fenster. Auch dieses arbeiteten wir schweigend ab, und ich machte mich auf den Weg ins erste Schlafzimmer, wo mein erster Griff zum Lichtschalter ging. Hier fand sich ein relativ schmales Doppelbett in der einen Ecke, und in einem anderen Teil des Raumes standen zwei Einzelbetten über Eck. Dazu gab es einen großen Kleiderschrank, einen kleinen Tisch und zwei Stühle – das wars an Einrichtung. Nachdem ich mich umgeschaut hatte, ging ich zum ersten der beiden Fenster, öffnete es und hakte die Fensterläden aus. Draußen wartete schon ein ungeduldiger Fabian auf mich.

»Was dauert denn da so lange? Mach hin, ich will auch wieder rein.«

»Immer mit der Ruhe, ein alter Mann ist kein D-Zug!«

So ging es dann zügig weiter, und wenige Minuten später hatten wir alle Fenster in den Zustand »bewohnt« versetzt. Ich hatte ein wenig Mühe, Arko davon zu überzeugen ins Haus zu kommen, aber irgendwann hatte auch er genug herumgetollt und kam hineingetrottet. Was mich vor ein kleines Problem stellte.

»Fabian, hast du zufällig ein großes Handtuch, um den Hund trockenzurubbeln? Ich hab nichts mit, ich hatte ja nicht geplant, mit ihm durch den Schnee zu wandern.«

»Moment, ich hol eins.«

Mein Gastgeber verschwand, nur um wenige Augenblicke später mit einem riesigen Badetuch aufzutauchen.

»Reicht das?«

»Ja, danke, da könnte man ja glatt zwei von Arkos Sorte einwickeln.«

Ich machte mich daran, den Hund trockenzulegen, in dessen Fell sich einige Schneeklumpen verfangen hatten. Das gehörte nicht gerade zu Arkos Lieblingsbeschäftigungen, aber trotzdem ließ er es gehorsam über sich ergehen.

Fabian hatte sich inzwischen von Jacke und Stiefeln befreit und machte sich daran, im offenen Kamin ein Feuer zu entzünden.

»Sag mal, Reiko, kann ich ein Feuer machen, oder gibt das Probleme mit deinem Hund?«

»Nee, der weiß ganz genau, dass Feuer gefährlich ist, der geht da nicht ran.«

»Dann ist ja gut.«

»Hehe, ein Feuer im Kamin? Steht dir der Sinn nach einem romantischen Abend?«

»Nee, aber das spart Strom. Die Elektroheizung frißt einem sonst die Haare vom Kopf.«

»Na dann ist ja gut. Ich hätte dich sonst eh enttäuschen müssen.«

»Enttäuschen? Womit?«

»In Bezug auf einen romantischen Abend – ich steh nicht zur Verfügung.«

»Als ob ich Interesse daran hätte, mit dir einen romantischen Abend zu verbringen…«

»Haha, gibs nur zu.«

Fabian

Also eingebildet schien der Typ ja überhaupt nicht zu sein! Als ob ich die erste beste Gelegenheit nutzen würde, um mich an ihn ranzumachen! An ihn! Also wirklich…

Wobei… So übel sah Reiko gar nicht aus. Durchtrainierter Körper, nettes Gesicht, wuschelig-braune Haare – ich stand zwar eigentlich eher auf blond, aber ich war durchaus in der Lage, Ausnahmen zu machen. Aber halt, es war Reiko, und er hatte es ziemlich deutlich gemacht, dass er absolut nicht interessiert war. Und zugeben würde ich das ihm gegenüber sowieso niemals!

»So, Arko ist trocken.«

Reiko entließ seinen Hund aus dem Badetuch, und dieser nutzte die gewonnene Freiheit, um erstmal ausgiebig in der ganzen Hütte herumzuschnüffeln. Mein zweibeiniger Gast zog jetzt auch Jacke und Schuhe aus und kam dann zu mir zum Kamin, wo mittlerweile kleine Flämmchen auf dem Holz flackerten.

»Ich merke gerade, dass eure Hütte doch kein Palast ist. Es fehlt was ganz entscheidendes.«

Na sowas, kaum angekommen fing er auch noch an, rumzukritisieren!

»So? Was fehlt denn noch?«

»Fußbodenheizung.«

Reiko zeigte auf seine besockten Füße, mit denen er auf dem garantiert mächtig kalten Holzboden stand. Ich hatte mir gleich warme Hausschuhe angezogen und war somit geschützt.

»Dort im Schränkchen sind noch Hausschuhe, bedien dich. Wird noch eine ganze Weile dauern, bis es hier richtig warm ist.«

»Danke.«

Das Feuer im Kamin brannte mittlerweile recht ordentlich, das würde wohl nicht wieder so einfach ausgehen. Zeit, sich auch noch von innen aufzuwärmen. Mal schaun, was ich so Schönes mitgebracht hatte.

»Scheiße!«

Reiko schaute verwundert in meine Richtung.

»Was ist los?«

»Mein ganzes Gepäck liegt noch im Auto, jetzt kann ich mich nochmal anziehen und es reinholen.«

Jetzt brach Reiko in Gelächter aus.

»Hahaha! Und mir vorwerfen, dass ich nicht nachdenke, bevor ich was mache.«

»Blablabla…«

Ich griff zu meinen Stiefeln, zog sie an und schlüpfte in die Jacke. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Reiko das gleiche tat.

»Du mußt nicht nochmal mit raus, sind ja meine Sachen, die ich vergessen habe.«

»Für wie undankbar hältst du mich eigentlich? Du hast mir geholfen, ich helfe dir.«

Hm. Klang vernünftig. Und anders, als ich mir Reiko vorgestellt hatte.

»Okay, danke.«

Mit etwas Mühe gelang es uns, Arko daran zu hindern, gleich wieder raus in den Schnee zu stürzen. Ich öffnete den Kofferraum, und Reiko schaute staunend hinein.

»Sag mal, was schleppst du denn alles mit! Willst du eine ganze Armee verpflegen oder was?«

»Sei froh, dass ich soviel mitschleppe. Ansonsten müßtest du jetzt verhungern.«

»Ich müßte verhunger? Wir müßten verhungern!«

»Nee, nicht wir, nur du. Für mich hätte ich ja in jedem Fall genug mitgebracht.«

»Hach wie selbstlos du doch bist.«

»Ist eine meiner großen Stärken!«

»Wäre ich nie drauf gekommen.«

Bevor jetzt hier ein falscher Eindruck aufkommt: das war schon eher eine freundschaftliche Frotzelei, kein richtiger Streit. Keine Ahnung wieso, aber irgendwie fand ich die Vorstellung, die nächsten paar Tage mit Reiko auf der Hütte festzusitzen, längst nicht mehr so furchtbar wie zu Anfang.

Wir mußten zweimal gehen, um alles in die Hütte zu bekommen, naja, ich hatte auch eine Menge Konserven und Getränke dabei, die eingelagert werden sollten. Als wir endlich alles verstaut und uns von den Winterklamotten befreit hatten, war es in der Hütte unterdessen schon angenehm warm geworden. Das Feuer im Kamin prasselte, und ich drehte die Elektroheizung ab.

»Ich brauch jetzt was Warmes zu trinken und irgendwas zu essen. Wie siehts mit dir aus? Tee, Kaffee, Kakao, Glühwein?«

»Was trinkst du?«

»Ich hab hier so eine Weihnachts-Tee-Mischung.«

»Für mich auch, danke. Für Glühwein ist es noch etwas zeitig.«

»Angst, dass ich dich besoffen mache und dann schlimme Dinge mit dir anstelle?«

»Hahaha… Du und welche Armee?«

»Pah… Halt dich nicht für stärker als du bist.«

»Tu ich nicht. Und ich halte vor allem dich nicht für stärker als du bist.«

Reiko hatte sich in der Zwischenzeit in einen Sessel fallen lassen und grinste mich jetzt frech an. Arko lag zu seinen Füßen und döste vor sich hin. Ich beschloß, das Thema erstmal nicht weiter zu vertiefen, und begab mich zur Küchenzeile.

Dort angekommen lud ich den Wasserkocher und startete ihn. Während dieser nun seine Arbeit verrichtete, bereitete ich die Teekanne vor, holte Tassen und Teller aus dem Schrank, stellte Zucker und Zitrone bereit usw. usf.

»Stück Stolle gefällig?«

»Gerne. Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Nee, bleib lieber sitzen, ich weiß wo alles steht und komme gut alleine klar.«

»War nur ein Angebot.«

»Auf das ich dankend beim Abwasch zurückkommen werde.«

»Ist gebongt.«

Ich drehte mich wieder zur Arbeitsplatte um und setzte mit dem inzwischen kochenden Wasser den Tee an. Plötzlich spürte ich, wie jemand neben mir stand.

»Kannst du hier mal etwas Wasser für Arko reinlassen? Möglichst nicht eiskalt.«

Reiko reichte mir einen Wassernapf aus Aluminium, den ich nun mit Wasser aus der Leitung und ein wenig aus dem Kocher füllte.

»Hier. Bekommt er auch irgendwas zu fressen?«

»Nein, jetzt nicht, der bekommt nachher sein Futter. So gegen 19 Uhr ist seine Zeit.«

Ich schaute auf die Uhr: es war mittlerweile halb fünf durch, was auch durch die hereingebrochene Dunkelheit verdeutlicht wurde.

»Auch kein Stück Stolle?«

»Bloß nicht, das würde ihm viel zu schwer im Magen liegen! Also geh bitte nicht drauf ein, wenn er anfängt zu betteln.«

»Ach, er bettelt?«

»Ja, das konnten wir ihm bisher nicht abgewöhnen. Zumindest bei Fremden – bei uns weiß er ganz genau, dass er nichts vom Tisch bekommt.«

Na ob ich bettelnden, niedlichen Hundeaugen würde widerstehen können? Das mußte sich erst zeigen. Arko schlapperte mittlerweile an seinem Wassernapf, und Reiko trug die Teller mit der Stolle zur Sitzecke.

Reiko

Endlich mal gemütlich sitzen, einfach wunderbar. Leicht in Gedanken lehnte ich mich im Sessel zurück und bemerkte gar nicht so richtig, wie Fabian noch den Tee brachte, das elektrische Licht fast völlig runterdrehte und sich dann mir gegenüber in den zweiten Sessel setzte. Ich mußte wohl eine Weile so geistesabwesend herumgessen haben, jedenfalls wurde ich durch meinen Gastgeber aufgeschreckt.

»Hallo? Jemand zuhause im Oberstübchen?«

»Häh, was? Ach so. Sorry, war wohl kurz irgendwo anders mit meinen Gedanken.«

»Greif zu und trink, bevor der Tee zu Eistee wird.«

Gute Idee, ich hatte Durst und konnte außerdem etwas Warmes für die Innereien gut gebrauchen. Noch immer steckte mir die lange Schneewanderung etwas in den Knochen, und ich wurde nur langsam wieder richtig warm. Der Tee schmeckte gut, noch zwei Spritzer Zitrone dran und er war perfekt. Und die Stolle … wie von einer anderen Welt.

»HmDieMhStolHmStolleMhisthmmmmmlecker!«

»Das will ich doch hoffen, die hab ich selbst gebacken.«

Wie bitte? Ich kaute schnell runter.

»Du hast die Stolle gebacken?«

»Jep. Also sei dir der Ehre bewußt, von ihr essen zu dürfen. Normalerweise bekommen davon nur die Familie und ein paar enge Freunde was ab.«

Das erinnerte mich an etwas.

»Das waren wir auch mal…«

»Was?«

»Enge Freunde.«

Das hatte Fabian wohl mehr getroffen als ich beabsichtigt hatte, jedenfalls sah er mich gequält an.

»Ja… Das waren wir auch mal…«

Um ehrlich zu sein: ich vermißte diese Zeit. Vor der großen Entfremdung hatten wir unheimlich viel gemeinsam unternommen und jede Menge Spaß zusammen gehabt. Wir waren fast schon unzertrennlich gewesen. Vielleicht…

»Fabian?«

»Ja?«

»Wir müssen wohl die nächsten Tage hier miteinander auskommen. Was hältst du davon, wenn wir zumindest für diese Zeit mal versuchen, wieder Freunde zu sein. Würde die Sache hier gewaltig erleichtern. Wenn es nicht klappt, vergessen wir es hinterher einfach und gehen wieder unserer getrennten Wege. Falls es klappt – umso besser.«

Mein Gastgeber schaute mich nachdenklich an, dann nippte er an seiner Teetasse.

»War nur so eine Idee, wenn du nicht willst…«

»Doch, doch, hast schon recht. Dein Vorschlag hat mich nur überrascht. Ich dachte, du kannst mich nicht ausstehen.«

Ich seufzte.

»Fabian, ich kann manchmal nicht ausstehen, wie du dich aufführst. Ganz allgemein hab ich aber nichts gegen dich, überhaupt nicht.«

Fabian sah leicht zweifelnd in meine Richtung. Dann schien er sich zu einer Entscheidung durchgerungen zu haben.

»Okay, versuchen wir es. Und nur fürs Protokoll: Ich hab auch nichts gegen dich. Jedenfalls meistens nicht. Ich hab nur etwas gegen einige der Idioten, mit denen du dich in den letzten Jahren umgeben hast. Ich hab ständig Angst, denen mal alleine im Dunkeln über den Weg zu laufen.«

Das konnte ich so nicht einfach unkommentiert stehenlassen. Klar, einige aus meinem Freundeskreis zählten weder zu den hellsten Köpfen noch zu den freundlichsten Menschen, aber das galt leicht abgewandelt auch für Fabians Clique.

»Naja, also einige deiner Intelligenzkumpel sind in ihrer Arroganz auch nicht besser als die schlimmsten Gehirnamputierten aus meiner Umgebung.«

Jetzt grinste mein Gastgeber mich an – war das ein gutes Zeichen?

»Stimmt. Und beim Thema Arroganz sollte ich wohl selbst auch lieber etwas in mich gehen.«

»Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung…«

»Na hoffentlich beziehst du das auch ein wenig auf dich.«

Ich verzichtete auf eine Antwort und prostete Fabian mit meiner Teetasse zu.

»Also dann, auf gute Freundschaft.«

»Dito.«

Wir tranken Tee, futterten Stolle, und ich mußte mich wieder über Fabians Backkünste wundern.

»Sag mal, hast du die Stolle wirklich selber gebacken?«

»Zum dritten Mal: ja, hab ich.«

»Cool. In dir schlummern ja anscheinend wirklich viele Talente. Da wirst du sicher irgendwann einem Mann eine wirklich gute Hausfrau sein.«

Ich grinste ihn freundlich an, um den Worten die eventuelle Schärfe zu nehmen.

»Idiot!«

»Sorry, konnte ich mir nicht verkneifen.«

»Du bekommst nichts mehr von der Stolle!«

Oh. Also das war hart. Eine so schlimme Strafe hatte ich eigentlich nicht verdient.

»Oooooccchhhh… Faby… Bitte, bitte, verzeih mir nochmal!«

»Faby?!?«

Ups…

»So hast du mich früher immer genannt…«

Das hatte ich tatsächlich. Lang, lang war es her.

»Und schon damals konnte ich dir keine Bitte abschlagen, wenn du so gebettelt hast.«

Ah! Geschafft!

»Danke, danke, danke! Kann ich irgendwas für dich tun? Abwaschen? Die Hütte wischen? Schnee schippen? Sag es und ich tu es!«

Fabian

Interessantes Angebot. Ich schaute meinen Gast herausfordernd an.

»Du würdest alles tun?«

»Ja!«

»Hast du dir das auch ganz genau überlegt?«

In diesem Moment wurde Reiko wohl klar, dass er mit solchen Versprechungen lieber vorsichtig sein sollte. Jedenfalls wurde er knallrot im Gesicht und fing an zu stammeln.

»Nein! Äh… Ich… So habe ich das nicht gemeint… Du weißt schon!«

Wie er zappelte! Aber ich wollte mal nicht so sein und ihn wieder von der Leine lassen.

»Schon klar. Ich will ja auch nicht, dass du Ärger mit deiner Freundin bekommst.«

Damit war ich wohl gewaltig ins Fettnäpfchen getreten, Reikos Gesicht verfinsterte sich, und er sackte in seinem Sessel regelrecht zusammen. Ups…

»Reiko? Was ist? Hab ich was Falsches gesagt?«

Er seufzte und schaute mich traurig an.

»Ich hab Melanie vorhin mit einem anderen Kerl im Bett erwischt…«

»Scheiße. Sorry, ich wollte da nicht drin rumrühren.«

»Schon okay, konntest du ja nicht wissen.«

»Warst du deshalb so durch den Wind, dass du mit Sommerreifen losgefahren und dann durch den Wald geirrt bist?«

»Ja, vermutlich. Ich wollte nur noch weg von zuhause. Als mir langsam klar wurde, dass die Karre nicht winterfest ist, war es schon zu spät.«

Mein Gott, Reiko fing an, mir tatsächlich leid zu tun. Ich wurde wohl weich auf meine alten Tage.

»Gerade eine Woche war ich weg, auf DRK-Lehrgang, und schon springt sie mit René in die Kiste.«

Autsch. Momentmal!

»Sag mal, ist René nicht dein bester Kumpel?«

Gequält schaute Reiko zu mir.

»Ja, toll, nicht wahr? Meine Freundin und mein bester Freund. Und sie haben nicht einmal den Anstand, mir das ins Gesicht zu sagen, sie treiben es einfach hinter meinem Rücken. Wer weiß, wie lange das schon so läuft – und wie lange es noch so weitergelaufen wäre, wenn mein Lehrgang nicht einen Tag kürzer ausgefallen wäre als geplant.«

Tja, dumm gelaufen, für alle Beteiligten.

»Und, lebt René noch?«

»Ja, leider.«

Nanu, Reiko hatte sich seinen »besten Kumpel« nicht vorgeknöpft?

»Allerdings wird er dieses Weihnachten wohl einige Probleme damit haben, Lebkuchen zu knabbern.«

Ah ja. Hätte mich aber auch irgendwie verwundert, wenn Reiko das so einfach hätte auf sich sitzen lassen.

»Hast ihn also ordentlich verprügelt.«

»Nein, nur ein einziges Mal habe ich zugelangt. Und meine rechte Hand tut mir immer noch etwas weh davon.«

Sowas kommt von Sowas.

»Und deine Freundin?«

»Die dumme Kuh hat die ganze Zeit kein Wort gesagt. Als das mit René geklärt war, bin ich rausgestürzt und nach Hause. Sogar meinen Rucksack mit dem Handy hab ich bei ihr liegenlassen.«

»Und deshalb bist du dann in den Wald gelaufen?«

»Ja, ich hatte keine Lust, untätig rumzusitzen und am Ende zu erfrieren – mir war die ganze Zeit kein anderes Auto auf der Straße begegnet.«

Okay, das erklärte zumindest, warum er als jemand, der es eigentlich hätte besser wissen müssen, sich von der Straße entfernt hatte.

»Blöderweise hab ich den falschen Weg genommen. Die sehen im Schnee alle so gleich aus.«

Ich mußte zugeben, dass das der Wahrheit entsprach. Hätte ich mich wegen unserer Hütte nicht besonders gut ausgekannt, hätte ich die einzelnen Forstwege wohl auch nicht unterscheiden können.

»Fabian?«

»Ja?«

»Danke. Wenn du nicht gekommen wärst, wer weiß, was aus mir geworden wäre.«

Eine Kleinstadtausgabe von Ötzi vermutlich.

»Kein Problem. Ich wollte mir unterwegs eh jemanden wegfangen, der hier für mich abwaschen und saubermachen kann, während ich mich amüsiere.«

Reiko kicherte, naja, wenigstens war er nicht mehr ganz so down wie eben noch beim Thema seiner treulosen Freundin.

»Ja klar, ich spiel jetzt deinen Haussklaven.«

Nette Vorstellung.

»Meine Pläne für Weihnachten haben sich eh zerschlagen. Ich wollte ein paar schöne Tage mit Melanie verbringen – Pustekuchen.«

Und damit war seine Stimmungsverbesserung wieder hinüber.

»He, mir ist klar, dass das momentan sehr weh tut. Aber sei froh, dass du es überhaupt rausbekommen hast. Und außerdem: du findest garantiert was Besseres für dich. Bei deinem Aussehen solltest du damit nun wirklich keine Probleme haben. Und dann findest du sicher eine, die zu schätzen weiß, was sie an dir hat.«

Könnte mich mal wer kneifen? Oder eventuell könnte mich ja Arko mal beißen! Ich machte hier Reiko Komplimente!

»Das sagst du so einfach. Aber ich war mit Melanie über anderthalb Jahre zusammen. Und das ist es auch, was ich will. Ich will eine feste, dauerhafte Beziehung, nicht nur ein Häschen fürs Bett. Ich bin ja nicht du.«

Moment!

»Wie soll ich das verstehen?«

Reiko schaute ernst zu mir herüber.

»Naja, ich hoffe, du wirfst mich nicht gleich wieder raus aus der Hütte, aber du hast halt nen ziemlichen Ruf in der Beziehung. Springst von einer Affäre zur nächsten.«

Aua, das tat weh. War mein Ruf wirklich so schlecht?

»Was ist, du springst mir ja gar nicht an die Kehle.«

»Siehst du mich wirklich so?«

»So sehen dich viele. Du flirtest doch mit allem, was einen Schwanz und wenigstens drei Haare drumherum hat.«

Ich starrte Reiko durchdringend an.

»Sorry, Faby, aber ich dachte, wenn wir wieder Freunde sind, dann sage ich dir auch die Wahrheit.«

Na super. Aber was sagte er gerade? Wenn wir wieder Freunde sind, sagen wir uns auch die Wahrheit? Nun, dann sollte ich es vielleicht mal damit versuchen.

»Reiko, das mag so aussehen, in Wirklichkeit ist es doch etwas anders.«

Zweifelnd blickte mein alter, neuer Freund in meine Richtung.

»Wie meinst du das?«

Okay, Karten auf den Tisch.

»Reiko, es stimmt, ich flirte gerne, aber mehr ist da nicht.«

»Was willst du damit sagen?«

Ich seufzte. Aber ich hatte angefangen, nun mußte ich das auch durchziehen.

»Ich hatte noch nie eine Beziehung mit nem Jungen, geschweige denn Sex. Naja, und mit nem Mädel eh nicht, aber das ist ja klar.«

Reiko

Das… Also… Also das meinte Fabian doch jetzt nicht ernst! Oder etwa doch? Ich musterte meinen Gegenüber scharf.

»Du willst mich verarschen, oder?«

Schweigend schüttelte er den Kopf, und mir wurde schlagartig klar, dass Fabian mich nicht angelogen hatte!

»Das gibt es ja nicht! Fabian, Mr. Sex auf Beinen, ist noch Jungfrau!«

»Ja prima, ich hoffe du amüsierst dich gut!«

Ich sollte mich wohl lieber etwas zusammenreißen, obwohl mich dieses Geständnis jetzt wirklich von den Socken gerissen hatte.

»Sorry, aber das überrascht mich jetzt wirklich.«

»Reiko, sei mal realistisch. Okay, ich flirte ziemlich viel, aber das bedeutet noch lange nicht, dass dabei auch irgendwas rauskommt. Überleg mal, wir sind hier in ner Kleinstadt. Wieviele Schwule in unserem Alter kennst du hier?«

Da brauchte ich nicht groß zu überlegen.

»Drei. Dich, Markus Zimmermann und Ralf Vollmer.«

»Tja, und Markus und Ralf sind dermaßen ineinander verknallt und absolut monogam, dass ich von denen in der Beziehung nichts zu erwarten habe.«

Stimmt, die beiden waren nun auch schon seit zwei Jahren oder so ein Paar. Die waren dermaßen ineinander verliebt, dass es schon regelrecht kitschig wirkte.

»Die zwei haben nur Augen füreinander.«

»Na siehste. Und bisher sind leider alle meine Versuche gescheitert, ne schnucklige Hete umzupolen.«

Nun ja… Umpolen vielleicht nicht, aber da waren noch diese Gerüchte…

»Aber in der Schule wurde immer gemunkelt, dass jeder zu dir gehen könnte, der mal einen geblasen bekommen wollte.«

Ohoh. Dem schmerzverzerrten Gesicht von Fabian zufolge, war ich gerade in ein riesiges Fettnäpfchen getapst.

»Ja, von diesen Gerüchten habe ich auch gehört. Aber glaub mir, das sind wirklich nur Gerüchte. So tief würde selbst ich nicht sinken, einfach irgendnem Kerl auf dem Schulklo einen zu blasen. So verzweifelt auf der Suche nach Sex bin ich nun auch wieder nicht!«

Das verkniffene Gesicht zeigte mir, dass Fabian auch hier wieder die reine Wahrheit sagte. Wie man sich doch in jemandem täuschen konnte, wenn man sich am »Ruf« desjenigen orientierte, ohne mal genauer hinzuschauen.

»Ich wünsche mir auch nen Jungen für mich ganz alleine, für eine lange Beziehung, nicht nur für den Sex. Der wäre sicher geil, aber nur wegen Sex würde ich mit keinem in die Kiste hüpfen. Da muß schon mehr sein.«

Offensichtlich waren wir uns in dieser Beziehung ähnlicher, als ich je gedacht hätte.

»Sorry, Faby, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Tut mir leid, dass ich überhaupt so über dich denken konnte.«

Oh mein Gott, er hatte tatsächlich Tränen in den Augen!

»Schon okay, Reiko. Ist ja nicht so, als hätten wir die letzten Jahre als die besten Kumpel verbracht. Auch ich hab wohl mehr das Bild gesehen, das du in der Öffentlichkeit abgibst, und nicht die Person hinter dem Bild.«

So langsam wurde er wieder hochintellektuell. Aber er hatte Recht.

»Du, Faby?«

»Ja?«

»Ich würde dich gerne wieder kennenlernen. Also so richtig dich, nicht die Äußerlichkeiten, sondern direkt dich.«

Lange schaute er mich schweigend an, dann machte sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breit.

»Okay, ich glaube, das würde mir auch gefallen. Wir haben ja wohl auch ne ganze Menge Zeit dafür in den nächsten Tagen.«

Oh Gott. Und die ganze Zeit ohne Fernseher und Computer, wie sollte ich das überleben?

»Gibt es hier wenigstens ein Radio oder so?«

»Ich hab eins mitgebracht, und dazu meinen MP3-Player.«

Na wenigstens etwas.

»Und was kann man hier sonst noch so unternehmen?«

»Wandern. Skifahren – obwohl: bei dem vielen Neuschnee dürfte das problematisch werden. Und irgendwo in nem Schrank sind eine Menge Bücher und Spiele.«

»Spiele?«

»Ja. Solche Dinger mit Spielfiguren usw. usf., falls du dich an diesen altmodischen Kram aus dem Vorcomputer-Zeitalter erinnerst.«

»Haha, tu nicht so, als ob du nicht genauso technikverwöhnt wärst wie ich.«

»Okay, hast mich ertappt. Aber genau darauf hatte ich mich um ehrlich zu sein gefreut: hier mal weit weg von Computer und Glotze zu sein. Mal etwas von der Reizüberflutung des Alltags abbauen. Und ich denke mal, nach deinen Erlebnissen heute kannst du etwas Ruhe auch gebrauchen.«

Da mußte ich ihm wohl zustimmen.

»Und was machen wir heute noch mit dem angebrochenen Tag?«

Fabian schaute auf die Uhr, und reflexartig tat ich das gleiche. Es war mittlerweile schon halb sechs durch.

»Also ich zieh jetzt erstmal die warmen Klamotten aus, dann leg ich mich für ne Stunde lang. Reicht es dir, wenn wir nach sieben Abendbrot essen?«

»Kein Problem, deine Stolle war sehr sättigend.«

Fabian grinste mich frech an.

»Hast ja auch genug davon verdrückt.«

»Hehe, sorry, konnte ich mir nicht verkneifen. Die ist wirklich sehr gut.«

»Danke. Gut, dann machen wir das so, erstmal ein Päuschen, dann Abendbrot, dann bereite ich die Betten vor.«

»Okay. Und du hast recht, jetzt ist es hier schon schön warm geworden, ich glaub, ich zieh mich auch gleich mal um.«

»Du kannst ins große Schlafzimmer gehen, ich nehm das kleine.«

Ich nickte, griff mir meine Tasche und verschwand ins genannte Zimmer. Dort entledigte ich mich meiner Jeans und des Sweatshirts, dann kam mir eine Idee. Ich verließ den Raum, klopfte am kleinen Schlafzimmer und trat ein. Fabian kramte gerade in einer seiner Taschen.

»Du, Faby?«

Er drehte sich zu mir um.

»Ja?«

»Du sagtest vorhin was von einer Dusche…«

»Ja. Willst du duschen?«

»Wäre das möglich? Ich bin bei der Stapferei durch den Schnee ziemlich ins Schwitzen geraten.«

»Ich hab vorhin gleich den Warmwasserbereiter angeworfen, es sollte also warmes Wasser da sein. Handtücher liegen im Kleiderschrank bei dir im Zimmer. Brauchst du sonst noch was?«

Ich überlegte kurz.

»Nee, danke, alles andere sollte ich dabei haben.«

»Na dann viel Spaß.«

»Danke, ich glaube, so eine warme Dusche kann ich jetzt gut gebrauchen.«

Ich drehte mich um und schickte mich an, das Zimmer zu verlassen.

»Ach, und Reiko?«

Ich drehte mich nochmal zu Fabian um.

»Ja?«

»Wenn Du mich mit deinem Aufzug anmachen wolltest: sorry, es hat nicht geklappt. Das sieht eher lächerlich aus.«

Ups… Okay, ich sah in meiner langen Bundeswehr-Unterwäsche wohl wirklich nicht sonderlich attraktiv aus. Ich zeigte Fabian den Stinkefinger, dann machte ich mich auf den Weg in den warmen Regen der Dusche…

Fabian

Also mal ehrlich, das war doch typisch stilloser Hetero. Wie konnte man seinen Körper nur dermaßen unvorteilhaft verpacken. Besonders wenn man – wie Reiko, was ich zugeben mußte – durchaus über einen nett anzusehenden Körper verfügte. Gut, hier bei uns in den Bergen war man im Winter auf warme Klamotten angewiesen. Aber da gab es ja auch andere Möglichkeiten als diese schlapprigen Bundeswehrdinger.

Naja, das mußte Reiko selber wissen. Ich suchte mir noch mein Buch aus der Tasche, dann zog auch ich mich aus. Also nicht ganz aus! So warm war es in der Hütte nun auch wieder nicht. Ich entledigte mich meiner Funktionsunterwäsche, dann zog ich wieder Jeans und T-Shirt an und ging zurück ins Wohnzimmer.

Dort erwartete mich bereits Reikos Vierbeiner, der immer noch vor dem Sessel lag, in dem sein Herrchen bis vor ein paar Minuten gesessen hatte. Jetzt klopfte sein Schwanz rhythmisch auf den Fußboden.

»Na, Arko, hatten dich alle verlassen?«

Der Hund stand auf und kam zu mir getrottet, also tat ich, was er wohl von mir erwartete und streichelte ihn. In der Ferne hörte ich das Wasser der Dusche rauschen. Jeden weiteren Gedanken daran, dass mein Gast keine

10 Meter von mir nackt unterm Wasser stand, verkniff ich mir dann doch lieber. Zum Glück hatte ich etwas, womit ich mich ablenken konnte.

»Arko, dein faules Herrchen hat sich verdrückt, und ich darf mich ums Geschirr kümmern.«

Der Vierbeiner schaute mich freundlich an und wedelte mit dem Schwanz. Vielleicht kannte der das ja auch von seinem Herrchen.

Naja, abwaschen hatte eh noch keinen Sinn, es kam ja nachher noch das Abendbrot-Geschirr dazu, also räumte ich nur schnell die Tassen und Teller weg, dann machte ich es mir auf der Couch bequem. Weiter als zwei Seiten kam ich in meinem Buch nicht, dann fielen mir die Augen zu…

…und wurde durch klapperndes Geschirr geweckt. Ich zwinkerte ein paarmal, dann konnte ich sehen, was mich da geweckt hatte. Reiko war damit beschäftigt, Teller und Gläser auf dem Tisch zu verteilen. Ich gähnte herzhaft.

»Ah, guten Abend der Herr, weilen wir auch wieder unter den Lebenden?«

»Ja, du mußtest mich ja aufwecken mit dem Geklapper.«

»Sorry, aber ich dachte mir, ich bereite mal das Abendessen vor. Und das geht halt leider nicht ganz geräuschlos.«

»Wie spät ist es denn?«

»Viertel nach Sieben.«

Doch schon so spät. Ich schwang meine Beine auf den Boden und wollte aufstehen.

»Ich helfe dir, Reiko.«

»Nichts ist, du bleibst schön sitzen, es ist fast schon alles fertig. Arko hat sein Futter bekommen, ich hab Brot und Wurst und so weiter gefunden und auch nochmal Tee angesetzt. Oder wolltest du was anderes trinken?«

»Nee, Tee ist okay. Was Kaltes können wir ja nachher noch trinken.«

»Das dachte ich mir auch. Also lehn dich zurück, es kann gleich losgehen.«

Nun, wenn er es so wollte, würde ich ihn bestimmt nicht von der alleinigen Arbeit abhalten. Ich schaute Reiko dabei zu, wie er den Tee aufgoß und noch Besteck zusammensuchte. Er trug jetzt einen dunkelblauen Hausanzug aus Fleece – worin er deutlich besser wirkte als vorher in den olivgrünen langen Kameraden. Wenige Minuten später war alles vorbereitet, er setzte sich zu mir an den Tisch, und wir ließen uns die Köstlichkeiten schmecken, die meine Eltern für die Hütte eingepackt hatten.

»Also Fabian, mit den Vorräten könnten wir eine halbe Armee durchfüttern. Wer soll denn die ganzen Konserven vertilgen?«

»Wir haben hier immer einen Notvorrat an haltbaren Lebensmitteln. Man weiß ja nie, ob nicht die Hüttenbewohner eine Weile nicht zum Einkaufen kommen.«

»So wie wir jetzt?«

»Ja, ist nicht das erste Mal, dass die Hütte eingeschneit ist. Wenn dann eine größere Familie hier festsitzt, sollen die uns ja auch nicht verhungern. Es ist immer so aufwendig, hinterher die ganzen Leichen loszuwerden.«

Reiko lachte herzhaft, beruhigte sich aber recht schnell wieder.

»Klingt logisch – wir zwei werden wohl aufpassen müssen, dass wir uns nicht völlig überfressen.«

»Also ich hab da genügend Selbstbeherrschung – du etwa nicht?«

»Hehe, nicht, wenn ich all die guten Sachen sehe. Da hab ich sehr mit mir zu kämpfen.«

Sah man ihm nicht an.

»Ach übrigens, wenn das alles hier vorbei ist, bezahle ich natürlich, was ich euch hier weggefuttert habe. Und auch meinen Anteil an den Dieselkosten.«

Da war wirklich deutlich mehr Grips in seiner Birne, als ich ihm noch vor ein paar Stunden zugetraut hätte. Wäre er wirklich so ein egoistischer Hohlkopf wie ich anfänglich dachte, wäre er nie auf so eine Idee gekommen.

»Brauchst du nicht.«

»Will ich aber, keine Diskussion!«

Okay, okay, wegen so einer Kleinigkeit würde ich mich nicht mit ihm anlegen. Wir aßen weiter bis wir so richtig schön abgefüttert waren. Auch Arko schien satt zu sein, jedenfalls versuchte er gar nicht erst, irgendwas vom Tisch zu erbetteln.

»So, dann werde ich mal wie versprochen den Abwasch machen. Bin ja schließlich dein Haussklave.«

Das konnte ich nun doch nicht so stehenlassen.

»Laß mal, du hast das Essen vorbereitet, ich mache den Abwasch.«

Reiko schaute sich kurz um.

»Hier ist genug Platz. Ich wasche ab, du trocknest ab. Deal?«

Damit konnte ich leben.

»Okay, Deal.«

Genauso taten wir es dann auch, und innerhalb kürzester Zeit waren die Spuren unserer Mahlzeit verschwunden. Während sich Reiko nun setzte, fiel mir ein, dass ich etwas ganz Wichtiges beinahe vergessen hätte. Ich schnappte mir mein Handy, klappte es auf und schaltete es ein. Nach einigen Sekunden leuchteten drei Balken der Netzanzeige auf – nicht berauschend, aber immerhin, es funktionierte, sogar hier draußen in der Wildnis.

»Hast du hier draußen etwa Empfang?«

»Ja, leider.«

»Wieso leider?«

In diesem Moment begann ein ständiges Gedudel damit, auf den Eingang von einem ganzen Haufen SMS hinzuweisen. Ich setzte mich auch wieder in meinen Sessel und zeigte auf das Handy.

»Deshalb.«

»Hehe, Faby, du scheinst ein gefragter Mann zu sein!«

»Es sind bloß leider immer die Falschen, die nach mir fragen.«

Ich sah die SMS-Liste durch – alles Mitteilungen über entgangene Anrufe. Und alle kamen von einer mir gut bekannten Nummer, der meiner Eltern. Meine Mutter würde wohl nie kapieren, dass ich nicht mehr ihr kleiner Junge war, auf den sie jede freie Minute ein Auge haben mußte.

»Ach, wer fragt denn immer nach dir?«

»Meine Mutter. Ich werde mir ganz schön was anhören dürfen, weil das Handy so lange aus war.«

»Haha, klingt fast wie meine eigene.«

»Glaub mir, so schlimm kann deine nicht sein.«

Ich löschte die nächste Mitteilung, die Liste rutschte eine Position weiter, und siehe da: eine Nummer tauchte auf, die ich nicht kannte!

»Hm… Wer war das denn?«

»Was ist?«

»Hier hat jemand versucht mich zu erreichen, dessen Nummer ich nicht kenne.«

»Hehe, hast du nen heimlichen Verehrer?«

»Schön wärs. Moment mal!«

Mir fiel etwas ein.

»Welche Nummer haben denn deine Eltern?«

»Wieso?«

»Vielleicht waren die das ja. Ich könnte mir vorstellen, dass mein Vater denen meine Nummer gegeben hat. Er mußte ihnen ja eh erklären, wo du abgeblieben bist.«

»Hast recht, das könnte sein.«

»Und?«

»Was und?«

»Deine Nummer!«

»Oh. Klar. *****.«

»Glückwunsch, ein Volltreffer. Willst du gleich mal anrufen?«

»Nee, nee, ruf du lieber erstmal bei dir an, bevor sich deine Mutter noch die Finger wund wählt.«

Das hätte zumindest den Vorteil, dass sie nicht mehr ständig versuchen könnte, mich zu erreichen. Aber naja, ich sollte wohl mal nicht so sein, also betätigte ich die mir wohlbekannte Kurzwahl.

Reiko

Fabians Mutter schien tatsächlich noch schlimmer zu sein als meine, wenn ich mal die Anzahl ihrer erfolglosen Anrufversuche zum Maßstab nahm. Während sich der brave Sohn nunmehr seinem Schicksal stellte und genannte Mutter anrief, griff ich zu dem Buch, welches Fabian auf dem Couchtisch abgelegt hatte.

Peter Conrad – Der Neuanfang (ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen und im gutsortieren Buchhandel unter der ISBN 3-937290-97-4 zu beziehen). Was das wohl sein sollte? Ich las den Rückseitentext. Naja, ne schwule Jugendstory. Nicht wirklich überraschend, dass Fabian auf sowas stand, für mich war das aber nicht unbedingt etwas. Aber halt, hatte er nicht irgendwas von einem Schrank voller Bücher gesagt? Vielleicht fand sich darin ja etwas Passendes für mich.

»Hallo Mutti, ich bins.«

Ah, er hatte die Heimatbasis erreicht.

»Ja, ich weiß, aber ich ha…«

Och, der Ärmste schien nicht wirklich zu Wort zu kommen!

»Ja, Mut…«

Grinsend studierte ich das Bücherangebot und fand ziemlich schnell etwas für mich – den neuesten Harry-Potter-Band. Und wenn das irgendwer meinen Eishockeykumpels verrät, dann komm ich den mal bei Nacht besuchen!

»Ja, wir sind gut versorgt, die Speisekammer ist voll, der Dieseltank auch.«

Der Handyakku wohl bald nicht mehr.

»Außerdem werden wir möglichst nur mit dem Kamin heizen, Holz ist ja mehr als genug da.«

Ich setzte mich wieder in meinen Sessel, dabei vorsichtig über Arko steigend, der es sich direkt davor gemütlich gemacht hatte und keinerlei Anstalten tat, meinen Füßen etwas mehr Platz zu geben.

»Ja, Mutti, ich werde Reiko sagen, dass er seine Eltern anrufen soll.«

Oh, da hatten die wohl schon bei Fabians Eltern angerufen.

»Und deshalb muß ich jetzt auch Schluß machen, damit Reiko das nun bald erledigen kann und seine Eltern nicht mehr so lange auf ein Lebenszeichen warten müssen.«

Was natürlich der einzige Grund bzw. der willkommene Anlaß dafür war, das Gespräch mit seiner eigenen Mutter abzukürzen.

»Sag Paps und den anderen einen schönen Gruß von mir.«

Mit entnervt hochgezogenen Augenbrauen schaute Fabian zu mir herüber.

»Ja, Mutti, morgen Abend telefonieren wir wieder. Aber am Tag laß ich das Handy aus, sonst ist der Akku zu schnell runter.«

Da gab es ja noch das Ladegerät, aber das brauchte man ja nicht unbedingt in die mütterliche Erinnerung zu bringen.

»Also dann, tschüß!«

Mein Gastgeber beendete das Gespräch und sank erleichtert in seinem Sessel zusammen.

»Anstrengend?«

»Das kannst du laut sagen! Für diese Frau bin ich keine 18 sondern höchstens 8. Wenn überhaupt schon so alt.«

»Hehe, tja, typisch Mutter halt. Für die wird man nie wirklich erwachsen.«

»So wird es wohl sein. Stichwort Mutter: hier, jetzt bist du dran. Deine Mutter hat schon zweimal bei meiner Mutter angerufen, ob sie irgendwas von dir gehört hat.«

Oh Gott, jetzt durfte ich mir vermutlich ganz schön was anhören, so von wegen einfach abhauen, noch dazu mit dem sommerbereiften Auto. Aber ewig vermeiden konnte ich das sowieso nicht, also war es wohl besser, es gleich hinter mich zu bringen. Fabian reichte mir das Handy.

»Wie ist das eigentlich mit Arko, der muß doch nachher auch nochmal raus, oder?«

Ich überlegte kurz, eigentlich hatte ich keine Lust auf einen weiteren Waldspaziergang, noch dazu im Dunkeln.

»Ja, aber den schicken wir einfach kurz vor die Tür, das reicht.«

»Okay, dann telefonier mal schön. Ich spring jetzt auch schnell unter die Dusche, also bis später.«

»Tu das, viel Spaß.«

Ich würde lieber nicht groß drüber nachdenken, was für Spaß Fabian eventuell unter der Dusche haben würde!

Während er nun in die rückwärtigen Räume verschwand, wählte ich die heimatliche Nummer, und schon nach zweimaligem Rufen wurde der Anruf angenommen.

»Heilmann.«

»Hallo Nicole, ich bins.«

»Reiko!«

»Genau der.«

»Endlich rufst du an! Ist mit dir alles okay? Mom und Dad machen sich die größten Sorgen!«

Das »Mom« und das »Dad« hatte sie sich neuerdings angewöhnt, wohl um damit cool zu wirken. Sie wirkte damit allerdings in meinen Augen eher lächerlich.

»Ach, und du hast dir keine Sorgen gemacht?«

»Nee, eher Hoffnungen auf dein Zimmer!«

Typisch meine Schwester. Irgendwie hackte sie immer auf mir herum. Aber ich dafür auch auf ihr – hehe!

»Wieso bist du Idiot eigentlich so weggerannt?«

Andererseits verstanden wir uns meistens sehr gut und hatten recht wenige Geheimnisse voreinander.

»Ich hab Melanie mit nem anderen Kerl im Bett erwischt.«

»Autsch! Da war wohl mein Kommentar von wegen Sturm im Liebesland ziemlich daneben, oder?«

»Allerdings, der hat das Faß zum Überlaufen gebracht.«

»Sorry, tut mir leid, wenn ich das gewußt hätte, dann hätte ich mir den Spruch verkniffen.«

»Es wird dir gleich noch vielmehr leidtun.«

»Wieso das denn?«

»Der andere Kerl war René.«

»Was?!?!?!?!???«

Diesen überraschten Aufschrei hatte ich erwartet. Nicht nur, weil Nicole natürlich wußte, dass René eigentlich mein bester Freund war, sondern auch deshalb, weil ich wußte, dass sie heimlich beziehungsweise unheimlich in ihn verschossen war.

»Dieses Arschloch!«

»Das kannst du laut sagen.«

»Prima, da kam ja für dich alles zusammen. Aber paß auf, du findest garantiert ne bessere als diese untreue Zicke Melanie, eine, der wirklich was an dir liegt.«

»Komisch, so ziemlich genau das gleiche hat Fabian auch gesagt.«

»Ach ja, stimmt, du bist ja bei der Schwuchtel untergekommen.«

»Nenn ihn bitte nicht so.«

»Wieso? Du hast ihn doch auch oft genug so genannt!«

»Ja, und dafür schäme ich mich mittlerweile, okay? Also laß du das bitte auch.«

»Nanu? Das sind ja ganz neue Töne!«

»Eigentlich nicht, eigentlich sind es eher ganz alte Töne. Fabian und ich waren mal die besten Freunde, und er hat mich nie so hintergangen wie René.«

»Ähem… Reiko?«

»Ja?«

»Du hast dich doch nicht etwa in ihn verknallt?«

»Ich? In Fabian? Nee, Schwesterherz, niemals! Ich bin durch und durch hetero und habe auch vor, das zu bleiben. Aber das heißt ja nicht, dass Fabian und ich nicht wieder Freunde sein können.«

»Na dann ist ja gut. Du, Mom reißt mir fast den Hörer aus der Hand, also bis später! Und denk dran: schlaf lieber mit dem Rücken zur Wand!«

»Hahaha…«

Ich hörte noch Nicoles Gekicher, dann ertönte die Stimme meiner Mutter.

»Reiko! Schön, dass du endlich anrufst!«

»Hallo Mutti, ging leider nicht eher.«

Wäre schon gegangen, aber das brauchte sie ja nicht unbedingt zu wissen.

»Und, Junge, wie geht es dir so? Hast du den Unfall gut überstanden? Herr Röcker sagte etwas von einer Prellung!«

»Ja, Mutti, mir geht es gut. Die Prellung hab ich auch nicht vom Unfall, ich bin dann im Wald ausgerutscht, aber ich merke kaum noch was davon.«

»Na dann ist ja gut. Verträgst du dich mit Fabian? Ihr zwei wart ja in den letzten Jahren nicht gerade die besten Kumpel.«

»Ich weiß, waren wir nicht, aber wir arbeiten daran. Wir haben einige Mißverständnisse geklärt, und ich denke mal, dass wir wieder richtig gute Freunde werden können.«

Das dachte ich nicht nur, das hoffte ich sogar. Komisch, wie man seine Einstellung zu einem Menschen innerhalb weniger Stunden komplett ändern kann.

»Freut mich das zu hören, erinnert mich irgendwie an früher, da wart ihr kaum mal einzeln irgendwo anzutreffen.«

Tja, lang, lang ists her.

»Und da ihr laut Herrn Röcker wohl eine ganze Weile alleine dort oben aushalten müßt, wäre es wirklich gut, wenn ihr einigermaßen gut miteinander auskommt.«

»Ich weiß. Wie gesagt, es sieht recht positiv aus. Hat Fabians Vater schon gesagt, wie lange wir hier abgeschnitten sein werden?«

»Er glaubt jedenfalls nicht daran, dass ihr zu Weihnachten schon wieder befreit seid.«

»Er sagte im Funk etwas von einer Unwetterwarnung.«

»Ja, es wird wohl noch einiges an Schnee runterkommen. Und selbst wenn der Schneefall aufgehört hat, sind erstmal die Hauptstraßen mit der Beräumung dran. Aber er hat mir versichert, dass ihr oben in der Hütte genügend Vorräte habt, um notfalls einen ganzen Monat zu überleben.«

Solange würde es hoffentlich nicht dauern, das mit den Vorräten kam aber wohl hin.

»Ja, Mutti, wir müssen weder verhungern noch erfrieren.«

»Dann ist ja gut. So, ich denke, wir sollten das Gespräch beenden, das kostet ja alles Fabians Telefongeld.«

»Okay, hast recht. Sag bitte den anderen noch einen schönen Gruß von mir, und morgen könnt ihr ja hier auf Fabians Handy anrufen, die Nummer habt ihr ja schon.«

»Genau so machen wir das. Ach übrigens, René war vorhin da, der hat aber nur deinen Rucksack abgegeben und ist sofort wieder verschwunden.«

Dieses Arschloch traute sich tatsächlich noch zu mir nach Hause!

»Wieso hatte der den überhaupt?«

»Mutti, laß dir das von Nicole erzählen, ja? Wir sollten jetzt wirklich schlußmachen.«

»Gut, wie du meinst. Also dann, benimm dich anständig und hilf Fabian, wenn du bei irgendwas helfen kannst. Und paß schön auf Arko auf!«

»Keine Bange, mache ich alles. Also dann, bis morgen abend. Tschüß.«

»Tschüß Großer.«

Damit endete das Gespräch. Und es war ganz ohne Vorwürfe wegen meines überstürzten Aufbruchs abgegangen! Einigermaßen erleichtert lehnte ich mich im Sessel zurück und vertiefte mich in mein Buch.

Fabian

Nachdem ich Reiko mit dem Handy alleingelassen hatte, ging ich ins Bad und probierte erst einmal aus, ob denn schon wieder heißes Wasser vorhanden war. War es, also konnte ich mir jetzt auch ein kleines Duschvergnügen gönnen. Nach einem Blick auf die Uhr, die schon kurz nach acht anzeigte, entschied ich mich dafür, mich anschließend gleich in den Schlafanzug zu stürzen, also nahm ich selbigen gleich mit ins Bad, zusammen mit meinen schönen dicken ABS-Socken.

Im Bad zog ich mich aus, und da ich keine Lust hatte, mir schon wieder die Haare zu waschen und diese dann hinterher auch wieder trocknen zu müssen, setzte ich eine Duschhaube auf, dann stieg ich in den warmen Wasserstrahl. Während ich mich dann einseifte, mußte ich plötzlich daran denken, dass vor gar nicht so langer Zeit ein anderer nackter Junge an genau derselben Stelle gestanden hatte – und sofort regte sich etwas in meiner Körpermitte. Ob es Reiko wohl auch so gegangen war? Naja, nach seinem Erlebnis mit Melanie und René wohl eher nicht. Aber mich sollte das nicht abhalten! Vor allem, wo ich es ja die nächsten Tage in der Nähe dieses durchaus ansehnlichen Kerlchens aushalten mußte. Also tat ich, was man(n) in einem solchen Falle nunmal so tut, und hoffte, dass ich dadurch von feuchten Träumen und ähnlich peinlichen Ereignissen in Reikos Gegenwart verschont bleiben würde. War schon immer peinlich genug, wenn Tom sowas mitbekam – wobei sich die Situationen, in denen er mich beim Wichsen oder solchen Sachen erwischte und diejenigen, in denen ich bei ihm gleiches erlebte, in etwa die Waage hielten. Aber weg mit den Gedanken an meinen Bruder. Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Ich gab mich diesen wundervollen Gefühlen hin…

…und just wo ich dem Höhepunkt zustrebte, wurde das Wasser deutlich kälter, und mir wurde sämtliche Stimmung versaut! Verdammter Mist! Ich hatte nicht daran gedacht, dass der Inhalt des Warmwasserbehälters durchaus begrenzt war, und nun erwischte es mich voll, das Wasser wurde langsam richtig kalt!

Tja, kleine Sünden bestraft der liebe Gott wohl doch sofort. Alle Gedanken an schnucklige Jungs waren mit einem Schlag aus meinem Kopf vertrieben, und ebenfalls vertrieben war das Blut aus einem anderen nicht ganz unwichtigen Körperteil. So schnell ich konnte, spülte ich mir mit der mittlerweile fast schon eisigen Brühe den Schaum vom Körper, dann rettete mich nur noch ein schneller Sprung aus dem Wassertrahl vorm jämmerlichen Erfrierungstod. Schönen Dank auch.

Bibbernd trocknete ich mich ab, auch die Heizung half da nicht sonderlich, sodass ich mich beeilte, in meinen Schlafanzug zu schlüpfen. Nachdem ich auch noch die gleichzeitig als Hausschuhe dienenden ABS-Socken angezogen hatte, warf ich einen letzten wütenden Blick auf die Duschkabine und wanderte – unterwegs meine Tagesklamotten im kleinen Schlafzimmer ablegend – zurück in den Wohnraum. Dort saß Reiko gemütlich im Sessel und las in … Harry Potter? Also das hätte ich nun nicht gedacht, vor allem wo wir auch reichlich »erwachsene« Literatur im Schrank hatten.

»So, bin wieder da. Wie ich sehe, hast du ja ein Buch gefunden.«

»Ja, hab ich, ihr habt ne wirklich große Auswahl hier.«

»Tja, wenn es kein Fernsehen gibt, dann braucht es wenigstens ausreichend Alternativen. Und, hast du deine Eltern erreicht?«

»Ja, hab ich.«

Reiko schaute zu mir hoch, glotzte mich groß an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Was war denn nun schon wieder los!

»Was ist so lustig?«

Immer noch lachend zeigte Reiko nach oben. Was meinte er damit?

»Schick … hihihi … schick siehst du aus!«

Hä?

»Dein Kopf, Faby!«

Mein Kopf? Ich griff mit beiden Händen nach oben und wußte sofort, worüber sich Reiko so köstlich amüsierte. Durch den überraschenden Kälteeinbruch hatte ich vollkommen vergessen, dass ich ja immer noch die Duschhaube auf dem Kopf hatte! Und das war zu allem Überfluß so eine komische pinkfarbene mit lauter Blümchen drauf. Argh!

»Steht dir wirklich gut … hahaha … ist das etwa das Coming-Out-Modell?«

So schnell es ging riß ich mir die noch etwas nasse Duschhaube vom Kopf, wobei ja eigentlich eh alles zu spät war.

»Hahaha. Das ist nicht meine, die stammt von jemand anderem!«

»Ach, von deinem Bruder?«

»Quatsch. Die haben mal Gäste hier vergessen, und seitdem drückt die sich bei uns rum.«

»Jaja, das kann jeder behaupten.«

»Blablabla, glaub es mir oder halt nicht.«

Ich flitzte zurück ins Bad und beseitigte das häßliche Foliendings. Als ich ins Wohnzimmer zurück kam, hatte sich Reiko endgültig beruhigt.

»Sorry, Fabian, ich wollte mich nicht über dich lustig machen.«

Wie großzügig. Aber naja…

»Schon gut. Um ehrlich zu sein, hätte ich an deiner Stelle wohl auch gelacht.«

»Das will ich meinen.«

»Ich werde mich mal um die Betten kümmern, die müssen noch bezogen werden.«

»Warte, ich helfe dir dabei.«

Dagegen hatte ich nichts einzuwenden, zu zweit machte sich das sicher besser. Eine Sache war da aber noch zu klären.

»Wo möchtest du schlafen, im großen oder im kleinen Schlafzimmer?«

»Ich dachte, wir schlafen im großen, da ist mehr Platz, oder?«

Wir? Wollte er wirklich mit mir in einem Zimmer schlafen?

»Können wir machen, du kannst aber auch ein Zimmer für dich alleine bekommen.«

»Warum sollte ich das wollen?«

Reiko schaute mich mit schiefgelegtem Kopf an, und ich wußte nicht so recht, was ich darauf antworten sollte.

»Naja… Ich dachte… Ich dachte, du würdest nicht so gerne…«

»Du dachtest, ich würde lieber in einem anderen Raum schlafen als du, weil es mir unangenehm sein könnte, mit nem Schwulen das Zimmer zu teilen?«

Genau das hatte ich mir gedacht, aber ich brachte kein Wort heraus, nur mit dem Kopf konnte ich leicht nicken.

»Fabian, du Depp, dass du schwul bist macht mir nichts aus, kapiert? Du wirst ja nicht nachts über mich herfallen!«

Nicht? Mist…

»Außerdem hab ich ja noch meinen Wachhund dabei.«

Damit wäre auch gleich geklärt, dass Arko mit im Schlafzimmer übernachten würde.

»Okay, Reiko, wie du meinst. Ich wollte bloß nicht, dass du dich irgendwie unwohl fühlst.«

»Das laß mal meine Sorge sein.«

Während dieses Wortwechsels waren wir im großen Schlafraum angekommen. Dass wir beide dort schlafen würden war recht praktisch, denn das gesamte Bettzeug befand sich in einem großen Schrank in diesem Zimmer. Zu diesem ging ich jetzt und suchte zwei Laken, zwei Bett- und zwei Kissenbezüge heraus. Und dann ritt mich der Teufel.

»Also, Schatz, nehmen wir das Doppelbett, oder wie?«

Reiko starrte mich mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund an, dann machte sich ein Grinsen in seinem Gesicht breit.

»Hehe, eben noch getrennte Zimmer, und dann gleich ein Doppelbett? Du mußt doch wissen was du willst.«

Ich grinste frech zurück.

»Ich weiß, was ich will. Weißt du auch, was du willst?«

»Allerdings.«

Oh, nun war ich aber gespannt!

»Ich will das Einzelbett dort unterm Fenster.«

Schade. Na gut. Ich nahm eine komplette Bettausstattung und ging zu dem genannten Bett.

»Na dann los, ich denke, du wolltest mir helfen?«

Genau das tat Reiko dann auch, und schnell war sein Bett bezogen.

»Na mal schaun, ob ich hier werde schlafen können. Ich hoffe, die Matratze ist nicht zu weich.«

Auch noch Ansprüche stellte der feine Herr! Reiko setzte sich auf das frischbezogene Bett und wippte ein wenig darauf herum.

»Na, entspricht es deinen Anforderungen?«

»Ja, scheint genau richtig zu sein.«

»Da haben wir ja nochmal Glück gehabt, nicht dass du dich am Ende noch bei der Reiseleitung beschwert hättest.«

Reiko kicherte leise vor sich hin.

»Nee, das Bett ist in Ordnung. Ich hätte allerdings doch eine kleine Beschwerde an die Reiseleitung.«

Nanu?

»Ja? Was gibt denn zu Beschwerden Anlaß?«

»Ach weißt du, da ist dieser freche Reiseleiter, der schon wieder schamlos mit den Gästen flirtet.«

Ups. Hatte ich wirklich mit ihm geflirtet? War mir gar nicht aufgefallen – so im Nachhinein mußte ich allerdings zugeben, dass er da wohl nicht ganz unrecht hatte.

»Oh, das tut mir aber sehr leid. Was könnte denn die Reiseleitung unternehmen, um den geschätzten Gast zu besänftigen?«

»Setz dich, laß uns gemeinsam darüber nachdenken.«

Was ging da in Reikos Kopf vor? Aber als wohlerzogener Gastgeber setzte ich mich neben ihn aufs Bett.

»Na, Reiko, hast du schon eine Idee?«

»Hm… Ich denke… Also ich glaube… Ja, ich weiß es jetzt!«

»So? Was denn?«

»Da dem Personal das Flirten mit den Gästen untersagt ist, wird eine Vertragsstrafe fällig.«

Komisch, ich wußte gar nicht, dass wir einen Vertrag hatten. Und bezahlt hatte Reiko ja auch nichts für seine Unterbringung. Aber gut.

»Und wie sieht diese Vertragsstrafe aus?«

»Ganz einfach, so!«

Mit diesen Worten griff sein rechter Arm hinter mich, er zerrte meinen Oberkörper erst nach vorn, dann zu ihm herüber, und im nächsten Moment fand ich mich über seinen Knien wieder.

»Was soll das?«

»Klein Fabian bekommt jetzt eine Abreibung!«

Eine Abreibung? Aber meine diesbezügliche Frage konnte ich mir sparen, denn im nächsten Moment tat er das, was mein Vater seit bestimmt fünf Jahren nicht mehr getan hatte: er versohlte mir den Hintern!

»Au, was soll das!«

»Ich möchte bloß was klarstellen, nicht dass du doch noch nachts über mich herfällst!«

Bei diesen Worten klopfte er weiter auf mein armes Hinterteil ein, erst nach etwa 10 nicht gerade sanften Schlägen hörte er damit auf.

»So, ich hoffe, das wird dir eine Lehre sein!«

Er ließ mich los, und so schnell ich konnte, brachte ich mich wieder in die Senkrechte und vor allem in eine sichere Entfernung von ihm.

Reiko saß grinsend auf der Bettkante und schien sehr zufrieden mit sich zu sein. Ich hingegen rieb mir meinen armen Po, der nur durch die Schlafanzughose geschützt gewesen war.

So ganz wurde ich nicht schlau aus ihm. Okay, früher, als wir noch dicke Freunde gewesen waren, gab es öfters auch mal solche Kampeleien. Allerdings waren seitdem einige Jahre ins Land gegangen, in denen wir überhaupt nichts mehr miteinander zu tun hatten – und nun verfiel er gleich am ersten Tag wieder in die Verhaltensweisen aus unseren Kindertagen?

»Reiko, du spinnst!«

»Ich weiß, Faby. Aber wir hatten eh noch eine Rechnung offen.«

Was meinte er damit?

»Eine Rechnung offen? Was für eine Rechnung?«

»Erinnerst du dich noch an die Nacht nach deinem siebenten Geburtstag?«

Häh?

»Ich sehe schon, das tust du nicht. Ich habe damals bei dir übernachtet, und da hast du zusammen mit Tom mir was ganz Gemeines angetan, wofür ich mich später nie richtig rächen konnte.«

Was ganz Gemeines hatten wir ihm angetan? Moment mal! Da kroch eine Erinnerung durch mein Gehirn!

»Ah, schaut so aus, als würdest du dich jetzt erinnern!«

Das tat ich tatsächlich.

»Du wirst zugeben müssen, dass die paar Schläge dagegen absolut harmlos waren.«

Wie mans nimmt. Schmerzhaft war das damals für Reiko überhaupt nicht gewesen, ganz im Gegensatz zu dem, was ich gerade miterleben mußte.

»Das war dermaßen peinlich damals, vor allem, als das dann eure Mutter bemerkt hat.«

Was für eine wunderschöne Erinnerung, da tat mir meine rückwärtige Gegend gleich gar nicht mehr so doll weh. Was war damals passiert? Tja, Tom und ich hatten mal ausprobieren wollen, ob der uralte Trick funktionierte, bei dem man die Hand eines Schlafenden in eine Schüssel mit warmem Wasser tunkte und dieser dann ins Bett machte.

Und was soll ich sagen: der Trick hatte tatsächlich funktioniert! Reiko war in einem nassen Bett aufgewacht, was natürlich bei ihm für einen hochroten Kopf und bei Tom und mir für großes Gelächter gesorgt hatte. Unsere Mutter hingegen war darüber gar nicht so begeistert gewesen, obwohl unterm Bettlaken eh noch eine Gummimatte lag, weil auch Tom ab und an noch nächtliche Unfälle hatte. Und Tom war es auch, der sich ein paar Tage später verquatschte, sodass Reiko rausbekam, dass sein Unfall halt gar kein echter Unfall gewesen war. Er hatte uns fürchterliche Rache geschworen, allerdings war nie etwas passiert. Bis heute…

Reiko

Tja, damit hatte der gute Fabian wohl nicht gerechnet! Man konnte ja einiges über mich behaupten, aber sicherlich nicht, dass ich ein schlechtes Gedächtnis hätte. Und der Vorfall damals zählte auch heute noch zum Peinlichsten, was mir in meinem ganzen Leben passiert war. Nun mußte ich mich nur noch an Tom rächen, aber auch da würde sich bestimmt eine Gelegenheit ergeben. Besonders, wo ich ja jetzt wieder ein Freund seines großen Bruders war.

Allerdings war nicht nur Fabian von meiner Aktion überrascht – irgendwie war ich es auch selber. Hätte mir vor zwölf Stunden jemand gesagt, dass ich mit Fabian dermaßen »intim« werden würde, dann hätte ich ihn für verrückt erklärt. Nun aber? Ich fühlte mich irgendwie wohl in seiner Umgebung (Nein! Nicht so, wie jetzt vielleicht einige denken mögen!). Es war fast schon wie früher, als wir gemeinsam durch dick und dünn gegangen waren, es kam mir vor, als wären die letzten sechs bis acht Jahre der Entfremdung regelrecht weggewischt.

»Ich hoffe, du hast nicht vor, dich auch noch an Tom zu rächen.«

»Klar, der kommt auch noch dran! Wieso sollte ich nicht?«

»Weil das mein kleiner Bruder ist, und wenn du bei ihm was versuchst, müßte ich dich leider Gottes mit allen Mitteln davon abhalten.«

Hach wie niedlich, da kam ja bei Fabian ein richtiger Beschützerinstinkt durch.

»Faby? Realitätscheck. Dein kleiner Bruder ist einen halben Kopf größer als du und außerdem trainiert er Judo. Ich glaube nicht, dass der auf deinen Schutz angewiesen ist.«

Eher sollte ich wohl froh sein, dass Tom bei meiner Rache an seinem Bruder nicht anwesend gewesen war, sonst hätte er wohl Fabian gegen mich beschützt.

»So, wie siehts aus, soll ich dir bei deinem Bett auch helfen?«

Leicht zweifelnd schaute Fabian mich an.

»Okay, aber nur, wenn deine ‚Hilfe‘ nicht wieder so endet wie eben!«

Ich mußte lachen.

»Versprochen, ich hab meine Rache gehabt, du bist sicher vor mir.«

Gemeinsam machten wir uns ans Werk, und kurz darauf war auch das zweite Bett komplett bezogen. Mein Gastgeber gähnte herzhaft.

»Also Reiko, um ehrlich zu sein, ich könnte mich gleich reinlegen und einschlafen. Der Tag war ziemlich ereignisreich und anstrengend.«

Da konnte ich ihm nur zustimmen, ich hatte auch nicht vor, noch lange auf den Beinen zu bleiben.

»Dann tu es doch. Ich lasse noch kurz den Hund vor die Tür, und dann mache ich auch Schluß für heute.«

»Nee, so einfach ist das nicht. Ich muß noch den Generator ausschalten und so.«

Daran hatte ich gar nicht gedacht, es wäre wohl ziemliche Dieselverschwendung, wenn das Ding die ganze Nacht durchlaufen würde. Aber momentmal…

»Sag mal, wenn der aus ist, dann haben wir doch gar keinen Strom, oder?«

»Stimmt. Wieso?«

»Naja, dann haben wir ja auch kein Licht!«

»Hehe, du bist ein richtiger Blitzmerker. Hast du Angst, dass du dich dann nicht ins Bett findest?«

»Blödmann.«

»Also nur die Ruhe, schau mal, die Petroleumlampen auf den Nachttischchen sind keine Attrappen sondern echt und einsatzbereit. Außerdem zeige ich dir dann noch, wo wir für den Notfall Taschenlampen haben.«

Petroleumlampen. Das war ja wie ein Ausflug ins Mittelalter!

»So, dann mal los. Du läßt den Hund raus, ich schau in der Zwischenzeit, dass alle Elektrogeräte ausgeschaltet sind.«

Genau das taten wir dann auch, ich scheuchte Arko in die dunkle Nacht (die durch den Schnee und den ab und an durch die Wolken blitzenden Mond gar nicht so dunkel war) und bereitete schon das große Badetuch zum Trockenrubbeln des Vierbeiners vor. Der hatte wohl selbst auch gar keine große Lust mehr darauf, draußen herumzutollen, jedenfalls erschien er schon nach zwei oder drei Minuten wieder an der Hüttentür, wo ich ihn gebührend in Empfang nahm. Durch die Kürze seines Ausflugs war zum Glück nicht viel trockenzurubbeln, sodass auch diese Aufgabe schon bald erledigt war.

»Na, hat sich Arko für heute ausgepinkelt?«

»Ich hoffe es doch sehr.«

»Und wie lange hält der jetzt durch?«

»Naja, so spätestens gegen acht wird er mal raus müssen.«

»Das geht ja noch, ich hatte schon befürchtet, dass der uns um sechs oder so weckt.«

Na das wollte ich dem Hundchen aber auch nicht raten! Um acht war schlimm bzw. zeitig genug.

»Hier, nimm mal die Taschenlampe und komm dann mit. Ich zeige dir, wie man den Generator bedient.«

Während Fabian dies sagte, drückte er mir eine hell leuchtende Taschenlampe in die Hand, knipste dann das Licht im Wohnzimmer aus, sodass der Raum nur noch durch das langsam ausbrennende Kaminfeuer beleuchtet war, und ging dann voran in Richtung des Raumes, hinter dem sich die Stromerzeugung befand. Ich folgte ihm im Schein von Feuer und Taschenlampen, und kurz darauf standen wir im Lärm des Dieselgenerators.

»So, ist eigentlich ganz einfach.«

Fabian mußte ziemlich laut sprechen, damit ich ihn verstehen konnte, dann jedoch betätigte er einen Knopf, und das Wummern des Diesels erstarb langsam.

»Das Ding hat eigentlich nur zwei Knöpfe: Ein und Aus. Wenn du auf ‚Ein‘ drückst, dauert es ein paar Sekunden, dann springt die Maschine an, und kurz danach steht die volle Stromleistung zur Verfügung.«

»Laß mich raten, wenn ich auf ‚Aus‘ drücke, geht die Maschine aus.«

»Ich hoffe, du erwartest jetzt von mir keinen Applaus für diese denkerische Meisterleistung.«

»Hehe. Ich glaube, das kapiere sogar ich.«

»Prima. Merk dir das bitte auch gut, du wirst es bald gebrauchen können.«

»Wieso?«

»Ganz einfach: wenn du morgen früh aufstehst, um den Hund rauszulassen, kannst du gleich den Generator anwerfen, damit wir dann möglichst bald auch warmes Wasser und Heizung haben.«

Daher wehte der Wind.

»Und ich dachte, ich wäre hier Gast!«

»Nee, du bist der Haussklave, hast du ja selber gesagt.«

»Okay, okay, ich kümmere mich morgen früh drum.«

Fabian

Na hoffentlich. Und ich würde mich darum kümmern, morgen früh der erste zu sein, der das warme Wasser nutzte. Vielleicht, und wirklich nur vielleicht, würde ich Reiko dann ein paar Liter zum Zähneputzen usw. übrig lassen.

»So, damit wäre eigentlich schon alles erledigt und geklärt, und wir können in die Falle.«

Ich war mittlerweile wirklich hundemüde und sehnte mich nach einem weichen, warmen Bett. Vielleicht noch ein paar Seiten lesen, wenn mir nicht vorher die Augen von alleine zufallen würden.

»Müssen wir noch irgendwas mit dem Kamin unternehmen?«

Wir waren unterdessen wieder im Wohnzimmer angekommen, wo nur noch wenige kleine Flämmchen in der Holzglut flackerten.

»Nein, ich habe vorhin noch ein paar kleine Scheite nachgelegt, die können jetzt noch langsam vor sich hinglühen, da kühlt die Bude über Nacht nicht völlig aus.«

»Okay. Ich geh dann nochmal aufs Klo. Moment mal. Funktioniert das jetzt überhaupt noch? So ohne Strom arbeitet doch auch keine Wasserpumpe, oder?«

»Stimmt, aber die Klospülung arbeitet auch so, durch die Schwerkraft, der Tank befindet sich oben.«

»Ach so. Aber friert das Wasser nicht ein?«

Huch, Reiko stellte wirklich intelligente Fragen! Er war wohl wirklich lange nicht so dumm, wie ich es mir immer vorgestellt hatte.

»Der Diesel hat einen großen Akkusatz geladen, und dieser betreibt eine kleine elektrische Heizung und eine kleine Umwälzpumpe. Das reicht, damit das Wasser über Nacht nicht einfriert.«

»Und was ist, wenn die Hütte im Winter mal ein paar Tage hintereinander leersteht? Halten die Akkus solange durch?«

»Nein, aber dafür hat der Generator eine Zeitschaltuhr, er läuft jeden Tag gegen Mittag automatisch für eine Stunde, heizt mal kurz durch und lädt die Akkus auf.«

»Scheint ja alles wirklich ganz clever eingerichtet zu sein.«

»Das stammt auch zum größten Teil noch vom Bundesgrenzschutz. Die sind aber auch erst schlauer geworden, nachdem ihnen mal in einem Winter die gesamte Installation geplatzt ist.«

»Hehe, kann mir vorstellen, dass das nicht sonderlich angenehm war. So, ich verschwinde mal aufs Klo. Mal schaun, wie ich das im Lichte der Taschenlampe hinbekomme.«

Sollte ich es ihm sagen oder nicht? Naja. Gut. Er war ja wieder mein Freund, da wollte ich mal nicht so sein, also rief ich ihm hinterher.

»Reiko?«

»Ja?«

»Du kannst es natürlich mit der Taschenlampe versuchen, schlauer wäre es aber, wenn du einfach den Lichtschalter betätigen würdest.«

Er schaute mich groß an.

»Hä? Ich denke, der Strom ist abges… Halt. Sag es nicht, ich weiß schon. Die Lampe im Bad hängt auch mit an den Akkus.«

Ich grinste.

»Genau.«

»Ah. Danke für den Tip, das macht einiges leichter.«

Er verschwand im Bad, und ich ging ins Schlafzimmer, verfolgt vom Kratzen der Krallen von Arko auf dem harten Holzboden. Im Schein meiner Taschenlampe entzündete ich mit einem bereitliegenden Feuerzeug nacheinander die Petroleumlampen, und schon war das Schlafzimmer in das flackernde Licht der offenen Flammen getaucht. Die Taschenlampe landete auf meinem Nachttisch, ebenso mein mitgebrachtes Buch, ich schlug meine Bettdecke zurück und machte es mir gemütlich. Hach tat das gut…

Ich schloß die Augen, irgendwie hatte ich keine rechte Lust noch zu lesen. Im Hintergrund hörte ich die Klospülung, gleich würde Reiko hier auftauchen, und ich konnte ihm beim Ausziehen zuschauen. Ups. Weg mit diesen Gedanken!

Genau in diesem Augenblick spürte ich plötzlich ein schweres Gewicht auf meinen Füßen! Was war denn nun schon wieder los? Ich riß die Augen auf, hob meinen Kopf etwas, sah zum Fußende meines Bettes – und schaute in die braunen Augen von Arko, der es sich dort gemütlich hatte! Also das ging nun wirklich nicht!

»Husch! Runter da! Das ist mein Bett!«

Genausogut konnte ich wohl mit einer Wand reden, der Hund rührte sich nicht von der Stelle.

»Runter mit dir, Arko! Nerv gefälligst dein Herrchen!«

»Der weiß ganz genau, dass er das bei mir nicht darf, deshalb probiert er es wohl bei dir.«

Unbemerkt war Reiko wieder ins Zimmer gekommen und schaute amüsiert auf die vorgefundene Bettsituation.

»Also bei irgendwem muß er das ja dürfen, sonst würde er es gar nicht erst probieren, oder?«

»Oh, Faby, ich wußte gar nicht, dass du auch ein Hundekenner bist! Aber du hast vollkommen recht, Nicole läßt ihn oft mit ins Bett, wenn er bei ihr schläft.«

Na prima, und ich durfte jetzt die Inkonsequenz seiner Schwester ausbaden.

»Na los, Arko, runter da!«

Oh, die Stimme seines Herrn schien zu wirken, jedenfalls stieg der Hund langsam und widerwillig von seinem auserkorenen Schlafplatz herunter – worüber sich meine Beine freuten, der war ganz schön schwer!

»Aber da haben wir jetzt ein kleines Problem, Fabian.«

Probleme um eine solche Uhrzeit mochte ich nun überhaupt nicht.

»Was für eins?«

»Ich habe keine Decke für ihn mit, bei meiner Tante hätte er eine eigene Schlafdecke gehabt. Und ich möchte eigentlich nicht, dass er auf dem kalten Fußboden schläft.«

Hm, das klang allerdings vernünftig. Genauso widerwillig, wie Arko mein Bett verlassen hatte, quälte auch ich mich nun wieder aus den Federn. Im Schrank mit dem Bettzeug hatte ich vorhin etwas liegensehen, woran ich mich jetzt erinnerte. Die alte Bundeswehrdecke würde dafür sorgen, dass Arko einen warmen Schlafplatz hatte.

»Ich glaube, ich habe da eine Lösung.«

Ich ging zum Schrank und holte die Decke heraus.

»Reicht die aus?«

Reiko lächelte mich erleichtert an.

»Ja, super, die ist prima!«

Na also, wer sagts denn. Ich breitete die Decke zwischen unseren beiden Betten aus und zeigte sie Arko.

»Hier kannst du schlafen, sollst ja nicht leben wie ein Hund.«

Der Vierbeiner schien verstanden zu haben, was ich von ihm wollte, er lief jedenfalls auf die Decke, schnüffelte ein wenig herum, drehte sich dreimal im Kreise und ließ sich dann mit einem deutlich hörbaren Schniefen nieder.

»So, Reiko, noch irgendwelche Probleme zu lösen? Oder kann ich mich wieder hinlegen?«

»Vielen Dank, der Herr, ich denke mal, dass jetzt alle Probleme gelöst sind.«

Das wollte ich auch hoffen, und mit diesem erfreulichen Gedanken legte ich mich wieder ins Bett. Unterdessen schlug Reiko die Decke seines Bettes zurück und begann dann damit, sich aus seinem Hausanzug zu schälen. Und ich schaute natürlich überhaupt nicht hin! Sein nackter, muskulöser Oberkörper wurde sichtbar, und das war etwas, wofür er sich nun wirklich nicht zu schämen brauchte!

»Willst du nicht ein Foto machen, da hast du länger was von.«

Mist! Er hatte mich ertappt!

»Ähm… Sorry… Ich dreh mich um.«

»Haha, brauchst du nicht, wir haben uns ja oft genug schon nackt gesehn.«

Allerdings war das viele Jahre her, und zum damaligen Zeitpunkt waren nackte Jungenkörper noch nicht so interessant für mich gewesen.

Reiko schlüpfte ins Oberteil seines Schlafanzuges, und ich war schon sehr gespannt darauf, was nun folgen würde. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Reiko das genau wußte und auch ausnutzte, jedenfalls bemühte er sich nicht im geringsten, sein nacktes Hinterteil vor mir zu verbergen, als er die Hausanzughose und seine Retroshorts aus- und danach die Schlafanzughose anzog. Nur den Gefallen, sich zwischendurch auch einmal umzudrehen, tat er mir nicht.

»So, Herr Röcker, das war genug Peepshow für heute!«

Wie bedauerlich. Allerdings rächte es sich jetzt, dass ich vorhin unter der Dusche nicht zum Zuge gekommen war, meine eigene Schlafanzughose war plötzlich sehr eng geworden.

Reiko legte seine Tagesklamotten auf einen Stuhl, dann kam er grinsend in meine Richtung! Was würde jetzt wohl passieren?

Reiko

Der arme Fabian, den hatte ich wohl ziemlich aufgeheizt. Naja, war vielleicht gar nicht so schlecht, in dem doch recht kalten Schlafzimmer. Wie ich jetzt auf ihn zukam, schaute er mich mit großen Augen an. Was der wohl jetzt dachte was passieren würde?

Zwei Schritte vor seinem Bett blieb ich stehen und ging in die Hocke.

»So, Arko, nun schlaf schön.«

Ich streichelte dem Hund über das seidige Fell auf seinem Kopf und schaute dabei mit einem Auge zu meinem Gastgeber herüber. Der schien ein wenig enttäuscht zu sein, dass es nicht sein Kopf war, über den ich streichelte, aber da zog ich nun doch eine Grenze. Ich stand auf, ging zu meinem eigenen Bett und ließ mich hineinsinken.

»Das tut gut!«

Endlich ausstrecken, endlich Feierabend, der Tag war wirklich ziemlich extrem gewesen.

»Liest du noch, Fabian?«

»Nee, mir reichts für heute, ich mach jetzt auch meine Lampe aus. Aber du kannst ruhig noch lesen, es stört mich nicht.«

»Danke, aber ich glaube, ich hab dazu auch keine Lust mehr. Wie macht man die Lampen aus?«

»Du mußt nur an dem kleinen Rädchen drehen bis der Docht verschwindet, dann geht auch die Flamme aus.«

Ich tat genau das, und fast im gleichen Moment verloschen unsere beiden Petroleumfunzeln.

»Ah, das tut gut. Endlich mal die Augen erholen.«

Stimmt, auch ich empfand die Dunkelheit, die nur durch etwas Mondlicht bzw. dessen Reflektionen durch den Schnee etwas aufgehellt wurde, als sehr angenehm.

»Also gute Nacht, Reiko.«

»Gute Nacht, Faby.«

Stille kehrte ein, ab und an war aus Richtung Wohnzimmer noch das Knacken von Holz im Kamin zu hören, ansonsten nahm ich nur noch Atemgeräusche von Fabian und Arko wahr.

»Ach, und Reiko?«

Nanu?

»Ja?«

»Ich bin froh, dass ich dich gefunden hab.«

Vor ein paar Stunden hörte sich das noch ganz anders an.

»Faby?«

»Ja?«

»Ich auch.«

»Fein. Also schlaf gut.«

»Gleichfalls.«

Kaum zu glauben, wie dieser Tag mein Leben verändert hatte. Noch vor wenigen Stunden hatte ich eine Freundin und einen besten Kumpel, und war eigentlich mit meinem Leben ganz zufrieden gewesen. Nun, einen halben Tag später, hatte ich keine Freundin mehr und auch keinen besten Kumpel, dafür aber wohl meinen alten besten Freund wieder. Und irgendwie, so schwer es mir auch fiel, mir das einzugestehen, war ich jetzt noch etwas zufriedener als vorher. Versteh mir einer die menschliche Psyche. Über diesen tiefschürfenden Gedanken schlief ich, begleitet von den gleichmäßigen Atemzügen Fabians, der wohl schon in Morpheus Armen schlummerte, ein…

Wach wurde ich durch eine ziemlich unangenehme Kälte an meinem linken Fuß. Schnell zog ich diesen wieder unter die warme Decke, dann öffnete ich langsam und vorsichtig die Augen. Das Zimmer lag in leichtem Dämmerlicht, und ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es kurz vor acht Uhr morgens war. Also an der Zeit, dafür zu sorgen, dass Arko das erste Mal am Tag vor die Tür kam. Ich schaute zur Hundedecke – aber da war kein Arko zu sehen!

Wo trieb der sich denn nun schon rum, um diese frühe Uhrzeit? Meine Augen wanderten durchs Zimmer und brachten mir sehr schnell die Antwort auf meine Frage. Meinem verwöhnten Vierbeiner war wohl seine Decke doch noch etwas zu unbequem gewesen, jedenfalls lag er wieder zusammengerollt am Fußende von Fabians Bett! Unter dessen Decke war zu erkennen, dass mein Gastgeber seine Beine etwas angezogen hatte, sodass Arko nicht direkt auf ihm lag. Ich mußte grinsen, dann sprach ich den Hund ganz leise an, um Fabian nicht aufzuwecken.

»Arko. Los, runter da!«

Der Hund rührte sich nicht von der Stelle.

»Na mach schon, bevor Fabian das mitbekommt!«

»Der hat das schon lange mitbekommen, oder was glaubst du, warum der so zusammengekauert im Bett liegt?«

Ups.

»Sorry, Fabian, hab ich dich geweckt?«

»Nee, ich bin schon ein Weilchen nur noch im Halbschlaf und döse vor mich hin.«

»Warum hast du Arko nicht aus dem Bett geschmissen?«

»Hahaha. Das habe ich heute Nacht schon zweimal gemacht, aber kaum war ich eingeschlafen, ist der jedesmal wieder hochgesprungen. Beim dritten Mal hab ichs dann einfach aufgegeben.«

»Tut mir wirklich leid, das habe ich gar nicht mitbekommen.«

»Wie denn auch, so fest wie du geschlafen hast. Dich hätte wohl nicht einmal ein Elefant geweckt, der in dein eigenes Bett gesprungen wäre.«

»Hehe. Stimmt, ich schlafe immer sehr fest.«

»Na super. Aber wo du jetzt endlich wach bist, könntest du das Tierchen vielleicht dazu überreden, wieder runterzuspringen.«

Na gut, ich wollte mal nicht so sein. Außerdem kannte ich das Zauberwort, mit welchem ich Arko vom Bett vertreiben konnte.

Ich arbeitete mich unter der Bettdecke hervor, mittlerweile nicht nur von Fabian sondern auch von Arko neugierig beobachtet. Mein Gott, waren die Hausschuhe kalt! Die sollte ich wohl zukünftig lieber mit unter die Decke nehmen. Mit einem herzhaften Gähnen stand ich auf und ging zur Zimmertür.

»Arko, Gassi!«

Mit einem riesigen Satz sprang der gerufene Schwanzwedler vom Bett und hatte mich überholt, bevor ich überhaupt die Tür erreicht hatte.

»Das muß ich mir merken, einfach ‚Gassi‘ sagen, schon bin ich den Quälgeist los.«

Ich drehte mich kurz zurück zu Fabian, der mittlerweile seinen Kopf auf den Ellenbogen gestützt hatte.

»Tja, aber freu dich nicht zu früh, wenn du das Wort in den Mund nimmst, mußt du ihn dann auch rauslassen, ansonsten wird er ungemütlich.«

Dann konnte es passieren, dass er nicht mehr ruhig am Fußende des Bettes lag, sondern regelrecht auf dem eigentlichen Bettbesitzer herumtrampelte, bis sich dieser endlich bequemte, den Worten Taten folgen zu lassen. Ich hatte es selbst erlebt…

»Dafür hab ich ja dann dich. Ach ja, und vergiß bitte nicht, den Generator anzuwerfen.«

So ein oller Antreiber.

»Okay, okay, ich kümmere mich drum.«

Hätte ich aber auch so getan, schließlich wollte auch ich möglichst bald über warmes Wasser und die anderen Annehmlichkeiten der Stromversorgung verfügen.

Das Wohnzimmer war erfreulicherweise gar nicht so kalt, wie ich erwartet hatte, da hatte wohl das Kaminfeuer noch eine ganze Weile gebrannt, auch wenn es jetzt völlig aus zu sein schien. Ich ging zur Haustür, um Arko rauszulassen, und im nächsten Moment war ich froh, dass diese Tür nach innen aufging. Ansonsten wären wir wohl komplett eingesperrt gewesen!

Vor der Tür lagen gut und gerne 25 Zentimeter Neuschnee, Arko guggte erst etwas verwundert, dann sprang er mit Anlauf nach draußen, bloß um sofort bis zum Bauch im Schnee zu versinken. Das schien ihn allerdings nicht weiter zu stören, er sprang fröhlich bellend herum und machte sich auf den Weg zum nächsten Baum, um seinen morgendlichen Verrichtungen nachzugehen. Was mich daran erinnerte, dass ich ja auch noch etwas zu erledigen hatte, also begab ich mich in den Technikraum, drückte auf den berühmten roten Knopf, und kurz darauf erwachte der Diesel zum Leben. Und zwar so laut, dass ich mich ganz schnell wieder zurückzog und die schalldämmende Tür schloß.

Fabian

»Ganz schön laut, das Ding, nicht wahr?«

Reiko hatte wohl nicht mit mir gerechnet, jedenfalls erschrak er etwas bei meinen Worten.

»Schleich dich doch nicht so an!«

»Was hätte ich machen sollen? Bei dem Lärm hättest du doch höchstens noch ne Alarmsirene gehört.«

»Stimmt auch wieder. Zum Glück ist die Geräuschdämmung wirklich gut.«

Allerdings, ansonsten wäre es wohl auch nur schwer auszuhalten gewesen.

»Wieso bist du eigentlich auch schon aufgestanden, ich dachte, du wolltest noch etwas im Bett bleiben?«

Das hatte ich eigentlich tatsächlich vorgehabt, aber irgendwie hatte es mich nicht mehr länger in den Federn gehalten.

»Ich wollte erstmal schnell den Kamin wieder anheizen, damit wir es nachher schon etwas wärmer haben.«

»Gute Idee, obwohl ich finde, dass es hier gar nicht so ausgekühlt ist. Ich hatte befürchtet, in eine Eisgrotte zu kommen.«

Da mußte ich Reiko zustimmen, es war wirklich noch ganz angenehm. Aber das war kein Grund, es nicht noch etwas zu verbessern, also verbrachte ich die nächsten Minuten damit, wieder ein Feuerchen in Gang zu bringen. Mein Gast rief unterdessen den Bettbelagerer wieder ins Haus und rubbelte ihn trocken.

Anschließend besuchten wir die Toilette (einzeln!), richteten die Betten her (zusammen!), dann war es auch schon an der Zeit, sich ums Frühstück zu kümmern. Kurz nach halb neun saßen wir dann gemütlich am Tisch, tranken Kaffee und vertilgten frisch aufgebackene Brötchen mit Nutella.

»Hast du schon gesehn, wieviel das letzte Nacht noch geschneit hat?«

Das hatte ich allerdings, ein Blick aus dem Fenster war eine meiner ersten Amtshandlungen des Tages gewesen.

»Ja, ich schätze mal, seit wir gestern hier angekommen sind, hat es noch gut 30 Zentimeter zugelegt.«

Im Moment krümelte es nur noch leicht, aber wenn man der Unwetterwarnung glauben konnte, war das nur eine kurze Verschnaufpause.

»Und was machen wir da heute?«

Das war eine gute Frage. Meine erste Idee war Skilaufen, aber bei dem vielen Pulverschnee hatte das wohl nicht viel Sinn.

»Ich weiß es noch nicht so richtig.«

»Also eines sag ich dir, Faby, noch so eine Schneewanderung wie gestern brauch ich heute nicht.«

Hm, wieso eigentlich nicht? Mit der passenden Ausrüstung wäre das vielleicht sogar eine ganz nette Sache.

»Mit normalen Schuhen hab ich da auch keine Lust drauf, aber wir haben hier auch Schneeschuhe! Damit sollte das eigentlich kein Problem sein.«

»Schneeschuhe? Diese großen Dinger, mit denen man im Schnee nicht einsinkt?«

»Genau die.«

»Das wäre eine Überlegung wert.«

»Allerdings. Eins ist klar, den ganzen Tag hier in der Bude rumhocken geht auch nicht, da springen wir uns spätestens nach zwei Tagen an die Gurgel. Mal davon abgesehen, dass dein Hund doch sicher auch immer mal raus muß. Und auch mal länger als drei Minuten.«

»Hast recht. Also gehen wir nachher wandern?«

»Wenn du nicht noch eine bessere Idee hast, sollten wir das tun.«

»Okay. So, was meinst du, ist jetzt schon etwas warmes Wasser da?«

Wir hatten jetzt seit einer Dreiviertelstunde wieder Strom, entsprechend lange lief die Warmwasserbereitung.

»Ja, es wird wohl noch nicht ganz heiß sein, aber warm genug zum Zähneputzen und so weiter sollte es mittlerweile schon sein.«

»Schön, dann werde ich mich mal schnell fertigmachen, wenn du nichts dagegen hast.«

Hmpf. Also eigentlich wollte ich ja diesmal der erste sein, der vom warmen Wasser profitierte.

»Geh ruhig. Aber ich warne dich! Wenn du das ganze warme Wasser verbrauchst und ich mich dann eiskalt waschen muß, sabotiere ich deine Schneeschuhe, auf dass du jämmerlich versinkst!«

Frech grinste Reiko mich an.

»Okay, ich werde versuchen, mich beim Wasserverbrauch zurückzuhalten.«

Das wollte ich ihm auch sehr raten. Während Reiko nun ins Bad verschwand, räumte ich den Tisch ab und schaute nochmal nach dem Feuer im Kamin. Das loderte mittlerweile fröhlich vor sich hin. Ich legte noch zwei Scheite nach, damit es nachher während unserer Abwesenheit nicht ausging, dann setzte ich mich in einen Sessel und spielte ein wenig mit Arko, der von irgendwoher einen Beißring angeschleppt brachte. Bei dieser Beschäftigung fand uns auch das Hundeherrchen vor, als es in seiner schicken langen Unterwäsche wieder ins Wohnzimmer kam.

»Arko scheint dich zu mögen, seinen Beißring bringt er nicht zu jedem.«

»Tja, der durchschaut mich halt. Was ist an einem wie mir auch nicht zu mögen?«

»Haha, Einbildung ist auch ne Bildung. So, das Bad ist frei, und ein paar Tropfen warmes Wasser sollten auch noch übrig sein.«

»Das will ich für dich hoffen!«

»Jetzt hab ich aber Angst!«

»Solltest du auch!«

Mit diesen Worten zog ich mich zurück, holte meine Tagesklamotten und erledigte im Bad all die Dinge, die man frühmorgens halt so erledigen sollte. Und auch Reikos Leben war – für den Moment jedenfalls – in Sicherheit, er hatte mir tatsächlich warmes Wasser übrig gelassen.

Nachdem ich meine Thermowäsche angezogen hatte, verstaute ich noch den Schlafanzug im Bett, dann gesellte ich mich zu Reiko ins Wohnzimmer, der im Sessel saß und im Harry-Potter-Buch las.

»So, ich wär dann auch soweit. Wollen wir gleich los, oder noch ein wenig warten?«

Reiko schaute auf die Uhr.

»Zehn nach halb zehn. Was hältst du davon, dass wir um zehn aufbrechen?«

»Okay, uns drängt ja nichts.«

Also ließ auch ich mich nieder und griff zu meinem Buch. Eine Viertelstunde später rafften wir uns dann auf.

»Sag mal, Reiko, was hast du eigentlich an Klamotten mit? Nur Jeans und so?«

»Ja, leider, ich war nicht davon ausgegangen, großartig im Schnee rumzutollen.«

Das war nun nicht unbedingt die günstigste Winterausrüstung, aber andererseits auch kein wirkliches Problem.

»Komm mit, ich glaube, ich habe da was passendes für dich.«

Wir gingen zusammen ins kleine Schlafzimmer, wo ich zielstrebig den Kleiderschrank öffnete.

»Wir haben hier ein paar Schneeanzüge, die Tom und mir zu klein geworden sind, hauptsächlich noch unsere alten Kinderanzüge. Manche Flachlandindianer unter unseren Gästen denken gar nicht so weit und sind dann froh, dass sie wenigstens für die Kids was vorfinden.«

»Naja, ich bin genauso groß wie du, was dir nicht mehr paßt dürfte auch mir nicht passen.«

»Stimmt, aber hier ist auch noch einer von Tom, der ihm bis vor kurzem noch gepaßt hat, der also etwa deine und meine Größe hat. Der blaue dort, probier ihn einfach mal an.«

Reiko griff in den Schrank, breitete den leuchtendblauen Overall aus und stieg hinein.

»Ein bißchen eng ist er, aber ansonsten paßt er ganz gut.«

»Naja, Tom ist Judoka, kein aufgemotzter Eishockey-Krieger. Was meinst du, wird es trotzdem gehen?«

»Klar, ist auf jeden Fall viel besser als einfach nur Jeans.«

Das war es mit Sicherheit.

»Machen wir jetzt los? Dann behalte ich den gleich an – ansonsten zieh ich ihn lieber nochmal aus, der scheint mir nämlich sehr schön warm zu sein.«

»Ja, ich zieh mich auch gleich an. Du kannst ja schonmal in den Lagerraum gehen, dort sind die Schneeschuhe.«

»Lagerraum? Wo ist der?«

»Gleiche Richtung wie zum Generatorraum, nur nicht die zweite sondern gleich die erste Tür. Der Lagerraum dient als zusätzliche Geräuschdämmung zum Wohnbereich.«

Reiko nickte und zog von dannen, und auch ich verließ das kleine Schlafzimmer, um gegenüber ins große zu gehen, wo ich aus dem Kleiderschrank meinen eigenen, knallroten Skioverall herausholte, den ich sodann mit meinem Götterkörper füllte.

Reiko

Fabians Familie hatte anscheinend wirklich an alle Eventualitäten gedacht. Sogar mit einem Schneeanzug konnte mein Gastgeber aufwarten, damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.

Verfolgt von Arko suchte und fand ich den Lagerraum, in welchem sich dann meine Vermutung von soeben erneut bestätigte. Skischuhe und Tourenski samt Skistöcken für eine halbe Kompanie waren hier eingelagert, dazu Decken, Schlafsäcke, Schneeschieber und -schaufeln füllten den Raum, ja sogar eine kleine Schneefräse stand in einer Ecke! Auch ein ganzes Regal voller Dosenfutter und Getränke war vorhanden. Das mußte ich neidlos anerkennen: Wenn Röckers etwas anpackten, dann taten sie das anscheinend richtig!

Und da hinten, das waren wohl die Schneeschuhe, die Fabian und mir die Fortbewegung im Neuschnee erleichtern sollten. Große Korbgeflechte mit einfachen Bindungen zum Festschnallen der Schuhe, so richtig wie man es in Filmen z.B. über Polarexpeditionen sehen konnte. Ich nahm zwei Paar von ihren Wandhalterungen ab, und Arko nieste wegen das davonstiebenden Staubes.

»Tut mir leid, die sind ewig nicht benutzt und daher auch ewig nicht abgestaubt worden.«

Wieder hatte sich Fabian regelrecht an mich angeschlichen, und wieder zuckte ich vor Schreck zusammen.

»Weißt du was, Faby? Ich werde dir wohl ne Kuhglocke um den Hals hängen, damit du mich nicht mehr so erschrecken kannst!«

»Haha, da wäre erst noch zu klären, wer hier das Rindviech ist!«

Das Lächeln in Fabians Gesicht nahm seinen Worten die Schärfe, sodass auch ich darüber lachen konnte.

»Schon gut, schon gut. Hier, nimm dir ein Paar. Brauchen wir dazu sonst noch was?«

»Ja, Skistöcke.«

Davon waren reichlich vorhanden, also suchten wir uns jeder ein passendes Paar aus. Wenige Minuten später, nachdem wir noch unsere Schuhe angezogen und Fabian den Generator ausgeschaltet hatte, verließen wir die Hütte. Noch im Haus schnallten wir uns die Schneeschuhe unter, und traten dann regelrecht eine Stufe hinauf in den frisch gefallenen Schnee.

Es war das erste Mal, dass ich mich so fortbewegte, und ich war überrascht, dass ich tatsächlich kaum einsank. Ganz im Gegensatz zu Arko, der zwar begeistert herumsprang, aber jedesmal bis zum Bauch in der weißen Pracht versank.

Auch Fabian sah das und erkannte das Problem, das damit auf uns zu kam.

»Mist, daran habe ich nicht gedacht. Für deinen Hund hab ich leider keine Schneeschuhe.«

Das hätte sicherlich extrem drollig ausgesehn.

»Ich sehe, was du meinst. Das Rumspringen hält er eine Weile durch, aber irgendwann ist er davon so erledigt, dass er nicht mehr weiter kann. Und dann wird es schwer, ihn vom Fleck zu bekommen.«

»Schwer ist genau das richtige Wort. Ich möchte den nicht unbedingt weit tragen müssen.«

Ich auch nicht. Arko wog gute 30 Kilo, den eine längere Strecke zu schleppen konnte man niemandem zumuten. Aber momentmal…

»Sag mal, Fabian, im Lagerraum stand doch auch so ein Schalenschlitten aus Plaste, oder?«

»Stimmt. Du meinst, wir nehmen den mit und ziehen Arko dann damit durch den Schnee, wenn er nicht mehr kann?«

»Ja. Das gibt zwar dem Wort ‚Schlittenhund‘ eine ganz neue Bedeutung, aber die einzige Alternative wäre, Arko hier alleine in der Hütte zu lassen. Und das möchte ich eigentlich nicht, er würde zwar nichts anstellen, aber sich extrem langweilen.«

Fabian überlegte kurz, dann nickte er.

»Hast recht, das ist eine gute Idee. Der Schlitten ist sehr leicht, den kann sich einer auf den Rücken binden, solange er nicht gebraucht wird. Dazu noch eine Decke, damit der Hund dann gut in dem Ding liegen kann, und damit sollte das Problem gelöst sein.«

Wir waren uns also einig, und kurz darauf trug ich den roten Schlitten auf dem Rücken und Fabian hatte sich eine zusammengerollte Decke umgeschnallt. So ausgerüstet stapften wir los, nachdem Faby noch die Hütte verschlossen hatte.

»Sag mal, wie sollen wir hier überhaupt vor dem Frühling wieder wegkommen? Bei dem vielen Schnee kommt doch garantiert auch der Jeep nicht durch.«

Dieser hatte sich seit dem Vortag in einen großen Schneehügel verwandelt, dessen Formen nur noch ansatzweise verrieten, dass sich darunter ein Auto verbarg.

»Keine Bange, solange sitzen wir hier nicht fest. Wir haben einen Vertrag mit dem Winterdienst, sobald die Hauptstraßen frei sind, schicken die eine Schneefräse hier rauf.«

Das beruhigte mich einigermaßen, bei aller alter/neuer Freundschaft mit Fabian war die Aussicht, hier nicht nur für Tage sondern vielleicht gar für Wochen festzusitzen, doch nicht sonderlich verlockend.

»Wo gehen wir jetzt überhaupt hin?«

»Wir gehen nirgendwohin, wir drehen nur eine schöne Runde durch den Wald. Ich such uns eine Strecke mit möglichst wenig Höhenänderungen, da machen sich die Schneeschuhe am besten.«

Das klang vernünftig, und so stapften wir durch die weiße Pracht. Wir kamen ganz gut voran, und ich genoß die zwar kalte, aber klare und saubere Winterluft. Es krümelte sanft vor sich hin, ab und an waren im Schnee Spuren von Tieren zu sehen, aber es war sehr still im Wald, außer unseren eigenen Geräuschen war kaum etwas zu hören.

Die erste Zeit kamen wir recht flott voran, und auch Arko schien gar nicht genug vom Herumtollen im Schnee zu bekommen. Ein Gedanke nagte allerdings in mir, und ich wurde ihn einfach nicht los.

»Sag mal, findest du dich auch wieder zurück zur Hütte?«

»Klar, wir brauchen doch notfalls nur unseren eigenen Spuren zu folgen.«

Das klang zwar logisch, aber da konnte ja durchaus was dazwischenkommen.

»Und was ist, wenn es wieder anfängt stark zu schneien und der Neuschnee unsere Spuren verdeckt?«

»Tja, dann…«

Was dann?

»Dann werden wir es wohl damit versuchen müssen.«

Fabian war stehengeblieben, griff in eine Tasche seines Overalls und zeigte mir ein etwa handygroßes Gerät.

»Was ist das?«

»Ein GPS-Empfänger.«

Ich wußte sofort, was damit gemeint war, hatte mein Vater in seinem Auto doch selbst ein GPS-Navigationssystem, und auch beim DRK setzten wir solche Dinger ein.

»Und das funktioniert hier im Wald?«

»Nicht besonders gut, aber es reicht aus, um zurück zur Hütte zu finden.«

»Sag mal, du bist nicht zufällig bei den Pfadfindern, oder?«

»Wieso?«

»Weil du irgendwie auf alles vorbereitet zu sein scheinst.«

»Mein Paps besteht drauf. Erinnerst du dich an den Fall Vormüller?«

Vormüller, Vormüller… Da war mal was. Ah!

»War das nicht der Bergwacht-Typ, der sich bei einer Suchaktion selber verlaufen hat?«

»Genau den meine ich.«

Das war jetzt drei oder vier Jahre her. Alois Vormüller suchte auf eigene Faust einen vermißten Skiwanderer und wurde von einem Schneesturm überrascht. Er fand nicht mehr aus dem Wald heraus und blieb völlig entkräftet an einem Baum liegen. Seine Kollegen fanden ihn zwar noch lebendig vor, allerdings mußten ihm danach mehrere Zehen wegen Erfrierungen amputiert werden.

»Und der Typ kannte sich hier wirklich verdammt gut aus. Wenn das so einem Profi passieren kann, dann kann das jedem passieren. Deshalb hab ich hier im Winter immer das Ding mit dabei.«

Damit gehörten natürlich auch meine kleinen Ängste bezüglich des möglichen Verirrens im verschneiten Wald, in dem irgendwie alles irgendwie gleich aussah, der Vergangenheit an.

»Und, Reiko, kannst du noch?«

»Ja, kein Problem. Das läuft sich wirklich gut mit den Schneeschuhen, kein Vergleich zu meinem mühsamen Stapfen durch den Schnee gestern.«

»Prima, dann können wir ja weiter.«

»Jup. Abmarsch.«

Oder etwa nicht? Während Fabian und ich noch vollkommen fit waren, schien Arko nicht mehr gewillt, sich auf den eigenen Pfoten weiterzubewegen. Dass ich das mal erleben durfte, mein vierbeiniges Energiebündel war müde!

»Schau mal, Reiko, sieht so aus, als müßte der Hundeschlitten zum Einsatz kommen.«

Fabian hatte es also auch bemerkt. Ich schnallte mir den Schlitten ab, Fabian legte die Decke in die Plastikschale, und als hätte Arko nur darauf gewartet und genau gewußt, was geplant war, sprang er auf die Decke. Schwanzwedelnd schaute er uns an und schien dabei fast ein wenig zu lachen. So nach dem Motto »So, nun aber los, zieht mich!«. Seufzend legte ich mir den Schlittengurt um, und dann marschierten wir weiter. Durch die zusätzliche Last waren wir nun natürlich um einiges langsamer als zuvor.

Während wir so durch den Wald stapften, unterhielten wir uns über alles mögliche, ganz besonders über die letzten Jahre, in denen wir uns dermaßen fremd gewesen waren. Fabian erzählte von seinem Studium, ich von meiner Hoffnung, dieses Schuljahr das Abi einigermaßen ordentlich hinzubekommen, wir tauschten uns darüber aus, was so in den Familien abgelaufen war, und ganz allgemein machten wir einen großen Schritt auf dem Weg des Einander-Wieder-Kennenlernens.

Nach etwa einer halben Stunde blieb Fabian stehen.

»So, Reiko, ich nehm dir jetzt mal den Schlitten ab.«

»Brauchst du nicht, das faule Stück da hinten ist schließlich mein Hund.«

»Nichts ist. Ich wäre ja ein schöner Freund, wenn ich die ganze Arbeit dir überlassen würde.«

Nun gut, ich würde mich bestimmt nicht mit Händen und Füßen dagegen wehren. Ich befreite mich vom Schlittengurt und schaute zu Arko.

»Nun sieh dir mal den Faulpelz an, Faby!«

Dieser (also der Faulpelz!) wußte natürlich ganz genau, dass von ihm die Rede war, er hob den Kopf und wedelte wieder mit dem Schwanz. Dieses Gezogenwerden schien ihm ganz gut zu gefallen!

»Hehe, wie Graf Koks von der Kuchengabel.«

»Der soll bloß nicht glauben, dass er sich den ganzen Tag nur noch auf fremde Kraft verlassen kann!«

»Naja, jetzt kann er sich erstmal noch eine Weile auf meine Kraft verlassen, und dann sehen wir mal weiter. Die Strecke, die ich mir ausgedacht habe, führt uns in einem Bogen zurück zur Hütte, beim jetzigen Tempo werden wir noch gut eine Stunde dafür brauchen.«

Das sollte kein Problem sein, ich jedenfalls fühlte mich noch richtig fit, und auch der geliehene Overall hielt mich wunderbar warm und trocken.

Nachdem Fabian den Schlittengurt von mir übernommen und sich über die Schulter geschlungen hatte, setzten wir unsere Wanderung und unser Gespräch wieder fort. Diesmal war ich es, der nach vielleicht zehn Minuten anhielt.

»Sag mal, Faby, riechst du das auch?«

Auch das Schlittengespann war stehengeblieben.

»Was meinst du?«

»Riech doch mal! Das riecht hier irgendwie verbrannt, oder nicht?«

Fabian reckte die Nase in die Luft und schnüffelte. Ich war mir absolut sicher, einen leichten Brandgeruch wahrzunehmen.

»Stimmt, irgendwas kokelt hier. Riecht nach verbrennendem Holz.«

Sehr komisch.

»Ein Waldbrand? Mitten im Winter?«

»Glaub ich nicht, Reiko. Bei dem vielen Schnee wäre jede Flamme ganz schnell wieder verloschen.«

»Denke ich eigentlich auch, deshalb auch meine Verwunderung.«

Wir hielten weiter unsere Nasen in die Luft.

»Kannst du ausmachen, woher das kommt, Reiko?«

»Gute Frage. Ich würde sagen, etwa von dort, zehn Uhr oder so.«

»Könnte hinkommen. Ich denke, wir sollten uns das mal näher ansehen.«

Da konnte ich Fabian nur zustimmen. Wenn im Wald irgendetwas brenzlig roch, dann tat man gut daran, den Grund dafür herauszufinden. Wir änderten also unseren Kurs und marschierten in Richtung des Brandgeruchs. Daran, dass dieser langsam stärker wurde, erkannten wir, dass wir wohl auf dem richtigen Wege waren.

»Reiko, schau mal, ist das Rauch da vorne?«

Ich starrte angestrengt in die weiße Schneelandschaft. Erst konnte ich nichts erkennen, dann aber sah ich tatsächlich eine blasse Rauchwolke zwischen den Bäumen!

»Ja, ganz eindeutig! Hast du eine Ahnung, was sich dort befindet?«

Fabian dachte angestrengt nach.

»Irgendwo hier haben im Herbst Holzfäller einen Wagen abgestellt, aber die sind vor ein paar Tagen für dieses Jahr abgerückt.«

Das wurde immer mysteriöser. Wir hielten weiter auf die Rauchquelle zu, und zwei Hügelkuppen später erkannten wir, dass der Brandgeruch tatsächlich aus dem von Fabian angesprochenen Holzfällerwagen kam. Um genauer zu sein, kamen Rauch und Brandgeruch aus dessen Schornstein!

»Sehr seltsam. Irgendwer hat sich da im Wagen eingenistet.«

»Verirrte Wanderer?«

»Tja, Reiko, es gibt nur einen Weg, um das herauszufinden. Allerdings scheint mir das im Moment noch die einleuchtendste Erklärung zu sein.«

»Okay, schauen wir nach.«

Noch bevor wir uns wieder in Bewegung setzen konnten, sprang bereits Arko an uns vorbei und flitzte (so schnell das halt im tiefen Schnee ging) in Richtung Holzfällerwagen davon.

»Sieh dir den an, wie schnell der plötzlich wieder auf den Pfoten ist!«

»Tja, seine Faulheit wird nur noch durch eins übertroffen: durch seine Neugier.«

»Du mußt es ja wissen, du Faultierherrchen.«

»Haha. Also los, sehen wir uns das mal aus der Nähe an.«

Von Arkos Last befreit, ging es nun auch bei Fabian und mir wieder schneller voran, und zielstrebig näherten wir uns dem Objekt unserer Neugier. Arko war bereits dort eingetroffen und sprang laut bellend um den Wagen herum, allerdings vorerst ohne irgendeine Reaktion zu bekommen.

»Also entweder sind die da drinnen taub, oder sie haben Angst vor deinem Hund.«

»So taub kann man gar nicht sein, dass man das Gekläffe nicht mitbekommt.«

Schnell legten wir die letzten Meter zurück, und gerade als wir an dem anscheinend gut beheizten Wagen ankamen, öffnete sich zaghaft dessen Tür…

Fabian

Das war ja fast wie in einem Horrorfilm. Quietschend und knarrend öffnete sich die Tür des Holzfällerwagens. Wer würde uns wohl gleich gegenüberstehen? Der Yeti? Oder viel schlimmer noch: der Messner?

Was jetzt jedoch da in der Türöffnung erschien, hatte eindeutig zuwenig Haare, um ein Yeti zu sein, und selbst für Reinhold Messner war der Bartwuchs noch zu gering weil gar nicht vorhanden. Nein, die Gestalt, die jetzt mit einem verwunderten, aber auch erleichterten Gesichtsausdruck auf uns herabschaute, war eindeutig jüngeren Baujahres, wenn überhaupt dann nicht viel älter als Reiko und ich.

»Ihr habt uns gefunden, Gott sei Dank!«

Allerdings, wir hatten sie gefunden. Aber wer waren »sie«? Und was machten »sie« hier?

»Wer bist du, und was machst du hier in dem ollen Holzfällerwagen? Und sind da noch mehr drin?«

Überrascht schaute der junge Mann Reiko an.

»Wieso fragst du das? Seid ihr nicht ein Suchtrupp von der Polizei oder so?«

Also so niedlich wie der Typ aussah, hätte ich mich garantiert zu jedem Suchtrupp freiwillig gemeldet, aber genau wie Reiko stand ich weiterhin völlig auf dem Schlauch.

»Nein, wir sind kein Suchtrupp, wir waren einfach auf einer kleinen Waldwanderung, als Reiko hier den Rauch von eurem Ofen gerochen hat. Und weil wir uns keinen rechten Reim darauf machen konnten, wollten wir nachschauen, wer hier Holz verfeuert, und nun sind wir hier.«

»Oh. Und ich dachte, ihr hättet uns gesucht.«

»Ja wer seid ihr denn überhaupt, und warum sollte euch jemand suchen?«

Noch während Reiko diese Frage stellte, drängelte sich ein weiterer Wageninsasse am schnuckligen Türöffner vorbei.

»Ich bin Jasmin, und das ist mein Bruder Jonas. Wir wollten gestern mit ein paar Kindern von Gästen der Steintalbaude einen kleinen Waldspaziergang machen, und dabei haben wir uns verlaufen.«

Das durfte doch nicht wahr sein!

»Ihr habt auch noch Kinder dabei? Wieviele? Und wie alt sind die?«

»Wollt ihr nicht reinkommen, damit nicht die ganze Wärme durch die offene Tür verschwindet?«

Jasmin hatte recht, also legten Reiko und ich die Schneeschuhe und die Stöcke ab, dann folgten wir ihr und ihrem Bruder in den Wagen. Zwischen unseren Beinen drängelte sich der Hund durch, dessen Auftauchen im Wagen mit einem mehrstimmigen Freudenruf aus Kinderkehlen kommentiert wurde.

Als Quelle der Jubelrufe machte ich sehr schnell fünf Kinder aus, etwa im Alter von zehn, zwölf Jahren, ein Junge sah noch etwas älter aus. Die fünf hockten auf dem Boden des Holzfällerwagens, eng aneinandergedrängt, wohl um sich noch gegenseitig etwas zu wärmen. Zwar schien der gußeiserne Ofen regelrecht zu glühen, trotzdem war es im Wagen nicht sonderlich warm.

Zwischen diesen Kids wuselte nun Arko herum und ließ sich knuddeln und streicheln. Reiko war von all dem wohl noch mehr überrascht als ich, jedenfalls stand er mit offenem Mund mitten im Wagen und brachte kein Wort heraus. Ich hingegen konnte langsam wieder klar denken.

»Ihr seid gestern von der Steintalbaude aufgebrochen? Und habt euch dann verlaufen?«

»Ja, wie meine Schwester schon sagte, wollten wir mit den Kids von ein paar Gästen einen Winterspaziergang machen. Ich mache in der Steintalbaude eine Ausbildung zum Hotelkaufmann und wurde zur Kinderbetreuung eingeteilt. Jasmin besucht mich gerade über Weihnachten und ist deshalb mitgegangen.«

Der Einäugige führt den Blinden, oder wie?

»Am Anfang gab es auch keine Probleme, es schneite nur ein wenig, und wir hatten viel Spaß. Dann schneite es langsam immer mehr, und es kam auch noch Wind auf. Wir wollten umkehren und unseren eigenen Spuren zurück folgen, aber plötzlich fanden wir keine Spuren mehr.«

Mit einem wissenden Nicken schaute Reiko zu mir herüber. Tja, die GPS-Idee von meinem Vater war wohl wirklich eine verdammt sinnvolle Sache.

»Aber wie seid ihr dann ausgerechnet hier gelandet? Ihr seid verdammt weit weg von der Steintalbaude.«

»Wirklich? Ich weiß es nicht, wir sind so weitergelaufen, wie wir dachten, dass wir laufen müßten. Aber da haben wir uns wohl ganz gewaltig verfranst.«

Das war fast noch eine Untertreibung. Die Truppe hatte anscheinend eine große Kurve gedreht und sich dabei immer mehr von ihrem eigentlichen Ausgangspunkt entfernt. Wahrscheinlich waren sie sogar in ziemlicher Nähe unserer Hütte vorbeigezogen, ohne diese aber bemerkt zu haben.

»Tja, wir wurden langsam panisch, es schneite immer heftiger und es wurde langsam dunkel, dann hat Jonas zum Glück diesen Wagen hier gesehen. Wir wußten uns nicht anders zu helfen, wir haben die Tür aufgebrochen und es uns so warm wie möglich gemacht.«

Naja, dafür würde ihnen wohl niemand einen Vorwurf machen, das war so ungefähr die einzige vernünftige Tat in dem ganzen Schlamassel.

»Seid ihr alle in Ordnung, oder gibt es irgendwelche Wehwehchen?«

»Nein, zum Glück sind wir alle okay, nur die Kinder bekamen es, als es dunkel wurde, etwas mit der Angst zu tun.«

Durchaus verständlich

»Wir haben uns über Nacht aneinandergekuschelt und warmgehalten, und immer gedacht, dass man uns sicher bald finden würde.«

Sehr optimistisch…

»Als wir dann vorhin den Hund hörten, dachten wir, dass uns ein Suchtrupp gefunden hätte.«

»Falsch gedacht, wir hatten gar keine Ahnung davon, dass irgendwer vermißt wird.«

»Aber die müssen uns doch eigentlich vermissen und suchen!«

»Tja, Jasmin, das ist bestimmt auch der Fall, aber wir haben das letzte Mal gestern abend mit der Zivilisation telefoniert, und deshalb gar nichts von eurem Verschwinden mitbekommen.«

Reiko traf den Nagel auf den Kopf, und auch ich wunderte mich nur sehr kurz darüber, dass wir nichts von einer Suchaktion mitbekommen hatten. Erstens würde man die Gruppe wohl nicht so weit weg von der Steintalbaude suchen, und zweitens konnten sich bei der niedrigen Wolkendecke bestimmt auch keine Hubschrauber an der Suche (die garantiert stattfand!) beteiligen. Dann fiel mir noch etwas ein.

»Sagt mal, habt ihr nicht einmal ein Handy dabei?«

Jonas schaute zerknirscht auf seine Füße.

»Doch, ich hab meins dabei. Aber ich bin schon kurz nachdem wir von der Steintalbaude aufgebrochen waren gestolpert und draufgefallen, seitdem gibt es keinen Mucks mehr von sich.«

Na prima, zu allem Unglück kam auch noch Pech dazu. Ich warf einen Blick in die Runde, die Kids waren immer noch begeistert mit Arko zugange, der all die kindliche Zuwendung klaglos über sich ergehen lies.

»Los, ihr zwei, zieht eure Jacken drüber, wir beratschlagen draußen, wie es weitergeht.«

Die Kleinen brauchten nicht alles mitzubekommen, ich war froh, dass die erstmal von der bescheidenen Lage abgelenkt waren. Kurz darauf standen wir zu viert draußen in der klaren Winterluft. Naja, in der nicht ganz so klaren Winterluft, der Kohleofen spuckte doch einiges an stinkendem Qualm aus.

»Und was machen wir jetzt? Könnt ihr uns den Weg zurück zur Steintalbaude zeigen?«

»Jonas, du hast anscheinend keinen blassen Schimmer, wie weit ihr euch von der entfernt habt!«

»Wie weit denn? Wie lange wären wir unterwegs?«

Um diese Frage zu beantworten, mußte ich nicht erst das Satellitenwunder bemühen.

»Auf dem direkten Weg sind es etwa anderthalb Stunden, bei diesen Schneeverhältnissen eher zwei.«

»Naja, das geht ja noch.«

»Nein, Jasmin, tut es nicht. Der direkte Weg führt durchs Teufelsloch, und dort könnt ihr mit den Kids nicht lang.«

Das Teufelsloch war ein tiefer Taleinschnitt, durch den zwar auch Wege führten, diese jedoch waren alle sehr steil. Und wo man wegen des Schnees eh nicht sehen konnte, wo genau man hintrat, war eine Durchquerung ausgeschlossen. Erst recht mit Kindern.

»Wieso?«

Bevor ich antworten konnte, erklärte Reiko bereits den beiden Verirrten den Grund.

»Mist. Und der indirekte Weg?«

»Der führt um das Teufelsloch herum und dauert bei diesen Bedingungen mindestens drei Stunden.«

Ich wunderte mich immer noch, wie die Truppe überhaupt soweit hatte kommen können. Aber darüber nachzugrübeln führte erstmal zu nichts.

»Ist hier irgendwo eine Straße in der Nähe, an der man uns mit einem Auto abholen könnte?«

Reiko und ich lachten.

»Eine Straße gibt es schon, aber auf der rollt in den nächsten Tagen erstmal kein Auto. Hier ist alles im Schnee versunken, wir sitzen auch in unserer Hütte fest.«

»Verdammt, und das ist alles meine Schuld! Wir hätten gleich umkehren müssen, als der Schneefall stärker wurde!«

Das hätten sie allerdings wirklich tun müssen, aber es war müßig, ihm jetzt deswegen irgendwelche Vorwürfe zu machen. Die machte er sich garantiert schon selber zur Genüge – und die würde er auch am Ende der Geschichte noch von einigen Seiten zu hören bekommen.

»Kleine Denkpause, ich rufe erstmal meinen Vater an, dass er die Suchaktion abbrechen kann.«

»Deinen Vater?«

»Sein alter Herr ist hier in der Gegend der Oberbulle … ups … sorry, Fabian. Der Polizeichef. Und der hat garantiert bei der Suche nach euch den Hut auf. Ach ja, ich bin übrigens Reiko.«

Während Reiko dies alles erläuterte, hatte ich mein Handy aus der Brusttasche des Overalls gezogen und eingeschaltet. Tatsächlich, es fand das Netz, zwar recht schwach, aber es sollte reichen. Es wiederholte sich die Zeremonie, die sich schon am Vorabend beim Einschalten abgespielt hatte: es kamen mehrere Meldungen über entgangene Anrufe herein, sowohl von unsere Heimnummer als auch vom Handy meines Vaters. Dieses war es auch, das ich nun anwählte. Nach dreimaligem Klingeln hörte ich die Stimme meines Erzeugers.

»Fabian, tut mir leid, ich hab jetzt keine Zeit für dich, wir haben hier gerade ein totales Chaos.«

Da konnte ich ja froh sein, dass er überhaupt rangegangen war. Ich sollte wohl bei Gelegenheit die Rufnummernübermittlung ausschalten. Aber jetzt schnell, bevor er wieder auflegte!

»Ich weiß, Paps, die Gründe für das totale Chaos stehen hier neben mir.«

Sekundenlanges Schweigen.

»Wie meinst du das?«

»Paps, ich denke mal, dass das Chaos herrscht, weil sieben Leute aus der Steintalbaude vermißt werden, darunter fünf Kinder. Und genau diese sieben Leute befinden sich in einem Fünf-Meter-Umkreis von mir.«

»Sag das nochmal!«

»Ich hab hier einen ziemlich zerknirschten Hotel-Azubi von der Steintalbaude, seine Schwester und fünf Kiddies.«

»Mein Gott!«

»Ja, mein Sohn, was wünschest du?«

»Hör auf mit den Späßen! Haben die unsere Hütte gefunden oder wie?«

»Nicht ganz, wir haben die Truppe gefunden. Sie hatten sich vor der Nacht in einem Holzfällerwagen breitgemacht. Wir haben sie auf einer kleinen Wanderung entdeckt, genaugenommen hat Reiko ihren Ofen gerochen.«

»Wie geht es ihnen, sind alle wohl auf?«

»Sieht so aus, sind wohl nur durch das Erlebte etwas mitgenommen. Körperlich scheinen alle okay zu sein.«

»Na Gott sei Dank! Du hast ja keine Ahnung, was hier seit gestern Abend los ist!«

Och, ich hatte da durchaus so meine Ahnungen und Vorstellungen.

»Die Vermißtenmeldung kam erst ziemlich spät, da konnten wir wegen der Dunkelheit kaum noch Leute losschicken. Hubschrauber konnten die ganze Zeit nicht fliegen, für 14 Uhr hat die Luftwaffe versprochen, wenn es irgendwie geht ein paar Tornados mit Wärmebildkameras loszuschicken. Aber das kann ich ja zum Glück alles abblasen.«

»Ja, kannst du machen. Aber nun sag mal, wie soll das jetzt weitergehen?«

»Das ist wirklich ein Problem. Wo genau ist dieser Holzfällerwagen?«

»Zu Fuß zur Steintalbaude sind es gut drei Stunden.«

»Mist, das ist aber verdammt weit, besonders für die Kinder.«

Tja, soweit waren wir auch schon.

»Zur Straße ist es nur halb so weit, Paps.«

»Das nützt uns nichts, da müßte ich momentan nen Panzer losschicken, um dorthin durchzukommen.«

»Ist es so schlimm?«

»Ja, der Schnee ist ziemlich schwer und hat ne Menge Bäume umgeknickt. Kein Durchkommen mit normaler Technik, und das bleibt auch noch ein Weilchen so. Aber sag mal… Wie weit ist es bis zur Hütte?«

Autsch. Irgendwie hatte ich befürchtet, dass diese Frage kommen würde.

»Etwa eine Stunde querfeldein, anderthalb auf nem erträglichen Weg. Aber keiner von denen hat Schneeschuhe!«

»Hätten sie für den Weg zur Straße auch nicht. Du, Faby, es tut mir wirklich leid, ich weiß, dass du ein paar ruhige Tage verbringen wolltest. Aber das hier geht vor. Schafft die ganze Gesellschaft zur Hütte, es wird zwar etwas eng, aber ansonsten ist dort von allem reichlich vorhanden.«

Jup. Genau das hatte ich befürchtet.

»Okay, Paps, scheint ja wirklich die einzige Möglichkeit zu sein.«

»Ja, ist es. Ich werde versuchen, dass so schnell es geht eine Möglichkeit gefunden wird, zu euch vorzudringen, aber ich kann nicht versprechen, ob das morgen, übermorgen oder erst in drei Tagen oder noch später was wird.«

Wunderschöne Aussichten. Aber da war nichts dran zu rütteln.

»Alles klar. Wir melden uns dann, wenn wir alle in der Hütte angekommen sind.«

»Prima. Ich informiere in der Zwischenzeit die Angehörigen, dass sie sich keine Sorgen mehr zu machen brauchen. Wenn sich alles etwas beruhigt hat, kannst du die Geretteten mal bei ihren Leuten anrufen lassen. Deine Handyrechnung bezahle diesen Monat übrigens ich, keine Bange.«

Die hätte ich ihm sowieso serviert.

»Okay, also bis später, kann aber zwei Stunden oder so dauern.«

»Kein Problem. Und Faby?«

»Ja?«

»Ich bin stolz auf dich, mein Junge.«

Was für angenehme Töne. Aber ich sollte wohl ehrlich bleiben.

»Reiko hat den Rauch gerochen und mich drauf aufmerksam gemacht.«

»Dann sag ihm von mir einen schönen Gruß und Dank, und dass ich auch auf ihn stolz bin. So, ich hab hier jetzt einiges zu tun, also tschüß!«

Mit diesen Worten beendete mein Vater das Gespräch, und ich schaute in die Runde.

Reiko

Obwohl ich ja immer nur einen Teil des Telefonats hörte, bekam ich ziemlich genau mit, was geplant war.

»Wir bringen alle zurück in die Hütte?«

»Ja, Reiko. Ich soll dir heiße Kampfesgrüße von meinem Vater ausrichten und seinen Dank dafür, dass du die Sonntagswanderer erschnüffelt hast. Er sagt, er wäre stolz auf dich.«

Sowas hört man doch gerne.

»Ähem, ich will euch ja nicht unterbrechen, aber könntet ihr uns verraten, was jetzt genau passieren soll?«

Jasmins Neugier war verständlich, aber Fabian wollte wohl nicht alles doppelt und dreifach erklären.

»Gehen wir wieder in den Wagen, da erzähle ich euch allen zusammen, wie es weitergehen wird.«

Wir gingen zurück in den Wagen, und während Fabian den Anwesenden die weiteren Pläne erläuterte, fiel mir so langsam auf, dass diese Jasmin eigentlich ganz nett aussah. Dunkelbraune, lange Haare, nettes, offenes Gesicht, vielleicht zehn Zentimeter kleiner als ich, und (soweit ich das unter den dicken Klamotten erkennen konnte) gut gebaut. Mit dem Mädel ein paar Tage in der gleichen Hütte? Interessante Vorstellung…

»Hütte hört sich so klein an, haben wir denn da überhaupt alle Platz?«

Ich mußte kurz auflachen.

»Keine Bange, Kleiner. Die nennen das zwar Hütte, aber das ist ein ausgewachsenes Haus, da kommen wir alle unter. Und es sind auch ausreichend Vorräte an Fressalien, Feuerholz und Diesel für die Stromerzeugung da.«

Fabian grinste mich an.

»Was Reiko sagt stimmt, da braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Aber mal noch was anderes, es wäre ganz nützlich, wenn wir alle wüßten, mit wem wir es zu tun haben. Also das da ist Reiko, ich bin Fabian. Der Vierbeiner hört auf den Namen Arko – wenn er denn drauf hört. Jasmin und Jonas kennen wir schon, aber die Namen der Kids wissen wir noch nicht.«

Vernünftige Idee, immer nur »Kleiner« war als Anrede wohl nicht so berauschend. Kurz darauf wußten wir, dass die beiden Mädels auf die Namen Manuela und Ricarda hörten, die Jungs hießen Christoph, Felix und Patrick. Manuela war 11, Ricarda, Christoph und Felix 12, Patrick fiel mit 14 etwas aus der Altersgruppe heraus.

»So, dann würde ich sagen, machen wir uns auf den Weg!«

Die Kids erhoben sich von ihren Plätzen, ständig umwuselt von Arko, der sich regelrecht in ihrer Aufmerksamkeit sonnte. Naja, mit Kindern war der schon immer prima klargekommen.

»Faby, ich mach noch den Ofen aus, den sollten wir nicht unbedingt brennen lassen.«

»Gute Idee. Weißt du, wie das geht?«

Woher sollte ich das wissen? Ich war im Zeitalter von Zentralheizung mit Erdgasbefeuerung aufgewachsen.

»Keine Ahnung, aber ich werde es schon irgendwie hinbekommen.«

»Ich weiß, wie das geht, ich helfe dir dabei.«

Jasmin kannte sich mit sowas aus? Nun, das war doch wirklich nett von ihr, mir zu helfen. Während der Rest des Vereins nun den Wagen verließ, zog Jasmin gekonnt den Rauchabzug vom Ofen ab.

»Hier, an den beiden Griffen kannst du anfassen, die sind zwar warm aber nicht heiß.«

»Und wo soll ich mit dem Ding hin?«

»Den stellst du raus in den Schnee, mit ein wenig Abstand zum Wagen. Dann schmeißen wir Schnee auf die Flammen, und das Ding kann auskühlen.«

Hm, das hörte sich logisch an. Ich packte also den gar nicht mal so leichten Ofen und trug ihn aus dem Wagen heraus, immer darauf achtend, mir die glühenden Teile nicht irgendwo dagegen zu schlenkern. Draußen stellte ich ihn an einem mir passend erscheinenden Ort ab, dann schaufelten Jasmin und ich Schnee in die Flammen, die ziemlich schnell verloschen. Das Holz glühte allerdings noch, vom gußeisernen Ofen selbst ganz zu schweigen.

»Und nun? Müssen wir nun warten, bis das Ding ganz kalt ist, oder wie?«

»Nein, den lassen wir hier stehen.«

Stehenlassen? Einfach so, in der freien Natur? Jasmin mußte wohl meinen zweifelnden Blick wahrgenommen haben.

»Also erstmal kommt hier doch eh keiner vorbei, der das Ding klauen würde. Und außerdem ist der Wagen auch offen, da drin wär der Ofen also nicht viel sicherer als hier draußen.«

Wo sie recht hatte, da hatte sie recht. Wir ließen also den Ofen im Schnee stehen und gingen hinüber zu den anderen, die bereits abmarschbereit dastanden und auf uns warteten.

»Alles erledigt, Fabian. Wie machen wir das jetzt, wo gehen wir lang?«

»Wir nehmen den gleichen Weg wie vorhin, der ist zwar etwas länger als die Luftlinie, aber dafür einigermaßen ebenerdig.«

Gute Entscheidung, der Weg durch den tiefen Schnee ohne Schneeschuhe würde besonders für die Kiddies auch so schon anstrengend genug werden. Zum Glück trugen sie wenigstens vernünftige Klamotten, sodass sie zumindest warm und trocken stecken würden. Da fiel mir noch etwas ein.

»Sag mal, Jasmin, möchtest du meine Schneeschuhe nehmen? Damit kommst du viel besser voran als ohne.«

Sie lächelte mich an! Hach was für ein süßes Lächeln!

»Nein, vielen Dank für das Angebot, aber damit komme ich nicht zurecht.«

Naja, also das sollte eigentlich wirklich kein Problem sein, aber wenn sie nicht wollte… Allerdings käme ich mir ziemlich blöd vor, wenn sie sich durch den Tiefschnee quälen müßte und ich gemütlich auf Schneeschuhen nebenher lief. Und dass ich neben ihr herlaufen wollte, daran gab es nun wirklich keinen Zweifel für mich! Ich mußte also die Schneeschuhe irgendwie loswerden…

»Fabian, gehst du mit Jonas voraus? Ich bilde mit Jasmin den Abschluß und passe auf, dass wir niemanden verlieren.«

Mit einem leichten Grinsen im Gesicht schaute Fabian mich an.

»Okay, können wir so machen.«

Ob der meine tieferen Absichten hinter diesem Vorschlag erkannt hatte? Naja, egal.

»Jonas, möchtest du die Schneeschuhe nehmen?«

Jasmins Bruder sah mich fragend an.

»Und was ist mit dir, brauchst du die nicht selber?«

»Nee, wir treiben die ganze Horde vor uns her, die trampelt den Schnee runter.«

Da war zwar wohl mehr der Wunsch der Vater des Gedanken, aber was solls.

»Na gut, wenn du mir die Dinger überläßt, probiere ich es gerne mal.«

Ha, geklappt! Ich übergab Jonas die Schneeschuhe, der schnallte sie sich unter die Füße, und nach ein paar Probeschritten schien er schon prima damit klarzukommen.

»So, Leute, dann machen wir uns jetzt auf den Weg! Jonas und ich gehen vor. Wenn wir euch zu schnell sind, dann sagt es uns. Wir sollten uns aber auf jeden Fall beeilen, es sind weitere Schneefälle angekündigt, je eher wir in der Hütte sind, umso besser.«

Mit diesen Worten wandten sich Fabian und Jonas um, und unsere Karawane setzte sich in Bewegung. Ich packte mir schnell noch den momentan nicht benötigten Schlitten auf den Rücken, Jasmin übernahm die Decke, dann bildeten wir gemeinsam den Abschluß der fröhlichen Truppen. Die beiden Führer auf ihren Schneeschuhen legten ein ganz schönes Tempo vor, aber auch die Kiddies wollten wohl nicht noch einmal von starkem Schneefall überrascht werden, sie hielten das Tempo gut mit, obwohl sie – wie Jasmin und ich auch – doch bei jedem Schritt recht tief im Schnee einsanken. Arko ließ es jetzt ruhiger angehen, er sprang nicht wild durch die Gegend, sondern lief einigermaßen gesittet inmitten der Kindergruppe.

Wir wanderten also zielstrebig durch den Wald, und unsere Gruppe zog sich dabei ein wenig in die Länge.

»Dein Bruder macht also eine Ausbildung in der Steintalbaude?«

»Ja. Jonas hatte großes Glück, die Stelle zu bekommen. Bei uns zuhause hat er laufend nur Absagen kassiert.«

»Wo ist das überhaupt?«

»Bei uns zuhause? Wir kommen aus einem kleinen Nest bei Leipzig.«

Da waren sie ja nun wirklich ziemlich weit weg von der Heimat. Während wir weiterliefen, erfuhr ich noch so einiges über meine Begleiterin. Sie war 17 Jahre alt, ging aufs Gymnasium, wollte später mal irgendwas mit Pädagogik studieren und verbrachte ihre Weihnachtsferien bei ihrem Bruder.

»Hehe, da bist du ja jetzt quasi direkt in ein pädagogisches Praktikum reingestolpert!«

Ich zeigte auf die Kinderschar vor uns.

»Das kannst du laut sagen.«

Die vier jüngeren Kids plapperten fröhlich untereinander, warfen Arko Schneebälle zu und schienen insgesamt guter Stimmung zu sein. Der ältere Patrick jedoch hatte sich etwas von den anderen abgesetzt und lief für sich alleine zwischen der Vierergruppe und den beiden Führern. Komisch. Ich wies Jasmin darauf hin.

»Was ist denn mit dem los?«

Meine Begleiterin seufzte.

»Patrick ist die ganze Zeit schon so, scheint an nichts Spaß zu haben und sondert sich immer ab.«

»Und warum?«

»Das scheint mehrere Gründe zu haben. Also erstmal ist er natürlich älter als die anderen hier, und in der Altersklasse machen 2 Jahre einen riesigen Unterschied.«

Okay, das konnte ich nachvollziehen, das waren tatsächlich Welten.

»Dann wollte er gar nicht auf die Wanderung mitkommen, er wollte lieber mit ein paar älteren Jugendlichen was unternehmen. Die aber sind alle über 16 und wollten wiederum ihn nicht dabei haben, weil er für sie zu jung ist.«

Hach, die Sorgen des Teenager-Lebens.

»Deshalb wollte er eigentlich im Hotel bleiben, aber seine Eltern haben darauf bestanden, dass er bei uns mitmacht. Entsprechend begeistert war er dann auch dabei.«

Konnte ich mir vorstellen. Sich als Vierzehnjähriger mit einer Horde Elf- und Zwölfjähriger abgeben zu müssen, war schon uncool genug. Noch viel uncooler war es aber, dazu von den eigenen Eltern verdonnert zu werden.

»Naja, und die Krönung ist halt, dass er mit Jonas nicht klarkommt.«

Seltsam, Jonas hatte mir bisher den Eindruck gemacht, dass man sehr gut mit ihm klarkommen konnte. Genau wie mit seiner Schwester…

»Wieso das denn?«

Es dauerte einen Moment, bis sich Jasmin zu einer Antwort durchrang.

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich das überhaupt erzählen sollte. Aber vielleicht ist es sogar besser so, durch Patrick würde das sowieso recht schnell rauskommen.«

Nun war ich aber gespannt!

»Siehst du Jonas‘ Mütze?«

Klar sah ich das bunte Ding, das war ja auch nicht zu übersehen.

»Ja, und?«

»Fällt dir daran nichts auf?«

Was sollte mir daran auffallen? Diese Strickmützen waren momentan sehr in Mode, ich trug selber auch eine. Auch wenn meine nicht gar so bunt in den Regenbogenfarben daherkam.

Moment mal. Regenbogenfarben? Sollte das etwa heißen…

Ich blieb stehen und glotzte Jasmin groß an.

»Sag mal, ist dein Bruder schwul?«

Auch Jasmin war stehengeblieben, stütze die Arme in die Hüften und nahm insgesamt eine kampfeslustige Pose ein.

»Ja, ist er. Hast du damit etwa auch ein Problem?«

Ich konnte einfach nicht anders. Tief in meinem Inneren begann es, meinen Körper zu schütteln, und kurz darauf brach ich in einen gewaltigen Lachanfall aus…

Fabian

Vor nicht einmal 24 Stunden ging ich noch davon aus, ein paar gemütliche Tage ganz für mich alleine zu haben. Vor nicht einmal 12 Stunden ging ich noch davon aus, ein paar gemütliche Tage gemeinsam mit Reiko verbringen zu können. Und nun hatte ich weitere 7 Leute, um die ich mich kümmern mußte! Und darunter waren sogar noch 5 Kinder! Das war wohl ein Musterbeispiel für »Und erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt!«.

Jonas hatte sich die Schneeschuhe untergeschnallt, die Reiko ihm aufopferungsvoll überlassen hatte. Natürlich war er gänzlich ohne Hintergedanken, mein alter neuer bester Freund. Dass er sich mit der Schwester von Jonas ans Ende der Gruppe verdrücken würde, war einfach als großes Opfer seinerseits zu verstehen. Und in drei Tagen würde der Weihnachtsmann höchstpersönlich durch den Kamin der Hütte reingeschneit kommen.

Als ich sah, dass alle abmarschbereit waren, gab ich das Kommando zum Aufbruch, und unser Zug setzte sich in Bewegung. Jonas kam mit den Schneeschuhen sehr gut zurecht.

»Hast du schonmal solche Dinger benutzt, Jonas?«

»Nee, das ist mein erstes Mal. Macht sich aber wirklich gut, man sinkt nicht ein und kommt prima voran.«

Das war ja auch der ganze Sinn der Sache.

»Wie alt bist du eigentlich?«

»Neunzehn. Und du?«

»Ein Jahr jünger. Und du willst Hotelkaufmann werden?«

»Ja, ich habe gerne mit Menschen zu tun, da ist das wohl ein recht passender Job.«

Vermutlich. Wobei die Arbeitszeiten mir persönlich zu stressig wären.

»Aber du kommst nicht hier aus der Gegend, oder?«

»Nicht mal annähernd! Wir kommen aus Sachsen, Leipziger Umland, um genau zu sein.«

Oh? Das verstand er aber recht gut zu verdecken!

»Das merkt man dir aber gar nicht an. Also ich meine, das hört man dir gar nicht an.«

Okay, eine kleine Spur eines Dialekts hatte ich mitbekommen, aber ich hatte nicht herausgefunden, um was für einen Dialekt es sich handelte.

»Nuja, ich gäb mr ja och de greesde Miehe, ä ordndliches Hochdeidsch zu quassln, damid mr de Leide hier och verschdehn!«

Ich prustete los. Ja, in etwa so hatte ich mir die Aussprache eines Sachsen vorgestellt!

»Obwohl ja eechendlich Säggsch de deidsche Guldurschbrache schlechdhin is!«

Ich keuchte vor Lachen.

»Was … was ist Sächsisch?«

»Die deutsche Kultursprache schlechthin!«

»Hahaha… Und wovon träumst du sonst noch so?«

Schön wäre es, wenn er jetzt sagen würde »von dir« – aber das konnte ich mir wohl abschminken.

»Lach nicht, das stimmt. Schon der alte Geheimrat Goethe hat Sächsisch gesprochen. Und der olle Dichterfürst zählt ja nun ohne jeden Zweifel zum obersten deutschen Kulturgut.«

»Jaja, schon klar. Aber du bist weder Geheimrat noch Dichterfürst. Nur gut also, dass du auch ordentlich reden kannst.«

»Unsere Eltern haben von Anfang an drauf geachtet, dass wir ordentlich Hochdeutsch sprechen. Nicht dass wir bei Besuchen bei den auswärtigen Kulturbanausen auf einen Dolmetscher angewiesen wären.«

Aua, Kulturbanausen. Das hatte wehgetan.

»Das wäre sicher auch für deinen Job nicht so günstig, denke ich mal.«

»Das sowieso. Die haben mich sogar telefonisch zum Vorstellungsgespräch eingeladen, um erst einmal zu hören, ob ich überhaupt vernünftig Hochdeutsch spreche.«

Verständlich, ein dialektelnder Hotelangestellter war sicherlich kein gutes Aushängeschild für das Haus. Egal um welchen Dialekt es sich dabei handelte. Die Steintalbaude gehörte zur gehobenen Klasse, da mußten sich sogar die einheimischen Angstellten einer ordentlichen Aussprache befleißigen.

»Weißt du, was mich etwas verwundert, Jonas?«

»Nein?«

»Dass die dich und deine Schwester mit den Kids losgeschickt haben.«

»Wie meinst du das?«

»Naja, bei diesen Wetterbedingungen verirren sich ab und an sogar Eingeborene – da schickt man doch eigentlich keine Zugereisten los. Erst recht nicht mit ner Horde Kinder!«

»Tja, das mußt du Herrn Ziermayer fragen. Der wollte das eigentlich selber übernehmen, aber hatte dann plötzlich keine Zeit mehr, also wurde ich dazu verdonnert.«

Mein Vater würde mit dem alten Ziermayer garantiert ein ernstes Wörtchen darüber reden. Das war ziemlich unverantwortlich gewesen.

»Na gut, ist ja alles nochmal gutgegangen.«

»Zum Glück, ich hatte mir schon die schlimmsten Befürchtungen gemacht. Das erste Mal so eine große Verantwortung, und prompt geht alles schief.«

»Dir kann man wohl den geringsten Vorwurf machen, du kennst dich hier weder mit der Gegend noch mit den schnellen Wetterumschwüngen aus. Du hast doch bestimmt erst diesen Herbst mit der Ausbildung angefangen, oder?«

»Ja, ich bin noch der absolute Frischling im Hotel.«

»Na siehste. Mach dir keine zu großen Sorgen mehr.«

»Dein Wort in Gottes Gehörgang.«

Ich schaute mich nach unserer Karawane um, es ging gut voran, und alle sahen noch fit und fröhlich aus. Alle außer dem ältesten Jungen, der einigermaßen mißmutig etwa zehn Meter hinter uns herstapfte. Was dem wohl für eine Laus über die Leber gekrochen war…

Ganz hinten am Ende der Kolonne liefen Reiko und Jasmin, die anscheinend in eine angeregte Unterhaltung vertieft waren. Sollte sich da etwas anbahnen? Ich meine, Jasmin sah ja gar nicht übel aus – also für ein Mädchen!

»Sag mal, wie alt ist eigentlich deine Schwester?«

»Siebzehn, im März wird sie achtzehn. Wieso?«

»Weil ich irgendwie das komische Gefühl habe, dass Reiko ein gewisses Interesse an ihr hat.«

»Hehe, und ich hatte vorhin schon das komische Gefühl, dass Jasmin ein gewisses Interesse an Reiko hat!«

Na das ließ sich ja gut an.

»Seid ihr schon lange Freunde? Also du und Reiko?«

»Wie mans nimmt. Freunde sind wir seit 15 Jahren – aber auch erst seit einem Tag.«

»Häh?«

Ich erklärte Jonas also das etwas komplizierte Thema meiner Freundschaft zu Reiko, ohne jedoch näher auf die Gründe für unsere zwischenzeitliche Entfremdung einzugehen.

»Eine schöne Geschichte…«

Irgendwie klang das ein wenig traurig, wie Jonas diese Worte herausquetschte. Bevor ich mir jedoch darüber Gedanken machen konnte, ertönte vom Ende der Marschkolonne her lautstarkes Gelächter. Wir blieben stehen und schauten uns um, gerade rechtzeitig um noch zu sehen, wie Jasmin Reiko eine schallende Ohrfeige verpaßte.

»Ohoh… Ist deine Schwester immer so gewalttätig?«

»Eigentlich nicht, er muß ihr ziemlich zugesetzt haben, wenn sie so reagiert.«

Da zwischen uns doch gut 100 Meter lagen, konnten wir nicht hören, wie es bei den beiden weiterging. Wir sahen jedoch, wie Reiko wieder ernst wurde, sich die linke Wange rieb und Jasmin irgendetwas erklärte. Nach einer Weile hob diese wieder die Hand, und streichelte zögerlich über Reikos verwundetes Körperteil. Reiko hielt ganz still, das schien ihm zu gefallen. Im nächsten Moment jedoch…

»Du Idiot!«

Mit diesen Worten stieß Jasmin Reiko von sich weg, der dadurch rücklings in den Schnee fiel. Nun war es Jasmin, die in lautstarkes Gelächter ausbrach. Der »Idiot« war wohl nicht so ernst gemeint gewesen, jedenfalls schickte sie sich jetzt an, Reiko wieder aufzuhelfen. Aber da hatte sie nicht mit seiner Rachsucht gerechnet, denn kaum hatte er ihre Hand ergriffen, da zog er sie auch schon zu sich hinunter in den Schnee.

Mittlerweile waren alle stehengeblieben und bestaunten das aufgeführte Schauspiel. Arko war zu seinem Herrchen geflitzt und umsprang jetzt laut bellend das sich im Schnee wälzende Duo, dabei beinahe noch deren gemeinsames Gelächter übertönend.

»Scheint ja nicht so ernst gewesen zu sein, oder, Jonas?«

»Ja, sieht so aus, als ob die wieder Frieden geschlossen hätten.«

Ich sollte wohl mal etwas unternehmen, weitere Verzögerungen mußten eigentlich nicht sein.

»Eh! Ihr da hinten! Wenn ihr es dann einrichten könntet, euch wieder in die Senkrechte zu begeben und weiterzulaufen? Wäre wirklich sehr nett!«

»Jaja, alter Antreiber, wir kommen ja schon! Nur die Ruhe!«

Na hoffentlich. Jonas und ich schauten grinsend zu, wie sich Jasmin und Reiko erhoben, den Schnee von ihren Klamotten klopften und sich wieder in Bewegung setzten. Das war für uns das Zeichen, das gleiche zu tun, und so marschierten wir weiter.

»Jasmin besucht dich über die Feiertage?«

»Ja, sie hat gebettelt und gebettelt.«

»Sind eure Eltern auch mit hier?«

War ja eigentlich genau die richtige Gegend, um ein schönes weißes Weihnachtsfest zu verbringen.

»Nein!«

Ups. Das klang aber ziemlich scharf! Verwundert schaute ich zu Jonas, der jetzt mit verkniffenem Gesicht neben mir herstapfte.

»Äh… Entschuldige. Ich scheine da wohl in ein Fettnäpfchen getreten zu sein, das wollte ich nicht. Sorry.«

Jonas seufzte.

»Schon gut. Du konntest das ja nicht wissen. Meine Eltern und ich … wir reden nicht mehr miteinander. Genaugenommen bin ich für sie gestorben. Sie haben keinen Sohn mehr – und ich hab keine Eltern mehr. Ende der Geschichte.«

Das hörte sich ja gar nicht gut an. Ich hätte es wohl dabei belassen sollen, aber dummerweise ging meine Neugier mal wieder mit mir durch.

»Wieso?«

»Du mußt alles ganz genau wissen, oder wie?«

»Sorry, Jonas. Du brauchst es mir nicht zu erzählen, das ist ganz allein deine Sache.«

So schien er es auch halten zu wollen, jedenfalls liefen wir die nächsten Minuten schweigend nebeneinander her. Plötzlich aber brach mein Begleiter das Schweigen.

»Ich bin schwul, und sie kommen damit nicht klar. Sie haben mich aus der Familie rausgeschmissen. Sogar Jasmin hat riesigen Ärger bekommen, als sie erzählte, dass sie mich hier besuchen will. Sie wollten es ihr verbieten, aber am Ende hat sich mein Schwesterlein durchgesetzt.«

Ach du heilige Scheiße. Ich sandte ein stilles Dankesgebet gen Himmel für meine Eltern, die prima mit meinem Coming Out klargekommen waren. Ich wußte, dass das nicht unbedingt der Regelfall war, aber so konkret bekam ich das erste Mal mit, wie eine solche Sache auch ausgehen konnte.

»Es tut mir leid, Jonas. Hätte ich bloß nicht mit dem Thema angefangen…«

»Wie gesagt, du konntest es ja nicht wissen.«

Das stimmte nun allerdings.

»Und nun?«

Was meinte Jonas damit?»

»Was und nun?«

»Bist du schockiert, angeekelt, oder was?«

Aha, daher wehte der Wind.

»Ja, ich bin schockiert und angeekelt.«

»Scheiße, ich habs geahnt! Du bist wohl auch so ein homophobes Arschloch.«

Da hatte der schnucklige Junge neben mir wohl etwas gehörig falsch verstanden.

»Nein, Jonas! Wegen deiner Eltern bin ich schockiert und angeekelt, nicht weil du schwul bist!«

Zögernd und etwas ungläubig schaute Jonas zu mir herüber.

»Meinst du das jetzt ernst?«

»Darauf kannst du Gift nehmen. Deine Eltern sind Idioten, wenn sie dich, bloß weil du schwul bist, verstoßen.«

Auf dem Gesicht von Jonas machte sich ein Lächeln der Erleichterung breit. Und diese Erleichterung ließ sich ja sicher noch etwas verstärken.

»Ich hatte mehr Glück, meine haben es ganz locker aufgenommen.«

»Was?!?«

Wie angewurzelt war Jonas stehengeblieben und starrte mich nun mit weit aufgerissenen Augen an. Ich lächelte ihm zu.

»Jonas, ich bin auch schwul.«

In Jonas‘ Gesicht spiegelte sich Ungläubigkeit.

»Ehrlich?«

»Ja, ganz ehrlich.«

»Wow, das hätte ich jetzt nicht gedacht. Seit ich hier mit der Lehre angefangen habe, suche ich Anschluß an eine schwule Jugendgruppe oder so, habe aber bisher niemanden gefunden. Und dann laufen wir uns mitten im Wald über den Weg.«

»Tja, die Wege des Schicksals sind unergründlich.«

Hach sah das lächelnde Gesicht meines Gegenübers niedlich aus!

»Scheiße, noch so ne doofe Schwuchtel! Ist das ne Seuche oder wie?«

Ohoh. Patrick war es, der uns jetzt mit verkniffenem Gesicht anschaute. Ich zeigte ihm den Stinkefinger, woraufhin er sich weiter in der Kolonne von uns entfernte. Jonas und ich hingegen setzten uns wieder in Bewegung.

»Sag mal, hat der Stift irgendein Problem oder wie?«

»Sieht so aus, Fabian. Seit er mitbekommen hat, dass ich schwul bin, macht der einen auf Terrorküken. Dabei hab ich ihm nun wirklich nichts getan.«

Das waren ja schöne Aussichten für die nächsten paar Tage.

Zügig marschierten wir weiter. Jonas und ich alberten herum, erzählten dem jeweils anderen ein wenig aus unserem Leben (wobei wir die Themen »schwul« und »Eltern« vorsorglich wegließen), und nach einiger Zeit tauchte am Horizont die Silhouette unserer Hütte auf.

Reiko

Also das war schon ein starkes Stück, mir mitten im schönsten Lachanfall dermaßen eine runterzuhauen! Womit dann auch mein Amusement ziemlich schnell beendet war.

»Was soll das, Jasmin?«

Mit wütend funkelnden Augen schaute sie mich herausfordernd an.

»Ich kann es überhaupt nicht leiden, wenn sich jemand über meinen Bruder lustigmacht!«

Daher wehte der Wind! Die kleine Schwester schien ja einen ziemlich ausgeprägten Beschützerinstinkt gegenüber ihrem großen Bruder zu haben. Wie süß!

»Ich habe mich doch nicht über deinen Bruder lustiggemacht!«

»Nicht? Ich hatte aber ganz den Eindruck!«

Dieses Mißverständnis sollte ich wohl lieber ganz schnell aufklären. Da Fabian ja eh völlig offen mit seinem Schwulsein umging, hatte ich auch keine Skrupel, ihn hier und jetzt vor Jasmin zu outen.

»Jasmin, ich hab nur deshalb gelacht, weil mein bester Freund auch schwul ist. Und zufällig läuft der da vorne gerade neben deinem schwulen Bruder her. Neben deinem schwulen Bruder, den er garantiert mehr als nur nett anzusehen findet.«

Soweit kannte ich Fabian, um zu wissen, dass er ein neues Opfer für seine Flirtattacken gefunden hatte. Nur dass er wohl keinen blassen Schimmer hatte, dass er diesmal sogar Erfolg haben könnte!

»Meinst du das jetzt wirklich ernst? Fabian steht auch auf Jungs?«

»Allerdings.«

Jetzt funkelten Jasmins Augen nicht mehr wütend sondern schelmisch. Sie hob erneut den rechten Arm, und ich war schon drauf und dran, in Deckung zu gehen. Diesmal jedoch näherte sich ihre Hand sehr langsam meinem Gesicht, dann strichen ihre Finger zärtlich über meine malträtierte Wange. Hach war das schön, so könnte ich ewig stehenbleiben…

»Du Idiot!«

Im nächsten Moment, noch bevor ich überhaupt den neuerlichen Sinneswandel verabeiten konnte, gab sie mir einen Schubs gegen die Brust, und mit beiden Armen hilflos in der Luft herumrudernd, fiel ich rückwärts in den Tiefschnee! Völlig verdattert lag ich in der weißen, kalten Pracht, und diesmal war es Jasmin, die in lautes Gelächter ausbrach. Also wirklich! Das war ja ein richtiges kleines Teufelchen!

»So, komm, ich helfe dir hoch.«

Wie freundlich. Erst schickte sie mich zu Boden, dann bot sie mir die hilfreiche Hand zum Aufstehen an. Aber so nicht, meine Liebe! Ich ergriff die dargebotene Hand, aber anstatt mich selbst hochzuziehen, zog ich Jasmin zu mir nach unten – mit dem Ergebnis, dass wir nun beide nebeneinander im Schnee lagen.

»Das war jetzt fies, Reiko!«

»Fies? Wer war denn zuerst fies?«

Bei diesem Wortwechsel kamen wir beide aus dem Lachen kaum heraus, wir rollten im Schnee um- und übereinander, und der dazuspringende Arko machte das Chaos perfekt.

Leider erinnerte uns Fabian ziemlich bald daran, dass wir ja eigentlich Besseres zu tun hatten, als uns im Schnee herumzubalgen, also richteten wir uns wieder auf, befreiten unseren Klamotten vom anhaftenden Schnee und folgten der Karawane, die sich mittlerweile wieder in Bewegung gesetzt hatte.

»Sag mal, und du meinst, dass sich dein Fabian in meinen Jonas vergucken könnte?«

Wäre doch eigentlich gar nicht so schlecht. Beide schwul, beide recht gutaussehende Typen (wenn ich mir da mal ein Urteil drüber erlauben durfte), beide etwa im gleichen Alter, beide in der gleichen Gegend. War nur noch eines zu klären.

»Ja klar, warum denn nicht? Ist Jonas noch zu haben?«

»Hehe, du willst wohl gleich anfangen zu kuppeln, oder wie? Aber ja, Jonas ist noch Single. Sehr zu seinem Leidwesen.«

Das hörte sich doch vielversprechend an.

»Prima. Hilfst du mir dabei, die beiden zu verkuppeln?«

Jasmin wurde etwas ernster.

»Da sollten wir uns wohl lieber nicht ganz so weit aus dem Fenster lehnen, Reiko. Ich würde mich zwar sehr für Jonas freuen, wenn er einen passenden Freund finden würde, aber die beiden müssen schon selber zueinander finden, damit das wirklich funktionieren kann.«

Was für ein schlaues Köpfchen. Sie hatte ja recht, es wäre wohl besser, das Schicksal seinen eigenen Weg gehen zu lassen. Was ja nicht ausschloß, dass wir nicht ein klein wenig behilflich sein konnten. Zum Beispiel, indem wir den beiden genügend gemeinsame Zeit verschafften, vorzugsweise ohne eine ganze Kinderschar um sie herum!

»Okay, ist vielleicht auch besser so. Um jetzt nochmal auf diesen Patrick zurückzukommen: der weiß, dass dein Bruder schwul ist, und kommt damit nicht klar, oder wie?«

»Ja, leider, ich verstehs einfach nicht.«

»Kommt vielleicht von seinen Eltern her.«

»Nee, eher nicht, die haben ja auch mitbekommen, dass Jonas schwul ist, und scheinen damit absolut keine Schwierigkeiten zu haben. Sie haben ihm immerhin sogar ihren Sohn anvertraut!«

»Sehr seltsam. Meist ist es ja so, dass die Eltern ein Problem mit Homosexualität haben, während die Kinder eher offen damit umgehen.«

»Tja, in diesem Falle ist es andersrum. Aber du hast recht, oft ist es so, wie du es sagst. Siehe auch unsere eigenen Eltern…«

»Was ist mit denen?«

»Die können nicht akzeptieren, dass Jonas schwul ist. Sie haben ihn regelrecht aus der Familie rausgeschmissen. Deshalb war er auch so schnell bereit, so weit weg von zuhause eine Lehrstelle anzunehmen.«

Das klang nun überhaupt nicht gut, und mir wurde allmählich klar, was für einen Mut es Fabian gekostet haben mußte, sein Schwulsein seinen Eltern einzugestehen. Und was er mit diesen seinen Eltern für Glück gehabt hatte, soviel wußte ich nämlich: sie hatten ihn immer voll unterstützt und verteidigt, auch wenn es im Ort ab und an unschöne Sticheleien gegeben hatte.

»Aber jetzt sind sie mit hierher gekommen, um ihn zu besuchen?«

»Unsere Eltern? Jonas besuchen? Niemals. Ich bin alleine hier runtergefahren. Und selbst das mußte ich mir erkämpfen, das gab tagelangen Zoff darum, ob ich überhaupt fahren darf oder nicht.«

Da konnte ich ja froh sein, dass Jasmin anscheinend recht durchsetzungsfähig war, sonst hätte ich sie wohl nie kennengelernt. Und das wäre wirklich ein großer Verlust gewesen!

In den folgenden Minuten kamen wir wieder vom Thema Schwulsein ab und redeten über alles mögliche, und so verging die Zeit recht schnell. Und dann war es soweit, in der Ferne war die Röckersche Hütte (bzw. der Röckersche Palast!) zu sehen.

»Wir sind gleich da, Jasmin.«

»Tatsächlich? Das ging aber schnell!«

Naja, nicht wirklich, wir waren doch fast anderthalb Stunden unterwegs gewesen. Aber da diese Zeit ziemlich interessant und ereignisreich gewesen war, kam sie uns gar nicht so lang vor.

»Ja, da vorne, da müssen wir hin.«

Unsere Kolonne näherte sich langsam aber sicher dem Ziel, und je näher wir kamen, umso größer wurde das Staunen von Jasmin.

»Das scheint ja eine ziemlich große Hütte zu sein!«

»Allerdings, der Begriff Hütte ist dafür etwas irreführend.«

»Das kannst du aber laut sagen! Und ich hatte schon befürchtet, dass es wieder so eng werden würde wie in dem ollen Holzfällerwagen.«

Mit sieben Personen in diesem Wagen, die hatten sich ja beinahe stapeln müssen. Von gewissen anderen Problemen ganz zu schweigen.

»Keine Angst, es wird zwar mit neun Leuten plus Hund etwas voll in der Hütte, aber im Vergleich zu dem Wagen, in dem ihr die letzte Nacht verbracht habt, ist das eine Großraumunterkunft.«

»Na Gott sei dank! … Äh … Reiko?«

»Ja?«

»Sag mal… Gibt es in der Hütte auch ein Klo?«

Ich mußte grinsen, das war wohl wirklich eine sehr wichtige Information! Na mal schaun, ob ich sie ein wenig aufs Glatteis führen konnte.

»Nee, in der Hütte nicht. Aber draußen auf dem Hof ist ein Klohäuschen mit Plumpsklo.«

»Ein was?!?«

»Ein Klohäuschen mit Plumpsklo.«

»Ach du scheiße!«

Was für eine passende Wortwahl.

»Ach, das ist nicht so schlimm. Du mußt bloß immer daran denken, ein paar Zeitungen mitzunehmen. Und den großen Knüppel, der neben der Hüttentür steht!«

»Wofür brauche ich auf dem Klo einen großen Knüppel?«

»Naja, die Sache ist die: hier treibt sich eine ganze Horde Waschbären herum, und jetzt im Winter suchen die ganz gerne mal Schutz im Klohäuschen. Wenn du jetzt also aufs Klo mußt, stellst du dich zuerst neben das Häuschen, machst die Tür einen Spalt auf, dann schlägst du ein paarmal kräftig mit dem Knüppel gegen die Rückwand. Bei dem Lärm verschwinden die Biester, und du kannst ungestört aufs Klo gehen. Du mußt dich dann halt nur etwas beeilen, spätestens nach zehn Minuten taucht das neugierige Pack wieder auf.«

Jasmin schien hin- und hergerissen zu sein, ob sie mir das nun glauben sollte oder nicht, sagte jedoch zu dem ganzen Thema erstmal gar nichts.

In der Zwischenzeit waren wir schon bis auf etwa 200 Meter an die Hütte herangekommen.

»Siehst du, dort hinten rechts? Das ist das Klohäuschen!«

So langsam schien sie mir die Geschichte abzunehmen, der Anblick des Häuschens war wohl sehr überzeugend.

»So ein Mist, und ich muß jetzt wirklich mal dringend!«

Ich grinste innerlich, während wir uns immer mehr der Hütte näherten. Am Eingang angekommen, stand dort tatsächlich ein großer Holzknüppel. Genau dort, wo ich ihn gestern abgestellt hatte. Ich wollte mir eigentlich einen Wanderstock draus schnitzen – so aber war er in Jasmins Augen der letzte Beweis für den Wahrheitsgehalt meiner Geschichte!

Die ganze Mannschaft stand jetzt vor der Hütte, und Fabian öffnete die Tür. Jasmin schien es nun wirklich eilig zu haben, sie flitzte nach vorne und griff zu dem bereitstehenden Knüppel.

»Fabian, ist das der Knüppel, mit dem ich die Waschbären aus dem Klohäuschen vertreiben muß?«

Eins mußte ich Fabian lassen, er reagierte blitzschnell!

»Ja, das ist er. Ich nehme an, Reiko hat dir schon gesagt, was du machen mußt, oder?«

»Ja, hat er!«

Jasmin stiefelte schnellen Schrittes zum Klohäuschen, wo sie erstmal ein Ohr ans Holz legte und lauschte. Dann hob sie den Riegel der Tür an und zog sie einen Zentimeter weit auf. Vorsichtig ging sie einen Schritt um das Häuschen herum, holte mit dem Knüppel aus und trommelte wie wild auf die Holzkonstruktion!

Natürlich kam kein einziger Waschbär herausgestürmt – was Jasmin von ihrem Standort aus allerdings nicht sehen konnte.

»Ist es jetzt sicher, kann ich jetzt rein?«

Ich feixte leise vor mich hin.

»Ja, die Viecher sind abgehaun. Aber denk dran, du mußt dich etwas beeilen, mehr als zehn Minuten hast du nicht!«

Jasmin lehnte den Knüppel an die Holzwand und zog die Tür nun ganz auf.

»Ach und Jasmin?«

»Was ist denn noch, Fabian!«

»Du kannst jetzt natürlich das Plumpsklo benutzen … du könntest aber auch einfach ins Haus gehen und das Klo dort aufsuchen. Das hat eine Wasserspülung, und ganz so kalt ist es da drin auch nicht.«

Jasmin klappte der Unterkiefer herunter, während jetzt alle anderen in lautes Gelächter ausbrachen. Sogar Patrick konnte sich das Lachen nicht verkneifen!

»Ihr… Ihr… Ich hasse euch!«

Mit diesen Worten kam sie angesprintet und stürmte an uns vorbei in Richtung Hütteneingang. Fabian rief ihr noch hinterher.

»Links hinter, die Tür an der Stirnfront.«

Jasmin verschwand im Haus, und wir beruhigten uns langsam wieder.

»Reiko, du bist fies.«

»Ich weiß, Faby. Aber als sie mich fragte, ob es in der Hütte auch ein Klo gibt, hab ich mich an das Häuschen erinnert und konnte einfach nicht anders.«

Fabian kicherte leise vor sich hin, und auch Jonas schmunzelte, dann jedoch wurde er wieder ernst.

»Reiko, ich kann dich nur warnen. Dermaßen verarschen kann man meine Schwester nicht ungestraft. Die wird sich irgendwas ganz besonderes als Rache einfallen lassen, also sei auf der Hut.«

Oh. An mögliche Konsequenzen hatte ich noch gar nicht gedacht, das war schon immer eine Schwäche von mir gewesen. Aber Jasmin würde mir das sicher verzeihen und am Ende selber drüber lachen. Das würde sie doch, oder?

»Ich denke mal, wir sollten jetzt alle reingehen. Reiko, der Generator läuft zwar wegen der Zeitschaltuhr, wird sich aber in ein paar Minuten wieder ausschalten. Drück bitte einfach mal auf den Startknopf, dann wird die Abschaltung deaktiviert.«

»Mach ich, kein Problem. Und dann kümmere ich mich zuerst mal um Arko, dass der schön trocken wird.«

»Genau, und ich werde unsere Gäste ein wenig einweisen.«

Ich betrat die Hütte, gefolgt von Jonas und den Kindern, während Arko bereits durch das Gewirr von Beinen hindurch- und in die Hütte hineingewuselt war. Im Generatorraum drückte ich auf den Startknopf, dann schnappte ich mir das Hunde-Handtuch und begann damit, den Vierbeiner trockenzurubbeln, während um mich herum die ganze Meute damit beschäftigt war, sich von den Stiefeln zu befreien. Na das konnte noch ein Spaß werden, mit sovielen Leuten auf einem Haufen…

Fabian

Es fiel mir unendlich schwer, nach Reikos Klohäuschen-Verarsche wieder zum ernsthaften Tagesgeschehen überzugehen. Das hatte er sich wirklich clever ausgedacht, und anscheinend auch noch völlig überzeugend rübergebracht!

»So, Kinder, zieht euch bitte zuerst mal die Stiefel aus und stellt sie neben die Tür.«

Womit das Chaos perfekt war. Fünf Kinder bückten sich, um sich die Schuhe auszuziehen, und knallten dabei beinahe mit den Köpfen zusammen. Auch Jonas und ich stiegen aus den Stiefeln, an denen immer noch etwas Schnee haftete – die Schneeschuhe hatten wir natürlich schon vor der Hütte abgelegt. Kurz darauf standen alle außer mir in Socken in der Hütte.

»Schaut mal dort in das Schränkchen, dort sollten noch ein paar Hausschuhe zu finden sein. Probiert mal aus, wem die passen.«

Für alle würden die sicher nicht reichen, mit so einem Massenansturm hatte ja niemand rechnen können. Naja, mußten die anderen dann halt die Füße auf dem Bärenfell oder den Sitzgelegenheiten abstellen.

Ich warf einen Blick ans Zimmerthermometer: 21 Grad. Schon ganz gut, aber ich würde dann noch etwas Holz im Kamin nachlegen.

»Du, Fabian?«

»Ja?«

»Wie machen wir das mit den Klamotten? Von uns hat keiner was zum Wechseln mit, und die Schneeanzüge sind für drinnen viel zu warm. Mal ganz davon abgesehen, dass die doch etwas naß geworden sind und dringend mal zum Trocknen aufgehängt werden müßten.«

Mist, daran hatte ich gar nicht gedacht! Ich dachte, einfach umziehen und die Sache wäre erledigt, aber nur Reiko und ich konnten das ja machen, die anderen schleppten verständlicherweise nicht ihre gesamte Garderobe mit durch den Wald. Und nun?

»Ich hab keine Ahnung. Futteralien haben wir hier reichlich, Feuerholz ist genügend da, Strom können wir machen und ein paar Schlafsäcke haben wir auch noch. Aber mit Klamotten können wir leider nicht dienen.«

»Hm. Okay, dann müssen wir improvisieren. Kannst du die Temperatur hier noch etwas hochbringen? Oder hast du ein paar Decken?«

»Beides. Wieso?«

»Wir lassen alle ihre Schneeanzüge ausziehen, die haben eh alle was langes drunter. Wird halt ein richtiger Abenteuerausflug, mit Improvisation und so, wie bei den Pfadfindern.«

Das hörte sich vernünftig an, und schien außerdem eh die einzig mögliche Lösung zu sein.

»Gut, machen wir es so. Bringst du es den Kids bei? Du hast ja schließlich das Kommando bei denen.«

Jonas seufzte und drehte sich zu den Kindern um, von denen sich einige bereits in den Sesseln niedergelassen hatten.

»Leute, macht es euch mal noch nicht so gemütlich, in den dicken Klamotten könnt ihr hier nicht rumhängen. Also zieht bitte die Schneeanzüge aus.«

Verdutzt schauten die Kids ihn an.

»Aber Jonas, wir haben doch gar nichts zum Wechseln dabei!«

»Ich weiß, Ricarda, aber ihr habt doch alle was drunter.«

»Wir sollen in Unterwäsche rumlaufen?«

»Ja, Manuela, stellt euch einfach vor, es wäre so eine Art Pyjama-Party.«

Hm, Pyjamas waren ja das nächste Problem, das spätestens am Abend auf uns zukommen würde.

»Also ich weiß nicht…«

»Mein Gott, nun macht doch mal nicht so ein Drama draus! Hier ist gut geheizt, wollt ihr im eigenen Schweiß ersaufen oder wie? Also gut, dann fange ich halt an!«

Jasmin war von ihrem Kloabenteuer zurückgekehrt und hatte gleich das Kommando übernommen. Naja, die wollte ja auch Pädagogik studieren, vielleicht kam sie mit der Situation besser klar als Jonas oder ich. Sie begann, sich endgültig aus ihrem Schneeoverall herauszuschälen, das Oberteil hatte sie nach dem Toilettenbesuch sowieso gar nicht erst wieder hochgezogen. Was Reiko natürlich sofort aufgefallen war, der jetzt aus seiner hockenden Position bei Arko sehr aufmerksam zu Jasmin nach oben schaute. So ein schlimmer Finger aber auch!

Zögernd fingen die Kinder an, sich ebenfalls zu entblättern, und das sollte ich dann wohl auch langsam tun, mir wurde es allmählich ziemlich warm. Ich gab Jonas ein Zeichen, mir zu folgen, und verschwand mit ihm ins große Schlafzimmer.

»Hier haben wir genügend Platz, um uns auch auszuziehen. Du müßtest ungefähr meine Größe haben, du kannst eine Jeans von mir bekommen.«

Während ich aus meinem Overall stieg, zog auch Jonas seine Kombi aus und stand kurz darauf in knallenger Unterwäsche vor mir, unter der ein verführerisch knackiger Körper zu erkennen war. Ich mußte mich ganz schnell wegdrehen und griff in den Kleiderschrank.

»Hier, probier die mal an.«

Ich reichte ihm eine meiner mitgebrachten Hosen.

»Ich zieh mich drüben im anderen Schlafzimmer um.«

Mich noch weiter vor ihm zu entblößen traute ich mich nicht, obwohl ich nur zugern zugesehen hätte, wie er sich noch weiter auszog!

Unschlüssig nahm Jonas die Jeans entgegen, als wüßte er nicht so recht, was er damit anfangen sollte.

»Irgendein Problem? Ich denke mal, dass die dir passen sollte.«

»Ja, schon, aber…«

Ich kam nicht mehr so ganz mit.

»Was aber?«

»Naja, ich weiß nicht, ob ich das machen soll.«

»Ach, keine Bange, ich helfe dir gerne aus!«

»Das meine ich doch gar nicht.«

»Was meinst du dann?«

»Naja, wegen mir sind die Kids in dieser Lage, und ich wäre wohl ein schlechtes Vorbild, wenn ich die quasi dazu zwinge, in Unterwäsche rumzulaufen, und mich selbst aber aus der Situation herausstehle.«

Oh. Seine Schwester war wohl nicht die einzige in der Familie mit einem pädagogischen Touch.

»Tja… Also mir ist es egal, es war nur ein Angebot. Du kannst auch gerne so rumlaufen, kein Problem.«

Höchstens ein Problem für mich.

»Gut, dann mach ich das so. Ich will nicht Wasser predigen und selber Wein saufen.«

»Wie du meinst.«

Jonas gab mir die Jeans zurück und wollte das Zimmer verlassen.

»Warte noch nen Moment. Hier, die Hausschuhe kannst du haben, oder möchtest du auf die auch verzichten?«

»Aber die brauchst du doch selber.«

»Nee, ich hab hier noch so dicke ABS-Socken, die zieh ich eh lieber an als die Pantoffeln.«

Zweifelnd schaute Jonas mich an, also zeigte ich ihm, was ich meinte.

»Okay, wenn das so ist. Vielen Dank.«

»Gern geschehn.«

Mein Gast schlüpfte in die Pantoffeln und wandte sich zur Tür.

»Kommst du dann auch gleich wieder raus, Fabian?«

»In ein paar Minuten, ich will erst meinen Vater anrufen und Bescheid geben, dass wir gut und sicher hier angekommen sind. Das mache ich lieber hier in der Ruhe und nicht in dem Kindergewimmel da draußen.«

»Hehe, das kann ich verstehen. Ach ja, wo kann ich die Sachen hier zum Trocknen aufhängen?«

»Am besten im Lagerraum, da sind auch schon ein paar Wäscheleinen gespannt. Frag Reiko, der zeigt dir, wo das ist.«

»Okay, dann bis nachher. Ich nehm deinen Overall gleich mit.«

Das war wirklich nett von ihm, ich nahm nur noch schnell das Handy raus, dann setzte ich mich aufs Bett und wählte die Nummer meines Vaters, während Jonas das Zimmer verließ und die Tür hinter sich zuzog.

»Hallo Faby! Alles okay bei euch, seid ihr in der Hütte angekommen?«

»Ja, Paps, hat alles prima geklappt.«

»Na super. Habt ihr vorhin das laute Gerumpel gehört?«

Lautes Gerumpel? Also ich hatte nichts davon mitbekommen.

»Nein, was meinst du?«

»Junge, hier ist eine ganze Geröllawine niedergangen, das waren die Steine, die den Eltern und allen anderen vom Herzen gefallen sind, nachdem ihr euch das erste Mal gemeldet hattet.«

Das allerdings konnte ich mir sehr gut vorstellen. Bei den Eltern ja sowieso, aber auch bei den Suchmannschaften war die Anspannung immer besonders groß, wenn es darum ging, vermißte Kinder zu finden.

»Hält dein Handy-Akku noch durch?«

»Ja, kein Problem, außerdem habe ich ja das Ladegerät dabei.«

»Sehr schön. Wenn wir mit unserem Gespräch fertig sind, werde ich in der Steintalbaude anrufen. Dort warten die Eltern auf die Nachricht, dass ihr alle in der Hütte angekommen seid. Ich gebe denen dann deine Handynummer, dann können sie bei euch anrufen, und alle können mal mit ihren jeweiligen Kindern reden. Einverstanden?«

»Klingt vernünftig. Solange die dann nicht immer wieder hier anrufen, das gäbe das totale Chaos.«

»Stimmt, daran hatte ich gar nicht gedacht. Wir machen das anders, ich geb die Nummer einem Beamten von mir, der wählt sie von einem Apparat ohne Anzeige an, dann können die Eltern von diesem Apparat aus sprechen. Besser so?«

»Auf jeden Fall.«

»Gut, dann machen wir das so.«

»Gibt es was neues von der Wetterfront?«

»Nicht viel. Heute Nacht soll es nochmal kräftig schneien, morgen im Tagesverlauf auch noch. Wenn wir Glück haben, hört es dann morgen abend auf, und wir haben ein paar Tage Ruhe. Sobald das absehbar ist, schicken wir die schwere Technik los. Einen Weg zur Hütte freizubekommen hat jetzt die allerhöchste Priorität bekommen.«

Na das war doch was, im Normalfall wäre unsere Zufahrt zuallerletzt drangekommen.

»Prima, da will ich mal die Daumen drücken, dass das möglichst bald klappt.«

»Glaub mir, das tun wir hier alle. Die Eltern machen ganz schön Druck, die wollen ihre Kinder so schnell wie möglich wiederhaben.«

Das war durchaus verständlich. Und ich wollte auch, dass die Eltern ihre Kinder so schnell wie möglich wiederbekamen. Damit sie mir nicht die Feiertagsruhe verdarben!

»Etwas anderes, Fabian. Ich habe in der Zwischenzeit eine Möglichkeit gefunden, euch ein gewisse Menge Nachschub zukommen zu lassen.«

Oho, das waren ja interessante Neuigkeiten!

»Wie das denn, ich denke, es ist kein Durchkommen zu uns.«

»Auf normalem Wege auch nicht, aber ich hab mich dran erinnert, dass die Steintalbaude einen Motorschlitten mit einem kleinen Gepäckanhänger hat. Wenn der in spätestens einer Stunde losfährt, schafft er es noch im Hellen zu euch und wieder zurück.«

»Hört sich prima an! Aber die Kids mitnehmen geht wohl nicht?«

»Nein, das ist zu gefährlich. Wenn es Erwachsene wären, würden wir das Risiko vielleicht eingehen, aber mit Kindern verkneifen wir uns das lieber. Außerdem könnte da eh immer nur einer mitfahren.«

»Okay, wie du meinst.«

»Du müßtest mir jetzt sagen, was wir für euch mitschicken sollen, Lebensmittel und solche Sachen.«

Wir hatten ja einiges an Lebensmitteln eingelagert, aber ohne Nachschub würde das eine sehr einseitige Ernährung werden, also sollten wir diese Chance ausgiebig nutzen.

»Hast du Stift und Zettel parat, Paps?«

»Ja, kannst loslegen.«

»Wir bräuchten Brot und Brötchen für die nächsten Tage, am besten wäre vielleicht Toastbrot. Wenn möglich, sollen die noch einen zweiten Toaster dazupacken. Butter, frische Wurst und Käse wären auch nicht schlecht, ein paar Eier, Marmelade und solches Zeug.«

»Hab ich aufgeschrieben. Was noch?«

Ich überlegte kurz.

»Kaffee haben wir genug da, aber Tee, Milch und Kakaopulver für die Kids könnten mitgeschickt werden. Ach ja, und Zucker nicht vergessen.«

»Kein Problem, das haben die in der Steintalbaude garantiert alles da.«

Davon ging ich auch aus, die hatten sogar einen eigenen Bäcker und eine eigene Metzgereigaststätte im Haus.

»Fällt dir sonst noch was ein?«

Mich durchzuckte ein Geistesblitz.

»An Lebensmitteln sollte es das gewesen sein, aber sag mal, die Eltern sind doch auch alle dort im Hotel, oder?«

»Ja, wieso?«

»Dann sollen die mal die Stunde bis zur Abfahrt nutzen, und für ihre Kiddies ein paar Sachen zusammenpacken. Unterwäsche zum Wechseln, eine Hose und einen Pullover, Schlafsachen, Waschzeug und so. Wir stehen in der Beziehung hier oben völlig auf dem Schlauch.«

»Mein Gott, daran habe ich bisher überhaupt noch nicht gedacht! Junge, du bist genial, du denkst wenigstens mit!«

Naja, wirklich genial war ich wohl nicht, wären wir nicht bereits vor einer Viertelstunde über das Problem gestolpert, hätte ich wohl auch nicht daran gedacht.

»Ist auf dem Schlitten ausreichend Platz dafür?«

»Ja sicher, mit Bekleidung ist das eh nicht so problematisch, die kann man ja auch etwas zusammendrücken und knautschen.«

»Schön. Vielleicht kann der olle Ziermayer auch mal schauen, ob er ein paar Sachen von seinem Azubi und dessen Schwester findet.«

»Ich werde es ihm ausrichten. So, wenn es das war, dann stürze ich mich gleich auf die Organisation von eurer Nachschublieferung.«

»Tu das, Paps. Es fängt gerade wieder an zu schneien, je eher der Schlitten los kann, umso besser.«

»Stimmt. Wegen der Telefonate mit den Eltern sage ich einem Beamten Bescheid. Wann wäre eine gute Zeit, um mit den Anrufen zu beginnen?«

»Erst wenn der Schlitten unterwegs ist, bis dahin haben die Eltern erstmal anderes zu tun. Und wir müssen auch erstmal etwas Ruhe und Ordnung in die Situation bringen.«

»Stimmt. Also rechne mal in etwa einer Stunde damit, dass dein Handy klingelt. Häng es in der Zwischenzeit lieber ans Ladegerät, das wird wohl ein ziemlich langes Gespräch werden.«

»Mache ich. Also dann, bis demnächst.«

»Schönen Gruß von deiner Mutter soll ich noch ausrichten.«

»Schönen Gruß zurück. Tschüß.«

»Tschüß, Faby.«

Und damit endete das Gespräch. Die Ankündigung des Versorgungsschlittens hatte meine Laune deutlich angehoben. Ich hatte schon befürchtet, die nächsten Tage mit einer quengelnden Kinderbande verbringen zu müssen, die sich ständig darüber beschwerte, dass es nur Konservenfutter zu essen gab.

Ich legte das Handy zur Seite und begann damit, mich weiter umzuziehen. Doch dann dachte ich an Jonas, der aus Solidarität mit den Kids mein Jeans-Angebot ausgeschlagen hatte.

»Ach scheiße, was solls!«

Ich legte meine Hose wieder zurück in den Schrank, griff mir Handy und Ladegerät und ging zurück ins Wohnzimmer, wo meine erste Amtshandlung darin bestand, das Mobiltelefon mit dem Stromnetz zu verbinden. Dann schaute ich mich im Raum um. Außer Reiko und Patrick waren mittlerweile alle bis auf die Unterwäsche ausgezogen, und bei Reiko würde sich das wohl auch gleich ändern.

»Faby, ich geh mich jetzt ausziehen.«

»Okay. Hast du Jonas gezeigt, wo die Sachen aufgehangen werden können?«

»Ja, er weiß Bescheid.«

Reiko verschwand in die hinteren Räumlichkeiten, und während Jasmin und Jonas nun die Schneebekleidung der Kinder einsammelten, kümmerte ich mich erst einmal um den Kamin. Der konnte noch einige neue Holzscheite vertragen, also legte ich nach und stocherte mit dem Schürhaken in der Glut herum, damit es ein ordentliches Feuerchen gab.

»Patrick, ausziehen, los, das gilt auch für dich!«

»Ich hab doch meine Jacke schon ausgezogen! Die Hose kann ich ja anbehalten.«

»Mein Gott, stell dich nicht so an! Schau mal, Fabian heizt den Kamin noch weiter an, bald wirst du es in der dicken Hose gar nicht mehr aushalten!«

»Die Schwuchteln wollen mich doch nur in Unterwäsche sehn!«

Noch ein Satz und mir würde der Kragen platzen.

»Du bist ein Idiot, Patrick! Also ob die beiden irgendwas an so nem Typen wie dir finden würden! Vielleicht bin ich es ja, die dich in Unterwäsche sehen will!«

Hehe, Jasmin hatte richtig Haare auf den Zähnen. Da mußte Reiko wohl wirklich gehörig aufpassen, falls er weiterführende Pläne mit ihr hatte.

»Also los jetzt, Hose aus, sonst erledige ich das für dich. Und glaub bloß nicht, dass ich dazu nicht in der Lage wäre!«

Also ich hatte keinerlei Zweifel mehr daran, dass Jasmin das fertigbrächte. Aus den Augenwinkel sah ich, wie Patrick sich aus dem Sessel erhob und mit verkniffenem Gesichtsausdruck die Träger seiner Schneehose abstreifte. Wieder eine Schlacht gewonnen, ich konnte mich also erneut dem Kaminfeuer zuwenden.

Reiko

Während ich auf dem Weg ins Schlafzimmer war, hörte ich noch den Streit mit Patrick. Na mit dem Bürschlein würden wir wohl noch viel Freude haben!

Im Schlafgemach angekommen, zog ich den Overall herunter. Auch ich war schon kurz nach dem Betreten der Hütte aus dem Oberteil geschlüpft und hatte die Ärmel vor dem Bauch verknotet, nicht nur, weil er ziemlich warm war, sondern auch, weil er doch etwas eng war und dadurch die Beweglichkeit einschränkte. Und um Arko trockenzurubbeln mußte man schon sehr beweglich sein!

Wie ich nun also den Overall an mir herunterschob, war ich plötzlich mächtig froh, dass ich das nicht gleich mitten im Wohnzimmer vor versammelter Truppe getan hatte. Warum? Ganz einfach. Eben weil der Overall ein wenig eng war, zog ich mit ihm zusammen meine Unterwäsche mit runter und stand plötzlich untenrum total im Freien. Wenn mir das in Gegenwart von Jasmin passiert wäre, nicht auszudenken, diese Peinlichkeit! Ich sollte zukünftig vielleicht komplett auf meine Eishockey-Underalls umsteigen, da konnte das nicht passieren.

Fluchend zog ich mir die Buxn wieder hoch und stieg dann endgültig aus der vermaledeiten Schneedings. Ich überlegte kurz, ob ich mir normale Sachen anziehen sollte, aber damit wäre ich inmitten der anderen wohl genauso aufgefallen wie ein vollkommen Nackter. Also griff ich den Overall und gesellte mich wieder zur großen Meute. Noch ein kurzer Abstecher in den Lagerraum, wo ich noch ein Plätzchen für meinen Schneeanzug fand, dann war ich bereit für weitere Schandtaten. Naja. Sagt man halt so! Als ob ich jemals eine Schandtat begehen könnte. Höchstens mit Jasmin. Aber halt. Das gehört hier jetzt nicht hin!

Ich warf einen Blick in die Runde, die mittlerweile ziemlich still geworden war, sogar Patrick saß zusammengerollt in einem Sessel. Ohne Hose, wohlgemerkt. Naja, kein Wunder, die hatten bestimmt die letzte Nacht kaum ein Auge zu bekommen, die waren sicher völlig erledigt. Ich ging zu Fabian, der auf einem der Barhocker saß.

»Scheint ja langsam Ruhe und Frieden einzukehren.«

»Ich will es hoffen, Reiko.«

»Hast du deinen Vater angerufen?«

»Ja, hab ich, und du wirst nicht glauben, was er mir angekündigt hat.«

Fabian erzählte mir vom Motorschlitten-Plan, und meine Augen wurden immer größer.

»Mensch, wäre wirklich klasse, wenn das klappt!«

»Das klappt bestimmt, was er einmal versprochen hat, das hält er auch.«

Wunderbar. Ich hievte mein Hinterteil auf den Barhocker neben Fabian.

»Wie machen wir das eigentlich mit der Schlaferei? Soviele Betten haben wir gar nicht, also müssen doch sicher die Schlafsäcke ran.«

»Müssen wir uns nachher noch Gedanken machen und das mit den Kids absprechen. Im Moment bin ich froh, dass sie ein wenig zur Ruhe gekommen sind.«

»Ich hab Hunger!«

Da hatte sich Faby wohl etwas zu früh gefreut.

»Und ich will was zu trinken!«

»Faby, streiche das mit dem ‚Ruhe und Frieden eingekehrt‘.«

»Sieht so aus.«

Jasmin, die bis eben den zweiten Sessel besetzt hatte, kam zu uns herüber.

»Tut mir leid, Jungs, aber vergeßt bitte nicht: seit gestern haben wir nichts mehr zu essen gehabt, und an ‚Getränken‘ gab es nur geschmolzenen Schnee.«

Daran hatte ich gar nicht gedacht! Fabians geschocktem Gesichtsausdruck entnahm ich, dass es bei ihm genauso war. Da konnte man Christoph und Patrick wegen ihren Rufen nach Essen und Trinken nun wirklich keinen Vorwurf machen.

»Was machen wir nun, Fabian?«

»Was wir nun machen? Was zu essen machen wir nun.«

Ja klar, soweit wäre ich auch selber noch gekommen.

»Und was machen wir zu essen? Sollte ja möglichst schnell gehen, oder?«

»Schaun wir mal nach, was das Lager so zu bieten hat.«

Jasmin und ich folgten Fabian in den Lagerraum, wo wir uns die vorhandenen Konserven näher anschauten.

»Was haltet ihr von Goulaschsuppe? Dazu backen wir ein paar von den Baguetts auf.«

Ich griff mir eine der Suppendosen, sah wirklich lecker aus.

»Wieviele davon werden wir brauchen?«

»Wir sind jetzt neun Leute, normalerweise würde ich sagen, drei Dosen reichen, aber ich denke mal, ihr seid ziemlich ausgehungert, also lieber fünf. Was übrig bleibt, können wir später immer noch aufwärmen.«

»Wo liegen die Baguettes?«

»Dort drüben im Schrank.«

Ich ging zum genannten Schrank, und wirklich, darin lagen einige Packungen mit Baguettes zum Fertigbacken, jeweils zwei lange Stangen.

»Wieviel davon, Faby?«

»Drei Pakete sollten reichen, denke ich mal.«

»Okay.«

Ich nahm drei Päckchen heraus und schloß den Schrank wieder.

»Äh… Jungs?«

Jasmin hatte die ganze Zeit zugeschaut, nun hatte sie offensichtlich irgendetwas beizutragen.

»Ja?«

»Vielleicht sollten wir eine Dose Suppe und ein Paket Baguettes weniger nehmen.«

»Wieso? Ihr müßt doch bestimmt einen riesigen Hunger haben, ich denke, Faby hat recht mit der Menge.«

»Ja schon, aber wir wissen doch noch nicht, wielange wir hier festsitzen. Vielleicht sollten wir die Vorräte doch etwas mehr einteilen.«

Ah ja, daher wehte der Wind. Na klar, Jasmin wußte ja auch noch nichts von der angekündigten Motorschlitten-Lieferung, also erzählte ich ihr noch schnell davon. Im Ergebnis machte sich auf ihrem Gesicht Erleichterung breit.

»Na wenn das so ist, dann können wir wirklich soviel machen, wie Fabian vorgeschlagen hat.«

Sehr schön. Wir schnappten uns also die Dosen und die Baguettes und trugen alles in den Kochbereich.

»Ich koche, Jungs.«

Sollte mir nur recht sein, meine Kochkünste beschränkten sich darauf, dass es mir sogar gelang, klares Wasser anbrennen zu lassen.

»Da werde ich mal ein paar Getränke ranholen. Reiko, hilfst du Jasmin ein wenig?«

Diese Frage brachte Fabian mit einem leichten Augenzwinkern heraus – war er es jetzt, der mich verkuppeln wollte?

»Na sicher tu ich das.«

»Prima. Patrick? Du hattest Durst?«

»Ja klar!«

»Dann los, komm mit, die Getränkeflaschen kommen nicht von alleine angelaufen.«

Siehe da, der Durst brachte unseren bockigen Teenager dazu, endlich mal etwas ohne Murren und Meckern zu tun. Mit Patrick im Schlepptau verschwand Fabian wieder in Richtung Lagerraum.

»So, Reiko. Ich suche schonmal einen großen Topf, kannst du mir eventuell die Dosen öffnen?«

»Klar, Jasmin. Ich hab schließlich einen Hund, da hab ich viel Übung mit dem Dosenöffner.«

Jasmin lachte mich an, ein Anblick, an dem ich mich nicht sattsehen konnte.

»Na dann los, du menschlicher Dosenöffner, fang an. Jonas?«

»Ja, Schwesterlein?«

»Du könntest schonmal Teller und Besteck zusammensuchen. Ach ja, die Baguettes müssen auch ausgepackt und in die Backröhre geschoben werden.«

Damit war wohl endgültig geklärt, wer hier im Küchenbereich den Hut bzw. die Kochmütze aufhatte. Naja, war vielleicht ganz gut, wenn das jemand übernahm, der tatsächlich wußte was er da tat.

Ich machte mich also über die Dosen her, und so schnell wie ich sie öffnete, so schnell verschwand auch ihr Inhalt in einem großen Suppentopf. Jonas kramte in den Schränken herum und holte ein Sammelsurium aus Suppentellern, Schüsseln und Schalen hervor. Komischerweise waren Röckers wohl nicht darauf vorbereitet, dass in ihrer Hütte neun Leute gleichzeitig Suppe löffeln wollten – ein Versäumnis, welches sicherlich baldmöglichst behoben werden würde.

»Einige von uns werden wohl mit Kaffeelöffeln essen müssen, ich hab hier nur sechs Suppenlöffel gefunden.«

»Einen davon kannst du mir gleich geben, den brauch ich zum Umrühren.«

Jasmin schnappte ihrem Bruder einen Löffel weg, und während ich den Inhalt der letzten Dose in den Topf kippte, schaltete sie den Gasbrenner an und begann, im Topf herumzurühren.

»Jonas, hast du die Baguettes schon ausgepackt?«

»Ja, die liegen schon bereit.«

»Sehr schön. Reiko, schalte die Backröhre ein und leg die Baguettes rein.«

Mann, die hatte ja einen ganz schönen Kommandoton drauf! Da wollte ich mal lieber gehorchen.

In der Zwischenzeit waren auch Fabian und Patrick wieder zurückgekommen und hatten ein paar Flaschen alkoholfreier Getränke mitgebracht und auf der Theke abgestellt.

»Patrick, ich geb dir Gläser, du verteilst sie und gießt jedem ein was er haben will.«

»Wieso gerade ich?«

Fabian schaute entnervt auf den Möchtegern-Erwachsenen hinab.

»Weil du der älteste von euch bist und ruhig etwas Verantwortung übernehmen kannst!«

»Schon gut, schon gut…«

Patrick ergab sich in sein Schicksal und erledigte, was Fabian ihm aufgetragen hatte, während Jonas nun Geschirr und Besteck am Tisch verteilte.

»Das wird ziemlich eng, ich würde vorschlagen, dass zwei von uns hier an der Bar essen.«

Wir waren uns schnell einig, dass ich mit Jasmin die Kids am Tisch beaufsichtigen würde, während Fabian und Jonas von den hohen Barhockern aus die Gesamtsituation im Blick behalten würden. Mittlerweile zog ein himmlischer Duft durch den Raum, und ich wandte mich wieder Jasmin zu, die fleißig im Topf herumrührte.

»Sag mal, wieso rührst du das Zeug eigentlich ständig um?«

»Damit es nicht anbrennt, du Dummkopf.«

Oh. Interessant! Darauf war ich noch nicht gekommen, vielleicht hatte ich deshalb bisher immer Pech gehabt bei meinen Versuchen, mir selbst irgendwas zu kochen. Man lernt halt nie aus.

»Steh nich so rum wie ein Ölgötze, schau lieber mal, dass die Baguettes nicht verkohlen.«

»Jawohl, Frau Oberfeldköchin!«

»Du Spinner!«

Aber sie sagte es mit einem Lächeln! Ich war völlig weg. Eigentlich komisch, so kurz nach dem Desaster mit Melanie. Wobei es mit der ja schon eine ganze Weile nicht so berauschend gelaufen war.

Die Baguettes schienen mir genau richtig zu sein, also nahm ich sie aus der Backröhre heraus. Nicht ohne mir dabei gehörig die Pfoten zu verbrennen. Beim zweiten war ich dann schlau genug, es mit einem Messer auf einen Teller zu ziehen.

»Die Dinger sind fertig, wie siehts mit der Suppe aus?«

Jasmin schaute in den Topf und nickte zufrieden mit dem Kopf.

»Die ist auch soweit, wir können essen.«

Na wunderbar. Zuerst befüllten wir die Teller von Jonas und Fabian, die auch eines der Baguettes bei sich am Bartresen behielten, dann trug ich den großen, heißen Topf vorsichtig zum Eßtisch, wo bereits fünf hungrige Kindermäuler darauf warteten, gestopft zu werden.

»Setz dich, Reiko, ich gebe auf. Nicht dass das zu einem riesigen Geklecker ausartet.«

Jasmin schien ja viel Vertrauen in meine Fähigkeiten als Kellner zu haben. Naja. Auch gut. Eine Arbeit weniger. Ich holte noch schnell die Baguettes für unseren Tisch, dann ließ ich mich nieder, während Jasmin geschickt die Teller und Schüsseln mit dampfendheißer Goulaschsuppe befüllte.

»So, dann mal guten Appetit. Aber paßt auf, die Suppe ist heiß! Dass sich dann keiner beschwert, wenn er sich die Gusche verbrannt hat!«

Die Gusche verbrannt? Ach ja. Jasmin und ihr Bruder kamen ja aus Sachsen. Aber die Warnung war wohl gerechtfertigt, also pusteten wir bald alle um die Wette, und einige Minuten später war ich überrascht, was für einen kurzen Prozeß wir gemeinsam mit dem vorher so groß aussehenden Suppentopf gemacht hatten. Auch Fabian, der sich anscheinend noch Nachschlag holen wollte, schaute verdutzt in den leeren Topf.

»Schon alle? Sollen wir nochmal was machen, oder seid ihr erstmal satt?«

Genau das waren auch meine Gedanken gewesen. Zum Glück waren anscheinend alle ordentlich abgefüttert, niemand bestand darauf, noch etwas zu essen zu bekommen. Nur gut, dass wir gleich fünf Dosen gemacht hatten, mit einer weniger, wie Jasmin es vorgeschlagen hatte, wären wir nicht hingekommen. Und auch die Baguettes waren bis auf den letzten Krümel verschwunden. Nicht einmal Arko hatte irgendwas abbekommen! Aber bis zu seiner üblichen Futterzeit waren es eh noch ein paar Stunden, schließlich war es jetzt gerade mal halb drei durch.

»So, wenn wir alle gerade so schön beisammen sitzen, hab ich jetzt mal ein bißchen was zu erzählen und zu erklären…«

Na da war ich ja mal gespannt, was Fabian jetzt unters gespannt zuhörende Volk bringen wollte.

Fabian

Die Raubtierfütterung war ja ziemlich gut und gesittet abgelaufen, jetzt waren die Kids hoffentlich auch aufnahmefähig für ein paar Dinge, die ich ihnen beibringen mußte.

»Also die Sache ist die: wie ihr sicher schon mitbekommen habt, sitzen wir hier auf der Hütte erstmal fest, und das für mindestens noch zwei Tage.«

Die Mädchen schauten jetzt etwas ängstlich drein, die Jungs verbargen ihre Gefühle, was aber nicht allen hundertprozentig gelang. Naja, sie mußten aber die Wahrheit erfahren, und so schlimm war diese Wahrheit ja nun auch wieder nicht.

»Es wird etwas eng werden, für soviele Leute ist die Hütte eigentlich nicht ausgelegt, es muß also jeder etwas Rücksicht auf den anderen nehmen. Es wird auch jeder ein wenig mithelfen, und wir beginnen damit gleich nach meiner Ansprache, da werden ein paar von euch bitte beim Abräumen und Abwaschen helfen.«

Das fand ich nur fair, sie waren schließlich alle alt genug, um ein wenig zum Allgemeinwohl beizutragen. Ich erklärte, was es mit der Hütte auf sich hatte, wie Strom und Wasser funktionierten usw. usf. Es gab einige Fragen zur Toilette und zum Duschen, und ich wies ganz deutlich auf das Gebot des Warmwassersparens hin. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich beim vorerst letzten Punkt ankam.

»Nachher müssen wir noch klären, wie wir das mit der Schlaferei machen, aber das wird auch kein Problem sein. Wir haben zwei Schlafzimmer mit mehreren Betten und außerdem noch einige Schlafsäcke.«

Christoph streckte schüchtern seinen linken Arm in die Luft. Wie niedlich, er meldete sich wie in der Schule.

»Ja, Christoph?«

»Wir haben gar keine Schlafanzüge, sollen wir in der Unterwäsche schlafen?«

»Da hast du sehr gut mitgedacht! Eigentlich müßtet ihr genau das tun, aber…«

»Aber wir sollen nackt schlafen!«

Von wem konnte sowas wohl kommen? Nur von Patrick natürlich.

»Wirklich?«

»Nein, Manuela, natürlich nicht! Patrick erzählt nur mal wieder Unsinn.«

Nicht nur Manuela atmete erleichtert auf.

»Ihr müßt auch nicht in eurer Unterwäsche schlafen, ich habe nämlich noch eine positive Überraschung für euch. Nachher wird hier ein Motorschlitten auftauchen, der wird einiges an Lebensmitteln mitbringen – und für jeden von euch einige Sachen, die eure Eltern für euch zusammengepackt haben. Also Schlafsachen, Waschzeug, frische Wäsche und solche Dinge.«

Den fröhlichen Gesichtern am Tisch entnahm ich, dass mir diese Überraschung gelungen war.

»Fährt der Motorschlitten auch wieder zurück?«

»Ja, Patrick, wir laden nur schnell alles ab, dann fährt der wieder zurück zum Hotel.«

»Dann kann ich da doch bestimmt mitfahren!«

Irgendwie hatte ich das erwartet.

»Nein, kannst du nicht. Der Fahrer nimmt aus Sicherheitsgründen niemanden mit.«

»Das werden wir ja sehen!«

Ich seufzte innerlich. Was sollte man mit dem Jungen nur noch anfangen? Vorhin, beim Getränkeholen, war er ja einigermaßen manierlich gewesen, aber dabei hatte es sich wohl nur um einen Ausrutscher gehandelt.

»So, ich denke, damit wäre erstmal alles geklärt. Wenn ihr Fragen habt, dann fragt einfach, wir müssen hier gut miteinander auskommen, also keine falsche Schüchternheit, okay?«

Als Antwort bekam ich ein »Okay!« aus vier Kinderkehlen, nur Patrick saß stumm und mit zusammengekniffenen Lippen in seinem Sessel.

»Prima. Chris, Felix, ihr räumt bitte den Tisch ab. Manuela und Ricarda, ihr helft Jasmin und Reiko beim Abwasch.«

»Und was machen wir drei übrigen?«

»Wir, mein lieber Jonas, kümmern uns um das Entladen des Motorschlittens, den ich da angebrummt kommen höre.«

Tatsächlich näherte sich jetzt ein laut brummender Motor der Hütte, das konnte nur das angekündigte Schneemobil sein. Sogar um einiges früher als erwartet.

»Los, zieht euch schnell die Schneesachen und die Stiefel an, das Ding wird gleich da sein.«

Wir flitzten in den Lagerraum und stiegen wieder in unsere Sachen, die in der kurzen Zeit noch nicht wieder richtig trocken geworden waren. Als wir dann vor die Hütte traten, kam direkt davor gerade der Motorschlitten mit einem kleinen Kastenanhänger zum Stehen.

»Hallo Faby.«

»Paps!«

Was machte denn mein Vater hier? Mit dem hatte ich nun überhaupt nicht gerechnet!

»Genau der, mein Junge.«

»Was machst du denn hier?«

»Naja, ich kenne mich hier von allen, die mit so einem Ding umgehen können, am besten aus. Also dachte ich mir, ich übernehme die Fahrt höchstpersönlich.«

»Ich wußte gar nicht, dass du so einen Motorschlitten fahren kannst.«

»Tja, du weißt noch längst nicht alles über deinen alten Herrn! Als ich beim Bund war, hab ich ständig solche Kisten gefahren, und das verlernt man nie wieder. So, nun stell mir mal schnell noch die beiden Jungs vor, und dann machen wir, dass wir alles möglichst flott in die Hütte bringen!«

Ich war immer noch leicht verdattert, machte aber meinen Vater mit Jonas und Patrick bekannt, wobei ich bemerkte, dass Jonas etwas geknickt auf das offensichtlich sehr gute Verhältnis zwischen mir und meinem Vater reagierte. In Anbetracht seiner eigenen Geschichte leider nur zu gut verständlich.

»Na dann faßt mal mit an, Jungs! Patrick, du kannst ja mal diesen großen Sack hier nehmen, da sind lauter Klamotten drin, der ist also nicht sonderlich schwer.«

Ah, es hatte also geklappt mit den elterlichen Notpaketen. Sehr schön.

»Jonas, Fabian, im Anhänger sind mehrere Körbe mit Lebensmitteln. Die sind verdammt schwer, tragt die am besten immer zu zweit!«

Die mußten ja wirklich sehr schwer sein, wenn Paps uns nicht zutraute, sie alleine zu tragen. Und tatsächlich, ich versuchte, einen aus dem Hänger zu heben, aber Pustekuchen, ich bekam ihn nicht über die Bordwand drüber.

»Nu warte doch mal, du hast doch deinen Vater gehört, wir sollen die zusammen tragen!«

»Schon gut, schon gut. Also los, faß mit an.«

Gemeinsam schaften wir es, den Korb aus dem Hänger zu bekommen, und mit immer länger werdenden Armen trugen wir ihn in die Hütte hinein. Dort war auch mein Vater schon eingetroffen und nahm erstmal die Lage in Augenschein.

»Ah, wie ich sehe, habt ihr wohl gerade gegessen!«

»Ja, Paps, unsere Verirrten waren völlig ausgehungert.«

»Das glaub ich dir aufs Wort, Faby.«

»Das sind übrigens Jasmin, Manuela, Ricarda, Christoph und Felix. Reiko kennst du ja eh.«

»Allerdings. Hallo Reiko, lange nicht gesehn.«

»Stimmt, Herr Röcker. Aber ich freu mich sehr, Sie gerade jetzt und hier zu sehen.«

»Ach was, du freust dich nur, das zu sehen, was ich euch mitgebracht habe!«

Sowohl Reiko als auch mein Vater lachten, naja, die beiden hatten sich schon immer sehr gut verstanden.

»Über deinen Stunt mit dem Auto reden wir irgendwann nach Weihnachten mal, wenn alles wieder in geordneten Bahnen verläuft.«

Jetzt schaute Reiko zerknirscht drein.

»Okay, Herr Röcker.«

»So, wie schauts denn aus, habt ihr alles entladen?«

Jonas und ich hatten noch zwei weitere, mindestens genauso schwere Körbe reingeschleppt, während Patrick noch einen zweiten Kleidersack in die Hütte gebracht hatte und nun noch mit einem größeren Karton ankam.

»Vorsicht mit dem Ding, Patrick, der Inhalt ist zerbrechlich!«

»Sind da die Eier drin, Paps?«

»Nein, mein Junge, was viel Besseres!«

Na nun war ich aber wirklich gespannt. Mein Vater nahm Patrick den Karton ab, stellte ihn auf den mittlerweile freigeräumten Tisch, öffnete ihn, und holte einen … Fernseher heraus! Also jetzt kein riesiges Röhrendings, sondern so einen ganz flachen LCD-Fernseher mit einer 50er Bilddiagonale.

»Wow, Paps, wo hast du das Ding denn her?«

»Das ist eine edle Spende von Herrn Ziermayer, den plagt ein wenig das schlechte Gewissen, weil er Jonas so einfach mit den Kids losgeschickt hat.«

Das mußte wirklich ein sehr schlechtes Gewissen sein.

»Haben wir hier draußen überhaupt Empfang? Und hier gibt es doch gar keine Antenne.«

»Eine Antenne ist auch dabei.«

Mein Vater holte eine kleine Zimmerantenne heraus.

»Na mit dem kleinen Ding werden wir höchstens ARD und ZDF bekommen. Prima, dann können wir Weihnachten den Musikantenstadl schauen.«

Patrick. Wie üblich.

»Nicht so zynisch, junger Mann. Ihr werdet jede Menge Sender empfangen, wir sind hier im DVB-T-Ausbaugebiet.«

»DVB-T?«

Ha, Schlaukopf, erwischt!

»Ja, digitales Überall-Fernsehen. Mit der kleinen Antenne bekommt ihr über 20 Sender. Und durch die LCD-Technik verbraucht der Fernseher auch nicht sonderlich viel Strom.«

Das war allerdings auch wichtig, da mußten wir schon ein wenig aufpassen. Die Elektro-Heizung und Mikrowelle brachten bei gleichzeitigem Betrieb unser Stromnetz schon bis an die Grenze des Möglichen.

»Ich soll euch allen übrigens noch schöne Grüße von euren Eltern ausrichten. Aber die müßten ja eh mittlerweile angerufen haben, oder?«

Scheiße! Mir fiel es wie Schuppen aus den Haaren.

»Mist!«

»Was ist, Faby?«

»Ich hab das Handy vorhin ausgeschaltet und ans Ladegerät gehangen – und vergessen, es wieder einzuschalten.«

»Irgendwann vergißt du nochmal deinen eigenen Kopf. Aber naja, nicht so wild.«

Mein Vater griff in seine Jacke und brachte ein Funkgerät zum Vorschein, welches er jetzt einschaltete.

»Wolf Eins-Neun für Wolf Eins Karat, kommen!«

»Wolf Eins-Neun hört. Bist du gut angekommen, Chef?«

»Ja, bin ich. Hör mal, das Handy von meinem Jungen war ausgeschaltet.«

»Ah… Und wir hatten uns schon gewundert, dass wir einfach nicht durchkamen.«

»Ist halt passiert, nicht so schlimm. Er wird es jetzt gleich einschalten, warte noch fünf Minuten, dann rufst du hier an.«

»Mach ich, Chef.«

»Gut, ich mach mich jetzt auch gleich wieder auf den Rückweg. Wolf Eins Karat, Ende.«

»Empfangen, Ende.«

»Du hast es gehört, Faby. Schalte das Handy jetzt lieber ein, bevor die Eltern sich irgendwo eine Flotte Motorschlitten besorgen und dich persönlich heimsuchen.«

Also darauf konnte ich nun wirklich verzichten! Ich ging rüber zum Schrank, auf dem ich das Mobiltelefon abgelegt hatte, zog den Stecker vom Ladegerät raus und schaltete das Handy ein.

»Ich verschwinde wieder. Hört mal alle gut zu. Ihr seid hier jetzt gut und sicher untergebracht, verhungern müßt ihr auch nicht, euch kann hier gar nichts passieren. Versucht, das beste aus den nächsten Tagen zu machen, ist doch sicher auch mal ganz nett, so ganz ohne Eltern, oder?«

Besonders die beiden mittleren Jungs grinsten meinen Vater an.

»Na also. Sobald das möglich ist, schicken wir schwere Räumtechnik los, die euch hier ausbuddelt. Das wird noch ein paar Tage dauern, aber das haltet ihr schon durch.«

Körperlich bestimmt. Aber ob das auch meine Nerven durchhalten würden, stand auf einem ganz anderen Blatt.

Bevor mein Vater nun die Hütte verließ, kam er noch einmal zu mir, umarmte mich und flüsterte mir etwas ins Ohr.

»Du machst das ganz prima, Großer, ich bin mächtig stolz auf dich.«

Mit diesen Worten ließ er mich los, winkte noch einmal in die Runde und verschwand nach draußen. Während ich nun das übliche »Sie-hatten-einen-Anruf-hatten-aber-keine-Lust-ranzugehen-Gedudel« des Handys entgegennahm, sah ich noch aus den Augenwinkeln, wie eine Gestalt meinem Vater nach draußen folgte…

Reiko

Na das war ja mal eine Überraschung, Fabians Vater höchstpersönlich hatte den reitenden Boten gespielt! Und er hatte wirklich einiges angeschleppt, die Körbe waren knackevoll mit lauter feinen Sachen zum Futtern, sogar an Süßkram für die Kids hatte man nicht gespart.

»Reiko, könntest du mit Jasmin die Fressalien verstauen und die Kleiderpakete an die Kinder verteilen?«

Ich schaute zu Fabian, der mit dem Handy in der Hand in der Gegend herumstand.

»Kein Problem, und was machst du?«

»Ich werde mit Jonas die restlichen Betten beziehen.«

Soso. Mit Jonas. Alleine im Schlafzimmer. Überhaupt nicht verdächtig!

»Wie du meinst. Was ist mit dem Handy? Das wird doch jetzt gleich klingeln?«

»Da kümmere ich mich drum.«

Die angehende Pädagogin hatte gesprochen, hugh! Jasmin knöpfte Fabian das Handy ab und legte es auf die Theke, und während nun die beiden Bettenbezieher in die hinteren Räume verschwanden, verstauten wir die angelieferten Lebensmittel in den Küchenschränken sowie im Lagerraum. Also entweder hatte Fabian ganz genau gewußt, was er bestellen mußte, oder die Lieferanten hatten ganz genau gewußt, was wir hier brauchen würden. Ich freute mich besonders über die frischen Lebensmittel, ohne die wären wir zwar nicht verhungert, aber der Speiseplan wäre wohl doch sehr eintönig ausgefallen.

Bald waren die Körbe leer, nur eine Kiste mit Milchkartons mußte noch verstaut werden.

»Reiko, schaffst du die Milch alleine in den Lagerraum? Dann kümmere ich mich drum, dass die Kids alle die richtigen Kleiderbeutel bekommen.«

Das hatte man nun davon, ein Kerl zu sein, immer blieben die schweren Schleppereien an einem hängen. Aber gut, als wahrer Gentleman hätte ich das sowieso übernommen.

Ich trug also die Milch nach hinten, und als ich wieder im Wohnzimmer ankam, stöberten Jasmin und die Kids bereits in den beiden großen Plastesäcken, in denen sich kleinere Tüten mit Klamotten verbargen. Zum Glück waren überall Namensschildchen dran, sodass die Verteilung schnell und problemlos ablief. Eines fiel mir allerdings auf.

»Sag mal, Jasmin, wo ist eigentlich Patrick?«

In diesem Augenblick sprang draußen der Motor des Schneemobils an, und kurz darauf entfernte sich das Geräusch ziemlich schnell von der Hütte.

»Der ist mit Fabians Vater raus, ich glaube, der wollte ihn überreden, ihn doch auf dem Schlitten mitzunehmen.«

Ob ihm das wohl gelungen war? Konnte ich mir nicht so recht vorstellen. Ich ging zum Fenster und schaute hinaus, und da stand Patrick wie ein Häuflein Elend im Schnee.

»Er hat ihn nicht mitgenommen, Jasmin.«

»Hätte mich auch gewundert.«

»Soll ich ihn reinholen? Nicht dass er da draußen noch festfriert.«

»Nee, laß ihn mal, vielleicht kühlt er sich da ein bißchen ab.«

Also in dieser Beziehung gab ich mich lieber keinen falschen Hoffnungen hin, aber naja, solange er dort draußen war, konnte er hier drinnen keine schlechte Stimmung verbreiten. Das war ja auch schon was wert.

In diesem Moment klingelte das Handy, das war dann wohl der lang erwartete Anruf der Eltern unserer Schützlinge. Jasmin nahm ihn entgegen, und ich vergatterte schnell die Kiddies.

»Hört zu, ihr könnt jetzt alle mal mit euren Eltern sprechen.«

»Ich zuerst!«

Kinder!

»Manuela, die Reihenfolge richtet sich danach, wie die das im Hotel ausgemacht haben, also bitte keinen Streit darum, wer zuerst drankommt. Jeder ist mal dran, jetzt habt ihr solange gewartet, auf ein paar Minuten kommt es doch jetzt auch nicht mehr an, oder?«

Das schienen sie zu kapieren, jedenfalls nickten sie alle zustimmend.

»Ricarda? Komm, du bist die erste, deine Mutti ist dran.«

»Juchu!«

Ricarda sprang auf, nahm von Jasmin das Handy entgegen und verdrückte sich damit in den Sessel in der hintersten Zimmerecke. Jasmin kam zu mir herüber.

»Ich hab mit dem Polizisten ausgemacht, dass niemand länger als fünf Minuten reden sollte, sonst wird das hier ja eine abendfüllende Veranstaltung.«

»Gute Idee. Dann lieber morgen abend wieder so ein Sammelanruf, das ist sicher besser als stundenlange Telefonate.«

Während Ricarda mit ihren Eltern sprach, kümmerte ich mich mit Jasmin nun wieder um den Abwasch. Eigentlich sollten ja ein paar der Kids abtrocknen, aber die waren momentan etwas zu aufgedreht und dachten nur noch daran, dass sie mit ihren Eltern würden sprechen können. Naja. Soviel Geschirr war es ja zum Glück nicht.

Als zweite war Manuela dran, die nun Ricarda am Handy ablöste. Am Ende dieser fünf Minuten tauchte endlich auch Patrick wieder in der Hütte auf, genau im richtigen Moment, denn als sie ihn bemerkte, rief ihn Manuela heran.

»Patrick, du bist dran, deine Eltern sind am Telefon!«

Mit hängenden Schultern stapfte er zu ihr und griff sich das Handy.

»Ja?«

Das klang ja nicht sehr begeistert. Er lauschte eine Weile, dann nutzte er die erste Redepause seiner Eltern, um selbst wieder zu Wort zu kommen.

»Ja, mir geht es gut. Tschüß!«

Mit diesen Worten drückte er mir das Mobiltelefon in die Hand, aus dem das verdutzte Geplapper einer Frau zu hören war. Jasmin starrte ihn wütend an.

»Also gut, wenn du nicht mehr mit deinen Eltern reden willst, dann kannst du dir ja auch ganz schnell wieder die warmen Sachen ausziehen!«

»Jaja, schon gut!«

»Nicht schon gut! Sofort, aber ein bißchen dalli! Mir reichts langsam mit dir!«

Patrick schien noch was sagen zu wollen, verkniff es sich dann aber.

»Dort in dem blauen Beutel sind übrigens die Sachen, die dir deine Eltern mitgeschickt haben. Wenigstens dafür hättest du dich bedanken können!«

Patrick griff sich den Beutel und machte sich aus dem Staub, noch mehr wollte er Jasmin wohl nicht reizen.

»Ich zieh mich im Bad um.«

Weg war er, und ich beschloß, dass wenigstens ich mal schnell mit seinen Eltern reden sollte.

»Hallo? Ist noch jemand von Patricks Eltern dran?«

»Ja, ich bin Herr Bolke, Patricks Vater.«

»Prima. Reiko Heilmann am Apparat. Es tut mir leid, aber es sieht so aus, als ob Ihr Sohn nicht in der Stimmung wäre, groß mit Ihnen zu sprechen. Oder überhaupt groß mit irgendwem zu sprechen.«

Ich hörte einen tiefen Seufzer.

»Ja, wir haben es mitbekommen. Was ist nur mit dem Jungen los, früher war der nie so! Er war immer lieb und nett, aber seit zwei Monaten rebelliert er regelrecht.«

Patrick lieb und nett? Konnte ich mir momentan nun wirklich nicht vorstellen.

»Wir wissen einfach nicht mehr weiter mit ihm.«

Na ganz wunderbar. Bei denen zuhause ging irgendwas schief, und wir mußten es hier jetzt ausbaden.

»Wir können nur hoffen, dass er Ihnen nicht zu große Schwierigkeiten in den nächsten Tagen bereitet.«

Das würde sich zeigen, aber ich hatte mir bereits vorgenommen, mal ein sehr ernstes Wörtchen mit ihm zu reden, falls es zu sehr ausarten würde.

»Wir werden sehen, er wird sich hier auf jeden Fall ein wenig zusammenreißen müssen.«

Wieder war ein tiefer Seufzer durchs Telefon zu hören.

»Das wissen wir. Wir möchten Sie bloß darum bitten, dass Sie trotzdem gut auf ihn aufpassen. Ich kann nur noch einmal sagen: das ist nicht der normale, nicht der wirkliche Patrick, den Sie da sehen.«

»Na schaun wir mal…«

»Gut, dann wollen wir nicht länger die anderen Eltern vom Telefon fernhalten. Wir haben die Reihenfolge vorhin ausgelost, als nächstes sind die Eltern von Felix Schön dran.«

»Alles klar, dann gebe ich das Handy jetzt weiter. Schönen Tag noch.«

»Gleichfalls. Tschüß.«

Ich hörte, wie das Handy weitergereicht wurde, also sollte ich das jetzt wohl auch tun.

»Felix? Du bist dran!«

»Jippie!«

Der kleine Rotkopf kam angeflitzt und riß mir regelrecht das Handy aus der Hand. Bei dem brauchte ich wohl nicht zu befürchten, dass er seine Eltern mit einem einzigen Satz abfrühstückte, ich konnte mich also wieder anderen Dingen zuwenden. Aus dem hinteren Bereich der Hütte kamen gerade Fabian und Jonas, die ihre Schneeanzüge in den Händen hielten, um sie wieder in den Lagerraum zum Trocknen zu bringen.

»Sag mal, was ist denn nun schon wieder in Patrick gefahren? Der ist wortlos an uns vorbeigestürzt und hat sich im Bad eingeschlossen!«

»Faby, der wollte deinen Vater bequatschen, dass der ihn auf dem Motorschlitten mit runternimmt.«

»Wieso nur habe ich das komische Gefühl, dass ihm das nicht gelungen ist?«

Ich mußte lachen, obwohl die ganze Patrick-Geschichte ja nicht unbedingt lustig war.

»Hehe, wie hast du das nur rausbekommen!«

»Tja, Tom ist und bleibt wohl der einzige, der meinen Vater dermaßen um den Finger wickeln kann, dass er ihm jeden Wunsch erfüllt.«

Oh ja, das kannte ich noch von früher! Also es war nicht so, dass Herr Röcker seinen jüngeren Sohn total bevorzugte, aber als Nesthäkchen hatte er doch immer ein winziges Stück mehr Freiraum gehabt als sein großer Bruder. Fabian mußte immer ein wenig mehr Verantwortung übernehmen, ein wenig mehr das Vorbild spielen.

Fabian schaute sich im Wohnzimmer um.

»Wie ich sehe, habt ihr ziemlich viel geschafft, prima.«

Hatten wir wirklich, das Geschirr war mittlerweile komplett abgewaschen und wieder verstaut, die Vorräte waren ebenfalls gut eingelagert, die Kids hatten ihre Klamottenpakete in Empfang genommen und waren in die elterliche Telefonkonferenzschaltung eingebunden.

»Ja, wir waren sehr fleißig.«

Jasmin lächelte ihren Bruder und meinen besten Freund frech an.

»Ich hoffe bloß, ihr wart das im Schlafzimmer auch! Da gibt es ja einige Dinge, die einen ziemlich von der Arbeit ablenken können…«

Zu behaupten, dass die Köpfe von Fabian und Jonas nun die Farbe reifer Tomaten annahmen, wäre glatt als Untertreibung des Jahres durchgegangen!

Fabian

Also wirklich, dieser herausfordernde Blick von Reiko, als ich ankündigte, mit Jonas zusammen die Betten beziehen zu gehen! Was der sich wohl schon wieder vorstellte…

Wir gingen zuerst ins große Schlafzimmer, schließlich befand sich dort auch der Schrank mit der ganzen Bettwäsche.

»Jonas, ich hoffe es stört dich nicht, dass Reiko und ich dich und deine Schwester so mit Arbeit überhäufen.«

Der Hotelazubi lächelte mich an.

»Nee, das ist schon richtig so. Wenn wir uns nicht verlaufen hätten, dann hättet ihr hier gemütliche Tage und nicht solchen Streß wie jetzt. Da ist es doch logisch, dass wir soviel wie möglich helfen.«

So konnte man das auch sehen.

»Also dann wollen wir mal, erstmal beziehen wir noch die beiden Betten hier, dann gehen wir rüber ins andere Schlafzimmer.«

»Okay, aber vorher sollten wir lieber die warmen Klamotten wieder ausziehen.«

Stimmt. Die Stiefel hatten wir beim Betreten der Hütte schon wieder abgelegt, aber noch trug Jonas eine dick gefütterte Latzhose sowie die passende Jacke und ich meinen genauso warmen Overall. Wir befreiten uns also wieder von diesen in der Hütte nun wirklich völlig überflüssigen Klamotten, und dabei fiel mir erneut auf, was für ein knackiger, durchtrainierter Körper sich unter der hautengen Funktionswäsche von Jonas verbarg.

»Sag mal, Jonas…«

»Ja?«

»Machst du irgendwelchen Sport?«

»Ja, ich spiele Tennis und Squash. Wieso fragst du?«

»Weil man es dir ansieht…«

Ohoh, hoffentlich war das jetzt nicht zu direkt gewesen.

»Tut man das?«

Jonas begutachtete sich in dem großen Spiegel, der an einer der Schranktüren angebracht war.

»Ja, das kann man deutlich erkennen. Du hast einen Superkörper!«

Könnte mir bitte mal wer nen Knoten in die Zunge machen?

Aber Jonas schien sich über das Kompliment zu freuen, er drehte sich zu mir um und lächelte mich an.

»Naja, Faby, du brauchst dich in der Beziehung aber auch nicht zu verstecken!«

Da war ich allerdings ganz anderer Meinung.

»Ach quatsch, gegen dich bin ich gar nichts, ein totaler Schlappschwanz.«

»Blödsinn! Komm her!«

Jonas zog mich zu sich heran, stellte sich hinter mich und drehte mich zum Spiegel.

»Los, sieh dich an.«

Ich drehte den Kopf lieber weg.

»Du sollst in den Spiegel gucken, Dummkopf!«

Jonas drehte mir den Kopf in die gewünschte Richtung.

»Und, was siehst du?«

Tja, was sah ich? Einen absoluten Durchschnittstypen. Eher noch etwas dünner als der Durchschnitt, wenn man genauer hinschaute, konnte man sogar meine Rippen sehen. Alles in allem nun wirklich kein Modelmaterial.

»Ich sehe einen Supertypen, der versucht, sich hinter einem dürren Gerippe zu verstecken.«

»Faby, du bist ein Blödmann. Ich find dich niedlich! Okay, ein paar Kilo mehr auf den Rippen könntest du vertragen, aber wenn du mich ab und an mal in der Steintalbaude besuchen kommst, dann sorge ich schon dafür, dass der Koch dich ein wenig mästet.«

Ich lehnte mich, von Jonas‘ kräftigen Armen gehalten, in ihn zurück.

»Du möchtest, dass ich dich auf Arbeit besuchen komme?«

Das wäre zu schön, um wahr zu sein.

»Ja, Faby, das würde mich sehr freuen.«

Seine Hände streichelten sanft über meinen Brustkorb, es war einfach wunderbar…

»Ich mag dich nämlich wirklich, Faby…«

Es wurde immer besser!

»Und jetzt…«

Ja? Was jetzt?

»… jetzt sollten wir wohl mal anfangen, die Betten zu beziehen!«

Mit diesen Worten griff er mich, hob mich hoch und warf mich auf das Doppelbett. Womit wohl endgültig bewiesen wäre, dass Jonas stark und ich ein Leichtgewicht war.

»Spielverderber!«

»Hehe, denk dran, erst die Arbeit, dann das Vergnügen!«

Auf das Vergnügen war ich nun wirklich mal gespannt, auch wenn ich wohl noch ein Weilchen darauf würde warten müssen.

»Wie sollen wir das Bett hier beziehen, wenn du mich da drauf schmeißt?«

»Notfalls kippe ich dich mitsamt der Matratze halt wieder raus.«

Oh, also dieses Risiko wollte ich nun nicht unbedingt eingehen, also erhob ich mich schnell wieder aus dem Bett und ging zum Schrank mit der Bettwäsche, wo ich vier komplette Sätze Laken, Kissen- und Bettbezüge herausholte.

»Na dann los, oller Antreiber, packen wirs an.«

Zu zweit ging das Bettenbeziehen wieder recht flott von der Hand, sodass wir nach wenigen Minuten schon rüber ins andere Schlafzimmer gehen konnten, wo wir auch wieder kurzen Prozeß mit dem dortigen Doppelbett machten.

»Sag mal, Faby, wie machen wir das nun mit der Schlaferei? Wen willst du wo unterbringen?«

Dich hier mit mir im Doppelbett, alles andere ergibt sich schon von ganz alleine…

Das sagte ich natürlich nicht laut! Schon irgendwie seltsam, ich war sonst nie sonderlich zurückhaltend gegenüber süßen Jungs, aber jetzt, wo ich zum ersten Mal einen vor mir hatte, von dem ich wußte, dass er auch schwul war und anscheinend zumindest ein klein wenig für mich empfand, da waren plötzlich all meine Flirtkünste und all mein Mut verflogen.

»Ich weiß noch nicht genau, ein paar von den Kids werden auf jeden Fall in Schlafsäcken schlafen müssen. Vielleicht im großen Schlafzimmer oder auch im Wohnzimmer. Müssen wir nachher mal noch gemeinsam absprechen.«

»Okay.«

Schweigend taten wir die letzten Handgriffe, dann war auch das zweite Schlafzimmer hergerichtet, und wir gingen zurück ins große, um noch unsere Schneeanzüge zu holen. Als wir drüben waren, schloß Jonas allerdings noch einmal die Tür.

»Du, Fabian?«

Nanu, was schaute er denn plötzlich so ernst?

»Ja?«

»Ich hoffe, ich war vorhin nicht zu direkt…«

»Was meinst du?«

»Naja… Es ist so… Gleich als ich dich heute früh das erste Mal vor dem Holzfällerwagen gesehen habe, hab ich mich ein wenig in dich verguckt. Und dann, als du mir gesagt hast, dass du auch schwul bist, hätte ich am liebsten einen Freudentanz aufgeführt.«

Diese Sätze hätten auch von mir sein können.

»Und… Naja… Faby, ich mag dich. Sehr sogar. Ich weiß, das geht alles verdammt schnell, aber ich kann doch nichts für meine Gefühle! Ich würde dich gerne näher kennenlernen, dein Freund werden, und dann vielleicht auch noch ein wenig mehr als dein Freund. Verstehst du?«

Was gab es daran nicht zu verstehen.

»Aber ich weiß halt noch so wenig über dich, ich weiß ja nicht einmal, ob du nicht vielleicht schon einen Freund hast! Dann wären meine Annäherungsversuche ja völlig daneben.«

Oh, also in der Beziehung sollte ich ihn wohl ganz schnell beruhigen! Nicht, dass er am Ende noch aufhörte mit seinen Annäherungsversuchen! Das mußte ich unbedingt verhindern.

»Jonas? Schau mich bitte mal an.«

Seine ganze Rede hatte er mit zum Boden gesenktem Blick vorgetragen, jetzt hob er zaghaft wieder den Kopf und sah mir in die Augen.

»Jonas, ich mag dich auch. Ich fand dich auch vom ersten Moment an irgendwie niedlich, anziehend, süß.«

Ein hoffnungsvolles Lächeln spielte auf Jonas‘ Lippen.

»Du brauchst dir auch keine Sorgen zu machen, ich habe keinen Freund, der jetzt irgendwo drauf wartet, dass ich zu ihm komme.«

Jonas entspannte sich immer mehr, und dadurch wurde sein Gesicht noch schnuckliger.

»Was ich sagen will ist, ich würde dich auch gerne näher kennenlernen, dein Freund werden, und dann vielleicht auch noch ein wenig mehr als dein Freund.«

»Ehrlich?«

»Ganz ehrlich. Und noch was.«

»Ja?«

»Untersteh dich!«

Völlig verwundert schaute Jonas mich an.

»Häh?«

»Untersteh dich, mit den Annäherungsversuchen aufzuhören!«

Verstehen machte sich in seinem Gesicht breit.

»Hehe! Gut! Ich wollte bloß nicht, dass du dich irgendwie dadurch bedrängt fühlst. Wenn das nicht so ist, dann kann ich ja weitermachen.«

Jonas grinste verschmitzt.

»Ich bitte doch sehr darum. Ich glaub nämlich, dass ich selbst ein wenig zu feige dafür bin.«

Wenn Reiko mich jetzt sehen könnte! Mich, den großen Flirter, dass ich nicht lache!

»Okay, ich verspreche es dir, ich werde nicht damit aufhören!«

Das wollte ich ihm auch geraten haben.

»Aber jetzt sollten wir wohl langsam zurück zu den anderen gehen, oder?«

Da mußte ich ihm leider zustimmen.

»Hast recht. Dann mal los.«

Wir griffen uns unsere Schneeanzüge und verließen das Schlafzimmer. Noch in der Tür blieb Jonas kurz stehen, sodass ich auf ihn auflief.

»Was ist?«

»Ich hätte beinahe was vergessen!«

»Was denn?«

»Das hier.«

Im nächsten Moment spürte ich seine Lippen auf meiner linken Wange, aber nur für einen kurzen, flüchtigen Augenblick, dann ging Jonas weiter als wäre nichts geschehn, während ich vor Glück beinahe einen Luftsprung machte! Ich brauchte eine Sekunde, um mich wieder zu fangen, dann folgte ich ihm aus dem Schlafzimmer heraus.

Auf dem Weg ins Wohnzimmer kam uns Patrick entgegengestürmt, drängelte sich ohne ein Wort an uns vorbei und verschwand im Badezimmer. Kurz darauf hörten wir, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte.

»Also wenn du mich fragst, Jonas, hat der Knabe irgendein größeres Problem.«

»Sieht ganz so aus. Aber solange er immer nur schweigt oder meckert, werden wir da nicht dahinter kommen.«

Ich zuckte mit den Schultern. Ließ sich wohl vorerst nicht ändern. Wir gingen weiter ins Wohnzimmer, wo Felix gerade am Handy hing. Ich fragte Reiko, was mal wieder in Patrick gefahren war, und bekam die Erklärung. Tja, das hätte ich ihm vorher sagen können, dass er bei meinem Vater keinen Erfolg mit seiner Bettelei haben würde.

Anschließend äußerte ich mich lobend darüber, dass so viel Arbeit erledigt worden war, und Jasmin bestätigte, dass sie alle fleißig gewesen waren. Dann allerdings schoß sie eine Bemerkung ab, auf die ich nicht im geringsten gefaßt war.

»Ich hoffe bloß, ihr wart das im Schlafzimmer auch! Da gibt es ja einige Dinge, die einen ziemlich von der Arbeit ablenken können…«

Aus den Augenwinkel sah ich, dass auch Jonas das Kinn runterklappte. Mein Gott, sie konnte doch nicht wissen, was in der Zwischenzeit zwischen uns abgelaufen war! Oder etwa doch?

Reiko

Ich brauchte nur einen einzigen Blick auf das Pärchen mit den knallroten Köpfen vor mir zu werfen, um zu wissen, dass da mehr gelaufen war als bloßes Bettenbeziehen. Hatte ich es doch geahnt, Fabian der olle Charmeur konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich an Jonas ranzumachen.

Die beiden Ertappten gaben keinen Kommentar ab sondern verzogen sich ganz schnell in den Lagerraum, um dort ihre Schneeanzüge aufzuhängen. Als sie wieder zurückkamen, wechselte das Handy gerade zu Christoph, der nun als letzter mit seinen Eltern sprach. Jonas und Fabian setzten sich an die Bar, während ich zum Zweisitzer ging, in welchem sich bereits Jasmin niedergelasssen hatte.

»Ist hier noch frei?«

»Nur zu, setz dich.«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Manuela und Ricarda saßen auf der großen Couch, und Felix hatte einen der Sessel in Beschlag genommen. Alle sahen ziemlich müde aus.

»Die Kids sind alle ziemlich erledigt, oder, Jasmin?«

»Logisch. Bin ich auch. Sogar dein süßer Hund scheint völlig fertig zu sein.«

Das hatte ich auch schon gemerkt, Arko lag zusammengerollt vorm Kamin und hatte sich schon eine Ewigkeit nicht mehr von der Stelle gerührt. Das Rumtollen im Schnee und das Spielen mit den Kindern hatten ihn anscheinend zur totalen Erschöpfung getrieben.

»Stimmt. Das ist gar nicht mal so schlecht, da hat man auch mal seine Ruhe vor ihm.«

Arko wollte ansonsten eigentlich immer irgendwie beschäftigt werden.

In der Hütte kehrte Ruhe ein, außer Christoph am Telefon sprach keiner, alle dösten vor sich hin. Ich erschrak regelrecht ein wenig, als der Junge das Telefon zu Fabian brachte.

»Hier, vielen Dank, dass wir das Handy benutzen durften.«

»Kein Problem, Chris. Ist das Gespräch beendet oder ist noch jemand dran?«

»Die haben aufgelegt, aber gesagt, dass wir das Gerät eingeschaltet lassen sollen.«

»Okay, dann lassen wir es halt an.«

Ich ging davon aus, dass im Laufe des Tages auch meine Eltern nochmal anrufen würden. Christoph kam herüber und setzte sich in den zweiten Sessel.

»Eh, das ist mein Platz, raus da!«

Ich brauchte eigentlich gar nicht erst aufzuschauen um zu sehen, wer sich da wieder die Ehre gab. Christoph hatte wohl keine Lust auf Streit, er stand auf und setzte sich zu den Mädels auf die Couch, woraufhin sich Patrick in den freigewordenen Sessel warf.

»Mein Gott, Patrick, du tust wohl wirklich alles, um dich lächerlich zu machen!«

Nanu, was meinte Jasmin nun damit wieder? Ich schaute nun doch zu unserem Problemteenager und erkannte sofort, worauf Jasmin hinauswollte. Der Junge saß da in T-Shirt und Jeans! Er hatte sich tatsächlich komplett umgezogen und war nun der einzige auf der Hütte, der in normaler Oberbekleidung dasaß. Aber irgendwie hatte ich überhaupt keine Lust, mich jetzt noch damit zu befassen. Außerdem setzte Fabian zum Reden an.

»Da wir jetzt wieder alle zusammen sind und das Thema Telefon erstmal abgehakt ist, sollten wir uns mal über die Schlafordnung unterhalten.«

Gute Idee. Ich hätte gerne das kleine Schlafzimmer mit dem Doppelbett, für Jasmin und mich!

»Die Sache ist die: wir sind neun Leute, haben aber nur sechs Betten zur Verfügung. Ein Doppelbett und zwei Einzelbetten im großen Schlafzimmer, ein Doppelbett im kleinen Schlafzimmer.«

»Und wie sollen wir da alle unterkommen?«

Fabian erklärte, dass auch noch einige Schlafsäcke vorhanden waren, was besonders von Christoph und Felix mit Begeisterung aufgenommen wurde. Aber auch die Mädels schienen diese Idee ganz nett zu finden.

»Ich nehm einen Schlafsack! Du auch, Felix?«

Der war damit einverstanden.

»Prima, das bringt uns schon einen Schritt weiter. Am besten schlaft ihr hier im Wohnzimmer, da ist es nicht so kalt und ihr habt viel Platz.«

»Komm, Manuela, wir nehmen auch Schlafsäcke und schlafen bei den Jungs im Wohnzimmer.«

»Ich weiß nicht so recht…«

Naja, Manuela war die Jüngste, ihr Zögern konnte man da schon verstehen. Vielleicht konnte ich ja noch einen kleinen Bonus dazuwerfen.

»Das ist schön, dass ihr hier schlaft, dann ist Arko nachts nicht so alleine.«

»Arko schläft auch hier?«

Das hatte Manuelas Interesse geweckt, und auch mein fauler Vierbeiner spitzte die Ohren.

»Ja.«

»Dann will ich auch hier schlafen!«

Na also. Während sich Arko nun erhob und zu den Kids auf der Couch rübertapste, schaute ich zu Fabian, der mir grinsend den hochgereckten Daumen zeigte. Wenn das keine Teamarbeit war. Blieb nur noch unser Sorgenkind übrig, welches sich nun auch deutlich zu Wort meldete.

»Ich will ein Zimmer für mich!«

Womit hatten wir den nur verdient, was hatten wir angestellt, um den lieben Gott dermaßen zu verärgern?

»Okay, okay, du kannst das kleine Schlafzimmer haben! Teilen wir uns halt in das große rein, da sind ja vier Betten drin.«

Wovon eines ein Doppelbett war. Wer wohl darin landen würde? Fabian hatte jedenfalls den leichten Ausweg gewählt und Patrick seinen Willen gelassen. Das ersparte uns sicherlich einiges an Streit, aber ich konnte nur hoffen, dass der Giftzwerg nun nicht glaubte, dass das immer so funktionierte.

Ich unterhielt mich noch ein wenig mit Jasmin, die mit der Zeit jedoch immer weniger in der Lage war, ihr Gähnen zu unterdrücken. Ein kurzer Blick in den Raum: den meisten anderen ging es ähnlich. Von den Kids blätterte nur noch Felix in dem Harry-Potter-Band, die drei auf der Couch lagen halb übereinander und waren längst eingeschlafen, und sogar Patrick war in seinem Sessel eingenickt und sah schlafend so aus, als könnte er kein Wässerchen trüben. Ich wandte mich an meine Sitznachbarin.

»Möchtest du dich eventuell mal für ein Weilchen ins Bett legen? Du schläfst ja eh gleich ein, und das ist garantiert bequemer als das hier.«

Jasmin schaute mich dankbar an.

»Ich glaube, das wäre wirklich eine gute Idee. Ich hab die letzte Nacht kaum geschlafen.«

Hätte mich auch sehr gewundert, wenn es anders gewesen wäre.

»Okay, ich sag bloß Fabian und deinem Bruder Bescheid, dann zeig ich dir, wo du dich langmachen kannst.«

Ich erhob mich und ging hinüber zur Theke, wo die beiden sich leise unterhielten.

»Jasmin schläft gleich ein, ich hab ihr vorgeschlagen, sich mal für ein Weilchen ins Bett zu legen.«

»Klingt vernünftig. Jonas, möchtest du das auch?«

»Nee, danke, mir reichts, wenn ich mich etwas bequemer setzen kann.«

»Ihr könnt gleich den Zweisitzer haben, ich werd mir hinten auch ein Bett suchen.«

Fabian zog die Augenbrauen hoch, was der sich wohl schon wieder vorstellte!

Ich ging zurück zu Jasmin und konnte förmlich Fabians Grinsen in meinem Rücken spüren.

»Komm, gehen wir.«

Sie erhob sich, und ich führte sie ins große Schlafzimmer, in dem ja mittlerweile alle Betten einsatzbereit waren.

»Hier, du hast die große Auswahl.«

»Bleibst du auch hier?«

Was wollte sie jetzt, dass ich bleibe oder dass ich sie alleinließ? Versuchen wirs einfach mal.

»Ich hatte eigentlich auch vor, mich etwas hinzulegen.«

Jasmin ging zu dem Einzelbett, in dem Fabian die letzte Nacht verbracht hatte. Schade. Aber naja. Wir wollen ja auch nichts überstürzen, und bisher hatte ich keinen blassen Schimmer, ob sie überhaupt irgendein gesteigertes Interesse an mir hatte.

Was blieb mir also anderes übrig, ich machte es mir in meinem Bett aus der letzten Nacht bequem.

»Dann erhol dich mal gut, Jasmin.«

»Danke. Das hab ich jetzt wirklich nötig. Die beiden Jungs da vorne kommen ja hoffentlich alleine mit den Kleinen klar.«

»Keine Sorge, die pennen doch eh alle, die sind mindestens genauso müde wie du.«

»Naja, ich weiß nicht ob es fair ist, dass wir es uns hier so gemütlich machen, und die hocken auf diesem komischen Doppelsessel.«

Ich mußte bei der Vorstellung der beiden doch recht großgewachsenen Jungs auf dem Polstermöbel ein wenig grinsen. Andererseits…

»Die werden es sich schon bequem machen, darauf kannst du dich verlassen.«

Jasmin lachte leise vor sich hin.

»Stimmt, da hast du wohl recht. Die beiden geben ein süßes Pärchen ab, findest du nicht auch?«

»Meinst du, dass die jetzt ein Paar sind?«

»Also so rot, wie die vorhin geworden sind, würde ich da glatt drauf wetten.«

Na das ging ja schnell. Aber bei Fabian wunderte mich das nicht sonderlich. Obwohl… Ich hatte ja gerade erst erfahren, dass sein diesbezüglicher Ruf alles andere als verdient war. Naja, wie auch immer. Wenn aus den beiden was werden würde, dann würde ich mich für Faby freuen.

»Könnte stimmen, Jasmin.«

Ich wartete einen Moment, bekam aber keine Antwort, also schaute ich zu ihrem Bett hinüber. Und siehe da, sie war bereits tief und fest eingeschlafen. Mitten in einer Unterhaltung mit mir! Das sollte mir wohl zu denken geben…

Fabian

Ich sah Reiko und Jasmin nach, als sie sich in Richtung Schlafzimmer verzogen. Ob sich bei den beiden auch was anbahnte? Das würde mich für Reiko schon freuen, allerdings gab es da einige Probleme. Jasmin würde nach den Feiertagen wieder zurück nach Sachsen fahren, und ob Reiko damit klarkommen würde? Da konnte man wohl nur abwarten und das Beste hoffen. Zum Glück hatte ich diese Probleme mit Jasmins großem Bruder nicht!

»Jonas, mach es dir schonmal bequem, ich schau nur nochmal nach dem Feuer.«

»Okay, aber beeil dich, sonst bin ich eingeschlafen bevor du bei mir bist.«

Also das konnte ich nun wirklich nicht zulassen, also legte ich schnell noch zwei Holzscheite nach, dann begab ich mich zu dem Zweisitzer, in dem sich Jonas schon dermaßen ausgebreitet hatte, dass für mich gar kein Platz mehr blieb. Sein Kopf lag auf einer der Armlehnen, mit dem Rücken lag er zur Rückenlehne, und seine Beine hingen über die andere Armlehne hinweg. Fragend schaute ich ihn an.

»Und was ist mit mir?«

Er grinste mich frech an und hob einladend seinen linken Arm. Ah ja. Kuscheln wollte der Herr. Na gut, das konnte er haben. Gerne sogar! Vorsichtig ließ ich mich vor ihm nieder, seine kräftigen Arme rückten mich in Position, sodass mein Rücken dicht an ihm zu liegen kam, sein linker Arm umfaßte meinen Oberkörper und zog mich noch dichter an ihn heran, dann spürte ich, wie er sich hinter mir entspannte.

»Gut so, Faby?«

Also ich konnte mich nicht beklagen.

»Jup. Ich hoffe, ich zerquetsche dich nicht hinter mir.«

»Kein Problem, ich hab es gern so kuschelig. So, ich versuch mal, ein Weilchen zu schlafen.«

»Dann schlaf gut und träum was schönes.«

»Ich werd von dir träumen, was Schöneres gibt es nicht.«

Oh Gott, von seinen Flirtereien konnte ich noch was lernen! Bei Gelegenheit sollte ich ihn vielleicht mal nach seinen bisherigen Erfahrungen in Bezug auf Liebe und Beziehung befragen.

Auch ich war müde, warf aber schnell noch einen Rundumblick durchs Zimmer, also so gut, wie das aus meiner aktuellen Position halt möglich war. Patrick schlief friedlich in seinem Sessel – was für ein Segen! Die Mädels und Christoph hatten sich auf der Couch arrangiert und schienen ebenfalls zu schlummern, sogar Arko hatte sich noch dazwischengedrängelt. Nur Felix saß im verbleibenden Sessel und blätterte in einem Buch. Als ob er gespürt hatte, dass ich ihn ansah, schaute er auf und in meine Richtung. Wie wohl das Bild von Jonas und mir auf ihn wirkte? War es klug, uns vor den Kids dermaßen frei zur Schau zu stellen? Darüber hätten wir wohl eher mal nachdenken sollen…

Aber Felix grinste nur und wandte sich dann wieder dem Buch zu, er zumindest schien damit keine Probleme zu haben. Das war ja schonmal was.

In meinem Nacken spürte ich die gleichmäßigen Atemzüge von Jonas, ein deutliches Zeichen dafür, dass auch er bereits schlief. Mit dem Wissen darum, dass in der Hütte alles in Ordnung war und ich mich in sicheren Händen befand, konnte ich nun auch beruhigt die Augen schließen, was zur Folge hatte, dass auch ich alsbald ins Traumland abdriftete.

Als ich wieder wach wurde, waren die Flammen im Kamin das einzige Licht, welches den Raum erhellte. Ich lag immer noch dicht an Jonas gekuschelt, allerdings war seine linke Hand mittlerweile auf meinem Oberschenkel gelandet. Dummerweise mußte ich mal auf die Toilette, also mußte ich mich wohl oder übel aus dieser angenehmen Lage befreien. Ganz vorsichtig, um meinen immer noch tief und fest schlafenden Hintermann nicht aufzuwecken, hob ich seine Hand von mir herunter und arbeitete mich in eine aufrechte Position. Mein Kontrollblick im Zimmer zeigte mir, dass nun alle Kinder schliefen, nur Arko hatte meine Bewegungen mitbekommen und schaute mich aus großen Augen an. Der mußte doch bestimmt auch langsam mal wieder raus, oder?

Ich stand also auf, und bevor ich selbst ins Bad ging, begab ich mich erst einmal zur Hüttentür und öffnete sie einen Spalt. Als der Hund das mitbekam, sprang er in einem großen Satz von der Couch und flitzte nach draußen.

Ich schob die Tür wieder ran, damit nicht soviel Wärme entweichen konnte, und erledigte schnell meine eigenen Geschäfte im Bad. Wieder an der Hüttentür angekommen, wartete Arko bereits schwanzwedelnd darauf, eingelassen zu werden, also nahm ich ihn mit dem bereitliegenden Badetuch in Empfang. Zum Glück war das schnell erledigt, viel Schnee hatte er sich in der kurzen Zeit nicht einfangen können, obwohl es mittlerweile wieder recht stark zu schneien schien.

Die Hütte bot wirklich ein wunderschönes, friedliches Bild. Wenn das nur auf Dauer so bleiben würde, aber das konnte ich mir wohl abschminken. Ich überlegte kurz, ob ich mich wieder hinlegen sollte, entschied mich dann jedoch dagegen. Mir stand der Sinn nach etwas zu trinken, also setzte ich Wasser für einen Tee an.

Wie ich so an der Küchenzeile rumwerkelte, bemerkte ich gar nicht, dass sich jemand zu mir gesellte, und erschrak daher doch ein wenig, als ich plötzlich von der Seite angesprochen wurde.

»Machst du Tee? Kann ich auch einen bekommen?«

»Mensch, Jasmin, mußt du mich so erschrecken!«

»Tut mir leid, es ist alles so still und friedlich hier, da wollte ich mich nicht laut trampelnd anmelden.«

Sie wollte wohl auch diesen Zustand möglichst lange für uns erhalten.

»Klar bekommst du einen Tee. Und, hast du ein wenig schlafen können?«

»Ja, es war wunderbar, genau das hatte ich gebraucht. Aber jetzt bin ich wieder munter und fit.«

»Das will ich auch hoffen, wir müssen noch einige Stunden durchhalten bis die Kiddies alle im Bett sind.«

Jasmin schaute sich im Zimmer um.

»Ich glaube, die werden heute nicht mehr viel Aufmerksamkeit brauchen. Nach dem Abendessen sind die reif für die Schlafsäcke, trotz des Nickerchens jetzt.«

Das wäre ja sehr schön, aber ich wagte noch nicht wirklich darauf zu hoffen.

»Das ist Weihnachtstee, möchtest du noch Zitrone oder Zucker?«

»Nein, danke, ich trinke den pur.«

»Wie du meinst.«

Ich schob Jasmin ihr Glas über die Theke und schaufelte mir selbst zwei Löffel Zucker ins Glas, gefolgt von einem Spritzer Zitrone, dann ging ich um die Theke herum und setzte mich auf den Barhocker neben ihr. Schweigend beschäftigten wir uns mit unseren Getränken, die noch so heiß waren, dass wir nur mit Minischlückchen trinken konnten.

»Du, Fabian?«

»Ja?«

»Sei mal bitte ganz ehrlich: läuft da etwas zwischen meinem Bruder und dir?«

Was für eine bedeutungsschwere Frage.

»Ich hoffe es, Jasmin. Gleich im ersten Moment habe ich gedacht: Wow! Was für ein Typ! Und in den letzten Stunden, in denen ich ihn ein wenig kennengelernt habe, habe ich bemerkt, dass er nicht nur über einen geilen Körper verfügt. Ganz ehrlich: ich hab mich in ihn verknallt, und zwar ziemlich heftig. Und ich hoffe sehr, dass aus uns was wird.«

Sie atmete tief ein und wieder aus.

»Das hatte ich befürchtet.«

»Befürchtet?«

Ich schaute sie fragend an.

»Naja, es geht halt alles sehr schnell bei euch, oder? Ich meine, ich hab Jonas die letzten Stunden auch beobachtet, und der ist mindestens so verschossen in dich wie du in ihn. Auch wenn ihr euch das vielleicht noch nicht so deutlich gesagt habt.«

Nachdenklich musterte ich die kleine Schwester, die gar nicht so sehr wie eine kleine Schwester wirkte.

»Wir haben damit begonnen, uns das zu sagen. Vorhin im Schlafzimmer haben wir beschlossen, dass wir uns näher kennenlernen wollen. Möglichst viel näher.«

»Also seid ihr jetzt zusammen.«

Ich dachte daran zurück, wie gut und richtig es sich in Jonas‘ Armen anfühlte, wie mich die Berührung seiner Hände elektrisiert und sein kurzer Kuß auf die Wange mich fast durch die Decke katapultiert hatte. Gerade setzte ich an, um ihre Frage zu bejahen, da wurde mir diese Arbeit abgenommen.

»Ja, Schwesterherz, das sind wir. Auch wenn ich meinem Faby noch beibringen muß, dass er sich nicht einfach aus meinen Armen davonschleichen darf.«

Jonas beugte sich zwischen uns, und ich bekam den zweiten Kuß meines Lebens. Also mal abgesehen von denen meiner Eltern, als ich noch ein kleines Kind gewesen war, aber die zählen in dieser Rechnung ja eh nicht.

Jasmin kicherte leise vor sich hin.

»Hach, junge Liebe… Seid bloß froh, dass Patrick das nicht gesehen hat, der würde wieder im Dreieck springen.«

»Weißt du was, Jasmin? Patrick ist mir dermaßen egal, wenn ihm nicht paßt, dass ich deinen Bruder liebe, dann soll er sich halt von der Teppichkante stürzen!«

»Das ist die richtige Einstellung, Fabian! Also, ihr zwei, ich wünsche euch viel Glück miteinander, ich freue mich wirklich für euch, dass ihr euch gefunden habt.«

Noch dazu unter solchen Bedingungen, da hatte das Schicksal wohl Überstunden einlegen müssen, um uns gerade hier in dieser Wildnis zusammenzuführen.

»Hast du für mich auch noch ein Glas Tee, Schatz? Sonst müßte ich dir leider deinen wegtrinken…«

»Ha! Ich mag ja dünn und schwach sein, aber wenn es um Fressalien geht, dann verteidige ich die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.«

»Jasmin, isser nich süß, mein Kleiner?«

»Stimmt, Bruderherz, ist er.«

Hmpf. Sein Kleiner war ich also. Gut, gut, das kam ja rein von der Körpergröße durchaus hin. Und sogar auch vom Alter her. Ach menno…

»Schon gut, ich mach dir noch ein Glas Tee. Setz dich.«

Jonas nahm auf dem dritten Barhocker Platz, und ich schenkte ihm ein Glas Tee ein. Zum Glück hatte ich davon gleich etwas mehr zubereitet. Als er versorgt war, setzte ich mich wieder zu den beiden Geschwistern.

»Habt ihr euch schon überlegt, wie der Tag heute noch weitergehen soll?«

»Nein, Jonas, aber wir haben immerhin schon festgestellt, dass nicht mehr viel passieren wird. Es ist jetzt schon fast sechs, wir machen nachher Abendbrot und füttern die Raubtiere ab, und danach sehen wir weiter. Ein langer Abend wird das heute garantiert nicht mehr.«

»Gut so. Ich bin zwar jetzt nicht mehr ganz so müde wie vorhin, aber trotzdem möchte ich heute möglichst zeitig ins Bett.«

Zusammen mit mir. Bitte!

»Okay, dann schlage ich vor, dass wir langsam mit den Abendbrot-Vorbereitungen beginnen.«

»Was, wenn die Kids dabei wach werden, Jasmin?«

»Die müssen wir dann eh bald wecken.«

Stimmte auch wieder.

»Gut, dann los…«

Reiko

Ich liebe es, wachgeküßt zu werden! Also wirklich, es gibt doch kaum etwas Schöneres, oder? Das konnte ja eigentlich nur Jasmin sein, sonst war ja niemand hier bei uns, der das tun würde.

Aber momentmal. Hier stimmte doch was nicht! Das fühlte sich gar nicht mehr so sehr nach einem Kuß an! Ich riß die Augen auf, gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie eine lange Hundezunge ansetzte, mir quer übers Gesicht zu lecken! Erschrocken zuckte ich zurück.

»Arko, aus!«

Wuff!

Aus Richtung der Zimmertür, durch die auch das einzige Licht ins Schlafzimmer fiel, ertönte ein fröhliches Lachen.

»Jasmin!«

»Wir sind gekommen, um dich zu wecken, das Abendessen ist gleich fertig.«

Ich schaute auf die Uhr, gleich halb sieben.

»Sag mal, du hast so selig im Schlaf gelächelt, als Arko anfing dich abzuschlabbern. Woran hast du denn da gedacht? An mich?«

»Öhm… Ich… Wie kommst du da drauf?«

»Also ja. Wie süß. So, nun schwing aber deinen Hintern aus den Federn, du mußt deinem Hund noch Freßchen machen.«

Das sollte ich wohl wirklich tun, bevor der dann ringsum bei den Kids bettelte. Dass die seinen braunen Augen widerstehen konnten, wagte ich zu bezweifeln.

»Okay, ich komme ja schon.«

»Gut, aber auch wirklich! Wenn ich nochmal kommen muß, um dich zu wecken, dann wird das nicht so eine feucht-fröhliche Veranstaltung.«

Ob Jasmin in einem früheren Leben mal Feldwebel gewesen war? Den passenden Kommandoton hatte sie jedenfalls drauf. Sie verschwand aus der Türöffnung, und auch Arko flitzte nach draußen. Vom eigenen Hund verlassen, also mal ehrlich!

Ich stand auf und folgte den beiden ins Wohnzimmer, wo der Tisch fürs Abendessen bereits gedeckt war. Die Kinder befanden sich in unterschiedlichen Phasen des Aufwachens, begleitet vom leisen Weihnachtsgedudel aus dem Radio. Zusätzlich zum Feuer im Kamin erhellte nun auch die elektrische Beleuchtung den Raum.

»Guten Abend, der Herr. Auch wieder unter den Lebenden?«

Ich gähnte herzhaft.

»Ja, Faby. Irgendwer muß ja Arko abfüttern.«

Als der Vierbeiner seinen Namen hörte, stand er sofort neben mir und schaute schwanzwedelnd zu mir herauf.

»Jaja, du Freßsack, bekommst ja gleich was! Fabian, wo hast du den Dosenöffner?«

Er reichte ihn mir, und ich füllte Arkos Futterschale. Das dauerte nicht sehr lange, aber ich wußte, dass Arko höchstens die halbe Zeit brauchen würde, um die Schüssel wieder leer zu bekommen. Tatsächlich stürzte er sich wie ausgehungert über sein Futter, nachdem ich es zu seiner Wasserschüssel gestellt hatte. Ach ja. Hund müßte man sein. Man bekommt sein Futter vorgesetzt, wird von allen gestreichelt und geknuddelt, sogar die Steuern zahlte ein anderer für einen!

»Komm, Reiko, wir können auch anfangen.«

Das Abendessen verlief friedlich und sehr ruhig, einige der Kinder waren immer noch dermaßen müde, dass sie beinahe beim Essen einschliefen. Lange würden die heute abend wohl nicht mehr durchhalten. Was mir nur recht sein sollte.

»Hört mal alle zu, bitte. Wenn wir mit dem Essen fertig sind, müssen wir uns ein wenig aufteilen. Ein paar von euch helfen bitte mit beim Abräumen und Abwaschen. Der erste verschwindet auch schon unter die Dusche, ihr wißt ja, dass zwischendurch immer wieder etwas Wasser aufgeheizt werden muß, es wird also ein Weilchen dauern, bis wir alle damit durch sind.«

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Neun Personen nacheinander duschen? Na das konnte ein Spaß werden!

»Wer fertig geduscht ist, zieht sich dann gleich die Schlafsachen an, lohnt sich nicht, nochmal in die Tagesklamotten zu schlüpfen.«

Seltsamerweise gab es keinerlei Gemurre darüber.

»Reiko, könntest du dann mit Jasmin die Schlafsäcke aus dem Lagerraum holen?«

Ich schaute zu Jasmin, die mit den Kids zusammen wieder am Speisetisch saß. Sie nickte mir zu.

»Kein Problem.«

»Sehr schön. Seid ihr jetzt alle abgefüttert? Prima, dann mal los!«

»Moment noch!«

»Ja, Jasmin?«

»Die Duschkabine ist ziemlich groß, da könnten eigentlich immer zwei von den Kids gemeinsam duschen. Das wäre für den Wasserverbrauch sicher günstig, oder?«

Das hielt ich für eine sehr gute Idee, und auch Fabian ärgerte sich wohl darüber, dass er nicht selber darauf gekommen war.

»Ja, das wäre sogar sehr günstig! Damit sparen wir bestimmt eine halbe bis eine ganze Stunde, die sonst für das Aufheizen zwischendurch draufgehen würde.«

»Gut, dann ist das auch geklärt. Manuela und Ricarda, ihr geht bitte zuerst. Aber wirklich nur schnell waschen und abspülen, trödelt nicht rum, denkt bitte dran, dass die nächsten schon warten.«

Die beiden Mädels nickten und verschwanden, um ihr Waschzeug und die Schlafsachen zu holen. Fabian rief ihnen noch hinterher, dass im Badezimmerschrank Handtücher zu finden wären.

»So, Reiko, nun mal los, die Schlafsäcke werden nicht von alleine aus dem Lager kommen!«

Wie ich schon sagte: Feldwebel! Ich folgte Jasmin in den Lagerraum, wo wir aus einem Regal vier Schlafsäcke herauszogen.

»Wir sollten die uns gleich hier mal anschauen, ob die auch in Ordnung sind. Nicht dass wir die umsonst ins Wohnzimmer bringen.«

Wir rollten also die Schlafsäcke auf und inspizierten sie. An einem war tatsächlich der Reißverschluß kaputt, zum Glück lag im Regal noch ein intaktes Exemplar.

»Ach übrigens, Reiko?«

»Ja?«

»Jonas und Fabian sind tatsächlich zusammen.«

Ha! Da hatte Flirtking Fabian also zugeschlagen. Obwohl. Wenn ich mir den so anschaute, machte er in der Gegenwart von Jonas eher den Eindruck, ziemlich zahm und verschüchtert zu sein.

»Woher weißt du das?«

»Ich hab sie gefragt, und sie haben es zugegeben.«

»Und, was hältst du nun davon?«

»Was soll ich davon halten? Ich freue mich für meinen Bruder und hoffe, dass das was richtiges, festes wird mit den beiden.«

Das würde mich auch für Fabian freuen. Aber es würde wohl nicht leicht werden, schließlich war es – wenn ich ihm glauben sollte, und das tat ich eigentlich auch – für ihn seine allererste Beziehung überhaupt. Stichwort erste Beziehung…

»Hatte Jonas vorher schonmal einen Freund?«

»Ja, zuhause gab es da in den letzten Jahren zwei Jungs, mit denen er eine Weile zusammen war. Also nacheinander! Wieso fragst du?«

»Weil es für Fabian das erste Mal ist.«

Jasmins Kopf, der eben noch über einen der Schlafsäcke gebeugt war, zuckte nach oben. Ungläubig schaute sie mich an.

»Ernsthaft?«

»Ja. Ich wollte es anfangs auch kaum glauben, aber es ist wirklich so.«

»Da bin ich aber baff! Das hätte ich nicht erwartet, bei seinem Aussehen. Außerdem ist er so nett und freundlich.«

»Tja… Weißt du, was mir an ihm aufgefallen ist?«

»Nein, schieß los.«

»Seit der Begegnung mit Jonas hat sich sein Verhalten ziemlich verändert.«

»Wie meinst du das?«

»Naja, normalerweise flirtet Fabian mit allem, was Bartwuchs hat und zwischen 15 und 25 Jahren alt ist. Du weißt schon, so kleine Spitzen und Doppeldeutigkeiten in der Unterhaltung und so. Gegenüber Jonas hingegen: absolute Funkstille in dieser Beziehung.«

Nachdenklich schaute Jasmin mich an.

»Und was schließt du daraus?«

Tja, das war eine interessante Fragestellung. Wie sollte ich diesen Wandel bewerten?

»Ich weiß nicht so genau. Wie wäre es mit einer Art Umkehrschluß? Bisher hat er ständig rumgeflirtet, war sehr offensiv, aber das war niemals wirklich ernst gemeint. Gegenüber Jonas fehlen all diese oberflächlichen Spielereien, vielleicht ist das ja ein Zeichen, dass es Fabian mit ihm wirklich ernst ist?«

»Hmm… Das wäre natürlich eine Erklärung. Und jetzt, wo du es sagst: auch bei Jonas bemerke ich eine Veränderung. Er ist sonst eher derjenige, der darauf wartet, dass der andere den ersten Schritt tut. Wenn ich mir aber die beiden gemeinsam anschaue, dann sieht es so aus, als würde mein Bruderherz diesmal die Initiative übernehmen.«

Irgendwie lustig. Die beiden begegnen sich, und prompt geschieht eine totale Verwandlung mit ihnen.

»Was waren das für Beziehungen, die dein Bruder vorher hatte?«

Das sollte ich wohl noch herausfinden. Nicht, dass ich Fabian am Ende doch lieber vor Jonas beschützen müßte! Auch wenn es momentan nicht danach aussah, ich wollte sichergehen, dass mein bester Freund nicht verletzt wurde.

Jasmin überlegte.

»Gute Frage. Ich kann ja nur von dem ausgehen, was ich selber mitbekommen habe, aber ich würde sagen, die große Liebe war das beide Male nicht. Also es war nicht so, dass die ständig zusammenhockten und ohne den anderen nicht auskamen, manchmal haben die sich tagelang oder gar wochenlang nicht gesehen.«

»Wie sind die Beziehungen in die Brüche gegangen?«

»Also der eine Junge, Martin, zog mit seinen Eltern nach Hamburg. Jonas war eine Weile etwas bedrückt, aber nicht wirklich lange. Naja, er war damals 15. Dann war eine ganze Weile Ruhe an der Beziehungsfront, bis Jan kam. Und das endete dann mit dem großen Familienstreit, weil unsere Eltern es herausbekommen hatten.«

»War es sehr schlimm?«

»Das kannst du laut sagen. War auch eine saudämliche Situation. Unser Vater war früher von der Arbeit gekommen und überraschte die beiden mitten beim Sex. Es gab einen riesigen Krach, der damit endete, dass Jonas an seinem 18. Geburtstag rausflog und die restlichen Monate bis zum Abi bei einem Schulfreund unterkam.«

»Und Jan? Ging das deswegen in die Brüche?«

»Ja, unsere Eltern haben ja überall rumposaunt, was ihr ehemaliger Sohn für ein Perverser war. Zwar kannten sie Jan nicht, konnten ihn also auch nicht outen, aber der arme Kerl kam mit dem ganzen Druck nicht klar. Jeder wußte nun, dass mein Bruder schwul war, da konnte Jan sich natürlich nicht mehr mit ihm sehen lassen, ohne sich selber zu verraten. Also haben die beiden schlußgemacht.«

»Armer Jonas. Erst verstoßen ihn die eigenen Eltern, und dann geht auch noch die Beziehung in die Brüche deswegen.«

»Naja, ganz so schwer hat ihn das mit der Beziehung nicht getroffen. Er hat mir später mal erzählt, dass der Sex zwar geil gewesen wäre, es ansonsten aber nicht viele Gemeinsamkeiten gegeben hatte.«

Autsch, schwuler Sex, darüber wollte ich nun wirklich nicht genauer nachdenken.

»Und du denkst, dass es mit Fabian anders sein könnte?«

»Also für mich sieht es so aus, so verliebt und verträumt hat Jonas weder Martin noch Jan jemals angeschaut. Also jedenfalls nicht, wenn ich es mitbekommen konnte.«

»Das heißt, du wußtest schon vor deinen Eltern, dass dein Bruder schwul ist?«

»Ja, als die Sache mit Martin lief, hab ich die beiden mal knutschen gesehn, da hab ich Jonas später danach gefragt. Er hat es mir gebeichtet, und das wars dann auch.«

Soso, Jonas hatte also wohl Übung darin, sich von anderen Leuten beim Austausch von Intimitäten erwischen zu lassen.

»Sagt mal, kommt ihr nun bald, oder probiert ihr die Schlafsäcke gleich gemeinsam aus?«

Na prima, das war der Fabian, wie ich ihn kannte – und wie er sich gegenüber Jonas eben nicht benahm! Mit einem frechen Grinsen zog er seinen Kopf wieder aus der Tür des Lagerraums heraus und ließ uns wieder alleine.

»Er hat recht, wir sollten mal langsam zu Potte kommen.«

Wir schnappten uns also die Schlafsäcke und gingen damit ins Wohnzimmer, wo ein geordnetes Durcheinander herrschte.

Fabian

Es mußte schon erlaubt sein, sich ein paar Gedanken zu machen, wenn Reiko und ein Mädel so lange zusammen in einer Kammer verschwunden blieben. Ich meine, wir sprechen hier von Reiko Heilmann, dem Mädchenschwarm der Gegend schlechthin! Aber als ich in den Lagerraum schaute, machte sie zwar einen ziemlich ertappten Eindruck auf mich, aber sie waren komplett angezogen und standen außerdem zwei Meter auseinander. Sehr komisch.

Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, schaute mich Jonas fragend an.

»Und?«

Ich zuckte mit den Schultern. Irgendwas war da wohl zwischen den beiden gelaufen, aber was, darauf konnte ich mir noch keinen Reim machen. In diesem Moment erschienen Reiko und Jasmin auch schon mit den Schlafsäcken.

»So, da wären wir, wir haben gleich überprüft, ob die Schlafsäcke auch in Ordnung sind.«

Jonas grinste seine Schwester herausfordernd an.

»Ach ja, habt ihr das?«

Die Antwort bestand daran, dass Jasmin ihm ihre Zunge rausstreckte.

»Aber, aber, Frau angehende Pädagogin! Was ist denn das für ein unvorbildliches Verhalten!«

»Fabian, halt die Klappe, wenn ich mich mit meinem Bruder beschäftige.«

»Wirst du wohl nicht so unhöflich zu meinem Liebsten sein, Schwesterchen?«

Während dieses Geplänkels grinsten alle, somit war klar, dass es nicht ernst gemeint war. Die gute Stimmung wurde allerdings gleich wieder etwas abgekühlt.

»Scheiße, ihr nervt!«

Nerven tat hier eigentlich nur einer, und das war Patrick selbst.

»Patrick, du nervst hier! Laß die doch!«

Alle Augen wandten sich überrascht zu Felix. Aus dieser Ecke hatte wohl niemand einen Kommentar erwartet.

»Stört es dich denn überhaupt nicht, dass die beiden Schwuchteln hier so rumturteln?«

»Warum sollte es mich stören? Laß sie doch einfach in Frieden!«

In der Zwischenzeit waren auch die beiden Mädels vom Duschen zurückgekehrt.

»Oder bist du etwa eifersüchtig? Oder neidisch?«

Patrick lief knallrot an, dann stürmte er wütend davon.

»Ich geh duschen!«

Also ich würde ihn bestimmt nicht aufhalten, obwohl momentan bestimmt noch nicht wieder genügend warmes Wasser vorhanden war. Vielleicht tat ihm eine kalte Dusche ganz gut.

»So ein Arschloch.«

Als verantwortungsbewußter Erwachsener verkniff ich mir, Felix in diesem Punkt zuzustimmen. Also zumindest sprach ich meine Zustimmung nicht laut aus!

In den nächsten Minuten schoben wir die Möbel ein wenig herum, sodass vor dem Kamin ein schöner großer Platz für die Schlafsäcke entstand. Ricarda und Manuela probierten es gleich einmal aus.

»Und, liegt ihr gut? Könnt ihr so schlafen?«

Die beiden kuschelten sich in ihre Schlafsäcke.

»Ja, super!«

Na also, dann war das Thema ja geklärt, eine Sorge weniger.

»Können wir jetzt fernsehen?«

Stimmt ja, das Ding hatte ich vollkommen vergessen! Wo war das überhaupt abgeblieben? Ich schaute mich um.

»Falls du die Glotze meinst, die ist hier.«

Reiko hob das genannt Gerät vom Boden hoch und stellte es ans Wandende des Bartresens.

»Hat es hier irgendwo ne freie Steckdose, Faby?«

Ich ging zu Reiko und zeigte ihm, wo er den Fernseher einstöpseln konnte. Jetzt noch die Antenne anschließen, dann konnte es losgehen. Es war ein Gerät mit eingebautem DVB-T-Tuner, ganz neu auf dem Markt.

»Ich bin ja mal gespannt, ob die kleine Antenne hier draußen auch ausreicht.«

Unser Städtchen lag im Kerngebiet, bei uns reichte fast schon ein Stück Draht als Antenne. Wie das aber hier draußen im Wald aussehen würde? Es gab keinen anderen Weg, das herauszufinden, als es einfach zu versuchen. Reiko drückte auf den Netzschalter, und gespannt starrten wir auf den Monitor.

»Na also! Sieht doch prima aus!«

Tatsächlich, wir hatten ein ganz klares, störungsfreies Bild. Die heute-Nachrichten liefen gerade, passenderweise ging es um den Wintereinbruch, der anscheinend nicht nur unsere Gegend fest im Griff hatte. Weiße Weihnachten schienen dieses Jahr fast für ganz Deutschland angesagt zu sein. Das war doch mal was!

»Gibt es jetzt noch irgendwas zu tun?«

Jasmins Frage veranlaßte mich dazu, mich in der Hütte umzuschauen. Das Geschirr war abgewaschen, der Platz zum Schlafen war hergerichtet, die Kids waren dabei, nacheinander unter die Dusche zu springen. Also eigentlich schien damit alles erledigt zu sein.

»Nein, Jasmin, Feierabend. Mach es dir bequem.«

Das tat sie auch, gemeinsam mit Reiko nahm sie den Zweisitzer in Beschlag. Ich setzte mich natürlich zu Jonas, der sich bereits auf der Couch niedergelassen hatte. Gemeinsam verfolgten wir weiter die Nachrichten, nur unterbrochen durch Patrick, der fluchend aus dem Bad auftauchte, etwas von »eiskaltem Wasser« grummelte und sich ins Bett verabschiedete. Naja, so blieb er uns wenigstens für den Rest des Abends erspart!

»Sollen Felix und ich jetzt duschen gehen, Jasmin?«

»Ich weiß nicht, Chris, ich glaube, das Wasser muß erstmal wieder aufheizen. Fabian?«

»Stimmt. Wartet mal lieber noch zwanzig Minuten. Dann ist das Wasser zwar noch nicht ganz heiß, aber zum Duschen genau richtig.«

»Okay!«

Ich kuschelte mich an Jonas und döste vor mich hin. Felix hatte die Fernbedienung erobert und zappte zwischen den Sendern herum, Reiko las in seinem Buch, Jasmin schien auch schon wieder fast zu schlafen. Christoph hatte sich zu den beiden Mädels in ihren Schlafsäcken gesellt, und sie spielten vor dem flackerten Kamin eine Partie »Mensch, ärgere dich nicht!«. Bei diesem friedlichen Bild konnte ja fast schon Weihnachtsstimmung aufkommen…

»So, die zwanzig Minuten sind rum, ihr könnt jetzt unter die Dusche, Jungs.«

Ich schrak hoch, tatsächlich, die Zeiger der Uhr waren ein ganzes Stück weitergerückt. Chris und Felix erhoben sich, und auch Reiko stand auf.

»Ich werde nochmal eine kleine Runde mit Arko drehen.«

Ob das so eine gute Idee war?

»Du willst richtig mit ihm Spazierengehen? Ihn nicht nur einfach mal kurz vor die Tür lassen?«

»Keine Bange, ich geh nicht weit, ich bleib auf dem Weg und in Sichtweite der Hütte. Mit den hell erleuchteten Fenstern finde ich mich immer zurück.«

Na hoffentlich, mir stand nicht der Sinn nach einer Nachtsuche!

»Darf ich mit?«

»Ich auch!«

Mist. Die zwei Jungs hatten anscheinend noch genügend Energie für so einen kleinen Trip in den Schnee.

»Ihr solltet jetzt ja eigentlich duschen.«

Jasmin, die Stimme der Vernunft.

»Das können wir doch später auch noch, da kann jetzt jemand anderes das warme Wasser nutzen!«

»Ach ja, bitte, Jasmin! Fabian!«

Ich seufzte.

»Jonas, was sagst du? Du hast offiziell die Verantwortung für die Kids.«

Dem war wohl auch nicht so richtig wohl bei dieser Entscheidung, aber trotzdem ließ er sich breitschlagen.

»Reiko, würdest du sie mitnehmen?«

Reiko schaute streng auf Christoph und Felix hinab.

»Na gut, aber dann müßt ihr mir versprechen, dass ihr immer schön bei mir bleibt und nicht irgendwo in die Dunkelheit lauft.«

Die beiden versprachen es ihm, also gab auch Jonas resigniert sein Okay.

»Dann los, zieht euch eure Schneesachen an. Mützen, Schals und Handschuhe nicht vergessen!«

»Prima!«

Mit Jubelgeschrei stürzten die Jungs davon in Richtung Lagerraum, gefolgt von einem grinsenden Reiko, der sich ja auch noch anziehen mußte.

»Und wer von uns geht jetzt duschen? Wir sollten das warme Wasser nutzen.«

Jasmin grinste uns frech und herausfordernd an.

»Ist doch ganz einfach, wenn die einen zwei Jungs nicht können, dann gehen halt die anderen zwei Jungs!«

»Du meinst, Fabian und ich? Zusammen?«

»Na klar! Wir müssen doch warmes Wasser sparen, oder nicht?«

Jonas und ich zusammen unter der Dusche. Nackt. Was für eine Vorstellung! Aber war das wirklich eine gute Idee? Heute schon? Zum Glück hatte mein Liebster wohl ganz ähnliche Gedanken.

»Nee, Schwesterlein, wir wollen es mal nicht übertreiben. Wir duschen lieber nacheinander. Wenn Fabian nichts dagegen hat, werde ich mich jetzt schnell ins Bad verziehn, ich werde auch nur wenig Wasser verbrauchen, da braucht er dann nicht solange zu warten.«

Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn gemeinsam duschen wäre mir nun doch ein klein wenig zu schnell gegangen. Auch wenn ich es kaum erwarten konnte, Jonas mal in voller, nackter Schönheit zu sehen.

»Feigling!«

»Ach ja? Duscht du denn nachher auch zusammen mit Reiko?«

Das schien zu sitzen, Jasmin schrak ein wenig zusammen und quetschte sich dann ein »Kein Kommentar!« zwischen den Lippen hindurch. Mit den eigenen Waffen geschlagen.

Während Jonas sich zurückzog, sein Wasch- und Schlafzeug holte und dann im Bad verschwand, tauchten auch unsere drei Hundeführer komplett angezogen auf.

»So, wir machen uns mal auf den Weg. Wir nehmen zwei Taschenlampen mit, ist das okay, Fabian?«

»Ja klar, gute Idee. Wann seid ihr wieder da?«

»Länger als eine Viertelstunde werden wir nicht brauchen.«

Ich schaute schnell auf die Uhr, um eine Orientierung zu bekommen, wann wir wieder mit ihnen rechnen konnten.

»Okay, aber haltet euch auch bitte daran, nicht dass wir dann anfangen, uns Sorgen zu machen.«

»Ist gebongt. So, Arko, Gassi!«

Das Zauberwort verfehlte nicht seine Wirkung, der Hund flitzte mit rutschenden Pfoten über den Holzboden zur Hüttentür, die ihm Reiko weit geöffnet hatte. Kurz darauf war ich mit Jasmin und den beiden kleinen Mädels alleine. In diesem Moment bimmelte das Handy.

»Röcker.«

»Borken hier, guten Abend. Könnte ich bitte mit meiner Tochter sprechen?«

Borken? Tochter? Oh! Ich erinnerte mich, dass es sich dabei um den Nachnamen von Jonas und Jasmin handelte.

»Einen Moment bitte.«

Ich legte den Daumen auf die Mikrofonöffnung und hielt Jasmin das Telefon hin.

»Dein Vater!«

Überrascht nahm sie das Handy entgegen.

»Ja?«

Die Erwiderung hörte ich natürlich nicht, ich wollte ja eh nicht unhöflich sein und lauschen.

»Fabian?«

Ich schaute auf.

»Ich geh mal kurz mit dem Telefon ins Schlafzimmer, ist das okay?«

Ich nickte ihr zu. Verständlich, dass sie bei diesen komplizierten Familienbedingungen ungestört reden wollte.

Nunmehr von allen schmählich verlassen, griff ich zur Fernbedienung und schaltete mich ein wenig durch die Fernsehsender. Zwar fand ich nichts, was mich irgendwie wirklich interessierte, aber zumindest verging die Zeit auf diese Weise.

Wenige Minuten später tauchten praktisch zeitgleich Jonas und die Hundemeute wieder auf, und vorbei war es mit meiner Ruhe.

»Faby, du kannst jetzt duschen, es müßte noch warmes Wasser da sein.«

Na hoffentlich. Noch so ein Debakel wie am Vorabend wollte ich nicht unbedingt erleben. Ich erhob mich, um seinem Vorschlag zu folgen.

»Wo ist eigentlich meine Schwester?«

Sollte ich es ihm sagen? Aber anlügen wollte ich Jonas nicht.

»Im Schlafzimmer, sie telefoniert mit euren Eltern.«

Jonas verzog schmerzhaft das Gesicht, sagte jedoch nichts weiter dazu, sondern setzte sich dorthin, wo ich eben noch mein Hinterteil geparkt hatte. Ich beschloß, das Thema nicht zu vertiefen und machte mich in Richtung Bad davon.

Durch die Heizung und das viele warme Wasser, das in der letzten Stunde geflossen war, war das Bad sehr angenehm temperiert, also pellte ich mich gleich aus meiner Wäsche. Sollte ich gleich duschen oder mir erst die Zähne putzen? Ich entschied mich für letzteres, da konnte der Warmwasserbereiter noch etwas länger seinen Dienst verrichten.

Als ich dann kurz danach unter das Wasser stieg, hatte dieses tatsächlich eine recht angenehme Temperatur. Ich beeilte mich mit der Wascherei und verzichtete erneut auf das Haarewaschen. Naja, morgen konnten wir über den Tag verteilt etwas weniger gehetzt duschen, da würde ich das dann auch mal wieder in Angriff nehmen.

Ich stieg aus der Duschkabine und bemerkte erst in diesem Moment, dass ich völlig vergessen hatte, meinen Schlafanzug mit ins Bad zu nehmen. Irgendwie schien mein Geist auf Sparflamme zu arbeiten. Da ich keine Lust hatte, nochmal meine Unterwäsche anzuziehen, wickelte ich mir einfach ein großes Duschtuch um die Hüfte, das mußte für den Weg ins Schlafzimmer reichen. Noch schnell wieder die ABS-Socken an, und ich war fertig.

Im Wohnzimmer klappte Jonas die Kinnlade herunter, als er mich mit nacktem Oberkörper sah, ich jedoch grinste ihn nur an und ging weiter in die hinteren Räumlichkeiten. Gerade, als ich die Schlafzimmertür öffnen wollte, tat Jasmin das gleiche von innen. Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete mich von oben bis unten.

»Sag mal, willst du meinen Bruder extra noch scharfmachen, wenn du so herumläufst?«

»Haha, ich hatte bloß vergessen, meinen Schlafanzug mit ins Bad zu nehmen. Aber er hat ganz schön die Augen aufgerissen!«

»Naja… Ein bißchen dünn bist du ja, aber das läßt sich ja ändern. Davon abgesehen bist du wirklich niedlich, ich kann schon verstehen, warum er sich in dich verknallt hat.«

So toll fand ich mich nun wirklich nicht, aber ich würde mich bestimmt nicht über das Kompliment beschweren.

»Ich nehm das Handy wieder mit vor, okay?«

»Ja, leg es einfach auf die Theke. Ich darf bloß nicht vergessen, es über Nacht wieder ans Ladegerät zu hängen.«

»Okay.«

Jasmin verschwand Richtung Wohnzimmer, und ich beeilte mich, in meinen schönen warmen Schlafanzug zu kommen. Im Schlafzimmer war es nicht so sonderlich warm, ich bekam langsam Gänsehaut am Oberkörper, und die feinen Härchen an meinen Armen standen senkrecht.

Reiko

Als Fabian seinen halben Nackt-Auftritt aufs Parkett legte, war ich gerade damit beschäftigt, Arko trockenzurubbeln, während Chris und Felix ihre Schneeanzüge wieder in den Lagerraum brachten. Beim Anblick von Jonas‘ entgleisenden Gesichtszügen mußte ich grinsen. Mein Gott, den hatte es wirklich heftig erwischt! Eigentlich wollte ich ihn ja ein wenig damit aufziehen, aber Jasmins Auftauchen schob dieser Absicht einen Riegel vor.

»Jonas.«

Es hatte den Anschein, als hätte sie gegen die Wand gesprochen, ihr Bruder reagierte nicht und schaute immer noch mit verklärtem Blick vor sich hin.

»Jonas!«

»Äh… Was ist?«

Jasmin setzte sich neben ihn.

»Ich hatte gerade Vati und Mutti am Telefon.«

Jonas gab keinerlei Kommentar dazu ab.

»Das Hotel hatte sie informiert, dass wir verschollen waren.«

»Und was geht mich das an?«

Jasmin seufzte.

»Jonas, sie haben auch nach dir gefragt. Ob mit dir alles in Ordnung ist.«

Zweifelnd blickte Jonas seine Schwester an.

»Nach mir? Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Doch. Mutti sagt, sie hätten sich um uns beide große Sorgen gemacht.«

Die Antwort ihres Bruders klang verbittert.

»Du erlaubst, dass ich darüber lache. Wäre ja seit fast zwei Jahren das erste Mal, dass die sich um mich irgendwelche Gedanken machen!«

»Es ist aber so.«

»Na super, da freue ich mich aber. Du hast ihnen gesagt, dass es mir gut geht?«

»Ja, habe ich.«

»Schön, dann ist das Thema ja erledigt.«

Jasmin schien noch etwas sagen zu wollen, verzichtete dann jedoch darauf.

»Sollen wir jetzt duschen gehen?«

Chris und Felix waren wieder aufgetaucht. Ich schaute auf die Uhr.

»Wartet mal noch zehn Minuten, Fabian ist gerade erst aus dem Bad raus. Aber ihr könnt schonmal eure Wasch-und Schlafsachen zusammensuchen.«

Während die zwei dies taten, war ich auch mit Arko fertig geworden.

»Bin gleich wieder da.«

In Erinnerung daran, was ich beim letzten Mal für Probleme beim Ausziehen meines Overalls gehabt hatte, zog ich es vor, ihn auch diesmal nicht vor Jasmins Augen abzulegen. Ich ging ins Schlafzimmer, wo Fabian gerade dabei war, seine Schlafanzughose hochzuziehen. Mein Eintreten schien ihn ein wenig erschreckt zu haben, jedenfalls konnte er den Hosenbund gar nicht schnell genug hoch bekommen.

»Keine Angst, ich schau dir schon nichts ab.«

»Ach du bists nur…«

Nur. Wie nett. Wen hatte er denn erwartet?

»Ich bins nur? Wer dachtest du denn, wer es sein könnte? Jonas? Naja, wäre kein Wunder. So wie du ihn mit der Präsenation deiner nackten Haut aufgeputscht hast…«

»Blödmann. Ich hatte halt meinen Schlafanzug vergessen mit ins Bad zu nehmen.«

»Ausreden, nichts als Ausreden.«

»Ach glaub doch was du willst!«

Oh, hoffentlich hatte ich ihn nicht zu sehr gepiesakt.

»Sorry, Faby, ich wollte dich nicht ärgern.«

Fabian seufzte und setzte sich auf das Doppelbett.

»Reiko?«

»Ja?«

»Ich hab mich verknallt. Hals über Kopf. Bis über beide Ohren. Mit Haut und Haaren.«

Das hatte ich auch schon gemerkt. Ich zog mir vorsichtig den Overall aus, diesmal schaffte ich es, dass die lange Unterhose dort blieb, wo sie hingehörte.

»Und? Ist das schlimm? Das ist doch eher ein Grund zum Feiern.«

»Ja schon… Es ist nur… Naja…«

»Du bist nervös, weil es das erste Mal ist, oder?«

Fabian legte sich auf dem Bett zurück und starrte nachdenklich an die Decke.

»Ja. Ich stehe regelrecht neben mir! Mein Gott, tausendmal hab ich mir ausgemalt, wie es wohl sein würde, wenn ich mich das erste Mal richtig verliebe. Ich hab mir überlegt, wie ich mich verhalten würde, was ich sagen könnte, wie ich meine Gefühle ausdrücken könnte. Und nun ist es passiert, und alles ist ganz anders.«

Irgendwie kam mir das sehr bekannt vor, auch wenn diese Gefühle bei mir schon zwei, drei Jahre zurücklagen.

»Laß mich raten. Du hast ein Kribbeln im Bauch. Du weißt genau, was du eigentlich sagen möchtest, bekommst aber kein Wort heraus. Du möchtest Jonas in den Arm nehmen und nicht mehr loslassen, traust dich aber gleichzeitig nicht, ihn zu berühren.«

Fabian hob den Kopf und sah mich verblüfft an.

»Woher weißt du das?«

»Weil es mir bei meiner ersten richtigen Liebe auch so ging, Faby. Die erste Freundin oder der erste Freund sind immer was ganz Besonders. Kein Wunder, dass du so durch den Wind bist, ist doch auch absolutes Neuland für dich.«

»Du meinst also, dass das normal ist?«

»Absolut. Das sind alles nur Zeichen dafür, dass es dich wirklich richtig erwischt hat. Du hast dich richtig verliebt, du findest ihn nicht nur einfach nett oder süß, da steckt viel mehr dahinter, oder?«

»Ja. Nett oder süß hab ich schon einige Jungs gefunden, aber so wie jetzt hab ich mich noch nie gefühlt.«

»Na siehste. Du bist verliebt, und das ist prima, vor allem, da deine Liebe erwidert wird. Also genieße es!«

Erleichtert lächelte Fabian mich an.

»Meinst du wirklich?«

»Klar. Und nun schieb ab zu deinem Liebsten, laß ihn nicht solange allein.«

Das ließ er sich nun nicht zweimal sagen, und damit war ich alleine im Schlafzimmer. Mein alter bester Freund Fabian, frisch verliebt! Und ich durfte ihm beistehen. Wer hätte das gedacht!

Als ich mit meinem Overall in den Händen wieder im Wohnzimmer eintraf, sah ich gerade noch Chris und Felix in Richtung Bad verschwinden. Fabian und Jonas saßen dicht aneinandergedrängt auf der Couch und waren mit sich selbst beschäftigt, Jasmin stand an der Küchenzeile und trank

ein Glas Tee, und die beiden kleinen Mädchen in ihren Schlafsäcken schienen schon zu schlafen – obwohl um sie herum ja doch noch etwas Trubel herrschte. Bei ihnen lag auch Arko, der nur durch ein leises Klopfen mit dem Schwanz anzeigte, dass er mein Eintreten bemerkt hatte. Ich brachte schnell meinen Schneeanzug zum Trocknen, dann ging ich zu Jasmin an den Tresen.

»Möchtest du auch noch einen Tee, Reiko?«

»Nein, danke, mir reichts für heute. Ich hab auch keine Lust, dann vielleicht mitten in der Nacht raus aufs Klo zu müssen.«

Ich hörte ein leises Kichern aus Richtung Couch.

»Ja, Faby? Du wolltest etwas sagen?«

»Nichts, nichts…«

»Komm schon, rücks raus!«

»Ich hab mich nur gerade wieder an die Nacht nach meinem siebenten Geburtstag erinnert.«

Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoß.

»Psssst!«

»He, du wolltest, dass ich damit rausrücke. Außerdem hast du mich ja gestern überhaupt erst wieder an die alte Geschichte erinnert.«

Hoffentlich wollte Jasmin diese alte Geschichte nicht hören!

»Wovon redet ihr?«

Mist, wäre wohl auch zuviel erwartet gewesen, dass so eine neugierige Weibsperson nicht ihre Nase in die Sache stecken würde. Und auch Jonas war wieder etwas munterer geworden und schaute erwartungsvoll zwischen Fabian und mir hin und her.

»Na los, erzähls deiner Freundin!«

Jasmin war gar nicht meine Freundin, jedenfalls noch nicht, aber naja. Da mußte ich jetzt wohl durch, also erzählte ich, wie Fabian und Tom mich reingelegt hatten. Das folgende Gelächter war erwartungsgemäß groß.

»Hahaha, prima! Vielleicht sollten wir heute nacht einmal probieren, ob das bei dir immer noch funktioniert!«

»Untersteh dich, Jasmin! Außerdem habe ich gestern nach vielen Jahren endlich Rache an Fabian üben können, und so eine Strafe möchtest du bestimmt nicht erleben.«

»Rache? Strafe? Was hast du meinem Schatz angetan!«

»Das solltest du ihn selber fragen, Jonas.«

Jasmins Bruder wandte seinen Kopf zu Fabian und schaute ihn fragend an. Der jedoch hatte nun selber einen knallroten Kopf bekommen und machte keine Anstalten, seinem Freund zu antworten.

»Na los, Faby, erzähls ihm! Sonst tu ich es!«

»Okay, okay! Reiko hat mich gestern übers Knie gelegt und mir den Hintern versohlt. So, zufrieden?«

Wieder gab es Gelächter, und ich war froh, diesmal nicht die Zielscheibe zu sein. Dann schaute Jonas mich streng an.

»Reiko, damit eins klar ist! Du wirst Fabian nie wieder anrühren, kapiert?«

Oh, da war wohl noch jemand aus der Borken-Familie mit einer gehörigen Portion Beschützerinstinkt gesegnet.

»Schon gut, kapiert.«

»Das will ich auch hoffen. Wenn in Zukunft noch jemand Fabian den Hintern versohlt, dann bin ich das!«

Fabian glotzte Jonas mit weit aufgerissenen Augen an, während wir anderen wieder loslachten.

»Haha, ja, Jonas, tu das! Bring deinem kleinen Freund Benehmen bei!«

»Das… das meinst du jetzt nicht ernst, oder, Jonas?«

Dieser grinste Fabian frech ins Gesicht.

»Wer weiß? Versuch lieber nicht, es herauszufinden. Also: keine Schüsseln mit warmem Wasser an meinem Bett, verstanden?«

Fabian beeilte sich, seine Zustimmung zu signalisieren, dann fiel auch er in das allgemeine Gelächter mit ein.

»Was ist denn hier los, warum lacht ihr alle so?«

»Nichts für kleine Kinder, Christoph. So, seid ihr bereit für den Schlafsack?«

Das waren sie, und kurz danach steckten auch Felix und Christoph gut und warm verpackt in den Daunensäcken.

Fabian schaute erleichtert in die Runde.

»So, damit wären alle Kids versorgt, jetzt können wir auch bald ins Bett.«

Mir kam eine Idee.

»Ihr zwei könnt ruhig schon verschwinden, Jasmin und ich bringen das hier noch zuende, dann kommen wir nach.«

Fabian überlegte kurz, dann nickte er zustimmend.

»Okay. Am Kamin brauchst du nichts mehr zu machen, du mußt dann nur noch ganz zum Schluß den Generator ausschalten. Ich hab übrigens die Zeitschaltuhr so programmiert, dass der sich morgen um sieben von alleine einschaltet. Dann haben wir gleich früh schon warmes Wasser.«

Das war nun wirklich mal eine gute Idee! Zu zweit wäre das nicht so wichtig gewesen, jetzt aber, bei dem vollen Haus, sah das ganz anders aus.

»Komm, Jonas, hauen wir ab.«

Kurz darauf waren außer den vier Kids nur noch Jasmin und ich im Wohnzimmer.

»Willst du jetzt duschen gehen, Reiko, oder soll ich erst?«

»Geh du erst, ich will mal schnell noch bei mir zuhause anrufen.«

»Okay, dann bis gleich.«

Jasmin verschwand im Bad, und plötzlich stand Fabian wieder im Raum.

»Hier, damit du dann nicht so wie ich halb nackt durch die Hütte laufen mußt.«

Mit einem Grinsen drückte er mir meinen Schlafanzug in die Hand.

»Hehe, danke, dass du dir nochmal den Weg gemacht hast.«

»Kein Problem, ich mußte eh nochmal raus. Ich muß das Handy noch ans Ladegerät hängen.«

»Bringt das was, wenn über Nacht eh kein Strom da ist?«

»Ja, das lädt ziemlich schnell. Jetzt haben wir erstmal noch ein Weilchen Strom, und wenn dann morgen früh der Generator anspringt, wird halt weitergeladen.«

Na wenn er meinte, dass das reicht.

»Ich wollte gerne nochmal meine Eltern anrufen, ist das okay?«

»Klar, nur zu. Schließt du das Handy dann ans Ladegerät an?«

»Mach ich.«

»Danke. So, bin wieder weg.«

Mit diesen Worten verzog sich Fabian wieder, und ich griff zum Handy.

»Heilmann.«

»Hallo Vati.«

»Reiko! Schön, dass du anrufst! Wie geht es dir?«

»Mir geht es gut, danke, ich bin bloß ziemlich müde.«

»Das kann ich mir vorstellen, wir haben ja mitbekommen, was bei euch los ist.«

Das hatte vermutlich der größte Teil der zivilisierten Welt, sprich: unser ganzer Landkreis, mitbekommen.

»Ja, es ist ziemlich anstrengend mit all den Kindern auf der Hütte.«

»Ihr packt das schon. Herr Röcker ist ganz beeindruckt davon, wie du zusammen mit Fabian den Laden schmeißt.«

Na sowas hört man doch mal gerne!

»Wir werden es hinbekommen, wir haben ja auch gar keine andere Wahl.«

»Gut. Reiko… Nicole hat uns von der Sache mit Melanie erzählt. Deiner Mutter und mir tut das wirklich sehr leid. Wir hoffen, dass du das einigermaßen verkraftest.«

Mist. Für viele Stunden hatte ich nicht mehr an das Thema gedacht, nun mußte es ausgerechnet mein Vater wieder hochbringen.

»Ja, Vati. Ich komm schon klar. Es hatte eh schon eine ganze Weile gekriselt, auch wenn ich lieber auf andere Weise mit ihr Schluß gemacht hätte.«

»Das glaube ich dir gerne. Sag mal, René ist mir heute beim Zahnarzt begegnet, der hatte eine ganz dicke Backe. Du hast damit nicht zufällig etwas zu tun?«

»Kein Kommentar!«

»Gut, gut, ich glaube, ich will das gar nicht genauer wissen.«

Und ich wollte ihm auch gar nicht mehr darüber erzählen.

»Du, Vati, wir sollten langsam schlußmachen. Fabians Handy ist heute schon ziemlich strapaziert worden.«

»Das kann ich mir vorstellen. Was macht ihr heute noch?«

»Wir sind alle ziemlich müde, die Kids liegen alle schon im Bett bzw. im Schlafsack, und wir verschwinden auch gleich in die Falle.«

»Gut. Deine Mutter ist gerade in der Wanne, ich soll dir aber einen schönen Gruß ausrichten. Rufst du morgen wieder an?«

»Ja, ich denke schon.«

»Schön. Also dann, gute Nacht, Reiko. Und halt die Ohren steif da oben.«

»Danke, gute Nacht, Vati. Und sag Mutti auch einen schönen Gruß von mir. Und Nicole auch.«

»Mach ich. Tschüß!«

Damit war das Gespräch beendet, ich schaltete das Handy aus und hing es ans Ladegerät. Bei Jasmin würde es wohl noch ein Weilchen dauern, also setzte ich mich in einen der Sessel und las noch ein wenig in meinem Buch. Der Fernseher war längst ausgeschaltet, was in Anbetracht der großen Anzahl anwesender Kinder und Jugendlicher ja ein Wunder für sich war.

Ich war so sehr ins Lesen vertieft, dass ich gar nicht mitbekam, wie Jasmin aus dem Bad zurückkehrte.

»Du kannst jetzt duschen, Reiko.«

»Hast du mir noch etwas warmes Wasser übrig gelassen?«

»Wenn du dich ein wenig beeilst, sollte es reichen.«

Na da ließ ich mich mal überraschen.

»Gehst du schon hinter ins Schlafzimmer?«

»Nein, ich warte hier auf dich.«

Ich machte mich auf ins Bad, wo ich mit der Duscherei gerade rechtzeitig fertig wurde, als das Wasser langsam unangenehm kalt wurde. Schnell noch mal aufs Klo, Zähne putzen, Schlafanzug anziehen, und ich war bereit für die Nacht.

»So, alles erledigt. Jetzt machen wir hier noch die Schotten dicht, dann können wir auch in die Federn.«

Jasmin erhob sich aus ihrem Sessel.

»Zeigst du mir mal den Generator?«

»Klar.«

Ich führte sie in den Generatorraum, wo sie sich sofort die Ohren zuhielt. Schnell drückte ich auf den Ausschalter, und das Gewummer erstarb.

»Ich hätte nicht gedacht, dass das Ding dermaßen laut ist!«

»Naja, der hat ja auch viel zu leisten. So, gehen wir?«

Wieder im Wohnzimmer, schauten wir noch einmal nach den vier Kids im Schlafsack, die mittlerweile alle tief und fest schliefen. Arko schaute uns an und machte Anstalten aufzustehen.

»Bleib liegen, Arko, du schläfst hier.«

Er hatte meine geflüsterten Worte wohl verstanden, jedenfalls ließ er sich wieder nieder und rollte sich zwischen den Schlafsäcken zusammen.

»Nimmst du mal die Taschenlampe, Jasmin? Ohne Strom ist es hier ziemlich dunkel.«

Sie griff zur Taschenlampe und knipste sie an, und in deren Lichtkegel machten wir uns auf den Weg zum Schlafzimmer. Jasmin blieb allerdings vor der Tür des kleineren Schlafgemachs stehen.

»Was willst du hier?«

»Nachschauen, ob Patrick schläft.«

»Was kümmert dich der Giftzwerg?«

»Psssst.«

Leise öffnete sie die Zimmertür. Im Licht der Petroleumlampe auf dem Nachttisch sahen wir Patrick, wie er friedlich im Bett lag und schlief. Jasmin drückte mir die Taschenlampe in die Hand.

»Halt mal.«

Sie ging ins Zimmer hinein, deckte Patrick, der seine Bettdecke etwas weggestrampelt hatte, ordentlich zu, dann löschte sie die Petroleumlampe und verließ das Zimmer wieder, die Tür leise hinter sich zuziehend.

»Das hat der gar nicht verdient, Jasmin.«

»Stimmt schon. Aber wer weiß, was der Grund für sein bescheuertes Verhalten ist. Und wir können ihn deswegen auch nicht so einfach erfrieren lassen, oder?«

»Hast ja recht. Na los, machen wir, dass wir auch ins Bett kommen.«

Als wir ins große Schlafzimmer traten, war dieses auch von einer Petroleumlampe erleuchtet. Im Doppelbett lagen Fabian und Jonas, dicht aneinandergekuschelt, und gaben keinen Mucks mehr von sich.

»Hätte mich doch sehr verwundert, wenn die zwei sich nicht das Doppelbett unter den Nagel gerissen hätten.«

»Laß sie doch. Ich freu mich für meinen Bruder, dass er jemanden gefunden hat. Und das sieht doch niedlich aus, wie die zwei da so liegen, oder?«

Ich nickte bestätigend. Ich muß zugeben, bei der Vorstellung von zwei Männern, die zusammen im Bett liegen, hatte ich mich bisher geschüttelt, aber das, was ich nun vor mir sah, sah so normal, so natürlich aus, dass sich in diesem Augenblick meine Meinung zu dem Thema um 180 Grad wendete.

»Schade, dass ich keine Kamera hier habe.«

Hehe, das wäre wirklich ein Bild, das es wert wäre, für die Nachwelt festgehalten zu werden. Aber es sollte nicht sein.

»Ab ins Bett, Jasmin. Ich mach dann noch die Funzel aus, dann leg ich mich auch hin.«

»Okay, ich leuchte dir dann mit der Taschenlampe heim.«

Das war eine gute Idee, denn vom Nachttisch mit der Petroleumfunzel bis zu meinem Bett war es ein ganz schön weiter Weg, ich mußte um das ganze Doppelbett mit dem verpennten Liebespaar herum. Mit Hilfe von Jasmins Leuchtkraft schaffte ich das aber ohne irgendwelche Unfälle, und kurz danach lag ich auch in de Federn.

»Gute Nacht, Jasmin. Träum was Schönes.«

»Du auch, Reiko, gute Nacht.«

Jasmin knipste die Taschenlampe aus und es wurde richtig finster im Zimmer. Auf der Hunde-Runde hatte es ziemlich stark geschneit, weder der Mond noch die Sterne waren am Himmel zu sehen gewesen, entsprechend dunkel war es draußen.

Was für ein verrückter Tag das gewesen war. Und ich hatte gedacht, dass der gestrige Tag mit all seinen Katastrophen und Überraschungen nicht mehr zu übertreffen wäre! Naja, eines war klar: langweilig würden wohl auch die nächsten Tage nicht werden. Eher im Gegenteil! Heute waren die Kids müde gewesen, morgen aber würden sie vor Tatendrang überlaufen, und wir würden alle Hände voll damit zu tun haben, sie einigermaßen vernünftig zu beschäftigen. Was zur Hölle sollte man hier mit fünf Kinder anfangen?

Bei diesen tiefschürfenden Überlegungen schlief ich irgendwann ein, ohne vorher eine Lösung gefunden zu haben…

Fabian

Als ich wach wurde und vorsichtig das linke Auge öffnete, wurde ich mit dem schönsten Anblick belohnt, den ich mir vorstellen konnte. Direkt vor mir lag Jonas, die Augen geschlossen, das Gesicht völlig entspannt, ein Lächeln auf den Lippen. Wir hatten in der Nacht wohl die Position gewechselt, er lag jetzt auf dem Rücken, ich auf dem Bauch neben ihm, den Kopf zu ihm gedreht. Mein linker Arm lag besitzergreifend über ihm. Das ist meiner, den geb ich nie wieder her!

Als wir am Abend zuvor ins Schlafzimmer gekommen waren, gab es keine Frage, wo wir uns hinlegen würden. Das Doppelbett war unseres, und wenn sich Jasmin und Reiko auf den Kopf stellen würden!

Als wir dann dicht an dicht in den Federn lagen, überwältigte uns sehr schnell der Schlaf, wir bekamen nicht einmal mehr mit, wie die beiden anderen ins Zimmer gekommen waren. Womit natürlich auch klar wäre, dass – obwohl wir zusammen im Bett lagen und quasi miteinander schliefen – überhaupt nichts außer eben schlafen lief.

Es wurde langsam heller im Zimmer, und ich nutzte dies, um das Gesicht des Jungen zu betrachten, den ich da mit einer unverschämten Ladung Glück abbekommen hatte. Ganz glatte Haut, ein paar vorwitzige Bartflusen, mehr war da nicht. Anscheinend hatte sich Jonas am Vorabend schnell noch rasiert. Eine niedliche Stupsnase ragte aus dem Gesicht, darüber zwei Augen mit langen, zarten Augenbrauen. Einfach süß.

Ich konnte nicht widerstehen, meine linke Hand wanderte an Jonas‘ Oberarm hinauf. Ich streichelte ihm über die Wange, dann fuhren meine Finger ganz sanft durch die wirr herumliegenden blondierten Haare, an deren Ansatz schon wieder ein Millimeter in der braunen Naturfarbe aus der Kopfhaut herausschaute. Zärtlich kraulte ich Jonas den Kopf. Der schien das nicht wahrzunehmen, jedenfalls änderte sich nichts an seinen gleichmäßigen Atemzügen.

»Du solltest ihn langsam wecken, auch wenn es schwerfällt. Es geht auf acht zu.«

Hach wie gemein. Reiko konnte einem die schönste morgendliche Aufwachphase verderben.

»Und Jasmin ist auch schon draußen, jedenfalls ist ihr Bett leer.«

Ich seufzte.

»Okay, wenn es denn unbedingt sein muß…«

»Es muß sein. So, ich geh Arko vor die Tür scheuchen.«

Reiko verließ das Schlafzimmer und ließ mich mit der Aufgabe zurück, meinen Schatz aus Morpheus‘ Armen zu reißen. Naja, so schwer sollte mir das eigentlich nicht fallen.

Als erstes pustete ich ihm sanft übers Gesicht, was allerdings außer einem kleinen Rümpfen der Nase keine Resultate zeigte. Okay, also etwas mehr Einsatz! Meine Kopfkraulhand wuselte nun etwas kräftiger durch Jonas‘ Haare, aber auch hier: wach wurde mein Schatz nicht. Und nun?

Vielleicht sollte ich noch ein wenig mutiger werden. Ich stützte mich mit dem rechten Arm ein wenig ab und schob meinen Kopf über den von Jonas. Ganz vorsichtig senkte ich meine Lippen den seinigen entgegen. Hoffentlich verließ mich nicht noch im letzten Moment der Mut! Da, es war soweit, unsere Lippen berührten sich!

Und ich merkte, dass ich mal wieder hereingelegt worden war. Jonas‘ Augen sprangen auf, ich spürte seine Hände plötzlich in meinem Nacken, und aus der sanften Berührung unserer Lippen wurde von einer Sekunde auf die andere viel mehr. Im ersten Moment war ich erschrocken, dann jedoch gab ich mich voll den Gefühlen des Augenblicks hin, und es war noch viel schöner, als ich es mir je hatte träumen lassen. Nachdem unsere Lippen einige Sekunden aufeinandergepreßt gewesen waren, ließ Jonas mir ein wenig Freiraum, und unsere Gesichter trennten sich einige Zentimeter voneinander.

»Ist das okay für dich, Faby, oder bin ich zu stürmisch?«

Ja, einerseits war er ein wenig zu stürmisch für mich. Andererseits jedoch: es gefiel mir. Und ich wollte mehr davon! Ich verkniff mir also eine verbale Antwort und preßte meine Lippen wieder auf die seinigen.

Das war dann wohl für Jonas das Zeichen, dass er sich nicht mehr so sehr zurückzuhalten brauchte, jedenfalls verfielen wir schnell in eine wilde Knutscherei. Zwar war das für mich alles völliges Neuland, aber ich wage zu behaupten, dass ich ein guter Schüler war! Wir wälzten uns im Bett umeinander, überall waren Hände, wir konnten einfach nicht voneinander lassen, was natürlich Auswirkungen auf unseren ganzen Körper hatte. Und so kam es, wie es wohl kommen mußte: klein Fabian begann sich zu regen, und auch in der Hose von Jonas wurde es langsam eng. In meiner Brust stritten zwei Seelen, die eine wollte das jetzt bis zum Ende durchziehen – die andere hatte Angst vor der eigenen Courage und wollte sich lieber etwas mehr Zeit lassen. Die zweite gewann…

Vorsichtig drückte ich Jonas ein Stückchen von mir weg.

»Was ist, Faby?«

Ein wenig besorgt schaute er auf mich herunter.

»Ich… Es ist nur… Jonas, wenn wir jetzt weitermachen, dann muß ich nachher meinen Schlafanzug waschen.«

Jonas grinste mich an.

»Hehe… Ich weiß, was du meinst, geht mir auch so. Sollten wir lieber aufhören?«

Nein, schrie die erste Seele, aber mittlerweile war ich schon etwas abgekühlt, und die Stimme der Vernunft konnte sich durchsetzen.

»Es wäre wohl besser. Außerdem…«

»Ja?«

»Außerdem geht mir das doch ein bißchen zu schnell. Ich meine, wir kennen uns erst seit gestern.«

Hoffentlich nahm er mir das nicht übel. Mir war klar, dass er im Gegensatz zu mir kein Neuling in Sachen Sex war, vielleicht war er ja enttäuscht, dass ich noch nicht bereit war, weiterzugehen.

»Ich liebe dich, Jonas, ich möchte auch alles mit dir ausprobieren, aber gib mir bitte noch ein wenig Zeit.«

Verärgert schien er jedenfalls nicht zu sein, er lächelte mich weiter an.

»Bist du mir sehr böse?«

Verwunderung zeigte sich auf seinem Gesicht.

»Böse? Wieso?«

»Naja… Weil ich noch nicht weitergehen möchte.«

Jonas beugte sich herunter und gab mir einen sanften Kuß auf die Stirn.

»Faby, ich bin dir absolut nicht böse, eher im Gegenteil. Du hast ja vollkommen recht, das geht alles etwas arg schnell.«

Erleichterung durchflutete meinen Körper.

»Außerdem würde ich es mir nie verzeihen, wenn ich dich zu irgendwas drängen würde, wozu du noch nicht bereit bist. Also versprich mir bitte, dass du in einem solchen Fall mit mir redest, mir sagst, wenn ich zu weit gehe, okay?«

In diesem Moment verliebte ich mich gleich noch viel mehr in ihn.

»Versprochen!«

»Prima. So, was meinst du, sollten wir uns jetzt aus dem Bett quälen? Nicht, dass die anderen am Ende noch denken, wir hätten genau das gemacht, was wir gerade beschlossen haben, noch nicht zu machen!«

Das würde Reiko vielleicht sowieso denken, der hatte im Hinterkopf garantiert immer noch die Vorstellung von mir als dem großen Verführer und Bettakrobaten. Trotzdem hatte Jonas natürlich recht, wir sollten uns wirklich dem harten Tagesgeschehen stellen.

»Wenn es denn sein muß…«

»Es muß sein, leider sind wir ja nicht alleine hier.«

Nicht alleine war ja sogar gewaltig untertrieben. Ich seufzte.

»Na gut, dann mach mal.«

Fragend schaute Jonas mich an.

»Was soll ich machen?«

»Von mir runtergehen, oder wie soll ich sonst aus dem Bett rauskommen?«

»Oh. Stimmt. Schade. Es war gerade so gemütlich.«

Nichtsdestotrotz rollte sich Jonas von mir herunter, setzte sich an der Bettkante auf, zog sich die Pantoffeln über und stand dann auf. Ich machte keine Anstalten, ihm zu folgen, was er natürlich schnell bemerkte.

»Und du? Willst du nicht auch aufstehen?«

Wollen? Nee, ganz bestimmt nicht.

»Ich komm nicht hoch, Jonas, ich glaube, ich muß doch noch ein Weilchen liegenbleiben.«

»Nichts ist! Keine Müdigkeit vorschützen.«

So ein Spielverderber. Na gut, aber er sollte wenigstens etwas dafür tun. Ich streckte meinen rechten Arm in seine Richtung aus.

»Hilf mir hoch, du großer, starker Mann!«

Jonas schüttelte grinsend den Kopf, dann griff er meinen Arm und zog mich aus dem Bett. Wenn ich jetzt allerdings dachte, dass die Aktion damit beendet wäre … Pustekuchen! Mit seinen starken, tennistrainierten Armen zog er einfach weiter, und im nächsten Moment lag ich Leichtgewicht über seiner rechten Schulter! Kurz über meinem Hinterteil umklammerte mich Jonas‘ rechter Arm, der linke griff etwas tiefer um meine Oberschenkel herum, und ich konnte nur noch mit Armen und Beinen strampeln.

»Was soll das werden?«

»Ach, ich dachte mir, wenn du so faul bist, dann trage ich dich gleich bis raus, sonst dauert das bei dir ja ewig.«

»Komm schon, laß mich runter!«

»Nö. Hör auf zu strampeln, das nützt dir eh nichts!«

Das hatte ich auch schon gemerkt, gegen seine Schraubstock-Arme war kein Kraut gewachsen.

»Mach es uns beiden leichter und lieg schön still! Sonst…«

»Sonst was?«

»Sonst das!«

Jonas‘ linke Hand ließ kurz los und landete mit einem Klatscher auf meinem Hintern.

»Schon gut, schon gut!«

»Sehr schön. Gut, dass Reiko mich drauf aufmerksam gemacht hat, wie man dich unter Kontrolle bringen kann.«

Ich würde dafür sorgen, dass Reiko demnächst das nasse Bett von vor über zehn Jahren wie ein toller Spaß vorkommen würde! Im Moment hatte ich aber keine Möglichkeiten mehr, mich gegen das Unvermeidliche zu wehren, also verhielt ich mich ganz ruhig. Immerhin bot mir die Art, wie ich über Jonas‘ Schulter hing, einen netten Ausblick auf sein wohlgeformtes Hinterteil. Auch nicht schlecht…

Mein Gewicht schien Jonas überhaupt nichts auszumachen, er schien es gar nicht zu spüren, flotten Schrittes ging er zur Zimmertür, öffnete diese, und marschierte dann mit mir ins Wohnzimmer.

Reiko

Ich wurde wach durch das leise Geräusch einer vorsichtig zugezogenen Tür. Wer schlich da in unser Zimmer oder aus ihm heraus? Blinzelnd öffnete ich die Augen und schaute mich im Dämmerlicht des heranbrechenden Tages um. Von den beiden Jungs im Doppelbett konnte ich nur Fabian sehen, Jonas war durch ihn und die hoch aufgetürmte Federdecke vor meinen Blicken verborgen.

Ich ließ meine Blicke weiterschweifen und entdeckte, dass das zweite Einzelbett im Zimmer leer war. Also war es wohl Jasmin gewesen, die sich herausgeschlichen hatte und für mein Erwachen verantwortlich war. War es denn schon soweit, dass wir aufstehen mußten? Ich warf einen Blick auf meine Uhr.

Halb acht. Eigentlich viel zu früh zum Aufstehen, aber Arko würde wohl langsam mal wieder vor die Tür müssen, und auch die Kids würden vermutlich nicht so lange schlafen wie wir Älteren es gerne hätten. Widerwillig schob ich meine Bettdecke zur Seite, setzte mich auf und erhob mich dann, nachdem ich meine Füße in den Hausschuhen verstaut hatte.

Als ich stand bemerkte ich, dass ich nicht der einzige im Raum war, der nicht mehr schlief. Fabian kraulte seinem Liebsten durch die Haare und war dermaßen in diese Tätigkeit vertieft, dass er mein Aufstehen gar nicht mitbekommen hatte. Entsprechend erschrocken war er, als ich ihn ansprach. Sonderlich begeistert über diese Störung und die Aussicht, demnächst auch aus den Federn zu müssen, schien er nicht zu sein, aber darauf konnte ich nun auch keine Rücksicht nehmen. Außerdem: warum sollte er gemütlich liegenbleiben können, wenn ich aufstehen mußte?

Ich griff mir frische Wäsche und machte mich auf den Weg ins Wohnzimmer, wo bereits ziemlicher Trubel herrschte. Patrick saß komplett angezogen in einem Sessel, die anderen beiden Jungs trugen auch schon Tageswäsche und waren gerade dabei, die Schlafsäcke einzurollen.

»Guten Morgen.«

Ich bekam das gleiche zu hören, sogar Patrick schaffte es mal, die Kiefer auseinanderzubringen.

»Wo sind denn die Mädels? Und wo ist Arko?«

»Ricarda und Manuela sind mit Jasmin im Bad, und Arko haben wir schon rausgelassen.«

Na das hörte sich doch gut an.

»Ist der Hund schon lange draußen, Felix?«

»Das mußt du Patrick fragen, wir waren nicht hier als er raus ist.«

Ich schaute zu unserem Problemfall.

»Fünf Minuten oder so.«

Das sollte eigentlich erstmal reichen, später würde er noch viel Zeit draußen verbringen können. Ich ging zur Tür, öffnete sie, und mußte feststellen, dass es auch in dieser Nacht wieder einiges an Neuschnee gegeben hatte. Auch jetzt schneite es noch fröhlich vor sich hin.

»Arko!«

»Wuff!«

»Na los, komm rein hier!«

In einer Wolke aus aufgewirbeltem Pulverschnee kam der Vierbeiner angestiebt, und ich konnte gerade noch seinen Versuch abwehren, mich naß und kalt anzuspringen.

»Läßt du das!«

Ich zog Arko am Halsband in die Hütte und griff seufzend zu seinem Handtuch.

»Darf ich ihn mal abtrocknen?«

Verblüfft schaute ich zu Patrick, von ihm hätte ich so ein Angebot nun wirklich nicht erwartet. Aber wenn er schon so fragt…

»Klar. Hier, ordentlich abrubbeln. Achte vor allem auch auf die Schneeknötchen an den Pfoten.«

»Okay.«

Da diese Aufgabe nun vergeben war, konnte ich mich anderen Dingen zuwenden.

»Chris, Felix, helft ihr mir mal, den Tisch und die anderen Möbel wieder richtig hinzustellen?«

Gemeinsam verwandelten wir das Schlaf(sack)zimmer wieder in einen Wohnraum.

»Ihr seid wohl schon durchs Bad durch?«

»Ja, Felix und ich sind wachgeworden, als der Generator ansprang. Wir sind dann auch bald aufgestanden, wir dachten, es wäre gut schon fertig zu sein, wenn der Ansturm der anderen anfängt.«

»Ihr seid zwei richtig schlaue Kerlchen.«

Erfreut lächelten mich die beiden Jungs an. Mit was für einfachen Sachen man denen eine Freude machen konnte.

Einige Minuten später tauchten auch die Mädels tagfertig auf. Nach der Begrüßung machte Jasmin eine kleine Bestandsaufnahme.

»Fehlen ja nur noch Jonas und Fabian. Ob die schon wach sind?«

»Sind sie, als ich raus bin, hatte Fabian schon die Augen offen, und ich hab ihm gesagt, dass er deinen Bruder wecken und dann mit ihm rauskommen soll.«

»Sehr schön, dann werden sie ja hoffentlich bald hier auftauchen.«

Da war ich mir nicht ganz so sicher, aber meine schmutzigen Gedanken verbannte ich ganz schnell in die hinterste Ecke meines Gehirns.

»Ich nutze dann mal das freie Bad und mach mich schnell fertig.«

Bevor ich dies aber in die Tat umsetzen konnte, wurde ich durch ein anderes Ereignis abgelenkt.

»Nun laß mich doch endlich runter, du oller Muskelprotz!«

Noch während ich mich umdrehte um zu schauen, was Fabian wohl meinte, begann um mich herum bereits lautstarkes Gelächter. Was allerdings auch vollkommen gerechtfertigt war! Der Anblick meines besten Freundes, wie er mit den Beinen voran von Jonas ins Zimmer getragen wurde, war einfach zum Schieflachen! Nicht einmal Patrick konnte sich dem Humor des Augenblicks gänzlich entziehen.

»Brü… Brüderchen… was machst du denn mit deinem Liebsten?«

»Der kleine Faulpelz wollte nicht aufstehen, da mußte ich halt etwas nachhelfen.«

Damit dürfte endgültig klar sein, wer in dieser Beziehung die Hosen anhatte.

»Laß mich runter, Jonas! Bitte!«

Fabian strampelte mit den Beinen, was ihm als einzigen Erfolg einen Klaps auf den Hintern einbrachte.

»Ich laß dich ja gleich runter. Mädels, könntet ihr mal bitte von der Couch aufstehen?«

Ricarda und Manuela sprangen auf, Jonas trat von hinten das Sitzmöbel heran, dann lud er elegant über die Lehne seine Last in die Polster ab.

»So, mein Kleiner, jetzt darfst du wieder liegen!«

Bequem lag er allerdings nicht, denn sofort sprang Arko auf ihn drauf und begann, ihm übers Gesicht zu lecken.

»Ih! Runter, Arko!«

Schallendes Gelächter füllte den Raum, und nach einigen Sekunden fiel nun auch Fabian selbst in dieses ein – trotz seines knallroten Kopfes.

»Jonas, du spinnst!«

»Stimmt. Aber deswegen magst du mich ja auch so sehr, oder?«

Fabian konnte nur noch lachend den Kopf schütteln. Patrick ging dies alles wohl nun doch wieder zu weit, jedenfalls verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht, und er drehte sich von den beiden verknallten Jungs weg.

Langsam beruhigten sich alle wieder, und ich verschwand ins Bad, wo ich die üblichen morgendlichen Verrichtungen erledigte und mich gleich umzog. Als ich rauskam, war der Frühstückstisch bereits gedeckt, die Kaffeemaschine blubberte und aus dem Ofen drang der Duft von frischem Backwerk.

»Reiko, ist noch warmes Wasser da?«

»Ja, Faby, hat ja auch keiner geduscht.«

»Okay, dann flitzen Jonas und ich schnell durchs Bad. Laßt uns aber bitte was vom Frühstück übrig!«

»Ob ihr noch was bekommt, hängt ganz von euch ab. Ihr solltet also lieber nicht rumtrödeln!«

Diese unverholene Drohung aus Jasmins Mund trieb die zwei mächtig an, wie der Blitz verschwanden sie in Richtung Badezimmer.

»Reiko, steh nicht so rum, gieß den Kids mal Kakao ein.«

»Jawohl, Frau Oberfeld!«

»Sei froh, dass ich die Hände voll mit anderen Dingen hab, Rekrut, ansonsten könntest du jetzt was erleben!«

Ich beeilte mich, Jasmins Anweisungen nachzukommen, und schenkte reihum heißen Kakao ein. Als ich bei Patrick angelangt war, schaute er mich bittend an.

»Kann ich Kaffee bekommen?«

Da war wohl einer plötzlich sehr erwachsen, und wollte mit einem Kindergetränk wie Kakao nichts zu tun haben. Ich sah fragend zu Jasmin rüber.

»Okay, er kann Kaffee bekommen, aber mit viel Milch.«

Mit diesem Kompromiß war der Teenager einverstanden, also bekam er von mir auf meiner nächsten Einschenkrunde eine halbe Tasse Kaffee, die er selbst mit Milch auffüllte.

Einige Minuten später hatten sich zu den dampfenden Getränken auch frisch aufgebackene Baguettes gesellt, und genau zu dem Zeitpunkt, zu dem es nichts mehr zu tun gab, tauchten passenderweise Fabian und Jonas auf, um sich an den gemachten Tisch zu setzen. Sehr clever!

Dem Alter der Teilnehmenden entsprechend, wurden die bereitgestellten Futtermittel in Windeseile vertilgt, bis kaum noch irgendwo ein Krümelchen zu sehen war. Dann kamen wir zu der Frage, über deren Beantwortung ich mir auch schon den Kopf zerbrochen hatte.

»Was machen wir nun heute eigentlich den lieben langen Tag lang?«

Wenn uns nicht irgendwas Schlaues einfiel, um die Kinder beschäftigt zu halten, konnte dies wirklich ein verdammt langer Tag werden!

»Was sagt denn das Wetter?«

»Das gleiche wie gestern früh, Fabian. Ne Menge Neuschnee, und es schneit immer noch.«

Bei den jüngeren Kindern löste das große Freude aus, nur Patrick und wir älteren Leutchen schienen zu kapieren, dass dies auch bedeutete, dass wir noch länger hier festsitzen würden.

»Wir könnten Schneemänner bauen!«

»Oder ein Iglu! Oder eine Schneeburg!«

»Moment, moment, immer mit der Ruhe! Es ist ja noch schön zeitig, wir brauchen nichts zu überstürzen!«

Jasmins pädagogische Ader meldete sich genau im richtigen Augenblick zu Wort.

»Ich schlage vor, wir hören uns erstmal im Radio den Wetterbericht an, und dann sehen wir weiter. Wir müssen ja nicht gleich jetzt rausgehen.«

Der Wetterbericht war eine gute Idee, ich stand auf und schaltete das Radio ein. Es dauerte nicht lange, und die Neun-Uhr-Nachrichten begannen, an deren Ende wie üblich der Wetterbericht folgte.

»…die Schneefälle lassen im Tagesverlauf nach und hören am späten Nachmittag ganz auf. Das Niederschlagsgebiet zieht in Richtung Westen ab. An seiner Rückseite fließt kalte Polarluft in das Vorhersagegebiet ein. Die Tagestemperaturen werden bei nachlassendem Wind zwischen -6 und

-4 Grad liegen, in der Nacht ist bei klarem Himmel mit strengem Frost bis -10 Grad zu rechnen…»

Die Schneefälle zogen ab, das war doch mal eine gute Nachricht!

»Und hier die Drei-Tage-Aussichten: unser Sendegebiet gerät zunehmend unter Hochdruckeinfluß. Klares Winterwetter setzt sich durch, mit weiteren Niederschlägen ist vorläufig nicht zu rechnen. Die Starkwinde lassen nach, nur in den Gipfellagen der Gebirge ist noch mit vereinzelten Sturmböen zu rechnen. Die Temperaturen werden tagsüber nur noch -10 bis -8 Grad erreichen, nachts liegen die Werte verbreitet bei -15 Grad, vereinzelt können auch -20 Grad erreicht werden.«

Zum Glück saßen wir hier im Warmen und hatten dicke Klamotten dabei!

»Zum Abschluß eine Meldung vom Deutschen Wetterdienst: die Unwetterwarnung für unser Sendegebiet wird heute mit Wirkung 18 Uhr aufgehoben.«

Das hörte sich ja ganz gut an, auch wenn die sich an den Wetterbericht anschließenden Verkehrsmeldungen noch ein katastrophales Bild von den Straßenzuständen zeichneten.

»So, ihr habt es gehört, es wird heute langsam aufhören mit der Schneierei. Ich würde vorschlagen, dass wir uns vormittags hier drin beschäftigen, und nachmittags unternehmen wir etwas draußen im Schnee.«

Die Kids murrten ein wenig, sahen dann aber ein, dass sie eh nicht den ganzen Tag draußen verbringen konnten. So kam es, dass sich – nachdem der Tisch wieder abgeräumt und das Geschirr abgewaschen war – zwei Spielrunden bildeten. Während die vier Jüngsten sich in Mensch-Ärgere-Dich-Nicht bekämpften, spielten Jasmin, Jonas, Fabian und ich Monopoly. Patrick hatte sich entschieden, lieber ein Buch zu lesen, und sich mit irgendeinem Krimi in sein Schlafzimmer zurückgezogen. Arko hatte ihn begleitet, die zwei hatten wohl Freundschaft geschlossen.

Bald waren wir dermaßen ins Spiel vertieft, dass wir gar nicht mitbekamen, wie die Zeit verging. Bei den Kleinen schien jeder mal zu gewinnen, bei uns hingegen wurde lange und verbissen gekämpft, bis am Ende Jonas die Oberhand gewann. Kein Wunder, hatte der Hotel-Azubi doch strategisch günstig Hotels rings um das Spielfeld platziert. Wie Weihnachtsgänse nahm er uns aus!

»Ha, gewonnen! Na, wie schauts aus, noch eine Runde?«

»Bruderherz, schau mal auf die Uhr.«

Natürlich tat dies nicht nur Jonas, auch die Blicke von Fabian und mir wanderten automatisch zum Zeitanzeiger. Es war bereits kurz vor elf!

»Wir sollten langsam überlegen, was wir heute zum Mittagessen servieren.«

Und vor allem, wer das Mittagessen kochen würde.

»Wie wäre es mit Spaghetti und Tomatensoße? Geht schnell, ist einfach, macht satt.«

»Gute Idee, Jonas, du kochst!«

Verdutzt starrte der frischernannte Küchenmeister seine Schwester an, damit hatte er wohl nicht gerechnet. Aber er willigte ein, unter der Bedingung, dass Fabian ihm helfen würde. Und für den war eine Bitte von Jonas natürlich gleichbedeutend mit einem Befehl!

»Na schön, wir waren ja heute früh die Faulsten, da werden wir mal das Mittagessen übernehmen. Und was macht ihr in der Zwischenzeit?«

»Wir drehen eine Runde mit Arko, würde ich sagen. Jasmin, du kommst doch mit, oder?«

»Ja, und die Kinder kommen auch alle mit.«

Begeistert sprangen die Kids auf, die konnten es wohl wirklich nicht erwarten, hinaus in den Schnee zu kommen.

»Wie du meinst. Dann also los, holt euch eure Schneesachen und zieht euch an! Abmarsch in zehn Minuten!«

Die Kinder stoben davon, und auch Jasmin machte sich auf den Weg in den Lagerraum.

»Bringst du mir meinen Overall bitte mit, Jasmin? Ich werd mal Arko und Patrick holen.«

»Mach ich, viel Glück mit Patrick.«

Ob ich das brauchen würde? Oder ob er mal wieder in einer einigermaßen ansprechbaren Phase war? Es gab nur einen Weg, um das herauszufinden, und diesen Weg beschritt ich jetzt. Ich klopfte an seiner Zimmertür und trat ein.

Patrick lag rücklings im Bett, neben ihm lag mein Vierbeiner, die Schnauze auf Patricks Brust, und ließ sich von diesem hinter den Ohren kraulen. Die beiden schienen wirklich gut miteinander klarzukommen.

»Was gibt’s?«

»Wir wollen eine Runde mit Arko drehen. Kommst du mit?«

»Wer ist wir?«

»Die Kleinen, Jasmin und ich.«

»Die Schwuchteln kommen nicht mit?«

Ich seufzte, verzichtete aber auf die eigentlich fällige Standpauke, dafür war jetzt keine Zeit.

»Nein, Fabian und Jonas kommen nicht mit, die kümmern sich ums Mittagessen.«

»Gut, ich komme mit. Ich muß mir nur schnell Jacke und Stiefel holen.«

Als er sich bewegte um aufzustehen, sah ich unter seiner Jeans viel nackte Haut.

»Erstmal ziehst du die lange Unterwäsche an, und dann statt der Jeans deine Schneehose.«

»Ich frier schon nicht!«

»Entweder das oder du bleibst hier.«

Einen Moment sah es so aus, als wollte er eine Szene machen, aber dann siegte wohl der Wunsch, mit seinem neuen vierbeinigen Freund durch den Schnee zu toben.

»Okay, okay, ich zieh mich um! Aber dann müßt ihr auch auf mich warten!«

»Dann sorg dafür, dass wir nicht zu lange warten müssen. Komm, Arko.«

Ich verließ Patricks Zimmer, und einige Minuten später waren alle abmarschbereit.

Fabian

Spaghetti kochen mit Jonas, naja, es hätte schlimmer kommen können. Das würden wir schon hinkriegen. Vorerst aber wollten wir erstmal abwarteten, bis die laute Meute im Schnee verschwand. Ich kuschelte mich an Jonas, und wir beobachteten gemeinsam das Treiben.

Zuerst tauchten die vier Kleinen auf, mit ihren Schneeanzügen in den Händen, und zogen sich schnatternd an. Kurz darauf folgte Jasmin, schon fertig angezogen, und drückte Reiko, der Arko geholt hatte, seinen Overall in die Hand. In diesem Moment kam auch Patrick angeschossen und flitzte in Unterwäsche durchs Zimmer zum Lagerraum. Reiko stieg in den Overall, dann schaute er mich fragend an.

»Fabian, kann ich das Handy mitnehmen?«

Das war wohl eine vernünftige Idee.

»Ja, nimm es mit. Ach, sag mal, kennst du dich mit dem GPS-Teil aus?«

»Ja, beim DRK haben wir auch eins. Zwar ein anderes Modell, aber ich komm schon klar.«

»Gut, dann nimm das auch mit. Sicher ist sicher.«

Mein Vater würde mir den Allerwertesten bis zum Haaransatz aufreißen, wenn bis zu unserer Befreiung nochmal jemand verloren gehen würde.

»Meinst du, dass das nötig ist?«

»Lieber kein Risiko eingehen.«

»Okay, wie du meinst.«

Reiko holte die beiden Geräte und verstaute sie in den Taschen seines Schneeanzuges. Unterdessen tauchte auch Patrick wieder auf, und nachdem sich alle noch die Stiefel angezogen hatten, verschwand einer nach dem anderen durch die Tür nach draußen, und in der Hütte kehrte eine fast schon unheimliche Ruhe ein.

»Endlich allein.«

Ich warf einen herausfordernden Blick zu meinem Liebsten.

»Ach, hast du irgendwas mit mir vor, wobei die anderen gestört hätten?«

»Ja klar habe ich das!«

Oh. Nun war ich aber mal gespannt!

»Und was wäre das?«

Jonas grinste mich an.

»Kochen, was sonst?«

»Schade…«

Ich schob mich noch etwas dichter an ihn heran und wollte gerade meine Lippen auf die seinigen pressen, als die Tür wieder aufging.

»Wir hatten ganz vergessen, ne Zeit auszumachen, zu der wir wieder da sein sollen. Ups… Sorry…«

Reiko hatte mal wieder das unheimliche Talent, in der dämlichsten Situation in einen Raum reinzuplatzen. Genau wie bei der doofen Zicke Melanie. Wie zwei ertappte Sünderlein schauten wir zur Tür.

»Also wirklich. Ihr sollt kochen, für diese Spielchen habt ihr gar keine Zeit!«

Jonas und ich schauten uns kurz an, dann zeigte wir beide Reiko den Stinkefinger. Dieser jedoch lachte nur darüber.

»Na wie auch immer. In einer Stunde sind wir wieder da, und dann werden wir alle sicher sehr hungrig sein. Also tut was für euer Geld! Tschüß!«

Was für unser Geld tun? Wir bekamen Geld dafür? Na darüber sollten wir nochmal etwas genauer reden, das wäre ja wirklich mal nett. Reiko jedenfalls ließ uns jetzt endgültig alleine.

»So ein Antreiber.«

»Der paßt zu deiner Schwester, die ist auch nicht besser.«

»Hehe, hast du das auch schon bemerkt? Die hat manchmal nen richtigen Kasernenhofton drauf.«

Armer Reiko.

»So, und wie machen wir das jetzt?«

»Ist ja noch viel Zeit, wir suchen erstmal alles zusammen, das Kochen selbst geht dann schnell.«

»Gut, ich verlaß mich da auf dich, Jonas, ich bin kein sonderlicher Kochkünstler.«

»Keine Bange, dafür hast du jetzt ja mich. Alle, die ich bisher bekocht habe, haben von meinen kulinarischen Köstlichkeiten geschwärmt.«

»Na wenn das so ist, dann wirst du in unserer Ehe den Koch spielen.«

»Mach ich, wenn du das Putzen übernimmst, meine Kleine.«

Kleine? Also das ging zu weit! Ich knuffte ihn in den Oberarm, und zwar so, dass er es tatsächlich spürte!

»Aua! Was hab ich dir denn getan!«

»Nenn mich nie wieder ‚Kleine‘, kapiert, Großer?«

Jonas rieb sich die schmerzende Stelle.

»Schon gut, schon gut, mein KleineR!«

Das wollte ich ihm auch geraten haben. Mit »Kleiner« konnte ich leben, das hörte sich schon ganz anders an.

»Na dann mal los, suchen wir die Zutaten zusammen, viel brauchen wir ja nicht.«

Und wir hatten auch alles, was wir brauchen würden, in genügend großer Menge da. So konnte man uns in der folgenden Stunde dabei sehen, wie wir die Küche in ein Schlachtfeld verwandelten, vor allem, da wir bei all der Arbeit nicht die Hände voneinander lassen konnte. Kurz vor der erwarteten Rückkehr der verfressenen Bande hatten wir alles vorbereitet, das Geschirr stand auf dem Tisch, Besteck lag bereit, die Nudeln lagen in einer riesigen Pfanne, in einem Topf köchelte die Tomatensoße sanft vor sich hin. Letztere wollte Jonas später über die Nudeln kippen und das ganze Gemisch noch einmal für ein paar Minuten mit etwas Käse darüber in die vorgeheizte Backröhre schieben.

Ich schaute Jonas an und mußte lachen.

»Was ist, Faby?«

»Du hast einen großen Klecks Tomatensoße mitten auf der Nase!«

Ich hatte partout keine Vorstellung, wie der wohl dahingekommen war.

Jonas verdrehte die Augen, so richtig sehen konnte er das Dilemma aber trotzdem nicht.

»Mach mal bitte weg, das sieht doch garantiert total bescheuert aus.«

»Ja, tut es. Schau doch mal in nen Spiegel.«

»Nee, ich hab ne bessere Idee.«

Wie die wohl aussehen würde? Ich hatte eine dumpfe Vorahnung, dass diese Idee wieder auf meine Kosten gehen würde, und genau so kam es auch. Jonas griff sich den Löffel, mit dem er eben noch die Tomatensoße umgerührt hatte, und strich mir damit über die Nase. Ich hatte eine ganz gute Vorstellung, wie das jetzt aussah.

»Hast recht, Fabian, das sieht bescheuert aus!«

Na vielen Dank aber auch. In diesem Moment hörten wir Lärm vor der Hütte, das hieß dann wohl, dass die anderen von ihrem Spaziergang zurück waren.

»Los, Jonas, schnell ins Bad. So sollen die uns nicht zu Gesicht bekommen!«

Der gleichen Meinung war wohl auch mein Liebster, jedenfalls flitzten wir gemeinsam ins Bad, und als wir kurz darauf erneut das Wohnzimmer betraten, sahen wir wieder präsentabel aus.

Dort war mittlerweile die wilde Horde eingefallen, und beim allgemeinen Ausziehen von Stiefeln und Schneeanzügen veranstalte sie ein wahrhaftiges Höllenspektakel. Die Frage, ob der Spaziergang ihnen gefallen hatte, konnten wir uns in Anbetracht des Gelächters und der fröhlichen Gesichter wohl ersparen.

»Gibt es bald was zu essen? Wir sind total ausgehungert!«

Jonas, der unterdessen die Riesen-Nudelpfanne in die Backröhre geschoben hatte, beruhigte Reiko.

»Keine Angst, ihr müßt nicht verhungern. Zieht eure Klamotten aus, geht euch die Hände waschen und so weiter, dann könnt ihr euch schon hinsetzen, es dauert nur noch ein paar Minuten.«

Die Aussicht auf Essen trieb die Glorreichen Sieben zu einer olympiareifen Geschwindigkeit im Ausziehen und Händewaschen, und während ich noch dabei war, Arko trockenzurubbeln, nahmen sie nacheinander ihre Plätze am Tisch ein. Zum Glück war das Essen nun tatsächlich schnell fertig, ansonsten hätten die sich wohl vor lauter Hunger noch gegenseitig angeknabbert!

Die Bewegung im Schnee und die kalte Winterluft hatten für einen gewaltigen Appetit gesorgt, und das Essen war inklusive des Apfelmus-Nachtisches innerhalb kürzester Zeit weggeputzt. Es schmeckte übrigens wirklich klasse, wenn Jonas immer so kochte, dann würde ich wohl (falls ich mit ihm zusammenleben würde) tatsächlich etwas mehr auf die Rippen bekommen. Wobei… Das hatte meine Mutter auch schon jahrelang vergeblich versucht.

Während des Essens erzählten die Kids vom Spaziergang, wie sie Arko nach Schneebällen hatten jagen lassen, wie sie einen Schneemann gebaut hatten und noch vieles mehr. Leider hatten sie anscheinend immer noch reichlich Energie übrig und fragten jetzt schon, wann sie wieder raus dürften.

»Also jetzt ruhen wir uns erstmal ein, zwei Stunden aus, dann können wir nochmal rausgehen und vielleicht wirklich eine Schneeburg bauen.«

Jasmins Vorschlag wurde allgemein mit Jubel aufgenommen, und somit war er beschlossene Sache. Aber wie zur Hölle baute man eigentlich so eine Schneeburg?

Reiko

Da sage nochmal jemand, Flöhe zu hüten wäre schwer! Ein ganzer Sack von den Biestern konnte nicht schwerer zu kontrollieren sein als eine Handvoll Kinder.

»Du willst wirklich was pädagogisches studieren, Jasmin?«

»Ja, wieso?«

Wortlos zeigte ich auf die Kids, die sich mit Schneebällen bewarfen, gegenseitig einseiften, den Hund herumscheuchten und ganz allgemein ein riesiges Tohuwabohu veranstalteten.

»Hehe, laß sie doch. Je mehr Energie die jetzt tagsüber verpulvern, umso einfacher wird es für uns, sie abends ins Bett bzw. in die Schlafsäcke zu stecken.«

Hm. Das stimmte vermutlich. Und wenn ich mir anschaute, wie die fünf noch herumtollten, obwohl wir schon fast eine ganze Stunde unterwegs waren und uns bereits wieder der Hütte näherten, dann wurde mir klar, dass uns am Nachmittag noch einiges bevorstand.

Wir hatten eine gemütliche Runde durch den verschneiten Winterwald gedreht. Also das »gemütlich« nur auf Jasmin und mich bezogen! An das Laufen durch den tiefen Schnee hatten wir uns gewöhnt, wir kamen auch ohne Schneeschuhe zurecht. Jetzt aber drängte es uns doch sehr in Richtung Futterquelle, und ich konnte nur hoffen, dass Fabian und Jonas die Zeit alleine tatsächlich zum Kochen verwendet hatten und nicht für irgendwelche anderen Dinge! In dieser Beziehung traute ich den beiden nicht wirklich über den Weg.

Aber meine Sorgen erwiesen sich als unbegründet, als wir die Hütte betraten, war der Tisch bereits komplett gedeckt, und kaum hatten wir uns von den warmen Sachen befreit, konnten wir auch schon mit der Esserei anfangen. Es dauerte erwartungsgemäß nicht lange, und alles, was die beiden Meisterköche serviert hatten, hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst.

Auch die Frage, wie es heute weitergehen sollte, war schnell geklärt, sodass nach dem Essen etwas Ruhe einkehrte. Jasmin und die Mädels kümmerten sich um den Abwasch, wir anderen verteilten uns auf der Polstergarnitur, nur Patrick verschwand wieder eilig in sein Zimmer. Über ihn konnte ich mich nur noch wundern. Draußen im Schnee war er fast genauso fröhlich und wild wie die anderen gewesen, hatte sich sogar am Schneemannbau beteiligt – hier drin aber kapselte er sich wieder ab und suchte die Einsamkeit seines Einzelzimmers. Da sollte einer schlau draus werden…

Der Spaziergang schien mich mehr angestrengt zu haben, als ich gedacht hatte, ich mußte eingeschlafen sein und wurde erst wieder durch Jonas gewecket, der mich leicht an der Schulter rüttelte.

»Ja … gähn … was ist denn?«

»Es ist gleich zwei, Pause beenden!«

Wie gemein. Gerade hatte ich noch so schön geträumt. Ich hatte keine Ahnung wovon, aber ich war mir sicher, dass es ein schöner Traum gewesen war. Und was lag da eigentlich so schwer auf mir drauf?

»Meine Schwester kannst du bei der Gelegenheit auch gleich wecken.«

Jonas‘ Schwester? Ich drehte vorsichtig den Kopf und erkannte, dass diese es war, die halb auf mir draufhing und schlief. Also diese Belastung ließ ich mir natürlich gerne gefallen!

Während sich Jonas nun wieder verzog, streichelte ich sanft über Jasmins Gesicht, was diese zuerst mit einem leichten Zucken, dann mit sich vorsichtig öffnenden Augen und einem Lächeln beantwortete.

»Was ist los, Reiko?«

»Dein Bruder hat mich gerade geweckt, er sagte, es wäre Zeit, die Pause zu beenden.«

»Oh. Ja, ich hatte ihn darum gebeten, falls wir einschlafen sollten.«

»Wieso eigentlich. Ist doch gerade alles so schön ruhig.«

Die vier jüngeren Kinder schienen alle zu schlafen, Arko döste vor sich hin, Fabian blätterte in seinem Buch und Jonas holte sich gerade etwas zu trinken.

»Sollten wir die nicht schlafen lassen, wenn sie schonmal so friedlich sind?«

»Nee, bloß nicht! Wenn wir die jetzt weiterpennen lassen, bekommen wir heute abend überhaupt keine Ruhe in die Bande. Also keine Müdigkeit vorschützen. Wir ziehen uns schonmal an, dann wecken wir die Kids, und dann geht es raus in den Schnee!«

Na gut. Lieber jetzt etwas tun, als es dann abends mit einer Horde quängelnder Kinder zu tun zu haben, die alle nicht ins Bett wollen.

Leise standen wir auf, neugierig beäugt von Arko, dem diese ganze Abenteuergeschichte von uns allen wohl am besten gefiel. Soviele Menschen, die mit ihm spielten, ihn streichelten und mit Beachtung überschütteten erlebte er selten auf einem Haufen!

Wir zogen uns an, weckten nach und nach die Kids, und zwanzig Minuten später stand die gesamte Mannschaft draußen im Schnee. Fabian hatte einige Schaufeln und Schneeschieber hervorgezaubert, und schon bald sah man uns alle damit beschäftigt, gleich zwei Schneeburgen zu bauen! Warum zwei? Ganz einfach, die Kleinen hatten beschlossen, dass sie sich einen Wettbewerb um die beste Burg liefern wollten. Also arbeiteten auf der einen Seite die beiden Mädels, auf der anderen die drei Jungs. Und da wir »Erwachsenen« nicht einfach nur daneben stehen konnten, schloß ich mich mit Jasmin den Jungs an, während Fabian und Jonas den Mädels halfen. Im immer mehr nachlassenden Schneefall kletterten die Mauern unserer Burgen unaufhörlich in die Höhe…

»Sag mal, Jasmin, wieso hast du vorhin eigentlich dermaßen auf mir drauf gelegen?«

Nicht dass ich mich beschweren würde, aber mit sowas hatte ich nicht gerechnet.

Schelmisch grinste sie mich an.

»Ich brauchte einen Platz zum Schlafen, und da sahst du so einladend und gemütlich aus.«

Also als gemütlich hatte mich auch noch niemand bezeichnet.

»Wieso fragst du, war dir das unangenehm?«

»Nein, es hat mich nur etwas überrascht.«

»Warum überrascht dich das? Du bist nun mal ein schnuckliger Typ.«

Ich mußte zweimal hinhören. Flirtete Jasmin jetzt etwa mit mir? Und wollte ich das eigentlich?

Meine Gedankengänge zu diesem Thema wurden jählings unterbrochen, als mir ein Schneeball beinahe die Mütze vom Kopf schoß. Während ich mich noch nach der Quelle des Geschosses umsah, hagelten bereits weitere Schneebälle auf unser Team nieder. Da hatte uns jemand den Krieg erklärt!

Wer dieser jemand war, blieb uns nicht lange verborgen, das Jubelgeschrei von Manuela und Ricarda sprach Bände! Aber was die konnten, das konnten wir auch, und kurz darauf war eine richtige Schneeballschlacht im Gange. Schneegeschosse zischten durch die Luft, Getroffene fluchten, treffsichere Schützen jubelten, und mittendrin tobte Arko bellend durch den Schnee und versuchte, die fliegenden Schneebälle abzufangen.

Die Schlacht wogte hin und her, und gerade, als ich mich bei Manuela für einen Treffer rächen wollte, merkte ich, wie mich jemand am Ärmel zog.

»Pssst. Reiko.«

Ich wandte mich zu Jasmin.

»Komm, lassen wir die Kids sich ein wenig alleine austoben.«

»Wir können doch unsere drei Jungs hier nicht ihrem Schicksal und der feindlichen Übermacht überlassen!«

»Schau mal da rüber.«

Jasmin leitete meinen Blick weg vom Kampfgeschehen, und siehe da! Jonas und Fabian hatten sich vom Kriegsschauplatz entfernt und lehnten knutschend an einem Baum! Na wenn das so aussah, dann konnten wir uns auch zu

zurückziehen. Ich folgte also Jasmin in Richtung Hütte, wo ich einen Holzklotz vom Schnee befreite und mich darauf setzte. Einladend zeigte ich auf meinen Schoß.

»Komm, setz dich.«

Vorsichtig ließ sich Jasmin auf mir nieder, und meine Arme umfaßten sie.

»Stört dich das?«

»Was?«

»Meine Arme.«

»Nee, laß die ruhig da wo sie sind, da rutsche ich wenigstens nicht runter.«

Genau das, und nur das, war ja auch mein Beweggrund für die Umarmung gewesen. Was? Unglaubwürdig? Pah!

Schweigend sahen wir den Kids in ihrem Schneekrieg zu. Entweder hatten die gar nicht mitbekommen, dass wir Älteren uns zurückgezogen hatten, oder es war ihnen egal. Nach einer Weile setzten Christoph und Felix zum Sturm auf die Burg der Mädels an, Patrick schien sich der Fairness halber nicht zu beteiligen. Während sich das Kampfgeschehen zu Manuela und Ricarda verlagerte, klopfte sich Patrick den Schnee von den Sachen und kam langsam in Richtung Hütte geschlendert. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen, starrte für einen Moment in Richtung der immer noch wild herumknutschenden Jungs, dann stürmte er in die Hütte, hinter sich die Tür zuknallend.

Jasmin gab einen tiefen Seufzer von sich.

»Nicht schon wieder! Gerade wollte ich noch sagen, dass der Junge sich zu fangen scheint, aber da habe ich mich wohl zu früh gefreut. Wenn ich nur wüßte, was genau mit dem los ist!«

Diese Worte hätten so auch von mir kommen können, und um ehrlich zu sein: ich hatte es jetzt endgültig satt mit diesem Nervzwerg!

»Jasmin, laß mich mal bitte aufstehen.«

»Was hast du vor, Reiko?«

»Ich bin am Ende mit meiner Geduld, ich geh der Sache jetzt auf den Grund! Und wenn ich mich auf ihn draufsetzen und ihn aushungern muß: ich werde herausfinden, warum der hier so einen Terror veranstaltet.«

Eigentlich rechnete ich damit, dass die angehende Pädagogin versuchen würde, mir dieses Vorhaben auszureden, aber Jasmin stand ohne zu murren auf.

»Vielleicht hast du recht. Eventuell hilft ja ein Gespräch von Mann zu Mann, mit mir wollte er ja nicht reden. Vielleicht schaffst du ja das, was weder seine Eltern noch ich bisher erreicht haben.«

»Ich werde mein Bestes geben. Und ich kann sehr überzeugend sein!«

»Dann viel Glück, Reiko. Es wäre besser für uns alle, wenn die Sache endlich geklärt wäre.«

Entschlossenen Schrittes folgte ich Patrick in die Hütte. Der Teenager war nirgends zu sehen, nur seine Stiefel standen neben der Tür, er hatte sich also wohl schon auf sein Zimmer verzogen. Ich befreite mich von den warmen Klamotten, dann begab ich mich in die Höhle des Löwen. Ohne anzuklopfen trat ich ins kleine Schlafzimmer ein.

Tatsächlich, da lag Patrick in voller Montur auf dem Bett.

»Verrätst du mir mal, was das jetzt wieder sollte?«

»Ach laß mich in Ruhe!«

»Nein, das tu ich nicht! Du läßt uns ja auch nicht in Ruhe mit deinen Stimmungsschwankungen und Ausrastern! Ich will endlich wissen, was dich immer so austicken läßt!«

»Das mußt du noch fragen?«

Naja, okay, eines wußte ich schon: der Anlaß waren wohl immer Situationen, in denen er auf das Schwulsein von Fabian und Jonas aufmerksam wurde. Aber das war ja noch lange Erklärung dafür, warum er in diesen Situationen ausflippte.

»Ja, das muß ich noch fragen. Stört es dich wirklich dermaßen, dass Fabian und Jonas schwul sind?«

So, ich hatte das S-Wort ausgesprochen. Mal schaun, ob es mir vielleicht endlich gelang, zu den wahren Ursachen vorzudringen.

»Stört dich das etwa nicht?«

Ah. Die erste Antwort, die nicht aus purer Ablehnung bestand.

»Nein. Warum sollte mich das stören?«

»Weil… Weil Schwule ständig auf der Jagd nach Kerlen sind! Die wollen doch mit jedem ins Bett!«

Naja, eine Zeit lang hatte ich das auch geglaubt, aber ich war schon vor ein paar Jahren objektiv genug gewesen zu erkennen, dass das nicht der Fall war.

»Ach quatsch. Schwule sind genau wie wir auch, da gibt es solche und solche. Die einen wollen ständig Sex mit allem, was nicht bei drei auf den Bäumen ist – die anderen wollen den Mann fürs Leben. Genau wie bei Heteros. Bei Jonas und Fabian brauchst du dir nun überhaupt keine Sorgen zu machen, dass die was von dir wollen, die sind eh nur mit sich selbst beschäftigt. Hast du ja selber gesehn.«

»Trotzdem…«

»Du glaubst wirklich, dass alle Schwulen hinter dir her wären?«

»Die sind doch genau wie Arne!«

Moment. Jetzt mußte ich sehr vorsichtig werden. Ich war irgendeiner heißen Sache auf der Spur, vermutlich dem Grund von Patricks seltsamen Verhalten. Aber ich hatte noch keinen blassen Schimmer, was ich entdecken würde. Irgendein Arne war sexuell hinter ihm her? Wer war dieser Arne? Stolperte ich hier eventuell gar über einen Mißbrauchsfall?

»Patrick, wer ist Arne?«

Der Junge war drauf und dran, sich wieder vor mir zu verschließen, das durfte ich jetzt nicht zulassen!

»Hat dir dieser Arne etwas angetan?«

»Er hat mich geküßt!«

Patrick schrie es regelrecht heraus. Okay, zurück zur anderen Frage.

»Und wer ist Arne?«

Der Junge drehte sich auf den Rücken, setzte sich auf und umklammerte seine Knie mit den Armen.

»Arne ist… Arne war mein bester Freund.«

Sein bester Freund? Also dann konnte es sich zumindest nicht um irgendeinen Erwachsenen handeln, der sich an ihn rangemacht hatte.

»Aha. Und dieser Arne hat dich geküßt. Hat er sonst noch was gemacht?«

»Nein!«

So richtig kam ich noch nicht mit.

»Und deshalb flippst du so aus? Bloß weil er dich geküßt hat?«

»Ja! Nein!«

»Wie nun? Ja oder nein?«

»Doch, irgendwie schon.«

Ich seufzte. Nun steh ich hier, ich armer Tor, und bin so schlau als wie zuvor.

»Jetzt erzähl mir mal die ganze Geschichte von Anfang an, ich seh da nicht durch. Also dieser Arne ist … pardon: war dein bester Freund. Und was ist dann passiert?«

»Wir waren zusammen skaten. Nach einer Weile haben wir eine Pause gemacht und uns auf eine Bank gesetzt. Plötzlich fing er damit an, dass er mir etwas wichtiges erzählen müßte. Ich wäre doch sein bester Freund und so. Tja, und dann sagte er mir, dass er schwul wäre!«

Das schien den guten Patrick aus heiterem Himmel getroffen zu haben.

»Und weiter?«

»Und dann beichtete er mir, dass er sich in mich verliebt hätte. In mich! Aber ich bin doch nicht schwul!«

Tja, soll vorkommen, dass man sich in die falschen Leute verliebt.

»Und dann hat er mich geküßt. Einfach so!«

»Und was hast du gemacht?«

»Ich hab ihm eine geknallt und bin weggerannt! Ich bin doch keine Schwuchtel!«

Ohoh, ein richtiges Teenager-Drama entrollte sich vor meinen Augen.

»Okay, das hab ich jetzt mitbekommen, du bist nicht schwul. Arne ist es aber, und da kann er genauso wenig etwas dafür wie du etwas dafür kannst, dass du auf Mädels stehst.«

Genervt starrte Patrick an die Zimmerdecke.

»Ja, ich weiß! Trotzdem!«

»Wann ist das passiert?«

»Vor zwei Monaten.«

So lange war das schon her?

»Und was passierte danach? Habt ihr euch ausgesprochen?«

»Nee. Arne hat ein paarmal versucht, mit mir zu reden, er wollte sich wohl auch entschuldigen, aber ich komme damit einfach nicht klar!«

»Womit kommst du nicht klar? Damit, dass er schwul ist, oder damit, dass er sich in dich verliebt hat?«

»Mit beidem. Naja. Eigentlich hauptsächlich damit, dass er sich in mich verliebt hat.«

»Was genau stört dich daran? Betrachte es doch als Kompliment. Er wird sicher akzeptieren, dass du halt nicht auf Jungs stehst und er bei dir keine Chance hat.«

»Ja schon… Aber… Aber ich denke ständig… Naja…«

Okay, den letzten Schritt mußte er nun auch noch machen.

»Was denkst du ständig?«

»Naja… Ich… Ich habe ständig das Bild im Kopf, wie er sich einen runterholt und dabei an mich denkt!«

Ich konnte nicht anders, ich mußte leise lachen. Sorgen hatte der Kleine…

»Und das wäre so schlimm?«

»Ja klar wäre es das! Das ist doch eklig!«

Kleine Kinder – kleine Sorgen. Große Kinder…

»Sag mal, Patrick, hast du eigentlich eine Freundin?«

»Nein, noch nicht.«

»Aber es gibt doch bestimmt ein Mädchen, das dir gefällt, oder?«

Leicht verschämt grinste er mich an.

»Ja, da ist so eine in meiner Klasse… Chiara.«

»Du magst sie? Du möchtest sie gerne als Freundin haben? Bist du in sie verliebt?«

»Ja.«

»Weiß sie das auch?«

»Ich denke schon…«

»Und wie benimmt sie sich dir gegenüber? Ich meine, beleidigt sie dich? Macht sie dich lächerlich? Findet sie dich eklig?«

»Äh… Nein. Warum sollte sie?«

»Naja, du beleidigst Arne, findest ihn eklig…«

»Aber das ist doch ganz was anderes!«

»Ist es das? Jetzt sei mal ganz ehrlich: Hast du noch nie an diese Chiara gedacht, wenn du dir einen runterholst?«

»Nein!«

»Patrick, sei bitte ehrlich!«

Sein Kopf lief rot an, und er starrte nach unten aufs Bett.

»Okay, ich gebs zu. Aber das ist doch was ganz anderes.«

»Wieso? Du bist in Chiara verliebt – Arne ist in dich verliebt. Wo ist da der Unterschied? Nur weil Arne auch ein Junge ist, wird da doch nichts ekliges oder so daraus.«

Zweifelnd schaute Patrick mich an.

»Würde es dir nichts ausmachen, wenn Fabian dich als Wichsvorlage verwenden würde?«

Interessante Frage!

»Naja…«

»Siehste!«

»Laß mich doch mal ausreden! Ich gebe zu, es würde mir für den ersten Moment komisch vorkommen, aber ich denke mal, ich würde damit klarkommen. Mal davon abgesehen glaube ich nicht, dass ich noch irgendwelche Chancen hätte, in Fabians Gedankenwelt nochmal zum Zug zu kommen! Dafür hat er ja jetzt Jonas.«

Jetzt lächelte auch Patrick, und ein wenig konnte ich verstehen, wie sich dieser Arne in ihn verknallen konnte. Ein hübscher Bengel war er ja wirklich.

»Stimmt, die zwei sind total ineinander verschossen.«

Das konnte er laut sagen.

»Und du meinst, ich soll das mit Arne einfach so akzeptieren?«

»Er war dein bester Freund, oder?«

»Ja, schon…«

»Dann sollte die Antwort klar sein, oder nicht?«

»Ja, aber was, wenn er nochmal versucht, mich zu küssen. Oder irgendwas anderes!«

»Dann sagst du ihm, dass es dir leid tut, dass du ihn zwar als Freund haben möchtest, aber eben nur als ganz normalen Freund, mehr nicht. Das muß er dann einfach akzeptieren. Auch wenn es ihm erstmal wehtun sollte.«

Patrick dachte eine ganze Weile angestrengt nach, dann schaute er mich an.

»Ich hab mich benommen wie ein Idiot, oder?«

Ich mußte grinsen.

»Möchtest du die ehrliche oder die nette Antwort?«

»Die ehrliche.«

»Okay. Ja, hast du.«

»Scheiße… Ich muß mich bei einigen Leuten entschuldigen, denke ich mal.«

»Das solltest du eventuell tun. Bei Arne. Bei deinen Eltern. Bei Jonas und Fabian.«

»Schon gut, schon gut, ich habs kapiert.«

Das war ja zu schön um wahr zu sein.

»Prima. Heißt das jetzt, dass wir es für den Rest der Zeit, die wir hier zusammen festsitzen, nur noch mit dem netten, fröhlichen Patrick zu tun haben werden, wie er manchmal in dem ganzen Bad-Boy-Benehmen durchgeblitzt ist?«

Ein schüchternes Lächeln spielte um Patricks Lippen.

»Ich werde mir Mühe geben. Versprochen, Reiko.«

»Gut! So, dann werde ich mich mal wieder zu den anderen gesellen. Kommst du auch wieder mit raus?«

»Nein, ich glaube, ich bleibe noch ein wenig hier. Ich muß noch über einiges nachdenken.«

»Tu das, du hast ja jetzt auch einiges, worüber du dir Gedanken machen kannst. Aber wenn du drin bleibst, dann zieh dir die warmen Klamotten aus.«

»Mach ich, Papa.«

»Nun werd mal nicht frech, Kleiner!«

Ich ging zur Zimmertür, wurde aber nochmal gestoppt.

»Reiko?«

»Ja?«

»Könntest du das alles Jonas und so erzählen…«

Eigentlich sollte er das lieber selber machen, aber ich wollte ihn nicht noch mehr belasten. Seine Beichte mir gegenüber war schwer genug für ihn gewesen.

»Okay. Aber entschuldigen mußt du dich dann schon selber!«

»Das mache ich, versprochen. Und danke, Reiko. Für alles.«

»Schon okay, Kleiner.«

Als ich Patricks Zimmer verließ und mich wieder in den Schnee begab, fühlte ich mich so gut wie schon lange nicht mehr…

Fabian

Die Schneeballschlacht war in ihrer heißesten Phase, als Jonas und ich uns quasi durch die Hintertür verdrückten und den Jüngeren das Spielfeld überließen. Wir vertieften uns lieber in etwas … ähem … erwachsenere Spiele.

Was soll ich sagen, es war himmlisch. Noch himmlischer wäre es allerdings gewesen, wenn mir nicht ständig so ein blöder Ast in den Rücken gedrückt hätte. Der war dann auch der Grund dafür, dass ich nach einigen Minuten widerstrebend Jonas von mir wegschob.

»Sorry, ich kann nicht mehr.«

Frech grinste mich mein Liebster an.

»Hab ich dich dermaßen verausgabt?«

»Träum weiter, Schätzchen. Ich hab so nen doofen Ast im Rücken, der bringt mich noch um.«

Jonas schien direkt ein wenig enttäuscht zu sein, also wirklich!

»Na gut, sehen wir mal nach, was die anderen machen.«

Die anderen bewarfen sich immer noch mit Schneebällen, die Jungs waren allerdings gerade dabei, die Burg der Mädels zu stürmen. Jasmin saß neben der Hüttentür auf einem Holzpflock, von Reiko und Patrick war nichts zu sehen. Also wanderten wir hinüber zu Jonas‘ Schwester.

»Na, Jasmin, hast du dich auch verdrückt?«

»Ja, hab ich, Bruderherz. Nachdem ihr so schamlos desertiert wart, konnten wir ja nicht weiter mitmachen, wäre ja sonst zu unfair gewesen.«

Die sollten doch froh sein, dass wir ihnen ein Anlaß zum Kampfabbruch gegeben hatten.

»Wo ist denn Reiko hin?«

»Der macht gerade Patrick zur Minna. Oder quetscht ihn aus. Oder beides.«

Patrick? Was war denn nun mit dem schon wieder los!

»Was ist passiert, Schwesterchen?«

»Ihr seid passiert.«

Hä? Wie sollten wir das verstehen? Wie waren wir passiert? Jasmin deutete die Fragezeichen auf unseren Gesichtern richtig.

»Patrick hat euch mal wieder knutschen sehen und ist ausgetickt. Er ist in die Hütte gerannt und hat die Tür hinter sich zugeknallt – ein Wunder, dass ihr das nicht mitbekommen habt. Obwohl. Streicht das mit dem Wunder. Neben euch könnte wohl ein Düsenjet starten, und ihr würdet es nicht mitbekommen.«

Waren wir wirklich schon so schlimm?

»Und Reiko ist ihm hinterher?«

»Ja, dem ist wohl endgültig der Geduldsfaden gerissen, er sagte, dass er der Sache jetzt auf den Grund gehen würde.«

»Armer Patrick.«

Die Geschwister schauten mich verblüfft an.

»Wieso armer Patrick?«

»Jonas, wenn sich Reiko was in den Kopf gesetzt hat, dann zieht der das auch durch. Was immer dafür verantwortlich ist, dass Patrick dermaßen neben der Spur läuft, Reiko wird es herausfinden. Im Guten oder im Bösen.«

»Wird er ihm wehtun?«

»Nein, Jasmin, zumindest körperlich nicht.«

»Gut, dann bin ich beruhigt. Ich möchte zwar auch, dass die Sache mit Patrick endlich geklärt wird, aber Gewalt darf nicht ins Spiel kommen.«

»Keine Bange, dazu ist Reiko nicht fähig.«

Reiko war höchstens dazu fähig, mir den Arsch zu versohlen, einem Kind würde er niemals Gewalt antun. Auch wenn das Kind noch so sehr nervte!

Eine Weile schauten wir den Kindern zu, die sich jetzt im Schnee balgten. Die Jungs hatten die Burg der Mädels erobert, und jetzt kullerten alle lachend durch die weiße Pracht. Dem lieben Gott sei Dank für wasserdichte Schneeanzüge!

»Los, Faby, komm, wir bauen einen Schneemann!«

»Mann, Jonas, hast du heute noch nicht genug mit Schnee zu tun gehabt?«

»Nee, von Schnee kann ich nicht genug bekommen. Bei uns in Leipzig gibt es nur selten welchen, das hier ist einfach himmlisch!«

Der war ja noch ein richtiges Kind! Naja. Ich ja in dieser Beziehung eigentlich auch. Ich ließ mich also nicht lange betteln, und kurz darauf waren wir damit beschäftigt, den schönsten schwulen Schneemann der Welt zu bauen. Oder zumindest Europas. Den schönsten Deutschlands? Was denn, nur den schönsten unseres Landkreises? Mein Gott, wie kann man nur so pingelig sein! Und überhaupt, wer entscheidet das eigentlich! Doch bestimmt nicht der überkritische Leser hier!

»Fabian, Jonas, könnt ihr mal rüberkommen?«

Unsere Köpfe zuckten zum Eingang der Hütte. Reiko war wieder da! Nun war ich aber extrem gespannt, was bei seiner Sitzung mit Patrick rausgekommen war. Ob es wohl endlich Klarheit gab? Vielleicht sogar eine Chance auf dauerhaften Frieden mit dem Terrorküken? Jonas jedenfalls schien mindestens genauso gespannt zu sein wie ich, ich kam kaum mit ihm mit auf seinem Sprint zu Reiko und Jasmin.

»Na, hast du was aus ihm rausbekommen?«

»Ja, Faby, hab ich. Ich denke mal, die Sache ist geklärt, wir werden mit Patrick keine Probleme mehr haben.«

Das klang ja fast zu schön, um wahr zu sein. So richtig konnte ich dem Frieden daher auch noch nicht trauen.

»Schieß los, was hat er dir erzählt?«

»Warte mal, Jonas, nicht so schnell. Vielleicht darf Reiko uns das gar nicht weitererzählen.«

Das wäre aber sehr schade!

»Doch, doch, er hat mich sogar darum gebeten, es euch zu erklären.«

Na also!

»In Kurzfassung: Patrick hatte einen besten Freund, Arne. Und dieser Arne ist schwul.«

Nun, das soll ja ab und an vorkommen. Und wo war nun das Problem?

»Arne hat sich in Patrick verliebt.«

Autsch!

»Unser Patrick steht aber nicht auf Jungs sondern auf Mädels.«

Armer Arne! Wobei: so, wie ich Patrick bisher kennengelernt hatte, könnte ich auch sagen: glücklicher Arne!

»Dummerweise hatte Arne seine Hormone nicht ganz unter Kontrolle und hat Patrick geküßt.«

Oh weh. Nen Hetero knutschen, das mußte ja schiefgehen!

»Langer Rede kurzer Sinn: Patrick kam damit nicht klar, dass sein bisheriger bester Freund ihn plötzlich anschmachtet. Er hatte die wildesten Vorstellungen davon, was Arne eventuell in seiner Phantasie mit ihm anstellen würde usw. usf. Zu allem Überfluß hat er das dann auf alle Schwulen ausgedehnt, so nach dem Schema, dass die alle ja nur das eine wollen. Nämlich ihn.«

Na super!

»Anstatt sich mit Arne auszusprechen, hat er sich völlig abgekapselt, hat mit niemandem darüber geredet und sich immer mehr in diesen Wahn reingesteigert.«

»Und das hat er dir jetzt alles erzählt?«

»Ja, Jasmin, hat er. War eigentlich auch gar nicht so schwer, ganz tief in seinem Inneren wollte er wohl genau das: mal mit jemandem drüber reden.«

»Und, Reiko, hast du ihm die Gedanken ein wenig zurecht gebogen?«

»Ich denke schon, Fabian.«

»Wie hast du das geschafft?«

»Das, meine liebe Jasmin, ist mein Geheimnis, und außerdem eh nicht für die Ohren von Mädchen bestimmt!«

Jonas‘ kleine Schwester zog einen Schmollmund, aber Reiko ließ sich nicht erweichen.

»Geht einfach mal davon aus, dass Patrick jetzt wieder etwas klarer denkt und nicht mehr für solchen Streß sorgen wird.«

Wenn das tatsächlich eintrat, dann sollte mir alles andere egal sein.

»So, ich sehe da einen Schneemann, der noch nicht ganz fertig ist. Habt ihr was dagegen, wenn ich ein wenig mithelfe?«

»Ja, Reiko, da kannst du nicht mitbauen! Das ist unser Schneemann! Außerdem ist der eh nichts für dich, der ist nämlich schwul!«

Jasmin und Reiko lachten.

»Na gut, dann bau ich halt mit Jasmin einen eigenen Schneemann! Los, den Jungs zeigen wir, wie man sowas richtig macht!«

Eine solche Herausforderung konnten wir natürlich nicht auf uns sitzen lassen, und so kam es, dass nach einer halben Stunde gleich zwei kalte Gesellen in der Gegend herumstanden. Und wir uns natürlich nicht darüber einig werden konnten, welcher von beiden besser gelungen war.

»Unserer ist schöner, das ist ja wohl keine Frage!«

»Träum weiter, Schwesterherz. Im Vergleich zu unserem ist das doch allenfalls Kunsthandwerk, während unserer ein echtes Kunstwerk ist!«

»Ich geb dir gleich ein paar vor dein Kunstwerk, Brüderchen!«

Wie niedlich sich die Geschwister zankten! Ich schaute zu Reiko rüber, der darüber auch nur noch lachen konnte.

»Leute, ich habe eine Idee, wir lassen die Kids entscheiden, welcher Schneemann schöner ist!«

»Guter Vorschlag, Fabian. Wir sollten die eh langsam mal zusammenrufen, wir waren nun wirklich lange genug hier draußen.«

Es war tatsächlich schon nach vier, es wurde bereits dunkel, und mir stand der Sinn nach einem schönen Glas Weihnachtstee.

Jasmin rief die Kinder zusammen, die in der Zwischenzeit wieder an ihren Burgen gebaut hatten.

»Hört mal zu, ich denke, es reicht für heute. Ihr wart lange genug draußen, es wird Zeit, dass ihr euch mal wieder aufwärmt, es wird eh dunkel.«

Das Murren fiel ziemlich leise aus, die waren wohl doch schon ziemlich erledigt.

»Aber bevor wir reingehen, müßt ihr noch eine wichtige Entscheidung treffen. Also schaut euch mal bitte diese beiden Schneemänner an und sagt uns, welcher euch besser gefällt.«

Die vier beäugten neugierig und von allen Seiten unsere Schneegestalten, kamen aber leider auch nicht zu einem Ergebnis, welches uns weitergeholfen hätte. Den Jungs gefiel der Schneemann von Jonas und mir besser, die Mädels standen eher auf das Werk von Jasmin und Reiko.

»Tja, ein klassisches Unentschieden. Es soll wohl keinen Sieger geben.«

Jasmin überlegte kurz.

»Wir könnten ja noch Patrick fragen, dann hätten wir auf jeden Fall eine Entscheidung.«

»Ach nein, Patrick ist doof, der würde eh wieder nur schlechte Laune verbreiten.«

»Christoph, ich glaube, das Problem hat sich erledigt. Reiko hat vorhin lange mit ihm gesprochen, und er sagt, dass Patrick zur Vernunft gekommen ist.«

»Ich weiß nicht… der hat die ganze Zeit nur Streß gemacht.«

Das hatte er allerdings, aber trotzdem…

»Leute, jeder hat eine zweite Chance verdient, auch Patrick. Also gebt ihm bitte diese zweite Chance, okay?«

Ich erntete eine leise, aber allgemeine Zustimmung, und sandte ein stilles Stoßgebet gen Himmel, dass damit nun tatsächlich endlich Frieden in unserer Hütte einkehren würde.

»Na gut, soll halt Patrick entscheiden. Soll ich ihn holen?«

Reiko hielt Felix davon ab, in die Hütte zu stürmen.

»Nein, laß mal, Patrick braucht noch ein wenig Ruhe zum Nachdenken. Die Schneemänner kann er sich auch morgen noch anschauen.«

Somit war die Entscheidung darüber, wer Mr. Schneemann of the World wurde, erst einmal vertagt. Wobei die Entscheidung ja eigentlich ganz klar war – die Leute wollten sie nur noch nicht wahrhaben!

»Habt ihr eigentlich etwas bemerkt?«

Lauter fragende Gesichter blickten zu Jasmin.

»Was?«

»Es schneit nicht mehr!«

Tatsächlich! Was morgens noch als recht dichtes Schneegestöber begonnen hatte, verwandelte sich im Laufe des Tages immer mehr in leichten Schneefall, und jetzt waren gar keine Flocken mehr zu sehen. Der Himmel sah sogar so aus, als würden die Wolken demnächst aufreißen.

»Super, dann können wir ja morgen zu unseren Eltern!«

Leider mußte ich Ricardas Hoffnungen etwas dämpfen.

»Da würde ich mich noch nicht drauf verlassen. Erst einmal müssen die Straßen und Wege bis hierher freigeräumt werden, und das kann dauern. Aber vielleicht klappt es ja übermorgen.«

Wäre ja auch nicht schlecht, wenn die Eltern ihre Kids pünktlich zu Heiligabend wieder in die Arme würden schließen können.

So richtig enttäuscht darüber waren wohl nur die Mädels, Christoph und Felix grinsten zufrieden vor sich hin. Die Aussicht auf einen weiteren Tag ohne elterliche Aufsicht schien ihnen zu gefallen.

»So, nun sollten wir aber reingehen. Ihr zieht euch bitte sofort die warmen Sachen aus und hängt sie im Lagerraum zum Trocknen auf.«

»Ja, Mami!«

Für diese Bemerkung bekam Reiko von Jasmin einen Klaps auf die Mütze.

»Kindskopf!«

Lachend betraten wir nacheinander die Hütte, wo das übliche Auszieh-Chaos begann, daher zog ich mich mit Jonas nach dem Ausziehen der Stiefel gleich ins Schlafzimmer zurück.

»So, hier haben wir etwas mehr Platz, da draußen fallen ja alle übereinander.«

Wir befreiten uns von unseren Schneeanzügen, dann schaute sich Jonas eingehend den Kleiderschrank an.

»Suchst du was bestimmtes?«

»Nein, ich wollte nur mal sehen, ob der Schrank auch irgendwelche vorstehenden Äste hat.«

»Wieso?«

»Naja, weil da noch etwas zuende zu bringen ist, wobei uns vorhin ein Ast gestört hat.«

Mit diesen Worten schob er mich rücklings an den Kleiderschrank, und im nächsten Moment spürte ich seine Lippen auf den meinigen. Er schien ja wirklich ein gutes Gedächtnis zu haben – und einen Drang, alles, was er einmal angefangen hatte, auch zu einem ordentlichen Ende zu bringen.

Leider verspürte auch jemand anderes einen Drang, und zwar den, uns davon abzuhalten, jedenfalls klopfte es leise und zaghaft an die Zimmertür. Genervt ließ Jonas von mir ab und verdrehte die Augen nach oben. Hilflos zuckte ich mit den Schultern.

»Herein!«

Vorsichtig wurde die Tür aufgeschoben, und es erschien: Patrick! Mit dem hatte ich nun am allerwenigsten gerechnet.

»Störe ich? Darf ich reinkommen?«

Jonas seufzte.

»Ja und ja.«

»Wie?«

»Ja, du störst. Ja, du darfst trotzdem reinkommen.«

Ich verpaßte Jonas einen leichten Knuff ins Hinterteil. Wir hatten doch beschlossen, dem Kleinen eine Chance zu geben.

»Komm rein, Patrick. Setz dich irgendwohin.«

Zögerlich und verkrampft setzte sich unser Besucher auf die Bettkante von Reikos Bett, während ich mich mit Jonas auf dem Doppelbett niederließ. Eine Weile schauten wir uns schweigend an, dann rang sich Patrick zum Reden durch.

»Ich… Ich wollte mich bei euch entschuldigen…«

»Ach ja?«

Besonders leicht wollte Jonas es ihm anscheinend nicht machen.

»Ich hab mich benommen wie ein riesiges Arschloch.«

»Das kannst du laut sagen!«

Ich rammte Jonas meinen Ellenbogen in die Rippen.

»Laß ihn, Fabian, er hat doch recht.«

»Trotzdem, wir hatten beschlossen, dass wir dir noch eine zweite Chance geben wollen.«

»Okay, okay, Faby, ich halte mich zurück. Sprich weiter, Patrick.«

»Naja, das wars eigentlich schon. Es tut mir leid, dass ich euch beleidigt habe, und ich verspreche euch, dass es nicht mehr vorkommen wird.«

Hm. Da hatte ich dann allerdings doch noch eine wichtige Frage.

»Sagst du das jetzt einfach so, oder hältst du das auch durch? Oder hält das nur solange, bis du mal wieder Jonas und mich beim Knutschen oder ähnlichem erwischst?«

»Das hab ich wohl verdient. Ja, ich denke, ich werde damit klarkommen.«

»Na hoffentlich, ich habe nämlich nicht vor, mir wegen dir jede kleine Schmuserei mit Faby zu verkneifen.«

Das wollte ich Jonas aber auch geraten haben!

»Okay, das wollte ich euch eigentlich nur sagen. Es tut mir wirklich leid. Ich geh dann mal wieder.«

Unser Besucher stand auf und ging zur Zimmertür.

»Patrick!«

Er drehte sich nochmals zu uns um.

»Ja?«

»Schön, dass du anscheinend die Kurve bekommen hast. Und danke für deine Entschuldigung.«

Patrick schenkte uns noch ein schüchternes Lächeln, dann ließ er uns alleine.

»Was sagt man dazu. Reiko scheint tatsächlich ein kleines Wunder vollbracht zu haben.«

»Naja, Faby, so ganz kann ich da noch nicht dran glauben.«

Ich legte meinem zweifelnden Freund meinen rechten Arm um die Hüfte.

»Jonas, ist dir an Patrick was aufgefallen?«

»Was meinst du? Dass er es mal geschafft hat, mit uns zu reden, und sogar ganz, ohne uns auch nur ein einziges Mal ‚Schwuchteln‘ zu nennen?«

»Nein, etwas anderes.«

Jonas grübelte angestrengt vor sich hin, kam aber zu keinem Ergebnis.

»Worauf willst du hinaus?«

»Er lief genauso rum wie wir.«

»Hä?«

»In Unterwäsche, Jonas. Er hat sich nicht die Mühe gemacht, sich in Jeans und T-Shirt zu verpacken.«

»Oh. Stimmt. Und du meinst, das hat irgendwas zu bedeuten?«

»Wenn du mal dran denkst, dass er noch heute früh niemals auch nur auf die Idee gekommen wäre, sich gerade uns so zu zeigen, dann glaube ich schon, dass das was zu bedeuten hat.«

Jonas‘ Zweifel waren immer noch nicht ganz ausgeräumt.

»Du siehst wohl immer nur das Gute im Menschen, Faby.«

»Ich geb mir Mühe. Ansonsten kann das Leben ziemlich einsam und unschön werden.«

»Na gut, ich werde mich mal im Zweifel zugunsten des Angeklagten entscheiden. Hoffentlich rechtfertigt Patrick mein Vertrauen.«

Ob diese Hoffnung aufgehen würde, konnte nur die Zukunft zeigen, aber ich war einigermaßen optimistisch.

»Na los, bringen wir unsere Sachen zum Trocknen und schauen mal nach, ob es nicht bald was zu Essen und zu Trinken gibt.«

»Kleinen Moment noch, Faby. Wir sollten noch fünf Minuten warten oder so.«

»Weshalb?«

»Weil wir sonst vielleicht noch beim Kaffeekochen helfen müssen!«

Ich mußte lachen, so um die Ecke konnte wohl nur Jonas denken.

»Lach nicht! Wir haben heute schon das Mittagessen gekocht, da können wir uns jetzt auch mal an den gemachten Tisch setzen.«

Womit er durchaus recht hatte, also setzten wir noch ein wenig das fort, wobei uns Patrick unterbrochen hatte…

Reiko

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich alle aus ihren Schneeklamotten geschält hatten, dann setzte auch noch der Sturm auf die Toilette an. Eigentlich hätte ich auch mal verschwinden müssen, aber in Anbetracht der Kinderhorden war daran erstmal nicht zu denken.

»Was zappelst du so rum, Reiko?«

Jasmin hatte anscheinend mein Dilemma bemerkt.

»Ich müßte mal aufs Klo.«

»Dann geh doch!«

Ich zeigte auf die Kinderschar, die fast schon Schlange stand.

»Keine Chance.«

»Tja… Dann geh halt aufs Plumpsklo!«

»Ha. Ha. Ha. Ich will doch nicht festfrieren!«

»Weichei. Dann mußt du halt noch ein Weilchen durchhalten.«

So sah es aus.

»Aber du kannst mir ein wenig bei den Kaffeevorbereitungen helfen, das lenkt dich vielleicht von deinem Problem ab.«

Ob das wohl funktionieren würde? Versuchen konnte ich es ja mal. Die nächsten Minuten verbrachte ich also damit, den Tisch zu decken, während Jasmin Kaffee und Tee ansetzte.

»Kann ich irgendwie helfen?«

Ich drehte mich um und erkannte erfreut, dass es Patrick war, der da seine Hilfe anbot! Der Junge schien sich wirklich vorgenommen zu haben, ein paar Dinge aus den letzten Tagen wiedergutzumachen. Eigentlich kam ich ja ganz gut alleine klar, aber dieses Angebot sollte ich nicht ausschlagen.

»Kann man dir ein Messer anvertrauen?«

»Was?«

»Ich frag ja nur. So von wegen ‚Messer, Gabel, Schere, Licht – sind für kleine Kinder nicht!‘.«

»Eh, ich bin vierzehn!«

So hatte er sich zwar die letzten Tage nicht benommen, aber ich wollte es ihm mal glauben.

»Na gut. Hier, du kannst die Stolle schneiden, aber sei vorsichtig mit dem Messer, das ist sauscharf.«

Es tat mir ja in der Seele weh, den wunderbaren Fabian-Stollen mit all den anderen teilen zu müssen, aber daran ließ sich wohl nichts ändern. Mußte er halt nochmal backen!

Mit Feuereifer machte sich Patrick über seine Aufgabe her, und dann war es auch endlich soweit, das Bad war frei und ich war gerettet!

Als ich wiederkam, saßen die Kids bereits relativ gesittet am Tisch, Patrick verteilte Stolle, und Jasmin war nirgends zu sehen.

»Jasmin holt Jonas und Fabian.«

Da hatte Felix wohl meine Gedanken gelesen. Ich beschloß, mich noch ein wenig nützlich zu machen, und verteilte Tee und Kaffee. Pünktlich als ich damit fertig war (und somit auch alle Arbeiten erledigt waren) tauchte Jasmin mit den beiden Verliebten auf, die sich nun an den gedeckten Tisch setzten. Naja, Jonas und Fabian hatten sich ja schon um das Mittagessen gekümmert, da wollte ich mich mal nicht beschweren.

Wie ich befürchtet hatte, futterten wir gemeinsam ein riesiges Loch in den Stollenvorrat, ich mußte zusehen, dass ich wenigstens noch ein zweites Stück abbekam. Als die neunköpfige Freßmaschine dann langsam zur Ruhe kam, räusperte sich Patrick.

»Ähem… Könnt ihr mir bitte mal kurz zuhören?«

Es wurde still im Raum.

»Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass ich die letzten Tage so einen Streß veranstaltet habe. Es tut mir wirklich leid, es wird nicht wieder vorkommen.«

Das mußte ich ihm lassen, der Junge hatte Charakter, er zog die Sache tatsächlich durch.

»Es freut mich sehr, das zu hören, Patrick, aber am meisten mußt du dich wohl bei Fabian und meinem Bruder entschuldigen.«

»Das hat er vorhin schon ausgiebig getan, Schwesterherz.«

»Oh. Na dann ist ja gut.«

Respekt, der Kleine verschenkte anscheinend keine Zeit.

»Dann würde ich mal vorschlagen, dass wir das Vergangene vergessen und nur noch zählt, was von jetzt an passiert. Einverstanden?«

Damit konnten wohl alle leben, auch wenn Felix dem Frieden noch nicht so recht zu trauen schien. Patrick jedenfalls lächelte erleichtert, er war wohl froh, dass wir ihm noch eine Chance gaben.

Nachdem das geklärt war, stand eine weitere Frage zur Entscheidung an.

»Und was machen wir nun heute noch?«

Draußen war es mittlerweile vollkommen dunkel geworden, und die Uhr zeigte kurz vor fünf.

»Ich möchte Trickfilme gucken!«

Stimmt ja, wir hatten ja neuerdings sogar einen Fernseher auf der Hütte. Und Trickfilme liefen um diese Zeit garantiert auf irgendeinem Sender. Damit sollten einige der jüngeren Gäste ruhigzustellen sein.

»Ich glaube, ich geh dann gleich mal duschen, ich muß mir endlich mal wieder die Haare waschen. Heute brauchen wir ja mit der Duscherei nicht so zu hetzen wie gestern.«

»Gute Idee, Faby, das mache ich heute auch noch.«

Sollte mich nicht wundern, wenn die beiden auch noch gemeinsam unter die Dusche stiegen!

»Da könnt ihr euch ja gegenseitig den Rücken schrubben.«

Nanana, Jasmin sollte es mal nicht übertreiben! Ich warf einen forschenden Blick in Patricks Richtung, bei dem zeigten sich aber keine Anzeichen dafür, dass er diese Anspielung als Anlaß für einen neuerlichen Ausraster nehmen wollte. Er bemerkte, dass ich ihn anschaute, und zuckte nur mit den Schultern. Aufmunternd nickte ich ihm zu, der war wohl wirklich auf dem besten Wege, sich mit dem Gedanken an ein schwules Pärchen anzufreunden.

»Können wir heute mal Monopoly spielen?«

»Klar könnt ihr das, Chris. Wenn der Tisch abgeräumt ist, könnt ihr euch dran breitmachen.«

Nachdem auch das geklärt war, teilten wir den Abräum- und Abwaschdienst ein. Das war ein Vorteil an so vielen Helfern, die Arbeit ging ziemlich flott vonstatten, sodass recht bald wieder Ordnung eingekehrt war.

Die Mädels ließen sich vor dem Fernseher nieder und hatten ziemlich schnell den Kinderkanal gefunden. Der würde sie wohl für eine ganze Weile beschäftigt halten. Christoph und Felix packten das Monopoly-Spiel aus und beschlagnahmten damit den größten Teil des Couchtisches.

»Darf ich mitspielen?«

Nun war ich aber gespannt, wie die beiden auf die Frage von Patrick reagieren würden! Sie schienen sich kurz telepathisch zu beraten, dann kamen sie zu einer Entscheidung.

»Okay, setz dich.«

Ich atmete innerlich auf. Wieder ein Schritt auf dem Weg zum friedlichen Miteinander.

Und so pendelte sich der Nachmittag ein. Fabian verschwand im Bad, dicht gefolgt von Jonas, warum war ich nicht überrascht? Die Jungs spielten Monopoly, die Mädels vergnügten sich vor der Glotze, und ich machte es mir mit Jasmin im Zweisitzer gemütlich.

»Sag mal, Reiko, was willst du eigentlich mal machen? Also beruflich?«

»Ich werde die Gärtnerei von meinen Eltern übernehmen.«

»Ach, hast du etwa den grünen Daumen?«

»Angeblich schon. Wieso fragst du?«

»Naja, ich könnte mir gut vorstellen, dass du auch irgendwas in Richtung Pädagogik oder so machen könntest.«

Also in diese Richtung hatte ich noch nie gedacht.

»Meinst du wirklich?«

»Also so wie du mit Patrick klargekommen bist: alle Achtung!«

»Das war ein Glückstreffer. Ich glaube, ich bleibe lieber beim Grünzeug. Das macht lange nicht soviel Streß wie eine Horde Kinder.«

»Hehe, das auf jeden Fall.«

»Und, wann bist du mit der Schule fertig? Und wo willst du studieren?«

»Also das Abi mach ich nächstes Jahr, studieren werde ich wohl in ***.«

Was? Das war doch aber ganz hier in der Nähe!

»Wieso gerade hier?«

»Weil ich zuhause weg will, und mir die Idee gefällt, in der Nähe von Jonas zu sein.«

Und damit auch in meiner Nähe!

»Das finde ich toll.«

»Ach ja, Reiko? Wieso das denn?«

Jetzt sollte ich wohl langsam mal ihr gegenüber Farbe bekennen.

»Naja… Ich… Also die Sache ist die. Ich mag dich, Jasmin. Ich mag dich sogar sehr. Um ehrlich zu sein, ich glaube ich bin dabei, mich in dich zu verlieben.«

Jasmin schaute mich mit großen Augen und einem Lächeln im Gesicht an.

»Ich wollte das nicht so richtig wahrhaben, vor allem wegen der großen Entfernung zwischen uns. Ich glaube nicht, dass das auf Dauer funktionieren würde. Aber wenn du nun bald eh hier runterziehst…«

»Na mal nicht so schnell, Reiko. Das ist noch ein Dreivierteljahr, bis es soweit ist.«

»Ja schon, aber das ist eine überschaubare Zeit. Und ich denke, wenn quasi ein Termin feststeht, dann kann man auch die paar Monate mit der Entfernung leben.«

»Hm. Da hast du wohl recht…«

»Allerdings gibt es da noch eine viel wichtigere Frage.«

Neugierig blickte Jasmin auf.

»Und die wäre?«

»Ob du überhaupt meine Freundin sein möchtest.«

»Oh! Also das muß ich mir allerdings wirklich erstmal in aller Ruhe überlegen! Laß mich mal nachdenken.«

Oh weh. Mit flatternden Nerven wartete ich auf ihre Entscheidung.

»Ist ja niedlich, du bist ja richtig nervös!«

Niedlich nannte sie das!

»Also gut, dann will ich dich mal nicht länger zappeln lassen. Ja, Reiko, ich wäre gerne deine Freundin.«

Jippie! Ich hätte am liebsten mitten in der Hütte einen Freudentanz aufgeführt.

»Unter einer Bedingung!«

Oh. Was kam denn nun noch?

»Wenn ich dann hier wohne, dann möchte ich mindestens zweimal pro Woche einen Blumenstrauß von meinem persönlichen Gärtner bekommen!«

Ich grinste sie an, das sollte nun wirklich kein Problem darstellen.

»Versprochen!«

»Gut. Und jetzt machen wir es uns ein wenig gemütlich, mir tun sämtliche Knochen weh von der vielen Bewegung im Schnee.«

Jasmin lehnte sich an mich, wogegen ich natürlich keinerlei Einwände hatte, und so dösten wir beim Knacken des Holzes im Kamin vor uns hin. So ließ ich mir das Leben gefallen!

Leider konnte das natürlich nicht ewig anhalten, gegen halb sechs wurde ich vom Bimmeln des Handys aufgeschreckt. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass Fabian das Ding wieder eingeschaltet hatte.

»Gehst du ran, Reiko?«

Mußte ich ja wohl, da vom Besitzer des störenden Mobiltelefons noch nichts wieder zu sehen war. Widerwillig trennte ich den Körperkontakt zu Jasmin und holte das nervige Ding.

»Heilmann.«

»Hallo Herr Heilmann, hier ist Bolke.«

Bolke, Bolke… Sollte mir der Name irgendwas sagen? Ach ja! So hieß ja Patrick mit Nachnamen!

»Guten Tag, Herr Bolke, sie wollen sicher mit Patrick sprechen.«

»Eigentlich wollte ich nur fragen, ob mit ihm alles in Ordnung ist, ob es ihm gut geht.«

»Das können Sie ihn gleich selber fragen, ich ruf ihn schnell an den Apparat.«

»Wenn er überhaupt mit uns reden will.«

Mein Lächeln konnte Patricks Vater leider nicht sehen.

»Das wird er, Herr Bolke, ich glaube, darauf können Sie sich verlassen.«

»Meinen Sie wirklich? Schön wäre es ja.«

»Lassen Sie sich überraschen. So, ich geb das Telefon weiter, Moment bitte.«

Ich ging zu den drei Monopoly-Spielern.

»Patrick, dein Vater ist am Telefon.«

Mit schmerzerfülltem Blick griff Patrick zum Handy.

»Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Ich hab meine Eltern in den letzten zwei Monaten auch nur noch genervt.«

»Das bekommst du schon hin, Kopf hoch.«

»Ich weiß nicht, ob dafür fünf Minuten reichen.«

Stimmt ja, die Eltern der anderen Kinder standen vermutlich auch schon wieder Schlange am Telefon.

»Paß auf, rede kurz mit ihm, dann laß dir seine Telefonnummer geben. Später kannst du dann nochmal in aller Ruhe mit deinen Eltern sprechen, ohne Zeitbegrenzung. Einverstanden?«

»Das wäre super! Danke!«

Hoffentlich würde mir Fabian für diesen verschwenderischen Umgang mit seiner Handyrechnung nicht den Kopf abreißen.

In der nächsten halben Stunde sprachen unsere jungen Schützlinge mit ihren Eltern, während ich langsam anfing, mir Sorgen um Fabian und Reiko zu machen. Die tauchten ja überhaupt nicht mehr auf!

Gerade, als ich mich zu einem Kontrollbesuch im Bad aufmachen wollte, erschienen die beiden Vermißten. Und zum Glück hatte ich gerade mein Teeglas auf den Tisch gestellt…

»Jasmin, kneif mich mal!«

»Wieso, was ist los?«

Ohne weitere Worte zeigte ich auf die beiden Jungs, die gerade aus dem Bad zurückgekehrt waren. Jasmin schlug vor Schreck die rechte Hand vor den Mund.

»Mein Gott, was ist das denn?«

»Gefällt dir meine neue Haarfarbe? Also Jonas ist ganz begeistert davon!«

Da, wo vor dem Duschen noch ein hellblonder Schopf auf dem Kopf von Fabian thronte, fand sich jetzt eine wild zerwuselte Ansammlung leuchtend blauer Haare! Der hatte sich tatsächlich die Haare gefärbt – was natürlich auch erklärte, warum die beiden soviel Zeit gebraucht hatten.

Mittlerweile hatten alle Anwesenden die totale Veränderung von Fabians Haarfarbe bemerkt. Die Reaktionen reichten von komisch (Ricarda) bis obercool (überraschenderweise Patrick).

»Wenn du das so cool findest, Patrick, können wir dich auch noch behandeln. Ich habe noch eine Packung da, allerdings nicht blau sondern grün.«

Also nein, jetzt setzte Fabian dem Jungen auch noch Flausen in den Kopf!

»Super! Gerne! Können wir gleich anfangen?«

Ich hatte es geahnt!

»Immer mit der Ruhe. Überleg dir das nochmal ganz genau. Wenn du es in zwei Stunden immer noch willst, dann machen wir das, nachdem du geduscht hast. Einverstanden?«

»Klasse! Aber ich weiß schon, dass ich es dann immer noch will!«

»Abwarten…«

Zufrieden wandte sich Patrick wieder dem Buch zu, in welchem er nach dem Ende der Monopoly-Party angefangen hatte zu lesen. Ich hingegen ging rüber zu meinem besten Freund.

»Du spinnst, Faby.«

Er grinste mich nur frech an, während Jonas ihm durch die blauen Haare fuhr.

»Ich weiß gar nicht, was du hast, Reiko, sieht doch geil aus. Und zu nem natürlichen Blondie wie Fabian paßt das auch ganz ausgezeichnet. Finde ich jedenfalls.«

Also an diesen Anblick würde ich mich erst gewöhnen müssen.

»Ich weiß nicht, ich denke, mir gefällts auch…«

Ach du lieber Himmel! Jasmin nicht auch noch! Mir schwante Böses.

»Also eines kann ich dir versprechen, Jasmin, ich werde nicht rumlaufen wie eine Weihnachtsbaumkugel!«

»Haha, gut, wie du meinst. Du bist auch so schon hübsch genug.«

Na das wollte ich doch meinen! Kopfschüttelnd schaute ich mir nochmal Fabian an.

»Du bist wirklich immer für ne Überraschung gut, Faby.«

»Ich weiß.«

»Wieso hattest du das Farbzeugs überhaupt mit?«

»Weil ich das eh vorhatte, ich wollte am 24. meine Familie damit überraschen.«

»Du meinst, du wolltest deine Familie schockieren.«

»Hehe, oder so! Aber die sind Kummer gewöhnt, denk nur mal an Toms Gruftie-Phase.«

Oh ja, das war auch so ein Ding gewesen. Fabians kleiner Bruder war ein Jahr lang nur in schwarz rumgerannt. Seine blonden Haare hatte er schwarz gefärbt, sein Kleiderschrank kannte nur noch diese eine Farbe, sogar die Fingernägel hatte er sich schwarz lackiert! Im Gegensatz dazu war seine Haut völlig bleich gewesen, er hatte jeden Sonnenstrahl gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Komischerweise war der Spuk dann genauso plötzlich vorbei gewesen wie er angefangen hatte. Okay, verglichen damit waren Fabians blaue Haare absolut harmlos.

»Übrigens, während ihr mit den Haaren zugange wart, haben die Eltern der Kids angerufen.«

»Na prima, dann ist das ja für heute auch erledigt.«

»Nicht ganz. Du, Faby, ich habe Patrick versprochen, dass er nochmal alleine seine Eltern anrufen darf. Ich denke mal, dass da einiges an Gesprächsbedarf vorhanden ist. Geht das klar?«

Fabian brauchte anscheinend nicht lange darüber nachzudenken, die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

»Natürlich! Die werden sich bestimmt auch freuen, wenn sie ihren alten Patrick zurück bekommen. Und er kann sie auch gleich fragen, ob er sich die Haare färben darf.«

Ich ging davon aus, dass seine Eltern ihm alles erlauben würden, wenn er sich nur wieder vernünftig benahm.

»Okay, dann sag ich ihm, dass er sie jetzt anrufen kann, und danach verschwinde ich unter die Dusche. Warmes Wasser ist doch schon wieder vorhanden, oder?«

»Ja, wir waren gleich zu Anfang unter der Dusche, danach haben wir kaum noch warmes Wasser gebraucht.«

Na dann war ja alles geklärt. Ich ging zu Patrick und gab ihm das Handy, und während dieser dankbar damit in sein Zimmer flitzte, holte ich mir mein Waschzeug und ging duschen…

Fabian

Die Überraschung mit meinen blaugefärbten Haaren war wirklich gelungen! Wie ich Reiko schon gesagt hatte, wollte ich mir eh die Haare färben, bevor ich am 24. nach Hause zurückkehren würde, und als ich Jonas von diesem Plan erzählte, war er sofort Feuer und Flamme gewesen und nur allzugern bereit, mir bei der Umsetzung zu helfen.

Das war auch der einzige Grund dafür gewesen, dass Jonas mit mir zusammen ins Bad gegangen war. Geduscht hatten wir getrennt, während der andere sich am Waschbecken rasierte. Natürlich hatten wir auch Gelegenheit gehabt, den anderen das erste Mal komplett nackt zu sehen, aber wir konnten uns zusammenreißen, sodass es bei bewundernden Blicken blieb.

Der Rest des Nachmittags verlief sehr gemütlich. Die Kinder spielten oder schauten in die Glotze, wir anderen lasen oder beschäftigten uns anderweitig. Nacheinander verschwand einer nach dem anderen zum Duschen, und auch Patrick tauchte wieder auf und gab mir das Handy zurück.

»Na, alles geklärt mit deinen Eltern?«

»Ja, vielen Dank, dass ich solange mit ihnen sprechen konnte. Mein Vater läßt ausrichten, dass er dir das Gespräch bezahlen wird.«

»Schon okay, so wild ist das nicht, es ist eh Nebenzeit. Hast du gefragt, ob du dir die Haare färben darfst?«

»Ja, habe ich.«

»Und?«

Schelmisch grinste er mich an.

»Ich darf. Solange ich sie mir nicht blau färbe.«

Oh.

»Aber grün darfst du?«

»Ich habe nicht verraten, wie ich sie färben will. Sie meinten dann nur: möglichst nicht blau.«

Neben mir kicherte Jonas leise vor sich.

»Cleveres Kerlchen!«

Das konnte er laut sagen! Aber naja, mir sollte es egal sein.

»Okay, wir werden sehen. Wenn du es nachher immer noch willst, dann machen wir das auch.«

»Prima!«

Mit diesen Worten schob er ab, um ein wenig mit Arko zu spielen.

»Kapierst du das, Fabian?«

»Was?«

»Diese Verwandlung von Patrick. Vor ein paar Stunden noch hätte er sich nie dazu herabgelassen, mit uns auch nur zu reden.«

Tja, da hatte Reiko tatsächlich ein Wunder bei dem Jungen bewirkt.

»Jonas, wie es zu dieser Verwandlung gekommen ist, ist mir völlig wurscht. Ich bin nur heilfroh, dass es dazu gekommen ist.«

»Stimmt, das macht das Leben hier um einiges leichter und angenehmer.«

Hoffentlich war diese Verwandlung dauerhaft.

»So, ich werde mal meinen Paps anrufen und die Lage peilen, wie es mit unserer Befreiung aussieht.«

»Mach das, ich werde in der Zwischenzeit schonmal mit Jasmin überlegen, wie wir das Abendbrot auf die Reihe bekommen.«

Jonas zog ab, und ich wählte die heimatliche Nummer.

»Röcker!«

»Hallo Tomchen.«

»Faby! He, großer Bruder, wie geht es dir denn so mit all dem Kleinvieh auf der Hütte?«

»Haha, vergiß nicht, verglichen mit mir bist du selber noch Kleinvieh!«

»Das glaubst aber auch nur du. Ich kann dir bekanntlich auf den Kopf spucken.«

»Ja, genau einmal, dann wärst du erledigt.«

Toms Lachen klang durchs Telefon.

»Mal ernsthaft, Faby, wie geht es dir?«

»Naja, es ist etwas anders, als ich mir diese paar Tage vorgestellt hatte, aber mir geht es wirklich gut.«

»Schön. Und, hast du Reiko schon umgepolt?«

»Reiko? Wieso sollte ich den umpolen?«

»Ach… Ich dachte nur… Du brauchst doch schließlich auch mal nen Freund.«

»Wer sagt denn, dass ich keinen Freund hätte?«

»Komm schon, Faby, ich bin dein Bruder. Ich weiß, wie es um dein Liebesleben bestellt ist, und dass die ganzen Gerüchte nur Gerüchte sind. Vor mir brauchst du dich nicht zu verstellen!«

Hatte ich schon erwähnt, dass Tom nicht nur mein Bruder sondern auch ein schlaues Kerlchen und ein wirklich guter Kumpel war?

»Hehe, trotzdem würde ich Reiko nicht umpolen. Er ist nicht so ganz mein Typ – AUA!«

»Was war das grade? Was ist bei dir los, Faby?«

»Nichts, nichts, nur Reiko kam gerade vorbei und war wohl nicht so begeistert von meiner Bemerkung.«

Ich rieb mir meinen schmerzenden linken Oberwarm, wo mir Reiko im Vorbeigehen einen kräftigen Knuff verpaßt hatte.

»Haha, du solltest aufpassen, in wessen Gegenwart du über sowas redest.«

Da hatte er wohl den Nagel auf den Kopf getroffen.

»Tja, dann muß ich wohl mal ernsthaft versuchen, für dich einen Freund zu finden, Brüderchen.«

»Untersteh dich! Außerdem hätte Jonas da garantiert etwas dagegen.«

»Jonas? Wer zur Hölle ist Jonas?«

»Jonas ist der Grund dafür, dass du mir keinen Freund mehr zu suchen brauchst.«

»Ich werd verrückt! Du willst wirklich behaupten, dass du einen Freund hast? Wo hast du den denn gefunden?«

»Du wirst lachen, mitten im Winterwald.«

»Hä?«

»Jonas ist der Azubi von der Steintalbaude, der sich mit den Kids verirrt hatte.«

Aus dem Handy tönte Gelächter.

»Das ist mal wieder typisch mein großer Bruder! Andere gehen in die Disse, um eine Freundin oder einen Freund zu finden – du gehst in den Wald! Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht.«

»Lach du nur, Tomchen. Der Zweck heiligt die Mittel.«

»Stimmt wohl. Herzlichen Glückwunsch jedenfalls.«

»Danke. Aber verrate bitte den alten Herrschaften noch nichts, okay?«

»Okay, das überlasse ich ganz dir.«

»Prima. So, kannst du mir jetzt mal Paps an die Strippe holen?«

»Ungern, Faby.«

»Wieso?«

»Paps schläft, der ist erst kurz nach zwölf nach Hause gekommen. Wenn es was wirklich wichtiges ist, dann wecke ich ihn, ansonsten würde ich ihn lieber schlafen lassen.«

»Hast recht, laß ihn schlafen. Ist Mutti da?«

»Nein, ich bin mit Paps alleine, die anderen sind alle in der Stadt zum Last-Minute-Shopping.«

»Mist.«

»Wieso? Reiche ich dir etwa nicht?«

»Hehe, doch, doch. Ich wüßte halt nur gerne, ob es irgendwelche Neuigkeiten für uns hier oben gibt. Wann wir hier ausgebuddelt werden oder so.«

»Wenns weiter nichts ist! Das kann ich dir auch sagen. Morgen früh, sobald es hell wird, kommt schwere Technik zum Einsatz. Sogar eine Pionierkompanie der Bundeswehr hat sich angekündigt.«

Na das hörte sich doch wirklich gut an!

»Heißt das, dass wir morgen schon hier rauskommen?«

»Nein, das wohl eher nicht. Die K87 ist vollkommen dicht, umgeknickte Bäume und schwere Verwehungen, selbst mit der Armee-Technik wird es eine ganze Weile dauern, bis die wieder frei ist. So wie ich das mitbekommen habe, wollen die morgen im Tagesverlauf die Straße soweit freibekommen, dass sie bis zu unserer Zufahrt befahrbar ist. Übermorgen geht es dann gleich früh wieder los, dann soll eine Schneefräse bis zu euch vordringen.«

Nunja, dann wären die Kids immer noch pünktlich zu Heiligabend bei ihren Eltern.

»Na gut, das geht ja auch noch. Da werden sich die Kinder und die Eltern bestimmt freuen, wenn sie das hören.«

»Denke ich auch, aber Faby, das ist alles noch mit Vorsicht zu genießen, es gibt keine Garantie, dass es nicht doch noch einen Tag länger dauert.«

»Schon klar, Tom. So, ich werde mal langsam wieder auflegen, der Akku wird wohl nicht mehr ewig durchhalten, ich muß das Handy wieder ans Ladegerät hängen. Sag bitte den anderen einen schönen Gruß von mir. Mutti und Paps sollen sich keine Sorgen machen, uns geht es gut hier oben.«

»Mach ich. Also dann, bis demnächst.«

»Tschüß, Tomchen.«

Ich beendete das Gespräch und ging hinüber zur Küchenzeile.

»Na, was kocht ihr denn schönes?«

»Bockwürste für alle, das geht schnell und macht nicht soviel Arbeit wie erst jede Menge Wurst aufschneiden und so. Und, hast du von deinem Vater was neues erfahren?«

»Ich konnte nur mit Tom, meinem kleinen Bruder, sprechen, mein Vater schlief. Der hat wohl die letzten Tage ziemlich viel um die Ohren gehabt.«

»Verständlich. Du weißt also noch nicht, wann wir hier befreit werden?«

»Doch, Jasmin, ich hab schon was rausbekommen, aber das erzähle ich dann, wenn wir alle am Tisch sitzen, okay?«

Damit war sie einverstanden, war ja auch die beste Lösung.

»Faby, kann ich nachher auch nochmal das Handy haben? Meine Eltern wollen auch jeden Abend was von mir hören.«

»Das, Reiko, muß ich mir noch sehr genau überlegen!«

»Hä? Wie meinst du das?«

»Das fragst du noch? Nach dem, was du mir angetan hast?«

»Was hab ich dir denn angetan?«

Ich rieb mir über meinen immer noch leicht schmerzenden Oberarm.

»Du wußtest mal wieder nicht wohin mit all deiner Kraft.«

»Oh. Sorry. Aber naja… Du hattest ja mehr oder weniger gesagt, dass du mich nicht begehrenswert findest. Und das muß natürlich bestraft werden!«

»Also wenn du so brutal bist, wirst du nicht so schnell wieder eine Freundin finden.«

Frech grinste mich Reiko an.

»Brauch ich auch nicht, ich hab ja schon eine gefunden!«

Zur großen Verblüffung von Jonas und mir legte Reiko Jasmin einen Arm um die Hüften.

»Äh… Ah… Meint ihr das jetzt ernst?«

»Ja, Jonas. Reiko und ich haben beschlossen, es mal miteinander zu probieren.«

Na das war nun wirklich eine ziemlich große Überraschung. Ich hatte damit vor allem ein Problem.

»Sagt mal, wie soll das funktionieren, Reiko hier und Jasmin in Leipzig? Wollt ihr etwa eine reine Fernbeziehung führen?«

»Wenn Jasmin nächsten Sommer mit dem Abi fertig ist, kommt sie hier runter und studiert an der gleichen Uni wie du.«

Die Überraschungen nahmen kein Ende. Wobei dies ja nun doch eine sehr positive Überraschung war.

»Dann können wir euch ja wohl nur noch gratulieren.«

Ich beeilte mich, mich Jonas‘ Glückwünschen anzuschließen, und das junge Pärchen bedankte sich artig.

»So, setzt euch an den Tisch, die Bockwürste sind soweit, und die Baguettes auch.«

Wir nahmen Platz, und kurz darauf begann das Ritual der Raubtierfütterung. Als dann alle einen Gang zurückschalteten, erzählte ich von den Neuigkeiten über unsere anstehende Befreiung. Die Aussicht, zu Weihnachten wieder mit den Eltern vereint zu sein, zauberte auf die Gesichter der Kids ein zufriedenes Lächeln.

»Das bedeutet natürlich auch, dass wir morgen einiges zu tun haben werden!«

Fragend schauten mich alle an.

»Morgen ist Schneeschippen angesagt! Wenn die Schneefräse übermorgen hier ankommt, wäre es gut, wenn der ganze Hof schon so gut es geht vom Schnee befreit wäre. Da kann der Fahrer dann problemlos wenden und wieder zurückfahren. Außerdem brauchen wir den Platz, da ja dann bestimmt ein paar Autos hier hochkommen werden, um uns alle abzuholen.«

Das leuchtete allen ein, und die Aussicht, jede Menge Schnee bewegen zu müssen, schien für die Kinder nicht sonderlich abschreckend zu sein. Na die würden sich morgen noch wundern…

Nach dem Abendbrot besorgten Jonas und ich den Abwasch, während nun auch noch die restlichen jüngeren Kids und Jasmin duschen gingen. Zwischendurch wurde gespielt, gelesen, Fernsehen geschaut. Alles in allem war es ein sehr schöner, gemütlicher Abend. Dann war es soweit.

»So, Patrick, wie schauts aus. Möchtest du immer noch grüne Haare haben?«

Der Teenager sprang aus seinem Sessel.

»Ja klar!«

Dann sollte es wohl so sein.

»Ab unter die Dusche mit dir. Wenn du fertig bist, rufst du, und dann verwandeln wir dich in eine Grünpflanze!«

»Cool!«

Patrick sprang davon, holte sein Wasch- und Schlafzeug und verschwand im Bad. Zweifelnd schaute Jasmin ihm hinterher.

»Na das kann ja heiter werden… Demnächst wollen die anderen auch alle rumlaufen, als wären sie kopfüber in einen Farbkasten gefallen.«

»Sei nicht so spießig, Schwesterchen! Ein bißchen Farbe im Leben kann doch nicht schaden. Und meine Haare sind schließlich auch gefärbt.«

»Ja, aber blond, und das ist ja doch eine natürliche Haarfarbe.«

»Du wirst lachen, wenn ich die nicht schon blond gefärbt hätte, dann würde ich jetzt mit grünen Haaren rumlaufen!«

»Na ob der alte Ziermayer davon so begeistert wäre…«

Jasmin, die Stimme der Vernunft. Tja, das hatte Jonas nun von seiner Jobwahl, da mußte er sich wohl doch etwas konservativer stylen.

»Du, Faby?«

»Ja?«

»Wir sollten Patrick fragen, ob es ihm recht ist, wenn wir ihm die Haare machen. Oder ob das lieber Jasmin oder Reiko tun soll.«

»Wie… Ah. Ja, ich verstehe, was du meinst. Okay, wir fragen ihn, wenn er soweit ist. Jasmin, würdest du das eventuell übernehmen, wenn Patrick das möchte?«

Seufzend erklärte Jonas‘ kleine Schwester ihr Einverständnis.

»Ich wäre dann soweit!«

Da hatte sich aber einer mächtig beeilt im Bad. Jonas und ich folgten Patricks Ruf.

»Kann losgehen!«

»Du, Patrick?«

»Ja? Ihr macht doch jetzt keinen Rückzieher, oder? Ich darf mir die Haare grün färben, ja?«

Ich mußte über seinen Enthusiasmus lachen.

»Ja, keine Bange, du bekommst deine grünen Haare. Wir wollten nur wissen, ob es dir vielleicht lieber wäre, wenn Jasmin dir das macht.«

»Wieso?«

»Naja… Du müßtest dein Schlafanzug-Oberteil ausziehen, und wir müßten dich logischerweise auch anfassen. Falls dir das unangenehm ist…«

Verstehen und ein wenig Scham machten sich auf Paricks Gesicht breit.

»Nein… Ist schon okay, wenn ihr das macht.«

»Bist du dir da sicher?«

»Ja. Ich weiß jetzt, dass ich mich dämlich benommen habe, und dass ich von euch nichts zu befürchten hab.«

Ich schaute Jonas an, der zuckte mit den Schultern, also gab ich das Startsignal.

»Na dann mal los!«

Die Färberei lief nun ganz undramatisch ab, die eigentliche Arbeit überließ ich sowieso Jonas, der das ja schon bei mir so gut hinbekommen hatte. Anfangs war Patrick doch noch etwas verkrampft, dann aber entspannte er sich mehr und mehr, und am Ende scherzte er ganz ungezwungen mit uns. Was für ein Unterschied zu dem verkniffenen, fast schon bösartigen Teenager von vor ein paar Stunden! Als er dann das erste Mal seine grasgrünen Haare sah, drohte sein Grinsen sein Gesicht zu sprengen.

»Na, zufrieden, der Herr?«

»Klasse! Meine Eltern werden Augen machen!«

Na hoffentlich wirklich nur Augen und nicht gleich noch eine passende Szene dazu. Aber daran war nun eh nichts mehr zu ändern, da würde höchstens noch eine Glatze Abhilfe schaffen.

»Vielen Dank!«

»Gern geschehn. So, du räumst jetzt bitte noch ein wenig hier auf, okay?«

»Mach ich, kein Problem!«

Jonas und ich verließen das Bad und begaben uns wieder ins Wohnzimmer, wo mittlerweile schon eine ziemliche Ruhe eingekehrt war. Die Kinder sahen zwar noch irgendeinen Film im Fernsehen, steckten aber alle schon in ihren Schlafsäcken. Reiko war damit beschäftigt, Arko trockenzurubbeln, der hatte wohl auch schon seinen letzten Gang vor die Tür hinter sich gebracht.

»Na ihr zwei, hat alles geklappt mit unserem großen Kleinen?«

»Ja, Reiko, der hat sich um hundertachtzig Grad gedreht. Wer hätte gedacht, dass sich hinter dem kleinen Ekel so ein netter Junge verbirgt. Und dir haben wir es zu verdanken, dass der nette Junge endlich zum Vorschein kam.«

»Was tut man nicht alles für den Weltfrieden. Oder zumindest für den Hüttenfrieden.«

»Wo ist denn meine Schwester abgeblieben?«

»Die liegt schon im Bett, die war total müde. Und ich verzieh mich dann auch gleich, wenn ich mit Arko fertig bin.«

»Mach das. Wir machen hier dann alles dicht und kommen nach.«

Ich ließ mich mit Jonas auf der Couch nieder, und wir beobachteten noch ein Weilchen die flackernden Flammen im Kamin. Nach einigen Minuten erschien Patrick und verabschiedete sich auch gleich für die Nacht.

»Moment mal, Patrick!«

»Ja, Reiko?«

»Laß dich erstmal anschauen.«

Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht ging der umgefärbte Teenager zu seinem »Retter« und präsentierte stolz seine neue Haarfarbe.

»Fesch, Patrick! Chiara wird auf dich fliegen, wenn sie das sieht!«

Grüne Haare und knallrotes Gesicht – na das war ja mal eine Mischung! Patrick streckte Reiko die Zunge raus, dann verzog er sich in sein Schlafzimmer.

»Chiara? Wer ist Chiara?«

»Ein Mädchen aus seiner Klasse, das er anhimmelt.«

»Naja, die Veränderung, die du in ihm ausgelöst hast, dürfte seine Attraktivität für diese Chiara deutlicher steigern als die neue Haarfarbe.«

»Sag das nicht, manche Mädels fliegen auf solche bunten Hunde!«

Wir lachten, und auch die anderen vier Kids, die den Wortwechsel mitbekommen hatten, kicherten vor sich hin.

»So, ich verschwinde auch. Macht nicht mehr solange.«

»Ja, Papa!«

»Moah, ihr nicht auch noch! Gute Nacht, ihr Schlafsackpiraten.«

»Gute Nacht.«

Reiko verzog sich, und auch Jonas und ich beschlossen, den Tag langsam zu beenden. Leider hatten die vier Kinder doch etwas andere Vorstellungen.

»Wir möchten aber noch den Film zuenden gucken.«

Hm, was schauten die sich überhaupt an? Oh. 101 Dalmatiner. Also zumindest etwas altersgerechtes.

»Wielange geht der denn noch?«

»Bis viertel vor zehn.«

Eigentlich schon ziemlich spät für Elf- und Zwölfjährige, aber andererseits mußten sie ja am nächsten Morgen auch nicht in die Schule.

»Na gut, ich will mal nicht so sein. Aber wenn der Film zuende ist, schaltet ihr bitte gleich den Fernseher aus, und dann herrscht hier Ruhe im Karton. Verstanden?«

Die Kids jubelten und versprachen, sich daran zu halten.

»Also gut, dann machen wir das so. Aber wehe, ihr kommt morgen früh nicht aus den Federn!«

Und wieder waren sie bereit, mir alles zu versprechen. Na wir würden sehen. Jonas und ich erhoben uns.

»Sag mal, Faby, mußt du dann nachher nicht nochmal raus und den Generator ausschalten?«

»Nein, ich stelle jetzt die Zeitschaltuhr auf 22 Uhr, dann geht das Ding von alleine aus. Ob es den vier Musketieren hier nun paßt oder nicht.«

»Hehe, Vertrauen ist gut…«

»…Automatik ist besser!«

»Genau! Also los. Schaust du nochmal nach, ob der Gasherd aus ist und so weiter?«

»Mach ich.«

Wir erledigten also unseren Aufgaben, dann wünschten wir den Fernsehkids eine gute Nacht und folgten Jasmin und Reiko ins Schlafzimmer. Ich erwartete fast, dass die beiden unser schönes Doppelbett in Beschlag genommen hätten, aber sie lagen ganz brav in ihren Einzelbetten.

»Na, habt ihr den Nachwuchs versorgt?«

»Ja, die gucken jetzt noch ihren Film zuende, und dann ist für die auch Schlafenszeit angesagt.«

Überraschenderweise protestierte Jasmin nicht gegen die Fernseherlaubnis, vielleicht war sie ja einfach zu müde dazu.

Jonas und ich stiegen in unser kuschliges Bett und krochen unter unsere Decke.

»Braucht noch irgendwer das Licht?«

Keiner meldete sich, also griff ich zur einzigen brennenden Petroleumlampe und drehte sie aus.

»Also dann, gute Nacht alle miteinander!«

Drei Stimmen erwiderten die guten Wünsche, dann kehrte Ruhe ein. Ich kuschelte mich an Jonas, und bevor ich noch groß über den vergangenen Tag nachdenken konnte, war ich auch schon eingeschlafen…

Reiko

Irgendwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung. Wieso waren meine Füße plötzlich so kalt? Oder anders gefragt: was war da so kalt an meinen Füßen? Immerhin kalt genug, um mich langsam aufwachen zu lassen, obwohl es noch stockdunkel war.

Aber das war noch gar nicht alles, mein Bett schien mir auch kleiner geworden zu sein. Sehr seltsam!

»Mach dich nicht so breit, Reiko!«

Huch! Ich schrak auf und war mit einem Mal hellwach. Nicht das Bett war kleiner geworden, nein, der Inhalt des Bettes war größer geworden!

»Was machst du hier, Jasmin?«

»Dumme Frage. Mich aufwärmen natürlich. Mir war kalt.«

»Und da kriechst du einfach so zu mir unter die Decke?«

»Natürlich, zu irgendwas muß ein Freund doch gut sein, oder?«

Na das war ja mal eine tolle Logik! Aber sie hatte tatsächlich Eisfüße, da gab es nichts dran zu deuteln.

»Und nun halt die Klappe und sorge dafür, dass mir warm wird.«

Das war ja nun eine Aufforderung, die man durchaus unterschiedlich interpretieren konnte, aber ich ging einfach mal davon aus, dass sie wirklich nur »warm werden« im Sinne von »nicht mehr frieren« meinte. Also ließ ich es zu, dass sie sich dicht an mich kuschelte, auch wenn dies bedeutete, dass es für mich erstmal etwas kälter wurde. Aber die körperliche Nähe schien zu wirken, kurz darauf war nicht nur Jasmin eingeschlafen, auch ich versank wieder in Morpheus Arme.

Als ich das nächste Mal wach wurde, war es im Schlafzimmer heller als beim letzten Mal. Viel heller. Genaugenommen schien die Sonne durchs Fenster! Erschrocken schaute ich auf die Uhr – schon kurz vor neun!

»Verdammt, wir haben verpennt!«

Mein Ausruf war laut genug, um auch alle anderen im Raum aus dem Schlaf zu reißen. Was nicht bedeutete, dass sie auch schon wirklich munter waren.

»Wie? Was?«

»Fabian, wir haben verschlafen! Es ist gleich neun!«

»Oh Scheiße!«

»Immer mit der Ruhe, Leute.«

Wie konnte Jonas so ruhig bleiben? Der Hund mußte raus, die Kinder brauchten ihr Frühstück, und überhaupt: wir hatten heute so viel zu erledigen!

»Die Kids machen heute das Frühstück. Ich mußte vorhin mal aufs Klo, da hab ich gesehen, dass die schon fleißig dabei waren, den Tisch zu decken. Und Arko war auch schon draußen.«

»Tatsächlich, Jonas?«

»Ja klar. Die haben mir gesagt, ich solle mich nochmal für ne halbe Stunde hinlegen, sie würden uns rufen, wenn das Frühstück fertig ist.«

Naja. Das hörte sich schon viel erfreulicher an. Wäre ja auch sehr peinlich gewesen, wenn alle vier von uns verschlafen hätten. Genau in diesem Moment klopfte es an die Zimmertür, dann schob sie sich ein Stückchen auf, und der Kopf von Felix schaute ins Zimmer.

»Ah, ihr seid wach. Frühstück ist fertig!«

Sprachs und verschwand.

Da sollten wir uns wohl auch langsam aus den Federn schwingen. Jonas und Fabian waren zum gleichen Ergebnis gekommen und arbeiteten sich bereits in die Senkrechte. Dann sah Fabian zu meinem Bett rüber, und seine Gesichtszüge entgleisten leicht.

»Du, Jonas, schau mal da!«

Jasmins Bruder drehte sich um, schaute einmal, schaute zweimal, dann fing er an zu grinsen.

»Was glotzt du so, Brüderchen? Noch nie zwei Leute in einem Bett gesehn?«

Jonas setzte an, um irgendwas zu sagen, verkniff es sich aber und verschwand mit Fabian im Schlepptau Richtung Frühstückstisch. Und auch Jasmin sprang nun aus dem Bett. Aus meinem Bett!

»Na komm schon, du Schlafmütze, ich hab auch Hunger!«

Menno, warum waren die am frühen Morgen alle so frech zu mir! Aber ich sollte mich wohl beeilen und auch aufstehen, ansonsten würde für mich vielleicht gar nichts mehr vom Frühstück übrigbleiben! Ich schlüpfte in meine Hausschuhe und stürmte den drei anderen hinterher.

Als ich im Wohnzimmer eintraf, sah ich, dass Felix nicht übertrieben hatte. Das Frühstück war wirklich fertig. Zwei Toaster waren in Betrieb, Butter, Marmelade, Nutella und einige herzhafte Köstlichkeiten standen parat. In den Tassen dampften Kaffee und Kakao. Ein Blick zu Arko: der lag ruhig und zufrieden vor dem Kamin, ein Zeichen dafür, dass er tatsächlich schon draußen gewesen war.

»Womit haben wir denn das verdient?«

»Ach, ihr habt in den letzten Tagen ständig für uns gesorgt, da dachten wir, es wäre nett, wenn wir auch mal etwas für euch tun würden. Und als ich kurz vor acht wach wurde und sah, dass noch keiner von euch auf war, habe ich die anderen geweckt, und wir haben beschlossen, heute mal selbst das Frühstück zu machen.«

Das war ja wirklich mal eine geniale Idee von Manuela gewesen. Brav bedankten wir uns bei den Kids, und dann machte sich die ganze Meute über das Frühstück her.

»Übrigens, Patrick, tolle Haarfarbe!«

Stimmt ja, Jasmin sah den Grünkopf ja jetzt zum ersten Mal. Und auch ich schaute genauer hin, jetzt im natürlichen Sonnenlicht kamen die Farben sowohl bei Patrick als auch bei Fabian erst so richtig zur Geltung. Und irgendwie stach das Grün bei Patrick noch etwas deutlicher heraus als das Blau bei Faby.

»So, wie gehen wir das heute nun an? Fabian hat ja gestern schon angedroht, dass wir heute viel Schnee bewegen müssen. Irgendwie möchten wir das ordentlich organisieren, es wird ja doch richtig in Arbeit ausarten.«

»Richtig, Jonas. Ich hab mir da schon ein bißchen was ausgedacht, was haltet ihr davon: nach dem Frühstück werde ich mich mit den Mädels erstmal um den Abwasch kümmern. Anschließend machen wir hier drin etwas sauber, das ist auch mal fällig. In der Zwischenzeit geht ihr Jungs raus und fangt schonmal an, den Schnee zu beseitigen. Später machen wir Mädels dann das Mittagessen, anschließend machen alle eine Pause, und danach erledigen wir alle gemeinsam die restlichen Schneearbeiten.«

Von selbst wäre ich natürlich nie auf die Idee gekommen, die Mädels zur Hausarbeit abzustellen, aber wenn Jasmin das selber anbot? Auch die anderen schienen mit dieser Arbeitsverteilung einverstanden zu sein, und so geschah es, dass sich nach Frühstück, Badbesuch und Anziehen alle männlichen Hüttenbewohner zur Schneeberäumung einfanden. Fabian verteilte Schneeschieber und Schaufeln.

»So, nun paßt mal auf. Seht ihr die rotweißen Stangen?«

Wir schauten uns um, und tatsächlich, an verschiedenen Stellen schauten solche Stangen aus dem Schnee.

»Diese Stangen bezeichnen die Grenzen vom Hof. Alles, was innerhalb der gedachten Linien zwischen den Stangen liegt, sollten wir so gut es geht vom Schnee befreien.«

Ach. Du. Scheiße! Das war ein größeres Gelände, als ich gedacht hatte.

»Sag mal, Faby, hatte ich da nicht auch eine Schneefräse irgendwo gesehn?«

»Ja, hast du.«

»Und warum nehmen wir die nicht?«

»Weil der Schnee dafür zu hoch ist. Das ist nur so ein kleines Ding, mehr als 20 Zentimeter darf es da nicht haben.«

Mist. Also mußten wir doch mit der eigenen Körperkraft der weißen Pracht zuleibe rücken. Es half alles nichts, es war wohl besser, wenn wir uns langsam an die Arbeit machten.

»Reiko, fang du bitte mit Jonas hier an der Hütte an. Ich geh mit den drei Jungs rüber zur Zufahrt, wir arbeiten uns dann aufeinander zu.«

Das klang vernünftig, es hatte ja keinen Sinn, dass alle an der gleichen Stelle werkelten und sich dabei gegenseitig im Weg standen. Während sich Fabian mit den Kleinen durch den Tiefschnee arbeitete, fing ich mit Jonas bereits an, den Schnee vor der Hüttentür beiseite zu schaufeln. Nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander arbeiteten, kam das, womit ich schon die ganze Zeit gerechnet hat.

»Du, Reiko?«

»Ja?«

»Was läuft denn da nun zwischen dir und meiner Schwester?«

»Was soll da laufen? Du hast doch gestern mitbekommen, dass wir jetzt zusammen sind.«

»Ja schon… Ich war halt bloß doch etwas überrascht, dass ihr schon miteinander schlaft.«

Ich mußte lachen.

»Jonas, wir schlafen noch nicht miteinander. Wir haben zusammen geschlafen. Das ist doch ein gewisser Unterschied. Und auch das nur zwei oder drei Stunden. Jasmin kam irgendwann in mein Bett gekrochen, weil ihr kalt war. Mehr ist wirklich nicht passiert.«

Das schien Jonas ein wenig zu beruhigen. Trotzdem fand ich seine Frage ein wenig unfair.

»Jonas, Jasmin wird bald 18. Und sie weiß auch ganz genau, was sie will. Keine Bange, wir überstürzen schon nichts. Und außerdem finde ich es etwas komisch, dass gerade du so überrascht bist.«

»Wie meinst du das?«

»Naja, du bist doch gleich die allererste Nacht mit Fabian im Bett gelandet.«

»Aber bei uns ist doch gar nichts passiert!«

»Ja eben, bei Jasmin und mir auch nicht! Warum glaubst du, dass das bei uns anders sein sollte?«

Nachdenklich und ein wenig verlegen schaute Jonas mich an.

»Sorry. Du hast recht, es war unfair, das zu denken. Und selbst wenn: es wäre allein eure Entscheidung.«

Das hörte sich doch schon ganz anders an.

»Jonas, ich verspreche dir eins: ich werde nichts tun, was deine Schwester nicht auch will. Und gerade wo klar ist, dass wir erstmal für längere Zeit eine Fernbeziehung führen müssen, werden wir bestimmt nicht irgendwas überstürzen.«

Jonas grinste mich an.

»Sieht so aus, als hätte meine Schwester nicht gerade den schlechtesten Kerl erwischt.«

»Das betrachte ich als Kompliment.«

»So war es auch gemeint.«

»Danke.«

Nachdem nun alle eventuellen Mißverständnisse beseitigt waren, stürzten wir uns mit neuem Eifer auf die Arbeit. Langsam, ganz langsam wurde die vom Schnee befreite Fläche größer. Trotzdem, hier würde wir noch eine ganze Menge zu tun haben!

Plötzlich sprang Arko laut bellend zwischen uns herum und versuchte, in meinen Schneeschiebers zu beißen. Na der hatte uns gerade noch gefehlt!

Der Vierbeiner war nicht alleine, auch Jasmin und Ricarda tauchten kurz danach bei uns auf.

»Na, ihr Schneemänner? Wir haben uns gedacht, wir bringen euch mal etwas heißen Tee.«

Was für ein Service! Dankbar nahmen wir die Tassen mit dem dampfenden Getränk entgegen.

»Kann es sein, dass es heute viel kälter ist als gestern?«

Wortlos wies ich auf das große Thermometer neben der Hüttentür. Dieses zeigte 9 Grad minus – trotz strahlendem Sonnenscheins! Ich war mächtig froh, dass ich mir von meiner Mutter die warme Mütze mit den Ohrenklappen hatte aufschwatzen lassen.

Jasmin und Ricarda arbeiteten sich zu den vier anderen vor, begleitet von einem mal wieder begeistert durch den Schnee springenden Arko.

»Sehr fürsorglich, deine Schwester. Sieht so aus, als hätte ich nicht gerade das schlechteste Mädel erwischt.«

»Haha. Das liegt anscheinend nur an dir, für mich wäre sie nie auf diese Idee gekommen.«

Armer Jonas. Vorsichtig schlürften wir das heiße Getränk, das war genau das, was wir jetzt brauchten. Unsere Pause dauerte etwa zehn Minuten, dann machten wir uns mit frischen Kräften wieder an die Arbeit.

Fabian

Jasmin und Ricarda tauchten genau im richtigen Moment auf, trotz der schweren Arbeit war mir ziemlich kalt, und den drei Jungs ging es ähnlich.

»Tee. Brauche Tee. Viel heißen Tee!«

Ricarda lachte.

»Sollst du haben, Christoph. Hier, aber paß auf, der ist wirklich heiß.«

Also mir konnte der gar nicht heiß genug sein, der würde hier draußen in der Kälte eh ganz schnell abkühlen.

»Ihr habt ja schon einiges geschafft.«

Wir hatten uns aber auch wirklich verausgabt.

»Keine Bange, Jasmin, für euch bleibt auch noch genug übrig für heute nachmittag.«

»Das hatte ich befürchtet!«

Alle lachten, aber es war nicht zu ändern: trotz unserer fleißigen Arbeit jetzt würden wir nach dem Mittagessen nochmal alle kräftig zupacken müssen. Vor allem, da wir den Schnee ja nicht nur einen Meter weit wegschippen mußten, die Wege, die wir mit ihm gehen mußten, wurden logischerweise immer länger, je mehr wir vom Hof freilegten.

»Wir gehen wieder rein, da gibt es auch noch einiges zu tun. Für wann sollen wir das Essen vorbereiten?«

Ich schaute auf die Uhr, es war mittlerweile kurz nach elf.

»Halb eins? Bekommt ihr das hin?«

»Ja, kein Problem. Wir kochen einen großen Topf Soljanka und machen wieder Baguettes dazu.«

Eine gute Idee, heiße Suppe war an solchen Tagen wie heute die ideale Magenfüllung. Ricarda sammelte noch schnell die leeren Tassen ein, dann machte sie sich mit Jasmin und Arko auf den Rückweg zur Hütte.

»So, Jungs, kanns wieder weitergehen? Ihr haltet doch noch bis halb eins durch, oder?«

Damit hatte ich die drei bei ihrer Ehre gepackt, sie würden auf keinen Fall vor mir aufgeben. Mit neuem Mut stürzten wir uns auf die Schneemassen.

Wir kamen ganz gut voran, und als Jasmin uns gegen viertel eins zum Essen rief, hatten wir insgesamt gut zwei Drittel des Hofes vom Schnee befreit. Allerdings waren wir nun auch ziemlich erledigt und konnten eine Stärkung und die Pause gut gebrauchen.

»Los, Jungs, gehen wir Essen fassen. Das war verdammt gute Arbeit von euch.«

Erfreut über das Lob, aber wohl auch erleichtert wegen der anstehenden Pause, stiefelten die drei neben mir zur Hütte, wo wir von Jonas und Reiko erwartet wurden. Auch diese beiden hatten viel geschafft, wir konnten also guten Gewissens in die Siesta gehen.

Drinnen schlüpften wir aus den Schneesachen, dann begann der Kampf darum, wer als erster aufs Klo durfte! Aber irgendwann war auch diese Schlange abgearbeitet, und wir machten uns alle zusammen über die Soljanka her.

»So, Jungs, ihr ruht euch jetzt erstmal aus. Die Mädels und ich räumen das Geschirr weg und waschen ab, danach gehen wir raus und versuchen uns mal mit den Schneeschiebern.«

»Aber ihr habt doch auch die ganze Zeit gearbeitet, ihr habt euch auch die Pause verdient. Wir gehen lieber nachher alle zusammen nochmal raus.«

»Reiko, wir haben lange nicht so hart geschuftet wie ihr.«

»Ihr seid aber auch Mädchen!«

Das hätte sich der Eishockey-Trampel wohl lieber verkneifen sollen!

»Reiko Heilmann! Was soll das nun wieder heißen? Glaubst du etwa, dass Mädchen nicht zu harter Arbeit fähig sind?«

»Ich … äh …«

»Na?!?«

»Nein, nein, natürlich nicht, Jasmin!«

»Na das will ich dir aber auch geraten haben, du Nachwuchs-Macho!«

Reiko erkannte, dass es wohl das beste wäre, erstmal kein Wort mehr zu sagen, und hielt schlauerweise seine Klappe.

Es war kurz nach eins, als die Mädels sich für den Ausflug in den Schnee vorbereiteten.

»Wir nehmen Arko mit raus, Reiko, ist das okay?«

»Könnt ihr gerne machen, aber paßt bitte auf ihn auf. Wenn er sich nicht mehr groß bewegt, dann bringt ihn bitte wieder rein. Nicht dass der ewig im kalten Schnee liegt.«

»Machen wir.«

Ich schaute auf die Uhr.

»Jasmin, wir kommen so gegen halb drei raus und lösen euch ab.«

»Okay, aber ruht euch erstmal richtig aus. Euch müssen doch sämtliche Röhren wehtun.«

Und wie. Und ich wußte, dass es noch schlimmer werden würde. Der Muskelkater würde erst am Abend so richtig fies zuschlagen. Jetzt aber verteilten wir uns erstmal auf die Polsterteile, und kurz darauf war Ruhe eingekehrt, da alle schliefen oder zumindest dösten. Ich hatte mich natürlich wieder an Jonas gekuschelt, und so hatte die Erschöpfung auch eine ganz reale, angenehme Seite!

»Na das ist ja mal ein netter Anblick für meine alten Augen!«

Wie? Was? Ich mußte wohl auch eingeschlafen sein, jedenfalls schrak ich hoch und knallte mit dem Hinterkopf an irgendetwas hartes, was sich kurz darauf als das Kinn von Jonas herausstellte.

»Aua! Faby, du hast aber nen verdammt harten Schädel!«

Und Jonas ein verdammt hartes Kinn. Vorsichtig rieb ich über meinen Hinterkopf – das gab bestimmt eine ordentliche Beule! Aber wer hatte mich da überhaupt so unsanft aus dem Schlaf gerissen?

Ich blickte auf und sah eine große Gestalt in der offenen Hüttentür stehen. Durch das von draußen einfallende helle Sonnenlicht war nur eine dunkle Silhouette erkennbar, es war nicht auszumachen, wer genau uns da besuchen kam. Das Gelächter über unseren Zusammenstoß kam mir dann aber doch recht bekannt vor.

»Paps, was machst du denn hier? Habt ihr den Weg doch schon heute freibekommen?«

»Nein, Faby, ich bin nochmal mit dem Motorschlitten da. Wir dachten uns, dass wir euch noch ein wenig Stolle, eine ordentlich große kalte Platte fürs Abendbrot und ein paar Knabbereien hochbringen sollten, dann könnt ihr heute abend eine kleine Abschiedsparty feiern.«

»Das heißt, dass wir hier morgen wirklich rauskommen?«

»Ja, die K87 ist schon fast bis zur Zufahrt frei, morgen früh geht es dann an das letzte Stück hier hoch zur Hütte. Spätestens mittags seid ihr dann wieder offiziell Teil der Zivilisation.«

Halleluja! Hatten die anderen das auch mitbekommen? Obwohl. Welche anderen? Verblüfft stellte ich fest, dass die Hütte bis auf Jonas und mich leer war. Auch mein Liebster schien das jetzt zu bemerken.

»Wo sind die denn alle hin?«

»Wenn du Jasmin, Reiko und die Kinder meinst: die sind alle draußen und schippen fleißig Schnee.«

Unterdessen hatte mein Vater die Hüttentür geschlossen und war weiter in die Hütte getreten. Ich schaute auf die Uhr: es war bereits kurz vor drei. Warum hatten die uns nicht geweckt? Sehr seltsam.

»Ich glaub, mich tritt ein Pferd! Faby, was hast du mit deinen Haaren gemacht?«

»Gefärbt, Paps.«

Mein Vater schüttelte ungläubig den Kopf.

»Also mit der heutigen Mode komme ich nicht mehr mit, da bin ich wohl doch schon zu alt für.«

Jonas fuhr mir mit beiden Händen durch die zerwuschelten Haare.

»Also mir gefällts!«

»Ah ja. Nun, dann ist ja gut, Faby. Es ist ja wichtiger, dass es deinem Freund gefällt, als dass dein alter Papa es versteht, oder?«

Allerdings!

»Jonas ist doch dein Freund, oder habe ich eure Kuschelei irgendwie falsch verstanden?«

Ups. Naja, da gab es ja eigentlich nichts mehr falsch zu verstehen. Außerdem konnte er es ja ruhig wissen, ich hatte eh nicht vorgehabt, das lange zu verheimlichen.

»Ja, Paps, Jonas und ich sind jetzt zusammen.«

»Soso.«

Mein Vater machte ein strenges Gesicht, und ich hob mich nervös etwas aus Jonas‘ Umarmung heraus.

»Na dann, herzlichen Glückwunsch, ihr zwei!«

Puh! Erleichtert ließ ich mich wieder zurücksinken, und auch Jonas schien sich wieder zu entspannen.

»Jonas, herzlich willkommen in der Familie. Oh… Hab ich was falsches gesagt?«

Verwundert schaute Paps uns an, und da ich mir keiner Schuld bewußt war, drehte ich mich so, dass ich Jonas ins Gesicht schauen konnte. Und auf diesem hübschen Gesicht kullerten jetzt Tränen!

»Jonas, was ist los?«

Mein Freund weinte weiter und brachte nur ganz leise ein einziges Wort heraus. Familie. Mir war auf einen Schlag alles klar. Vorsichtig veränderte ich unsere Positionen so, dass ich es nun war, der Jonas in den Arm nahm.

»Fabian, was ist mit ihm?«

»Paps, das erzähle ich dir später mal in aller Ruhe.«

»Wenn du meinst. Hab ich irgendwas falschgemacht?«

»Nein, eher im Gegenteil.«

Damit gab er sich zum Glück erstmal zufrieden.

»Weiß es sonst schon jemand? Also dass ihr ein Paar seid?«

»Alle hier auf der Hütte. Und Tom.«

»Ach, dein Bruder ist auch schon eingeweiht? Wohl gestern am Telefon, oder?«

»Ja. Deiner Überraschung entnehme ich, dass er dichtgehalten hat.«

»Allerdings, kein Sterbenswörtchen hat er ausgeplaudert.«

Braves Tomchen.

»Darf ich es deiner Mutter erzählen, oder möchtest du das selber machen?«

Ich überlegte kurz. Meine Mutter konnte manchmal ziemlich emotional werden, vielleicht war es ja tatsächlich besser, wenn sie von Paps eine kleine Vorwarnung erhielte.

»Erzähl es ihr ruhig.«

»Gut, mach ich. Die wird sich auch mächtig freuen, Faby. Aber das da…«

Er zeigte auf meine Haare.

»…das da, das mußt du ihr schon selber beibringen!«

Ich mußte lachen, und auch Jonas schien sich wieder etwas besser zu fühlen. Beruhigend streichelte ich ihm weiter durch die Haare.

»Und Jonas?«

»Ja?«

»Du bist der ältere von euch beiden, von dir erwarte ich, dass du meinen Sohn immer schön in der Spur hältst.«

Oh. Also. Das mußte doch nun wirklich nicht sein, ich brauchte doch keinen Aufpasser!

»Mach ich, Herr Röcker!«

»Sag einfach Jürgen zu mir, einverstanden?«

»Einverstanden!«

»Sehr schön. So, ich werde mal schnell die paar Sachen reinbringen, die ich im Hänger habe. Ach übrigens, Fabian? Ihr habt ja wirklich viel geschafft mit der Schneeschipperei, fast der ganze Hof ist schon frei.«

Wunderbar!

»Aber dir ist schon klar, dass ihr das nicht hättet machen brauchen, oder? Das hätte morgen die Schneefräse in Nullkommanix auch geschafft.«

Mist, warum mußte er das Thema ansprechen!

»Es wundert mich ein wenig, dass du da nicht dran gedacht hast.«

Ich seufzte, jetzt sollte ich wohl lieber mit der Wahrheit rausrücken.

»Paps, ich habe natürlich da dran gedacht! Aber…«

»Aber was?«

»So konnte ich besonders die Kids einen ganzen Tag lang beschäftigen! Die haben gestern stundenlang Schneeburgen gebaut und sich rumgebalgt, heute wäre denen das bestimmt schon langsam langweilig geworden. Und womit soll man die hier oben denn sonst noch so beschäftigen? Sollten die den ganzen Tag auf der Bude hocken und in den Fernseher glotzen?«

»Oh. Und da hast du sie zu Beschäftigungstherapie verdonnert?«

»Sieh es mal so, Paps. Wenn die heute abend völlig erschöpft in ihre Schlafsäcke steigen, werden sie das in der Überzeugung tun, dass sie etwas Gutes für uns alle getan haben. Dass sie quasi an ihrer eigenen Rettung mitgewirkt haben. Das ist doch viel besser, als wenn sie den ganzen lieben langen Tag nur hier rumgelungert hätten.«

Verstehen machte sich auf dem Gesicht meines Vaters breit.

»Faby, an dir ist ein Psychologe verlorengegangen. Das war wirklich ein genialer Schachzug!«

Anerkennend nickte er mit dem Kopf.

»Danke, Paps. Aber der bleibt nur solange genial, wie die Kids davon nichts erfahren. Falls doch, werden die letzten gemeinsamen Stunden hier für mich zum Spießrutenlaufen.«

»Schon kapiert, von mir erfährt keiner was. Aber das mußt du wohl auch noch mit Jonas klarmachen, mir scheint, der kannte deinen Plan bis jetzt auch nicht in allen Einzelheiten.«

»Allerdings, Jürgen, diese Hintergedanken höre ich jetzt zum ersten Mal!«

»Och Jonas, ich hoffe, du kannst mir nochmal verzeihen!«

»Na das muß ich mir nochmal ganz genau überlegen! Aber das klären wir, wenn wir unter uns sind.«

Mein Vater lachte leise vor sich hin.

»Genau, Jonas, du mußt Fabian an der kurzen Leine halten, das ist die beste Art, mit dem Bengel klarzukommen.«

Na vielen Dank aber auch!

»So, und jetzt hole ich wirklich mal die Sachen rein.«

Sprachs und entschwand, nur um kurz darauf mit einem der schon bekannten schweren Verpflegungskörbe wieder aufzutauchen.

»Hier, auspacken müßt ihr den selber. Ich muß mich langsam wieder auf den Weg machen, damit ich noch im Hellen nach Hause komme. Also bis morgen, Jungs, am längsten hat es für euch jetzt gedauert. Morgen um diese Zeit sind alle wieder glücklich mit ihren Familien vereint.«

Diesmal schaffte es Jonas, ohne einen weiteren Weinanfall über das Thema Familie hinwegzukommen. Wir wünschten meinem Vater eine gute Fahrt zurück, dann waren wir wieder alleine in der Hütte.

»So, Jonas, und was machen wir jetzt?«

Mein Liebster schaute auf die Uhr.

»Es ist schon nach drei, und die anderen scheinen uns draußen entweder nicht zu brauchen oder nicht haben zu wollen. Ich schlage vor, wir packen aus, was dein Vater mitgebracht hat, und dann kümmern wir uns langsam ums Kaffeetrinken.«

Das war eine gute Idee, die fleißigen Schneeschipper würden sich bestimmt nicht ärgern, wenn wir sie dann zu Stolle und heißen Getränken reinrufen würden.

»Sag mal, Faby…«

»Ja?«

»Die ganze Schneeschlacht heute hattest du wirklich hauptsächlich als Beschäftigungstherapie geplant?«

Leicht verlegen lächelte ich ihn an.

»Schuldig im Sinne der Anklage.«

Mit schiefgelegtem Kopf schaute Jonas mich an, dann brach er in schallendes Gelächter aus.

»Haha. Faby, dein Vater hat völlig recht, du bist genial. Darauf muß man erstmal kommen!«

»Du bist mir also nicht böse?«

»Das habe ich nicht gesagt! Du hättest mich ja ruhig einweihen können.«

»Sorry, aber je mehr Leute von einem Geheimnis wissen, umso schneller ist es kein Geheimnis mehr.«

»Na du hast ja viel Vertrauen in mich. Naja, daran werden wir in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren ja noch arbeiten können.«

In mir jubilierte es, das hieß doch ganz eindeutig, dass Jonas eine lange, gemeinsame Zukunft mit mir plante! Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen…

Reiko

Ich wurde wach, und kam mir irgendwie verlassen vor. Nur noch Fabian und Jonas schliefen eng aneinander gekuschelt auf der Couch, alle anderen waren ausgeflogen. Oder halt, Arko lag noch zusammengerollt auf dem Bärenfell. Das wars dann aber auch schon.

Gähnend erhob ich mich aus dem Sessel. Schon halb drei, aber niemand kam, um uns zur Mitarbeit im Schnee zu bewegen. Ein Blick durchs Fenster nach draußen zeigte mir, dass Jasmin mit den Kindern fleißig bei der Arbeit war, und ich beschloß, mich zu ihnen zu gesellen. Für einen Moment dachte ich daran, auch die beiden letzten Schläfer noch aufzuwecken, aber die schlummerten so seelig, dass ich das nicht übers Herz brachte. Ich zog mich also alleine an und verließ die Hütte, sogar Arko hatte nur ein müdes Blinzeln für mich übrig und machte keine Anstalten, mich nach draußen zu begleiten. Den hatten die Kids wohl schon müdegespielt.

Auf dem Hof sah ich dann, dass Jasmin und die Kinderbande ganze Arbeit geleistet hatten, tatsächlich war fast der gesamte Platz schon freigeräumt. Nun, ich würde mich nicht darüber beschweren, dass für mich nicht mehr viel zu tun war. Ich schnappte mir einen Schneeschieber und gesellte mich zu Jasmin.

»Na du, ausgeschlafen?«

»Ja … gähn … danke. Das hatte ich aber auch nötig.«

»Glaub ich dir. Kommen die anderen beiden auch?«

»Als ich raus bin, schliefen sie noch. Ich hab es nicht fertiggebracht, die beiden zu wecken.«

»Nicht so wild, den kläglichen Rest schaffen wir auch alleine.«

»Ja, ich seh schon, ihr habt sehr viel geschafft.«

»Tja, auch Mädels können kräftig zupacken. Und als dann vor zwanzig Minuten auch die Jungs auftauchten, ging es noch viel flotter voran. So, und nun spiel mal hier nicht das Arbeiterdenkmal, mach lieber noch ein bißchen mit.«

Die Stimme meiner Herrin. Was blieb mir anderes übrig, auch ich begann, den Schneeschieber zu schwingen, und mit vereinten Kräften rückten wir den letzten paar Quadratmetern zuleibe.

Ein paar Minuten arbeiteten wir schweigend nebeneinander, dann bedeutete mir Jasmin, mal aufzuhören.

»Sag mal, Reiko, hörst du das?«

Ich lauschte, bemerkte aber nichts.

»Was?«

»Kinder, seid mal bitte leise!«

Unsere fünf Schützlinge hatten die ganze Zeit einen ziemlichen Lärm veranstaltet, die hatten anscheinend immer noch genügend Kraft, um nebenher Späße zu machen. Jetzt aber hielten auch sie inne, und dann hörte ich es auch.

»Du meinst das Brummen?«

»Ja. Was das wohl sein mag?«

»Also für mich hört sich das an wie der Motorschlitten von vorgestern.«

»Hast recht, das könnte hinkommen.«

Und tatsächlich, das Brummen kam immer näher, und schon bald tauchte auch das zugehörige Schneemobil im Wald auf. Kurz darauf hielt es bei uns an.

»Na hallo alle miteinander! Ihr seid aber fleißig!«

Wir versammelten uns und begrüßten Fabians Vater.

»Wo ist denn Fabian? Nun sagt bloß nicht, dass der euch hier arbeiten läßt und selber faulenzt!«

»Herr Röcker, der schläft gerade, und das hat er auch nötig. Er schuftet von uns allen am meisten.«

»Na, Reiko, stimmt das auch wirklich?«

»Ja, das ist die reine Wahrheit.«

»Na dann will ich dir das mal glauben.«

»Was machen Sie überhaupt hier, Herr Röcker? Mit Ihnen haben wir heute gar nicht gerechnet.«

»Meine Frau und ich haben uns gedacht, dass ihr vielleicht noch ein wenig Nachschub an frischer Verpflegung gebrauchen könnt.«

Ich runzelte die Stirn.

»Heißt das, dass wir noch länger hier durchhalten müssen?«

»Nein, Reiko, nur noch bis morgen. Ich denke mal, dass wir spätestens gegen Mittag zu euch vordringen werden.«

Das war eine gute Nachricht. Mit jedem Tag kam mir die Hütte nun doch etwas enger vor, und außerdem wären die Kiddies bestimmt nicht begeistert, wenn sie gerade Weihnachten getrennt von ihren Eltern verbringen müßten. Auch die fünf Kleinen schienen sich darüber zu freuen.

»So, ich werde mal in der Hütte nach dem rechten schauen.«

Das war für uns das Signal, uns wieder auf die Arbeit zu stürzen, und mit neu erwachtem Eifer machten wir uns ans Werk. Herr Röcker ging zur Hütte und öffnete die Tür, und in diesem Moment lief es mir eiskalt den Rücken herunter!

»Mist!«

»Was ist los, Reiko?«

»Fabian und Jonas liegen da in einer ziemlich verräterischen Pose auf der Couch! Herr Röcker sieht doch mit einem Blick, was mit den beiden los ist!«

Auf Jasmins Gesicht zeigte sich Unverständnis.

»Aber Fabians Eltern wissen doch, dass er schwul ist, und haben auch kein Problem damit, oder?«

»Ja schon, das wissen sie, aber sie wissen noch nichts von Jonas. Korrektur. Spätestens jetzt weiß es zumindest Herr Röcker.«

Jasmin lachte vor sich hin.

»Ist doch nicht so wild, könnte doch viel schlimmer kommen.«

»Wie meinst du das?«

»Na überleg mal. Die Jungs liegen da angezogen auf der Couch und schlafen, mehr ist da nicht zu sehen. Ist doch nicht so, als ob er sie nackt oder gar beim Sex erwischt hätte!«

Bei dieser Vorstellung mußte ich losprusten, Jasmin hatte vollkommen recht, das wäre der Bringer gewesen! Andererseits wollte ich mir gar nicht unbedingt vorstellen, was zwei Kerle so beim Sex treiben könnten. Obwohl… Eines wüßte ich schon gerne! War Fabian aktiv oder passiv? Aber ich würde mich hüten, ihn das auf den Kopf zu zu fragen.

»Reiko, so wie du vor dich hin grienst, mußt du gerade an etwas sehr Schmutziges gedacht haben!«

»Kein Kommentar, Jasmin, kein Kommentar!«

Lachend machten wir uns wieder an die Arbeit. Nach einigen Minuten kam Fabians Vater wieder aus der Hütte, ging zum Schneemobil und schleppte dann einen großen Korb nach drinnen. Als er kurz danach wieder die Hütte verließ, kam er noch einmal zu uns rübergeschlenkert.

»Also Reiko, eine kleine Vorwarnung wäre wirklich nett gewesen. Ich denke mal, du weißt, was für einen Anblick ich da drin vorgefunden habe.«

Entschuldigend blickte ich ihn an.

»Ja, tut mir leid, Herr Röcker, das fiel mir erst in dem Moment ein, als Sie bereits durch die Tür traten. Es war sicher eine ziemliche Überraschung für Sie, Fabian und Jonas so aneindergekuschelt vorzufinden.«

»Ach, Reiko, das meine ich eigentlich nicht, das war halb so wild.«

Ich stand auf dem Schlauch, worauf wollte Fabians Erzeuger hinaus?

»Ich meine die blauen Haare!«

Das traf mich vollkommen unvorbereitet, und vor Lachen verschluckte ich mich an meiner eigenen Spucke.

»Ach das … hust … das meinen Sie!«

»Ja klar! Ich hatte ja mit vielem gerechnet, aber nicht, dass mein Sohn wie eine wandelnde Leuchtreklame rumläuft.«

Das löste die nächste Runde an Gelächter aus, und ich zeigte auf Patrick.

»Schauen Sie mal kurz hinter sich, Herr Röcker. Patrick, nimm mal deine Mütze ab!«

Grinsend tat der Teenager genau das, und seine grasgrüne Haarpracht kam zum Vorschein. Fabians Vater schlug in gespieltem Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammen.

»Noch so einer! Na das wird morgen ein Spaß, wenn die Eltern das mitbekommen! Reiko, wenn die ihren Sohn dann gar nicht mitnehmen wollen, dann müßt ihr euch weiter um ihn kümmern!«

Alles, nur das nicht! Als dauerhafter Vater-Ersatz war ich wohl doch noch etwas zu jung.

»Naja, ich verschwinde mal wieder. Ihr könntet euch morgen etwa ab um zehn so langsam auf die Befreiung vorbereiten. Ihr Großen sorgt bitte dafür, dass die Kleinen alle ihre Sachen zusammenpacken, damit möglichst nichts liegenbleibt. Für euch selbst gilt das natürlich auch!«

»Machen wir, Herr Röcker. Wir haben heute auch schon ein wenig die Hütte aufgeräumt, und morgen werden wir auch nochmal saubermachen.«

»Das ist sehr nett, Jasmin. Also dann, bis morgen! Ach so, Reiko, ich hab vorne an der Tür noch ein Päckchen für Fabian abgelegt, gibst du ihm das bitte, bevor er heute abend den Schlafanzug anzieht?«

Nanu, was mochte denn in diesem Päckchen sein? Aber das würde ich wohl erst heute abend herausfinden.

»Kein Problem, ich gebs ihm, bevor er duschen geht.«

»Danke, Reiko.«

Wir verabschiedeten uns von Herrn Röcker, der wieder auf den Motorschlitten stieg und mit lautem Gebrumm im Wald verschwand. Ich warf einen Blick auf die Arbeit, die noch vor uns lag.

»So, Leute, packen wirs an! Das sollte in zwanzig Minuten zu schaffen sein!«

Wir schafften es sogar in fünfzehn Minuten, und hochzufrieden betrachteten wir das Ergebnis all unserer Mühen. Hier war jetzt alles für den Empfang unserer Retter vorbereitet.

»Schaut doch prfmpfffffff…«

Meine Worte wurden durch eine Megaladung Schnee verschluckt, die Jasmin mir mitten ins Gesicht geschaufelt hatte. Also so war nicht gewettet! Ich stürzte mich auf sie, und schon wälzten wir uns durch den Schnee. Die Kids wollten da natürlich nicht als reine Zuschauer dabeistehen, sodass kurz darauf die schönste Schneeballschlacht und Balgerei im Gange war. Wo die alle noch diese Kraft und Energie rauskramten!

Fabian

Nachdem mein Vater verschwunden war, schauten wir erst einmal nach, was er uns da Schönes mitgebracht hatte. Im Korb fanden wir einen großen Stollen, zwei Päckchen Lebkuchen, eine riesige Platte mit belegten Broten und Brötchen, verschiedenes Knabbergebäck und vier Flaschen Kinderpunsch. Oder halt, das waren nur drei Flaschen Kinderpunsch, in der vierten verbarg sich echter Glühwein! Da konnte die Abschiedsparty ja steigen!

Wie es Jonas vorgeschlagen hatte, bereiteten wir jetzt alles für die Kaffeetafel vor. Ich deckte den Tisch, Jonas schnitt den Stollen auf, dann kamen noch Lebkuchen in eine große Schüssel. Sah doch schon ganz nett aus.

»Was meinst du, Faby, wann sollen wir Kaffee und Kakao ansetzen?«

Ich schaute aus dem Fenster und war ganz überrascht, dass niemand mehr am Arbeiten war, sondern sich alle nur noch im Schnee herumrollten.

»Die scheinen fertig zu sein, wir können also anfangen, denke ich mal.«

Jonas warf die Kaffeemaschine und den Milchkocher an, dann setzten wir uns noch auf ein paar stille Minuten auf die Couch.

»Du, Jonas, sorry wegen vorhin…«

Verständnislos schaute er mich an.

»Was meinst du?«

»Naja… Das mit meinem Vater und ‚willkommen in der Familie‘ und so. Er konnte ja nicht wissen, dass das bei dir so dunkle Erinnerungen und sogar Tränen hervorrufen würde.«

Jonas seufzte traurig.

»Ist schon okay, dafür braucht sich keiner zu entschuldigen. Du nicht, und dein Vater erst recht nicht. Er hat es doch nur lieb gemeint.«

Das auf jeden Fall.

»Mir tut es leid, Fabian, ich befürchte, dass ich bei solchen Gelegenheiten noch öfters mal eine Depriphase bekommen werde.«

»Das verstehe ich vollkommen, Jonas. Aber gemeinsam stehen wir das durch!«

Ich lächelte ihn aufmunternd an, und das schien bei ihm gut anzukommen, die dunklen Wolken verschwanden aus seinem Gesicht.

»So, der Kaffee ist durch, die Milch ist auch soweit. Wir sollten die anderen reinrufen.«

Wir standen auf und gingen zur Tür. Draußen erwartete uns ein unmöglicher Anblick: zwei Erwachsene und fünf Kinder rollten durch den Schnee, seiften sich gegenseitig ein und schienen den Spaß ihres Lebens zu haben. Zu allem Überfluß flitzte nun auch noch Arko aus der Hütte und stürzte sich ins Getümmel.

Eine Weile schauten wir schweigend dem wilden Treiben zu, dann meldete sich Jonas laut vernehmbar zu Wort.

»Schau mal, Faby, sind sie nicht süß, die Kinder? Und gleich acht auf einen Streich!«

Damit war klar, dass Jonas in die Bezeichnung »Kinder« sowohl Arko als auch Jasmin und Reiko einschloß, was sich auch ziemlich schnell unter den Betroffenen herumgesprochen hatte. Wir konnten uns nur noch schnell hinter die Tür zurückziehen, da prasselten auch schon Schneebälle dagegen!

»Kinder! Ich bin kein Kind mehr! Na wartet!«

»Oh, oh, Jonas, da hast du aber jemanden an einer ziemlich empfindlichen Stelle getroffen.«

»Hehe, sieht so aus, Faby.«

Ich schaute mich um und entdeckte einen Skistock. Fehlte nur noch … ah, ja, das paßte! Ich griff mir den Skistock, band Arkos Handtuch daran fest, öffnete die Tür einen Spalt und schob die weiße Flagge nach draußen.

»Waffenstillstand!«

»Gebt ihr auf?«

»Aufgeben? Niemals! Wir sind höchstens zu einem Friedensvertrag ohne Schuldeingeständnis bereit!«

»Ein bißchen wenig, Fabian, nachdem deine bessere Hälfte Jasmin und mich dermaßen niedergemacht hat. Könnt ihr irgendwas als Entschädigung anbieten?«

Das konnten wir tatsächlich.

»Wie wäre es mit Kaffee, Kakao, Stolle und Lebkuchen?«

Drüben wurde anscheinend kurz beratschlagt.

»Fabian? Ist das selbstgebackene Stolle? Also von dir selbst gebacken?«

Ah. Ich hatte Reiko an der Angel!

»Ja, ist es.«

»Okay, einverstanden, Frieden!«

Ich zog die weiße Flagge zurück, öffnete die Hüttentür und steckte vorsichtig den Kopf heraus. Tatsächlich, die Kampfhandlungen waren eingestellt worden.

»Na dann mal los, kommt rein und macht, dass ihr aus den Klamotten rauskommt. Die sind doch garantiert klatschnaß.«

Während sich das Außenteam jetzt beeilte, in die Hütte zu kommen und sich von den Schneeanzügen zu befreien, begab ich mich zu Jonas, der bereits dabei war, Kaffee und Kakao einzuschenken.

»Faby?«

»Ja?«

»Dein Stollenrezept solltest du dir patentieren lassen, für das könntest du glatt den Friedensnobelpreis absahnen.«

»Danke, Schatz.«

Fünf Minuten später saßen alle an der Kaffeetafel und stopften Stolle und Lebkuchen in sich hinein. Bewegung an frischer Luft schien wirklich extrem hungrig zu machen, es war nur gut, dass mein Vater uns nochmal Nachschub geliefert hatte.

»Was machen wir heute noch schönes?«

Ricardas Frage brachte die Unterhaltungen am Tisch zum Stillstand.

»Also, ihr habt ja mitbekommen, dass mein Vater noch ein paar Sachen vorbeigebracht hat. Unter anderem ist da auch Knabbergebäck dabei, Punsch und noch einige leckere Sachen als Abendbrot. Wir können also heute abend noch eine schöne Abschiedsparty feiern!«

Am Tisch brach Jubel aus.

»Wir lassen es uns gutgehen, spielen vielleicht noch etwas nebenher, und dann lassen wir unseren letzten Abend hier ganz gemütlich ausklingen. Einverstanden?«

Von diesem Vorschlag schienen alle begeistert zu sein, jedenfalls schaute ich in lauter zufriedene, lächelnde Gesichter.

»Sehr schön. Aber vor dem Vergnügen kommt erst noch die Arbeit. Jonas und ich kümmern uns um den Abwasch und so, und ihr solltet euch dann schon bettfertig machen. Also ab unter die Dusche und Schlafsachen an, wir veranstalten eine echte Pyjamaparty.«

Dagegen gab es ebenfalls keine Einwände. Naja, wir waren ja eh die letzten Abende ständig nur im Nachtgewand rumgelaufen.

»Fabian hat recht, und damit das einigermaßen flott geht, duscht heute bitte wieder zu zweit, sonst dauert das ja wieder ewig mit dem warmen Wasser.«

Während der nächsten gut zwei Stunden herrschte reges Treiben in der Hütte. Im Bad war ein ständiges Kommen und Gehen, zuerst duschten Manuela und Ricarda, anschließend teilten sich gleich alle drei Jungs in die nächste Ladung warmen Wassers, später verschwanden auch Jasmin und Reiko gemeinsam, und ich dachte lieber gar nicht weiter darüber nach.

Wer nicht gerade im Bad war, half dabei, schonmal alles für die anstehende Party vorzubereiten. Knabbergebäck wurde verteilt, Gläser für den Punsch wurden bereitgestellt und die kalte Platte wurde ausgepackt. Letztere fand einen arkosicheren Platz hoch oben auf dem Tresen.

»Oh, ihr wart aber schon fleißig, da kann die Party ja bald losgehen!«

Jasmin und Reiko kehrten von ihrer Duschrunde zurück, die kürzer ausgefallen war, als ich befürchtet hatte.

»Aber ohne uns wird nicht angefangen, kapiert? Faby und ich müssen auch noch schnell duschen.«

Das hieß dann wohl, dass auch wir gemeinsam ins Wasser gehen würden.

»Dann müßt ihr euch halt beeilen, wir warten bestimmt nicht ewig auf euch, Bruderherz.«

Was für eine geschwisterliche Liebe!

»Okay, wir sind ja schon unterwegs. Müssen wir halt mit lauwarmem Wasser duschen.«

»Ist vielleicht auch besser so, ihr zwei. Oder noch besser: eiskalt!«

Also nein, das brauchte ich nun wirklich nicht noch einmal!

»Ach übrigens, Fabian, hier ist noch ein Päckchen von deinem Vater. Ich sollte dir das erst geben, wenn du dich bettfertig machst.«

Ein Päckchen? Von meinem Vater? Fürs Bett? Ich hatte eine dunkle Vorahnung, worum es sich dabei handelte, also riß ich es Reiko aus der Hand.

»Komm, Jonas, gehen wir duschen!«

»Willst du das Päckchen denn nicht aufmachen, Faby?«

»Nein, nicht hier vor allen Leuten!«

»Oh…«

Allerdings. Oh. Ich zog Jonas ins Bad, in welchem eine schwere, feuchtwarme Atmosphäre herrschte. Mein Schatz war immer noch etwas verwundert über das, was eben abgelaufen war.

»Sag mal, kann es sein, dass du genau weißt, was in dem Päckchen ist?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das weiß.«

»Und, verrätst du mir das auch?«

»Nachher, wenn wir mit der Duscherei fertig sind.«

»Ach, du kannst es wohl nicht abwarten, mich wieder nackt zu sehen?«

»Du hast es erfaßt, Jonas!«

Ob dieser klaren, eindeutigen Antwort war Jonas doch ein wenig überrascht, dann grinste er und begann damit, sich auszuziehen. Ich tat es ihm gleich, und kurz danach standen wir in der Duschkabine, die für zwei Erwachsene doch etwas eng war. Worüber ich mich allerdings in diesem konkreten Fall nicht beschweren würde!

Aber um ganz ehrlich zu sein: es passiert nichts zwischen uns. Also wenn man mal vom gegenseitigen Rückenabseifen absah. Wir waren uns einig, noch etwas warten zu wollen, und daher hielten wir uns strikt an die Regel »Anschauen ja – anfassen nein«. Für mehr hätten wir eh weder Platz noch Zeit gehabt, da das Wasser schon bald recht kühl wurde und uns aus der Duschkabine vertrieb.

Während wir uns dann abtrockneten, kam Jonas wieder auf das verflixte Päckchen zu sprechen.

»Verrätst du mir nun endlich, was dir dein Vater geschickt hat?«

Ich seufzte, Jonas würde wohl nicht eher aufgeben, als dass er dem Geheimnis auf den Grund gegangen war.

»Mach es halt auf und schau selber nach.«

Hach war der Typ neugierig! Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie er das Päckchen schon geöffnet und den Inhalt herausgeholt hatte. Sofort danach gefolgt von einem Heiterkeitsausbruch.

»Was ist denn das, Faby?«

»Das ist mein Weihnachts-Nachthemd.«

»Dein was?«

»Mein Weihnachts-Nachthemd. Das hat mir Tom vor vier Jahren oder so geschenkt, und seitdem ist es Tradition, dass ich es in den Nächten vom 23.12. bis zum 27.12. trage.«

»Also das ist ja wirklich megasüß! Und eine passende Mütze ist auch noch dabei! Los, zieh es an!«

Genau DAS hatte ich befürchtet! Ich hätte das Ding verschwinden lassen sollen, solange ich noch Zeit dazu hatte. Nun war alles zu spät.

»Muß ich wirklich? Vor all den anderen?«

»Komm schon, das wird ein Riesenspaß!«

Auf meine Kosten wiedermal. Na super. Aber natürlich konnte ich Jonas seinen Wunsch nicht abschlagen, mal ganz abgesehen davon, dass mein Vater garantiert morgen fragen würde, ob ich die Tradition aufrecht erhalten hatte. Ich schlüpfte also in das knöchellange, knallrote Nachthemd aus dickem Frotteestoff. Unten am Saum sowie an den Handgelenken und am Kragen waren weiße Zotteln angebracht, ebenso am Eingriff der Brusttasche. Die Mütze war ebenfalls knallrot, mit weißem Rand und weißer Bommel.

»Absolut knuffig, Faby! Etwas komisch, mit den blauen Haaren unter der roten Mütze, aber trotzdem, total niedlich!«

Genervt verdrehte ich meine Augen. Und so sollte ich mich der versammelten Mannschaft präsentieren!

Auch Jonas schlüpfte jetzt in seinen Schlafanzug, dann war meine letzte Gnadenfrist abgelaufen, und wir verließen das Bad in Richtung Wohnzimmer. Als wir dort ankamen, und nach und nach alle Anwesenden meinen Aufzug entdeckten, erstarben sämtliche Gespräche – um kurz darauf von einem Lachorkan abgelöst zu werden! Spitze. Aber was blieb mir anderes übrig, als das Spielchen mitzuspielen, also verneigte ich mich vor meinem Publikum.

»Hahaha… Faby, war das in dem Päckchen von deinem Vater?«

»Ja, Reiko. Das ist mein traditionelles Weihnachts-Nachthemd. Mein Paps dachte wohl, dass nur damit für mich Weihnachten komplett wäre.«

Und Tom würde mir das irgendwann nochmal büßen!

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich alle wieder beruhigt hatten, dann war es endlich soweit, die Party konnte beginnen! Jasmin und Reiko verteilten Punsch, nach dem schon die ganze Hütte duftete. Für uns Großen gab es natürlich Glühwein, und auch Patrick erbettelte sich ein halbes Glas. Naja, der hatte ja letztendlich bewiesen, dass er doch irgendwie schon ein wenig erwachsen war.

»Und was wollen wir spielen?«

Wir überlegten, dann hatte Christoph die Idee, die bei allen sofort Zustimmung erntete.

»Wie wärs mit Kniffel? Da können wir alle zusammen spielen.«

Das war wirklich eine gute Wahl, und bald hörte man neben Weihnachtsmusik und Gelächter aus neun Kehlen auch noch das Klackern der Würfel auf dem Tisch. Zwischendurch wurde gegessen und getrunken, und natürlich wurde auch der Hund abgefüttert und später noch einmal vor die Tür gelassen. Auch die obligatorische Telefonrunde mit den Eltern fand statt.

Etwa gegen neun Uhr forderten dann die Anstrengungen des Tages ihren Tribut, immer öfter gähnte jemand in der Runde, und ich fand, dass wir so langsam zum Ende kommen sollten.

»Wie siehts aus, hören wir nach dieser Runde auf? Hier scheinen einige ja doch schon sehr müde zu sein, und morgen ist ein großer Tag.«

Völlig untypisch für eine Gruppe von Kindern in diesem Alter gab es keinerlei Proteste gegen diesen Vorschlag, und insgeheim beglückwünschte ich mich zu meiner Ich-mache-sie-tagsüber-fertig-dann-klappts-auch-mit-dem-Insbettgehen-Taktik. Nachdem mit Manuela die Jüngste am Tisch das letzte Würfelspiel gewonnen hatte, räumten wir zusammen, vertilgten die letzten Chips und belegten Brote, dann verzogen sich alle in ihre Schlafsäcke und Betten.

Ich schaltete schnell noch den Generator aus, dann folgte ich Jonas ins Schlafzimmer, in welchem auch Jasmin und Reiko schon eingetroffen waren. Diesmal hatten sie sich gleich zusammen in Reikos Bett gelegt. Naja, ich konnte mich da schließlich auch nicht beklagen, schlüpfte ich doch auch gleich zu Jonas unter die Decke. Tat das gut, sich so gemütlich hinzulegen, nach so einem anstrengenden Tag!

»Also dann, schlaft schön, genießt die letzte Nacht hier in der Hütte.«

»Danke, Fabian. War doch alles in allem eine schöne Zeit.«

Da konnten wir alle Jasmin nur zustimmen. Ich drehte noch die Lampe aus, dann kehrte Ruhe ein. Bis mir Jonas etwas ins Ohr flüsterte.

»Das Nachthemd ist doof.«

Nanu? Was meinte er? Ich flüsterte zurück.

»Wieso?«

»Da kann ich dir nicht in die Hose fassen.«

Na so ein schlimmer Finger aber auch!

»Du könntest es ja hochschieben.«

Jonas pustete mir in den Nacken.

»Soll ich?«

»Nein, nicht diese Nacht.«

»Okay, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.«

»Sowieso. Also gute Nacht, Jonas.«

»Gute Nacht, Faby.«

Kurz danach verrieten mir seine gleichmäßigen Atemzüge, dass er bereits eingeschlafen war, und auch ich folgte ihm innerhalb weniger Minuten ins Reich der Träume.

Reiko

Ach es gab doch nichts Schöneres, als morgens im gemütlichen, warmen Bett wachzuwerden und zu wissen, dass man noch nicht raus mußte. Ich räkelte mich in den Federn, dann fiel mein Blick aufs Fenster. Oh verdammt! Es wurde ja schon hell! Dann mußte ich ja doch raus!

Hastig arbeitete ich mich unter der Bettdecke hervor, mit dem Ergebnis, dass ich das Gleichgewicht verlor und im nächsten Moment mit einem lauten Plumps auf dem Fußboden vor dem Bett landete!

»Aua!«

»Menno, was machst du denn für einen Krach am frühen Morgen!«

Aus einem dicken Haufen von Kissen und Decken schaute Fabians Blaukopf hervor.

»Sorry, ich bin aus dem Bett gefallen.«

»Na und, das kann man doch auch leise machen!«

Der war ja mal wieder sehr mitfühlend. Mir mein schmerzendes Hinterteil reibend, erhob ich mich vom Fußboden, und so langsam klärten sich meine Gedanken, wodurch mir eine überraschende Leere im Zimmer auffiel. Ich hatte ganz alleine im Bett gelegen, und auch im Doppelbett war nur die dürre Gestalt von Fabian unter den Federbetten zu erahnen.

»Sag mal, kann es sein, dass uns unsere besseren Hälfte verlassen haben?«

»Ja, die sind vor ner Viertelstunde raus um Frühstück zu machen.«

Oh. Na das war doch ein netter Service, dafür würde ich Jasmin eventuell sogar verzeihen, dass sie mich ganz allein im Bett zurückgelassen hatte.

»Und nun?«

»Nun warten wir darauf, dass sie uns an den Tisch rufen, was sonst?«

»Du meinst, ich soll mich auch nochmal hinlegen?«

»Klar, das muß man doch nutzen.«

Hm. Warum eigentlich nicht. Mir steckte die harte Arbeit vom Vortag eh noch in den Knochen.

»Mach mal ein bißchen Platz!«

»Hä?«

Da mußte ich wohl nachhelfen. Ich schob Fabian ein wenig zur Seite und ließ mich neben ihm im Doppelbett nieder, dann kroch ich auch noch unter die Decke.

»Eh, was soll das! Du hast doch dein eigenes Bett!«

Das hatte ich schon, aber da lag niemand mehr drin, der es für mich anwärmte.

»Keine Bange, ich fall schon nicht über dich her. Das überlaß ich dann doch lieber deinem Jonas.«

»Idiot.«

Für dieses Mal beschloß ich, über diese Beleidigung großzügig hinwegzusehen.

»Weißt du was, Fabian? Ich glaube, ich werde irgendwann in den nächsten Tagen einen Dankesbrief an Melanie und René schicken.«

Mein Bettnachbar schien wohl kapiert zu haben, dass er nicht mehr zum Schlafen kommen würde, jedenfalls drehte er sich zu mir und stützte den Kopf auf seine linke Hand.

»Wieso das denn?«

»Naja, überleg mal. Wenn die beiden mich nicht dermaßen hintergangen hätten, dann wäre all das hier nicht passiert. Ich wäre nicht kopflos davongefahren, wäre nicht von der Straße abgekommen, du hättest mich nicht gerettet, wir wären nicht wieder Freunde geworden, ich hätte nicht Jasmin kennengelernt, und wir hätten uns vielleicht hier oben zu Tode gelangweilt.«

»Hm… Stimmt schon irgendwie. Dann sollte ich denen ja auch dankbar dafür sein, dass ich meinen Jonas gefunden habe.«

»Allerdings!«

»Trotzdem. Ich glaube, ein Dankesbrief wäre doch etwas übertrieben. Zeig deine Dankbarkeit doch einfach dadurch, dass du René keine weiteren Besuche beim Zahnarzt verschaffst.«

Ich mußte lachen, in Anbetracht der Erlebnisse der letzten Tage tat mir René fast schon wieder ein wenig leid. Außerdem war ich mir ziemlich sicher, dass Melanie auch ihn irgendwann mit einem Anderen betrügen würde.

»Waren doch irgendwie auch fünf schöne Tage hier, oder nicht?«

»Hast recht, Reiko. Ich hatte die mir zwar völlig anders vorgestellt, aber schön waren sie tatsächlich.«

Es klopfte an der Zimmertür, diese ging auf und Patrick steckte seinen Kopf ins Zimmer. Als er uns zusammen im Bett sah, schaute er erst etwas verdattert drein, dann grinste er.

»Na da könnt ihr aber froh sein, dass ich euch zum Frühstück rufen soll und nicht Jasmin oder Jonas gekommen sind, um euch zu holen!«

»Patrick, du hast eine schmutzige Phantasie!«

»Ach, hab ich die, Reiko?«

»Ja, die hast du. Ich find das prima!«

Jetzt lachten wir alle drei, und ich wunderte mich noch einmal über die Verwandlung, die bei dem Jungen stattgefunden hatte. Noch so ein Gutes, was die Melanie-René-Szene bewirkt hatte.

»Wenn ihr euch dann voneinander losreißen könnt, solltet ihr wirklich rauskommen. Das heißt, wenn ihr wert darauf legt, noch was vom Frühstück abzubekommen.«

Mit diesen Worten zog Patrick die Zimmertür wieder zu und ließ uns alleine zurück. Was er gesagt hatte, war allerdings ein genügend großer Ansporn, um uns aus den Federn zu treiben.

»Wir sollten wirklich hinmachen, nicht dass die uns tatsächlich noch alles vor der Nase wegfuttern.«

»Stimmt, Faby, also raus aus den Federn!«

Wir arbeiteten uns aus dem Bett heraus, und ich bewunderte nochmal grinsend Fabians außergewöhnliches Nachtgewand.

»Was glotzt du so, Reiko?«

»Ach nichts, nichts… Vergiß nicht die Mütze!«

Fabian zeigte mir den berühmten Finger, setzte sich aber trotzdem die rote Mütze auf. Entsprechend groß war das Hallo dann auch, als wir im Wohnzimmer auftauchten. Ich holte mir bei Jasmin einen Guten-Morgen-Kuß und sah aus den Augenwinkeln, dass Fabian das gleiche bei Jonas tat, dann setzten wir uns an den gut gedeckten Frühstückstisch.

»Tja, liebe Leute, das wars dann wohl mit unserem Hüttenabenteuer. In ein paar Stunden ist alles vorbei.«

Vorbei sicherlich, aber auf keinen Fall vergessen. Die Stimmung war tatsächlich fast ein wenig gedrückt, irgendwie hatten die letzten Tagen wohl allen gefallen. Andererseits waren aber auch alle froh, dass sie wieder zu ihren Familien zurückkehren konnten, besonders natürlich die Kinder.

Wir frühstückten nochmal ganz gemütlich und ausführlich, dann wurden die Aufgaben für den letzten Vormittag in der Hütte verteilt. Die Mädels würden sich um den Abwasch kümmern, die Jungs um die Schlafsäcke, wir Großen um die Betten.

»Wenn ihr eure Sachen zusammenpackt, dann schaut bitte auch genau nach, dass ihr hier nichts vergeßt.«

Die folgenden anderthalb Stunden verliefen etwas chaotisch, kein Wunder, wenn neun Leute ihre Sachen zusammenkramen und zu allem Überfluß auch noch etwas aufräumen mußten. Gegen kurz nach zehn war es dann aber soweit, alle hatten ihre Päckchen geschnürt und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Gerade hatten wir uns gemütlich niedergelassen, da klingelte Fabians Handy.

»Röcker.«

Ich lauschte angestrengt, konnte aber nur Fabians Seite der Unterhaltung mitbekommen.

»Prima!«

Das klang ja schonmal positiv.

»Ja, wir haben schon gepackt und warten nur noch auf euch.«

Hoffentlich nicht mehr zu lange, denn im Unterschied zu den anderen Tagen waren wir alle komplett angezogen, bis auf Stiefel und Jacken trugen wir normale Straßenkleidung, natürlich mit der unvermeidlichen langen Unterwäsche drunter. Das Thermometer zeigte immerhin zwölf Grad minus!

»Okay, ich gebs weiter. Also bis bald!«

Bis bald? Dann würden wir ja hoffentlich nicht mehr allzu lange warten müssen! Fabian beendete das Gespräch und schaute lächelnd in die Runde.

»Ich soll euch einen schönen Gruß von meinem Vater ausrichten, die Schneefräse ist soeben unten losgefahren. In etwa einer halben Stunde sollte sie hier eintreffen. Eure Eltern sind auch schon ganz in der Nähe, die kommen dann hochgefahren, wenn die Schneefräse den Weg freigemacht hat.«

Unter den Kids brach Jubel aus, und auch ich war ob der Aussichten erleichtert. Die nächste halbe Stunde verging wie im Fluge, und dann hörten wir einen schweren Motor den Weg zur Hütte heraufbrummen.

»Sie sind da!«

Nun waren die Kinder nicht mehr zu halten, sie schlüpften in ihre Schuhe und Jacken, dann stürmten sie nach draußen. Wir älteren Hüttenbewohner ließen es etwas ruhiger angehen und kamen immer noch rechtzeitig auf dem Hof an, um die Schneefräse in den bereits geräumten Bereich einbiegen zu sehen. Hintenan folgten zwei Allrad-Kleinbusse der Bergwacht, aus welchen – kaum waren sie zum Stehen gekommen – zwei Handvoll Erwachsene sprangen und auf die Kinder zustürmten. Diese ihrerseits stürmten auf die Erwachsenen zu, und kurz darauf waren Szenen zu sehen, die man ansonsten nur aus den Dokumenten zum Fall der Mauer kannte. Jasmin, Jonas, Fabian und ich standen ein wenig abseits und grinsten uns eins.

Auch der Schneefräsenfahrer war ausgestiegen und kam zu uns rübergeschlendert.

»Da habt ihr euch ja eine Heidenarbeit mit der Schneeschieberei gemacht. Wäre doch gar nicht nötig gewesen.«

Fabian machte plötzlich einen leicht gehetzten Eindruck, warf einen ängstlichen Blick in Richtung der Kinder, dann legte er den rechten Zeigefinger vor die Lippen.

»Psssssssst!«

Der Schneefräsenfahrer schien nicht so recht zu wissen, was Fabian von ihm wollte, aber er war eh schon beim nächsten Thema angekommen.

»Ich fahr jetzt wieder runter und mache den Weg noch etwas breiter. Wenn ich durch bin, kommen die anderen auch noch hoch.«

Ah ja, ich hatte mich schon gewundert, dass meine Eltern nicht mit dabei waren. Der Fahrer schwang sich wieder in sein schneeschleuderndes Ungetüm, und kurz darauf kroch das große gelbe Ding davon in Richtung Kreisstraße.

Der erste Begrüßungsjubel bei den Kindern hatte sich mittlerweile gelegt, nun kamen sie zusammen mit ihren Eltern zu uns herüber. Manuelas Vater hatten sie anscheinend zum Wortführer auserkoren.

»Wir möchten uns ganz, ganz herzlich bei Ihnen allen bedanken. Es war ganz toll, wie Sie sich um unsere Kinder gekümmert haben, und die sind auch noch total begeistert von Ihnen und den Tagen hier auf der Hütte.«

Wie es unsere gute Erziehung und angeborene Bescheidenheit verlangte, spielten wir selbstverständlich unsere Taten herunter, was von den Eltern allerdings nicht akzeptiert wurde.

»Heute ist erst einmal ein Familientag angesagt, aber wir würden uns freuen, wenn wir uns alle am zweiten Feiertag in der Steintalbaude zum Mittagessen treffen könnten. Natürlich auf unsere Kosten!«

Diese Einladung konnten wir nicht ablehnen, also sagten wir zu. Dann war es soweit, wir verabschiedeten uns von unseren Schützlingen, und diese stiegen nach und nach mit ihren Eltern in die wartenden Kleinbusse. Ganz zum Schluß bat mich noch ein Berg von einem Mann zur Seite, wo bereits eine ebenso kräftige Frau auf uns wartete.

»Ich bin Hartmut Bolke, das ist meine Frau Doreen. Herr Heilmann, wir wollten uns noch einmal ganz persönlich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie uns unseren Patrick zurückgegeben haben.«

Ich spürte, wie ich vor Verlegenheit rot wurde.

»Aber ich hab gar nicht so viel getan.«

»Doch, doch, mein Mann hat ganz recht! Sie haben in zwei Tagen das erreicht, was keiner von uns in zwei Monaten geschafft hat! Patrick hat uns alles erzählt. Wir werden noch einiges miteinander zu besprechen haben, aber das Wichtigste ist, dass er wieder mit uns redet. Unser Sohn ist wieder da, und das verdanken wir alles Ihnen.«

Ich setzte zum nächsten Protest an, wurde aber sofort von Patricks Vater unterbrochen.

»Keine Widerworte, junger Mann! Akzeptieren Sie einfach, dass wir Ihnen sehr, sehr dankbar sind und immer sein werden. So, und jetzt werden wir uns wieder zu unserem Sohn begeben und es genießen, ihn wiederzuhaben. Auch wenn er jetzt aussieht wie ein Greenpeace-Werbemaskottchen.«

Wir lachten, anscheinend schienen sie mit der neuen Haarfarbe ihres Sohnes keine wirklichen Probleme zu haben.

Beide umarmten mich zum Abschied, dann gingen sie zum zweiten Bus und stiegen ein. In diesem Moment kamen auch drei große Geländewagen die Auffahrt hinauf und bogen auf den Hof ein. Die Kleinbusse ließen die Motoren an, und mit einem kleinen Hupkonzert machten sie Platz für die Neuankömmlinge.

Während ich zurück zu den anderen dreien ging, beäugte ich neugierig die Geländewagen. Der erste war ein Polizeijeep, gehörte also wohl zu Fabians Eltern. Der zweite war der Landcruiser meiner Eltern, beim dritten mußte ich etwas genauer hinschauen, bis ich die seitliche Aufschrift »Hotel Steintalbaude« erkannte. Der alte Ziermayer ließ es sich anscheinend nicht nehmen, seinen Azubi persönlich abzuholen.

Ich legte Jasmin einen Arm um und sah, dass Fabian mit Jonas das gleiche tat. Wir beobachteten, wie erst Fabians und dann meine Eltern ausstiegen, tatsächlich gefolgt vom Hotelchef höchstpersönlich. Plötzlich merkte ich, wie sich Jasmin in meinem Arm versteifte. Mit starrem Blick starrte sie auf das Paar, welches nun noch aus dem Hoteljeep ausstieg.

»Ach du Scheiße…«

»Was ist los, Jasmin?«

»Das … das sind meine Eltern!«

Ich schaltete blitzschnell.

»Deine Eltern? Die, die Jonas rausgeworfen haben und dir verbieten wollten, ihn hier zu besuchen?«

»Genau die!«

Nun konnte ich mich ihrem Ausruf »Ach du Scheiße…« nur noch aus vollem Herzen anschließen…

Fabian

Bis zu diesem Moment war alles prima gelaufen, auch wenn zumindest mir die Dankesbekundungen der Eltern irgendwie ein wenig peinlich waren. Jetzt aber schien alles mit Riesenschritten den Bach runterzugehen.

Jonas war durch den Ausruf seiner Schwester darauf aufmerksam geworden, dass da hinter Ludwig Ziermayer noch jemand kam. Der Ärmste war ja eigentlich schon nervös genug, weil er nun nach meinem Vater auch noch meine Mutter kennenlernen sollte, als er nun aber seine eigenen Eltern näherkommen sah, fing er an, unkontrolliert zu zittern. Alles was ich tun konnte war, ihn so fest wie möglich zu halten und zu hoffen, dass mein Vater notfalls einschreiten würde, wenn es zu der zu erwartenden unschönen Szene käme.

Die Frau und der Mann hinter Ziermayer näherten sich uns mit starrem Blick, gleich würde wohl das Donnerwetter losgehen. Als sie bis auf zwei Meter heran waren, wollte ich mich schützend zwischen sie und Jonas stellen, aber sie blieben von ganz alleine stehen. Schweigend wanderten Blicke zwischen den Eltern und ihrem Sohn hin und her, dann breitete Herr Borken die Arme aus.

»Jonas, komm her!«

Einfach so wäre Jonas dieser Aufforderung sicherlich nicht nachgekommen, aber wir alle sahen jetzt die Tränen im Gesicht seines Vaters, also nahm mein Freund all seinen Mut zusammen und ging zaghaft auf ihn zu. Als er vor ihm stand, umarmte ihn sein Vater und zog ihn ganz dicht an sich heran.

»Junge, kannst du uns nochmal verzeihen? Wir waren solche Idioten…«

Auch über Frau Borkens Gesicht rannen die Tränen, als sie sich nun der Umarmung anschloß. Ich schaute zu Jasmin herüber, die das ganze anscheinend noch gar nicht so richtig fassen konnte. Sie stand immer noch wie erstarrt im Schnee, bis ihr Reiko einen Schubs in Richtung ihrer Familie gab. Wie von einer Fessel befreite stürmte sie zu ihren Eltern und ihrem Bruder. Das war wohl der Zeitpunkt, zu dem wir uns ein wenig zurückziehen sollten, damit die Familie erstmal etwas Raum und Zeit für sich hatte. Und da galt es ja auch noch, meine eigene Verwandtschaft zu begrüßen, also ging ich hinüber zu meinen Eltern.

»Hallo Mutti, hallo Paps.«

Auch ich bekam jetzt eine Umarmung ab, naja, typisch meine Mutter. Gleich würde sie fragen, ob ich auch ja immer meine warme Unterwäsche getragen hätte.

»Faby, bin ich froh, dass ich dich wiederhabe! Laß dich mal anschauen! Naja, verhungert scheinst du ja nicht zu sein. Aber deine Haare! Was hast du denn mit denen angestellt! Aber gut, das mußt du selber wissen, flott sieht das ja aus. Ich hoffe, du hast dich immer schön warm angezogen, nicht dass du dir hier oben etwas weggeholt hast.«

Ich wußte es. Ich wußte, dass das kommen würde!

»Mutter, nun laß den Jungen doch erstmal wieder zu Atem kommen. Du siehst doch, dass es ihm gut geht.«

»Ach Jürgen, du weißt doch, wie ich bin! Ich mach mir halt immer Sorgen um meine Jungs!«

Ich konnte wirklich von Glück reden, dass ich zumindest noch einen kleinen Bruder hatte. So verteilte sich die mütterliche Besorgnis wenigstens auf zwei Personen!

»Und das da drüben ist also dein neuer Freund? Jonas?«

»Ja, Mutti, das ist Jonas. Allerdings kapiere ich momentan nicht so ganz, was da gerade abläuft.«

Dummerweise hatte die versammelte Familie Borken meine Bemerkung mitbekommen, da sie sich gerade auf dem Weg zu uns hinüber befand. Jasmin und Jonas liefen zwischen ihren Eltern, die ihre Arme um ihre Kinder gelegt hatten.

»Ich glaube, da kann ich ein bißchen was erklären. Vor vier Tagen klingelte bei uns nachts das Telefon, Jonas‘ Chef, Herr Ziermayer, war am Apparat und teilte uns mit, dass er und Jasmin zusammen mit einer Kindergruppe mitten im Schneesturm im Wald verschollen seien.«

Das war sicherlich ein ziemlicher Schock gewesen, zumindest wegen Jasmin.

»Wir fühlten uns zu diesem Zeitpunkt eh schon ziemlich mies, weil uns langsam klargeworden war, dass wir drauf und dran waren, nach unserem Sohn auch noch unsere Tochter zu verlieren. Und nur wegen unserer eigenen Dummheit.«

Überrascht schaute ich Herrn Borken an, das waren wirklich sehr klare Worte!

»Wir haben sofort ein paar Sachen gepackt, sind ins Auto gestiegen und ohne anzuhalten hier runtergefahren. Es war gar nicht so einfach, in dem Schnee durchzukommen.«

Das konnte ich mir gut vorstellen, besonders für solche schneeungewohnten Flachlandindianer.

»Auf der Fahrt hierher machten wir uns die größten Sorgen, und uns wurde klar, dass eigentlich nur eines für uns zählt: dass wir unsere Tochter und unseren Sohn lebend wiederbekommen. Alles andere war plötzlich sowas von nebensächlich…«

Dass immer erst Katastrophen Klarheit in den Kopf der Menschen bringen mußten!

»Im Hotel trafen wir die anderen Eltern und Herrn Ziermayer, der in den höchsten Tönen von seinem Azubi Jonas schwärmte.«

Ha! Logisch! Von Jonas konnte man ja nur schwärmen!

»Und dann kam der Anruf, der uns alle fast vor Glück zusammenbrechen ließ. Jemand hatte die verirrten Wanderer gefunden, sie befanden sich in Sicherheit, und allen ging es gut. Das muß man sich mal vorstellen, zwölf erwachsene Leute flennten wie die Schloßhunde um die Wette.«

In so einer Situation war das durchaus verständlich.

»In den Tagen bis heute hatten wir viel Zeit zum Nachdenken, und dann trafen wir auch noch auf Herrn Röcker, der zufällig eine Unterhaltung von uns mitbekommen hatte. Also Fabian, eines kann ich dir sagen: so wie dein Vater hat uns noch nie jemand den Kopf gewaschen!«

Stolz schaute ich zu meinem Erzeuger, der mich zufrieden anlächelte. Ich hatte ja eh schon riesigen Respekt vor ihm, aber der war soeben noch um einiges gestiegen.

»Aber warum habt ihr nur einmal angerufen? Und warum habt ihr mir da nicht gesagt, dass ihr zu diesem Zeitpunkt schon längst hier im Hotel wart!«

»Jasmin, euer Vater und ich, wir hatten noch über soviel nachzudenken. Der erste Anruf lief auch nicht so toll, wir haben ja gespürt, dass du auf uns nicht so gut zu sprechen warst. Da haben wir beschlossen, dass wir das nicht per Telefon klären können sondern nur persönlich, von Mensch zu Mensch. Es ist uns unheimlich schwergefallen, in den letzten beiden Tagen keinen Kontakt mehr mit euch zu haben, aber ich glaube, es war besser so.«

Mein eigener Vater hatte ja behauptet, dass in mir eine psychologische Ader schlummerte, und diese sagte mir jetzt, dass das die richtige Entscheidung gewesen war.

»Und ihr kommt jetzt damit klar, dass ich schwul bin?«

Das waren die ersten Worte, die ich von Jonas seit dem Auftauchen seiner Eltern hörte, und er stellte prompt die alles entscheidende Frage.

»Ja, Jonas, wir kommen damit klar. Wir haben sicherlich noch einiges zu lernen, so richtig verstehen tun wir es noch nicht. Aber wie ich schon gesagt habe, das einzige was für uns heute noch zählt ist, dass es dir gut geht und du glücklich wirst. Wenn du mit einem anderen Mann dein Glück findest, dann soll es so sein.«

»Ich hoffe es, Vati.«

Jonas löste sich aus den Armen seiner Eltern und kam zu mir herüber.

»Das hier ist nämlich Fabian. Er ist der Mann, mit dem ich glücklich bin. Ich liebe ihn, und er liebt mich. Ob ihr damit nun klarkommt oder nicht.«

Frau Borken lächelte uns an.

»Das habe ich mir fast schon gedacht. So wie er uns beinahe an die Gurgel gegangen wäre, als wir vorhin auf dich zugingen…«

Allerdings, das hätte ich tatsächlich getan, wenn sie meinem Schatz Böses gewollt hätten!

»Wer hätte das gedacht, wir kommen hier runtergerast in der Angst, unsere Tochter und unseren Sohn endgültig verloren zu haben, und nun bekommen wir sogar noch einen weiteren Sohn dazu.«

Das war zuviel für Jonas, mit einem Schluchzen sackte er neben mir zusammen, ich konnte gerade noch verhindern, dass er der Länge nach hinknallte. Sofort sprangen auch unsere Väter hinzu, sahen aber bald, dass ich die Situation unter Kontrolle hatte.

»Tja, Herr Borken, den Job des Beschützers hat man uns wohl endgültig abgenommen, unsere Jungs sind erwachsen geworden.«

»Da haben Sie recht, Herr Röcker. So ist das Leben, eben sind die kleinen noch in Pampers herumgehüpft, und plötzlich sind sie richtige junge Männer.«

»Und Frauen!«

»Okay, Jasmin, und Frauen.«

Ich hielt in der Zwischenzeit einen weinenden Jonas ganz fest in meinen Armen, aber es waren eindeutig Tränen der Freude und der Erleichterung darüber, dass er seine Eltern wiederhatte. Während ich ihn ganz langsam beruhigte, lernten seine Eltern nun auch noch ihren zweiten Schwiegersohn in spe kennen, wovon sie wohl noch etwas mehr überrascht waren als vom ersten.

Aber was konnten Eltern schon tun, wenn sich ihre Kinder verliebten? Gar nichts. Und auch, wenn sie es noch nicht wußten: mit Reiko hatten sie auch einen guten Fang als Schwiegersohn gemacht.

Auch Reikos Eltern waren nun zu unserer Gruppe gestoßen, ebenfalls Herr Ziermayer. Die Heilmanns waren natürlich besonders an Jasmin interessiert, die sie ja bisher nur aus mündlichen Berichten kannten. Da würde es sicher keine Probleme geben, Jasmins offenes und fröhliches Wesen würde sich ganz schnell in ihr Herz reinstehlen.

Meine Mutter war es dann, die zum Aufbruch mahnte.

»Wie siehts denn nun aus, wollen wir langsam aufbrechen? Faby, du wirst schon von der ganzen Familie erwartet.«

Ach du Schande, die hatte ich ganz vergessen.

»Ihr seid doch bestimmt froh, wenn ihr endlich hier wegkommt.«

»Und Tom schläft mit in meinem Zimmer, Mutti?«

»Ja natürlich, das geht doch gar nicht anders bei dem vielen Besuch.«

»Leonie, unser Sohn scheint irgendwie gar nicht so begeistert von dieser Vorstellung zu sein. Was ist los, Faby, hast du keine Lust? Heiligabend mit der ganzen Familie?«

Ich beschloß, ganz ehrlich zu sein.

»Paps, wir haben hier gerade vier Tage auf engstem Raum verbracht, neun Leute plus Hund. Und jetzt kommt ihr mir mit einer riesigen Familienfeier. Tut mir leid, aber das ist, als käme ich vom Regen in die Traufe.«

»Ja, aber wir können doch nicht die ganze Verwandtschaft aus dem Haus jagen!«

Das war mir auch klar. Leider.

»Könnten wir nicht wenigstens noch eine Nacht hier auf der Hütte bleiben?«

Reikos Vorschlag war der Strohhalm, nach dem ich jetzt griff.

»Genau! Dann könnten wir uns noch in aller Ruhe von den Strapazen der letzten Tage erholen.«

»Aber das geht doch nicht, eure Eltern wollen euch doch bestimmt auch zu Weihnachten bei sich haben.«

Wie erwartet, kam der größe Widerstand von meiner Mutter. Die anderen Elterneinheiten schienen etwas aufgeschlossener zu sein.

»Also Weihnachten ist ja noch drei Tage, und wenn es nur bis morgen ist…«

Reiko lächelte seine Mutter dankbar an.

»An uns soll es auch nicht scheitern, wir haben solange auf unsere beiden verzichtet, da macht der eine Tag auch keinen Unterschied.«

Meine Mutter sah nun ein, dass sie auf verlorenem Posten stand.

»Na gut, wenn es denn sein muß. Aber morgen zum Mittagessen bist du zuhause, junger Mann!«

Bis dahin würde ich hoffentlich Kraft genug getankt haben, um den Familienclan ertragen zu können.

»Moment mal, wir haben Jasmin und Jonas noch gar nicht gefragt, ob sie überhaupt hierbleiben wollen.«

Deren breites Grinsen war Antwort genug, und somit war wohl alles geklärt.

Oder auch nicht. Plötzlich sackten Jonas‘ Mundwinkel nach unten.

»Was ist, Schatz?«

»Ich kann nicht hierbleiben.«

»Wieso nicht, mein Junge?«

»Ich hab morgen Frühschicht im Hotel.«

Scheiße, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Jonas war ja der einzige von uns, der arbeiten mußte.

»Bub, das laß mal meine Sorge sein! Deine nächste Schicht beginnt erst am dritten Januar, bis dahin will ich dich im Hotel höchstens als Gast sehen, verstanden?«

Das war der endgültige Beweis, den alten Ziermayer plagte das schlechte Gewissen. Wo der doch sonst noch mehr hinter dem Geld der Leute her war als der Finanzminister persönlich!

»Wirklich, Chef? Geht das?«

»Ja klar, Junge. Ich hab Mist gebaut, als ich dich mit den Kindern losgeschickt hab, ich hätte es besser wissen müssen. Ich bin ja heidenfroh, dass ich meinen Azubi überhaupt lebend wiederbekomme, da kann ich auch noch ein paar Tage auf ihn warten.«

»Danke, Chef, vielen Dank!«

»Keine Ursache. So, jetzt muß ich aber wieder los, das Geschäft führt sich nicht von alleine. Frau Borken, Herr Borken, soll ich Sie wieder mit runternehmen?«

»Lassen Sie mal, Herr Ziermayer, die beiden kommen mit zu uns zum Mittagessen.«

»Aber Frau Röcker, das können wir doch nicht annehmen!«

»Oh doch, das können Sie! Wo die Kinder nun noch einen Tag hier oben bleiben, werde ich doch nicht mit leeren Händen nach Hause zurückkehren!«

»Aber…«

»Keine Widerrede. Wir haben ja jetzt eh eine Menge Gesprächsstoff.«

Somit waren Jonas‘ Eltern glücklich in die Fänge meiner Mutter geraten, und sie würden schon bald merken, dass es aus unserer Familie kein Entrinnen gab. Herr Ziermayer verabschiedete sich und düste kurz darauf davon, dann nahmen auch wir von unseren Eltern Abschied. Es war ja kein Abschied für lange Zeit, auch wenn meine Mutter sich wieder so aufführte, als würde ich für drei Monate ins ewige Eis aufbrechen.

Nach einer ganzen Tirade von Ermahnungen und gutgemeinten Hinweisen brachten wir die sechs alten Leutchen zu den Autos. Unterwegs zog ich meinen Vater noch einmal kurz zur Seite.

»Sag mal, Paps, mußte das sein, das mit dem Nachthemd?«

Sein schallendes Gelächter erfüllte den Wald.

»Ja, Faby, das mußte sein. Tom hat darauf bestanden.«

Soso. Tom also. Nun gut. Ich hatte ja jetzt einen ganzen Tag lang Zeit, mir eine sehr langsame, sehr qualvolle Todesart für ihn auszudenken!

Dann war es soweit, die Motoren der beiden Geländewagen sprangen an, und langsam krochen die beiden Vehikel vom Hof. Reiko hielt mit einer Hand Arko am Halsband fest, mit der anderen umfaßte er Jasmin. Jonas hatte sich auch wieder gefangen, sodass er es jetzt wieder war, der mich umarmte und festhielt, während wir unseren Eltern hinterherschauten. Als die Fahrzeuge um eine Kurve verschwunden waren, gingen wir schweigend zurück in die plötzlich so leere Hütte.

Diese Ruhe würden wir jetzt noch einmal für einen ganzen Tag genießen können. Unseren noch sehr jungen Beziehungen würde das sicherlich gut tun. Aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte…

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