Ziellos lief ich durch den Wald. Ich war wütend und traurig zugleich. Wie konnte er mir so etwas nur antun – wie konnte er UNS so etwas antun? Und das an unserem Jahrestag. Genau heute vor einem Jahr hatten wir zusammengefunden, hier in den Bergen, in einer abgelegenen Berghütte, die nur selten von Touristen angemietet wurde. Diese Herberge war ein klassischer Geheimtipp unter den Liebhabern von steilen Pisten und Leuten, die einfach nur ihren Winterurlaub in Ruhe genießen wollten, ohne grelle Partys und ohrenbetäubendes Geschrei.
Zuerst wollte ich nur einen kleinen Spaziergang durch den winterlichen Wald machen. Doch dieses Mal fröstelte es mich früher als sonst und eher als geplant, kehrte ich zur Hütte zurück. Mir zerbrach es das Herz, als ich ihn mit einem Anderen in UNSEREM Bett vorfand. Nur für eine Sekunde schaute er mich erschrocken an, dann wandelte sich sein Blick in Resignation und Gleichgültigkeit und er fickte einfach weiter dem Anderen das Hirn aus dem Schädel, als würde ich nicht in der Tür stehen und den beiden zuschauen.
Mit geweiteten Augen ging ich ein paar Schritte rückwärts, drehte mich dann um und lief einfach weg. Tiefhängende Äste streiften meine Wangen, ritzten die Haut etwas auf, doch der Schmerz in meinem Herzen überwog alles. Ich wusste nicht genau, warum ich davon so überrascht war, denn eigentlich hatte man es kommen sehen. Raoul flirtete den gestrigen Abend die gesamte Zeit mit diesem blonden Schönling, aber ich dachte, wenn es nur dabei bliebe, wäre es für mich okay.
Ich stieß zwischen zwei Bäumen hindurch auf eine große Lichtung. Noch ein paar Schritte ging ich, doch dann stolperte ich über meine eigenen Beine und landete der Länge nach im Schnee. Nur langsam stemmte ich mich ein wenig hoch, stützte mich auf Knie und Unterarme ab. Meine Hände ballte ich zu Fäusten, dann schlug ich wie wild auf den Boden ein. Ich war so dumm gewesen, so blind.
Zwischen uns hatte es schon vorher angefangen zu kriseln. Nur war ich der dummen Annahme, dass sich hier, wo wir vor einem Jahr zusammengekommen sind, alles wieder gibt. Vor einem Monat sagte er zu mir, ich sei eigenartig. Es war nicht das erste Mal, dass ich so was von jemandem hörte. Vorahnungen oder einer Eingebung folgend, schützte mich schon oft vor Verletzungen. Außerdem hatte ich die seltsame Gabe, die Gefühle und Gesinnung Anderer zu erkennen. Zwar half mir dies sehr in meinem Job, doch in Sachen Beziehung brachte es mir nur Unglück.
Die Menschen bekamen Angst vor mir, fanden meine Ausstrahlung mit der Zeit nicht mehr ungewöhnlich interessant oder anziehend, sondern unheimlich. Selbst meine Arbeitskollegen hielten Abstand von mir, weil sie zum Teil neidisch waren, da ich fast immer wusste, was meine Kunden wollten. Zum anderen war ich ihnen zu „normal“. Mal davon abgesehen, dass ich jegliche Annäherungsversuche – egal ob auf freundschaftlicher Basis oder mehr – rigoros abschmetterte. Denn früher oder später ließen mich doch alle im Stich und allein – wie auch jetzt.
Wieso habe ich ihn auch so nah an mich rangelassen? Aber es tat so gut begehrt zu werden, es tat so gut, mal nicht der abnorme Außenseiter zu sein. Das war vielleicht genau der Grund, warum ich über vieles hinweggesehen hatte. Tränen rannen über meine Wangen, was ich erst bemerkte, als die salzigen Tropfen vereinzelt im Schnee verschwanden. Ich hatte mich zwar soweit beruhigt, dass ich den Boden nicht mehr mit meinen Fäusten bearbeitete, nun kniete ich aber in der weißen Kälte und zitterte nicht wegen des Frostes, sondern wegen der Kühle in meinem Herzen.
Auf einmal hielt ich allerdings inne. Irgendjemand war hier und beobachtete mich. Ich spürte ganz deutlich diese dunkle Aura, welche klamm wie Nebel über die Lichtung kroch. Erschrocken schaute ich auf und blickte direkt in tief leuchtendes Grün. Angst erfasste mich wie ein kalter Lufthauch und ließ mich noch mehr zittern. Wie festgefroren kniete ich da und blickte mit vor Schrecken geweiteten Augen in das dunkle Glitzern dieses Wesens, dessen Pupillen mich eisig fixierten.
Dann machte er einen Schritt nach vorn und streckte seinen schwarz bekleideten Arm nach mir aus. Dies war für mich der Auslöser, mich herumzudrehen und loszustürmen. Allerdings kam ich nicht weit. Kaum hatte ich zwei Schritte getan, knirschte es geräuschvoll unter mir und wenige Sekunden später umfing mich eisiges Nass. Nur langsam drang zu mir durch, dass dies keine Lichtung gewesen war, auf die ich drauf stolperte, sondern ein zugefrorener See.
Die Kälte durchdrang sofort meinen gesamten Körper, lähmte ihn und auch meine Gedanken. Wie in einem Traum schaute ich zur zugefrorenen Wasserdecke auf, die nur vom Schnee gedämpft das Mondlicht hineinließ. Als würde ich schweben, sank ich immer tiefer und je weiter ich hinabglitt, desto mehr hieß ich die Dunkelheit willkommen. Keiner würde mich je vermissen, nirgends war ich erwünscht. Hier in der trüben Kälte war alles still, keine bösen Stimmen, die hinter meinem Rücken lästerten, keine abwertenden Blicke, die mich verfolgten. Hier durfte ich Ich sein, brauchte mich nicht zu verstellen, kein künstliches Lächeln aufzusetzen. Hier wurde ich so akzeptiert, wie ich bin.
Ich war bereit, die Finsternis gewähren zu lassen, öffnete meinen Mund, meine Lungen und ließ mich von ihr einnehmen, als wäre sie ein zärtlicher Liebhaber. Doch etwas störte. Jemand packte meinen Arm, was mich brutal aus meiner Trance riss und aufblicken ließ. Und wieder traf mich dieses dunkelglitzernde Grün. Selbst hier stach es aus der Schwärze hervor, als würde es von innen heraus glühen. Wie ein gefallener Engel schwebte das Wesen über mir. Seine Augen fixiert auf die meinen, die Brauen etwas zusammengezogen, als würde er mir verbieten wollen meinen Frieden zu finden.
Dann begann er an mir zu zerren und riss mich grob hinauf, als würde er meinen heftigen Protest und mein wildes Gezappel gar nicht bemerken. Laut schäumend durchbrachen wir die Wasseroberfläche und automatisch sog ich röchelnd die Luft in meine Lungen. Nur halb bekam ich mit, wie ich raus aus dem Wasser und zum Rand des Sees gezogen wurde. Schwer hustend lag ich im Schnee und würgte immer wieder Nass aus meinen Lungen.
Lange blieb mir nicht mich zu erholen. Schwerer, schwarzer Stoff legte sich über meinen Körper. Wenige Sekunden später wurde ich hochgehoben und fand mich in den Armen des Wesens wieder. Ich war zu erschrocken, um mich zu wehren und so ließ ich mich eine gefühlte Ewigkeit durch den winterlichen Wald tragen. Nicht ein einziges Mal traute ich mich aufzuschauen. Vor Kälte zitternd, lehnte ich mich an den harten Körper, der trotz meines zusätzlichen Gewichtes kaum in den weichen Schnee einsackte. Und je lauter ich mit den Zähnen klapperte, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass das Wesen mich fester an seine Brust drückte und seinen Schritt beschleunigte.
Nach einer Weile kamen wir an einer flachen Hütte an, die umsäumt war von schneebedeckten Tannenbäumen, sodass man kaum sagen konnte, wo diese rechts und links aufhörte. Die Türen gingen fast von allein auf, was mir wieder einen Schauer über den Rücken jagte. Die warme Luft, die mir drinnen entgegenschwappte, nahm mir für einen kurzen Augenblick den Atem und selbst das schwache Licht blendete meine Augen, weswegen ich sie zusammenkniff, meinen Kopf wegdrehte und mich dichter an die Brust des Wesens kuschelte.
Ein ungewöhnlicher Geruch stieg mir in die Nase, kaum wahrnehmbar aber doch so präsent, dass ich tief einatmete und diesen zarten Duft genoss. Deswegen war ich wohl sehr irritiert, als ich mit einmal auf einen schwarzen Sessel abgelegt wurde und das Wesen im Raum schräg gegenüber verschwand. Verstört blieb ich sitzen, schlang beide Arme um meinen zitternden Körper und begann leicht auf und ab zu wippen. Wie durch Watte gedämpft hörte ich ein gleichmäßiges Rauschen und wenig später tauchte das Wesen wieder auf und begann mich auszuziehen.
Wegen der Kälte war ich nicht nur viel zu steif, um mich zu wehren, sondern auch viel zu perplex. Schuhe und Socken landeten recht schnell in der nächsten Ecke, mein Pullover und Shirt folgten wenig später. Dies passierte alles so schnell, dass ich keine Möglichkeit hatte zu protestieren, nicht mal als meine Hosentaschen kontrolliert wurden. Nachdem er mein Portemonnaie zu meinen nassen Sachen legte, stand er auf, nahm mich wieder auf seine Arme und trug mich in das Zimmer, woraus dieses Rauschen zu hören war.
Geradezu, direkt an der Wand, war eine Wanne eingefliest, die halb voll mit Wasser gefüllt war, in die ich nun gesetzt wurde. Das Wasser war bestimmt nicht heiß, doch für meinen unterkühlten Körper warm genug. Mein Gönner wand sich nach rechts, holte ein dickes Handtuch samt Bademantel aus dem hüfthohen Schrank und legte beides darauf ab. Dann kam er wieder zu mir, beugte sich etwas über die Wanne und stellte den Hahn auf eine wärmere Temperatur.
Zitternd sah ich wieder diese Augen, das tiefdunkle Grün, umgeben von einem schmalen Gesicht mit blasser Haut. Erst hier bemerkte ich, dass dieses Wesen ein junger Mann war, bestimmt nicht viel älter als ich. Nur schien er in keinster Weise zu frieren, obwohl er doch gleichfalls wie ich im kalten Eiswasser war. Sein locker nach hinten gebundenes, schwarzes Haar glänzte vor Nässe und seine Sachen waren wie steif. Weder hatte er jedoch blaue Lippen, geschweige denn eine Gänsehaut. Die Kälte machte ihm wohl gar nichts aus.
Ohne mich anzuschauen oder ein Wort mit mir zu wechseln, drehte mein Retter sich um, verließ das Bad und schloss die Tür hinter sich. Ich blieb verstört und am ganzen Leib zitternd in der Wanne sitzend zurück und wusste nicht im Geringsten, was ich davon halten sollte. Nach einer Weile hatte ich mir meine Hose samt Shorts ausgezogen, soweit es ging ausgewrungen und in das nebenstehende Waschbecken gelegt. Danach lehnte ich mich zurück und genoss die Wärme, die langsam wieder meinen Körper durchströmte.
Das Wasser hatte ich längst abgestellt, weil dies schon leicht dampfte und mich schläfrig machte. Zittern tat ich auch nicht mehr, sog tief den dezenten Lavendelduft ein, der leicht vom klaren Wasser aufstieg. Ich entspannte mich fast soweit, dass ich alles um mich herum vergaß. Vergaß, was geschah und wo ich war. Doch kaum hatte ich meine Augen geschlossen, sah ich wieder dieses tiefe Grün, welches mich fast bedrohlich anblitzte.
Wer war nur dieser junge Mann, dessen Aura mich so beängstigte? Ich musste es einfach herausfinden! Mühsam hievte ich mich aus der Wanne, trocknete mich ab und zog mir den Bademantel über. An den Armen war mir dieser ein wenig zu groß und unten reichte er mir bis zu den Knöcheln. Trotz das ich darunter nackt war, fühlte ich mich warm eingepackt. Der Stoff war schwer, aber innen richtig weich und am Saum silberne Tribals eingestickt, die sich fast glänzend vom schwarzen Untergrund abhoben.
Ich holte noch einmal tief Luft, bevor ich die Türklinge des Bades hinunterdrückte und auf den Flur trat. Wieder war der Boden unter mir warm, trotz Parkett, was wohl bedeutete, dass das ganze Haus mit Bodenheizung ausgestattet war. Der Flur war recht breit und abgesehen von der Sitzecke mir links schräg gegenüber, die ich ja schon kannte, stand rechts an der Wand, hinter einer einsamen Grünpflanze, schmale Schränke aus dunklem Holz.
Ich wand mich nach links auf ein Zimmer zu, aus dem gedämpft Licht floss. Nur langsam betrat ich dieses und schaute mich mit großen Augen um. Bücherregale aus dunklem Holz zierten ein Dreiviertel der Wände. Sie waren zwar nicht überfüllt, aber doch recht zugestellt mit antiken Stücken, sodass man sich kaum traute, eines zum Lesen herauszunehmen. In der Mitte an der linken Wand prangerte ein breiter Kamin, in dem ein schwaches Feuer knisterte. Geraderüber stand eine größere, braune Ledercouch im alten Stil und davor ein flacher Tisch, auf dem eine große Tasse stand, aus der es leicht dampfte.
Doch was mich am meisten vereinnahmte, war die Person, welche auf einem großen Sessel neben dem Tisch zur Wand hin saß und vollkommen abwesend ein Buch las. Eine Strähne seines Haares hatte sich aus seinem Zopf gelöst und hing weich auf seiner blassen Wange. Wieder fiel mir auf, wie weiß seine Haut wirkte und wie seine komplett schwarze Kleidung dies noch hervorhob. Die hohen Wangenknochen wirkten edel, fast ein wenig arrogant, und selbst von der Seite konnte ich das Grün aus seinen schmalen Augen blitzen sehen.
Keine Ahnung, wie lange ich so dastand und mit klopfendem Herzen dieses Wesen musterte. Doch obwohl er mitbekommen haben musste, dass ich das Zimmer betreten hatte, schaute er nicht auf. Er schien mich komplett zu ignorieren, total in seinem Buch vertieft. Selbst als ich mich vorsichtig räusperte, reagierte er nicht. Verunsichert setzte ich mich auf die Couch, die leicht knirschte, und nahm die dampfende Tasse in beide Hände. Das warme Wasser roch nach frischem Pfefferminz, was mir ein schwaches Schmunzeln auf die Lippen zauberte.
Ich mochte Kräuter, Pflanzen und überhaupt alles, was mit der Natur zu tun hatte. Und dieser Tee wurde auf Garantie nicht durch einen billigen Beutel aufgebrüht. Vorsichtig schlürfte ich an dem heißen Getränk und genoss den intensiven Geschmack. Doch auch wenn der Tee mich für einige Augenblicke ablenkte, musste ich immer wieder zu dem jungen Mann rüberschauen. Er schien kaum zu atmen oder zu blinzeln, saß da fast wie ein Geist.
Wieder fröstelte es mich, als ich an die Lichtung zurückdachte. Wie er dastand, mitten im Schnee und mich anstarrte, mit seinen tiefen, dunkelgrünen Augen, gleich einem schwarzen Panther, der seine Beute musterte. Auch jetzt umgab ihn diese dunkle Aura, die mich wachsam bleiben ließ. Mit Sicherheit war dieser junge Mann nicht so harmlos, wie er jetzt schien. Eine Bewegung von rechts riss mich aus meinen Gedanken. Mein Gastgeber war aufgestanden, hatte das Buch beiseitegelegt und das Zimmer verlassen.
Verwirrt schaute ich ihm nach und wusste nicht, ob ich ihm nun folgen sollte oder nicht. Er nahm mir meine Entscheidung ab, indem er wieder ins Zimmer spazierte und mir eine dicke Decke um die Schultern legte. Ein paar Holzscheite legte er auch noch im Kamin nach, als wollte er es mir extra warm machen. Dabei fror ich doch gar nicht. Warum also …
‚Moment mal. Hatte er vorhin etwa mitbekommen, dass es mich leicht wegen ihm geschüttelt hat? Er hatte also doch auf mich geachtet. Aber wieso sprach er nicht mit mir? Wieso tat er so, als würde er mich nicht registrieren?‘
Ich war so verwirrt, dass ich mir ohne Widerstand die fast leere Tasse aus der Hand nehmen ließ und mit zusammengezogenen Brauen beobachtete, wie mein Gastgeber den Inhalt der Tasse musterte, sich herumdrehte und wieder das Zimmer verließ. Er wollte mir doch jetzt nicht wirklich einen neuen Tee aufbrühen? Warum fragte er nicht, ob ich überhaupt noch einen wollte? Langsam war ich echt genervt.
Missmutig stand ich auf und ging auf den Flur. Geradeaus, an der Sitzgruppe und den schmalen Schränken vorbei, war ein Raum, aus dem leise Geräusche und sanftes Licht drangen. Ich raffte die Decke um meine Schulter fester und tapste auf das türenlose Zimmer zu. Als ich dieses betrat, verschlug es mir fast den Atem. Ich stand in einer riesengroßen Küche, deren Außenwand aus klarem Glas bestand, sodass das helle Mondlicht ungehindert in den Raum drang. Und mitten in dessen Schein stand er.
Wie hypnotisiert starrte er den Vollmond an, als wolle er dessen Kraft entziehen. Ich konnte meinen Blick einfach nicht von diesem Wesen lösen, das mir so unwirklich erschien, so bedrohlich, dass mein Herz ständig schneller schlug und ein Schauer kalt den Rücken hinunter floss. Mein Instinkt sagte mir, dass ich hier schnellst möglich verschwinden sollte, dass Gefahr von diesem Wesen drohte. Aber irgendetwas hielt mich hier. Ob es nur Dankbarkeit war, wegen meiner Rettung, oder doch die seltsame Anziehungskraft, die von ihm ausging, konnte ich bis dato noch nicht sagen.
Das Klicken des Wasserkochers ließ mich zusammenzucken und das Gesicht meines Gastgebers flog zu mir herum. Seine kalten Augen trafen mich wie ein Kälteschock und als er auf mich zukam, ging ich verängstigt ein paar Schritte zurück, bis mein Rücken an die Wand hinter mir stieß. Erst ganz dicht vor mir blieb er stehen, musterte meine Stirn und Wangen. Sein warmer Atem streifte meine Haut, was mein Herz ungewöhnlich schnell schlagen ließ.
Tief sog ich die Luft ein, als er seine Hand hob, eine Strähne meines längeren Haares zwischen die Finger nahm und eingehend musterte. Dann zogen sich seine schmalen Brauen zusammen und die Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, sodass er noch gefährlicher wirkte als so schon. Mit einem verächtlichen Schnauben ließ er meine Strähne los und stürmte aus der Küche. Ich rutschte total verstört an der Wand hinab auf den Boden und blieb dort zitternd sitzen.
Warum machte mich so eine kleine Geste von einem Wildfremden so fertig? Lag es wirklich an ihm oder doch nur an meinem geringen Selbstbewusstsein? Raoul wollte immer, dass ich mir die Haare abschneide und so eine moderne Frisur zulege, wie die von diesen Boybands. Aber ich fühlte mich so einfach viel wohler, konnte notfalls meinen Blick, mein Gesicht dahinter verstecken.
Sah ich mit langen Haaren etwa so schlimm aus? Warum wollten mich immer alle verändern? Konnte ich nicht einmal so bleiben, wie ich bin? Vor lauter Selbstmitleid bekam ich überhaupt nicht mit, wie mein Gastgeber zurück in die Küche kam. Ich bemerkte es erst, als ein Handtuch auf meinem Schopf landete und er anfing, damit über meinen Kopf zu rubbeln. Er trocknete mir die Haare, als wäre ich ein kleines Kind. Ganz dicht hatte er sich vor mir hingehockt und sah mich nun besorgt an. Mein Gastgeber hatte aufgehört über meinen Kopf zu reiben und schaute mir direkt in die Augen.
Als er seine Hand hob und mir auf die Stirn legte, war dies für mich der letzte Beweis, dass dieses Wesen sich richtig Gedanken um mich machte. Aber warum? Er kannte mich doch überhaupt nicht. Würde er wissen, was mich umgibt, wie ich bin, was ich wirklich war – er würde sich auf Garantie nie so um mich kümmern. Er wäre nie so sauer geworden, weil meine Haare nass waren, dass ich mich hätte erkälten können. Wieder versank ich in Selbstmitleid und wand meinen Blick ab.
Doch mein Gastgeber hob mein Kinn an und suchte Augenkontakt. Ich hatte allerdings keine Kraft dazu. Ich kniff meine Lider zusammen und wünschte mich zurück in den See, zu dieser sanften, alles ausfüllenden Finsternis. Aber selbst bis dahin verfolgte mich das dunkelleuchtende Grün. Vereinzelt lösten sich Tränen und flossen lautlos hinab. Warum war ich nur so schwach? Ein einzelner Kuss holte mich aus der Düsternis meiner Gedanken zurück. Erstaunt riss ich meine Augen auf und sah dieses Wesen an, das mir mit halb geschlossenen Lidern die Tränen zärtlich von den Wangen küsste.
„Erschrecke ich dich etwa so sehr?“
Seine melodische Stimme drang wie ein tiefes Saiteninstrument in mein Ohr und ließ jede Faser meines Körpers vibrieren. Ich war so perplex, weil mein Gastgeber auf einmal mit mir sprach, dass ich zuerst nur etwas mit dem Kopf schüttelte.
„Ich bin es nicht gewohnt, dass sich jemand um mich sorgt“, brachte ich später leise heraus.
Raoul war zwar zärtlich und nett zu mir gewesen, doch wenn es mir schlecht ging, wurde er eher sauer wegen meiner Schwäche und meinte, ich solle mich nicht so mädchenhaft haben. Er fragte bisher nie nach dem Warum. Mein Gastgeber zog etwas seine hübschen Brauen zusammen und sah mich stirnrunzelnd an.
„Dann hat dich niemand bisher wirklich geliebt“, kommentierte er meine Erklärung.
Wusste er eigentlich, wie Recht er hatte? Wieder wischte er eine Träne sanft mit dem Daumen von meiner Wange. Das gefährliche Blitzen in seinen Augen war fast gänzlich verschwunden. Sie schimmerten mich liebevoll an, dass mir ganz warm wurde. Wie konnte man nur so gegensätzlich sein? Seine Hand fühlte sich kalt auf meiner erhitzten Haut an und ich bekam dieses dringende Bedürfnis, sie in meine zu nehmen, um sie zu wärmen. Ich wollte ihm auf einmal nahe sein. Nicht unbedingt auf sexueller Ebene, aber dieses Wesen zog mich dermaßen in seinen Bann, dass ich mehr wissen wollte.
Wer war er und warum lebte er in dieser Abgeschiedenheit? Waren nur seine Hände so kalt? Mir wurde erstmal ganz anders, als mein Gastgeber mich wieder auf seine Arme hochnahm, aufstand und Richtung Flur ging. Trotz meiner Verwirrtheit und das ständige Warnen meines Instinktes fühlte ich mich seltsam wohl. Mitten im Flur blieb er allerdings stehen. Fragend sah ich zu ihm auf und folgte dann seinem Blick, der starr auf die Tür links neben dem Bad gerichtet war. Unter dieser quoll doch tatsächlich Schaum hervor. Sanft setzte er mich ab und öffnete mit einem Ruck die Tür. Schaum schwappte über seine Füße und ein leises Rumoren war aus dem Zimmer zu hören. Vorsichtig ging ich zu meinem Gastgeber und lugte an seinem Rücken vorbei in den Raum.
„Was ist denn hier passiert?“, lachte ich, suchte den Lichtschalter und trat nach dessen Betätigung ein.
Ich stand in einem schmalen Zimmer, lediglich gefüllt mit einer Waschmaschine, Trockner, großem Wäschekorb und hinten an der Wand ein paar Schränke. Der Boden war allerdings bedeckt mit weißen Wasserblasen, die unentwegt aus der Maschine quollen. Auf ihr stand eine Flasche Waschmittel, die komplett leer war. Ich nahm diese in die Hand und drehte mich zu meinem Gastgeber um.
„Hast du etwa die gesamte Flasche in die Maschine gekippt?“, fragte ich belustigt.
Auf seinen blassen Wangen zeichnete sich für ein paar Sekunden ein leichter Rotschimmer und für einen kurzen Augenblick fixierte er verlegen die leere Flasche. Doch dann nahm er wieder einen ernsten Gesichtsausdruck an, riss mir die Flasche aus der Hand und warf sie in einen Mülleimer bei den Schränken.
„Dies gehört nicht mit zu meinen Aufgaben!“, motze er etwas, was mich nur breiter grinsen ließ.
Mein Gastgeber schien etwas launisch zu sein und seine Emotionen gerne frei zu zeigen. Aber am meisten freute mich, dass diese Reaktion doch mehr als nur menschlich war. Ein wenig verloren stand er vor der Waschmaschine und wusste anscheinend nicht wirklich, was er nun machen sollte. Ich lachte in mich hinein, stelle die Maschine auf ‚Abpumpen‘ und wand mich dann zu den Schränken.
Wenn das hier wirklich der Putzraum war, musste es auch irgendwo einen Wischlappen geben. Mit ihm fand ich einen Eimer, den ich halb voll mit Wasser füllte. Den Lappen gut angefeuchtet, legte ich ihn auf den Boden und versuchte den Schaum zu binden. Es war zwar etwas mühselig, aber es funktionierte. Weit kam ich allerdings nicht, denn mein Gastgeber packte mich auf einmal am Arm, zerrte mich auf die Beine und bis ins Wohnzimmer und stieß mich fast schon grob auf die Couch.
„Das … gehört bestimmt nicht zu den Aufgaben eines Gastes!“, blaffte er und funkelte mich wütend an.
Ich schaute genauso verärgert zurück. Es war ja sehr nett, dass ich dies nicht unbedingt machen musste, aber konnte er das nicht etwas netter formulieren?!
„Dieser Ton gehört auch nicht gerade zu dem eines Gastgebers!“, zickte ich zurück, worauf sich seine Wangen wieder leicht rot färbten.
„Ruh dich aus!“, wurde mir befohlen, wonach er im Anschluss aus dem Wohnzimmer verschwand.
Leicht schmollend blieb ich auf dem Sofa sitzend zurück und raffte die Decke um meine Schultern fester. Eine Viertelstunde später stand mein Gastgeber wieder im Raum, samt ein paar Sachen in der Hand. Sein dünner Pullover war genau wie seine Hose durchgeweicht, als wäre er damit schwimmen gewesen.
„Deine Sachen. Ich glaube sie sind noch nicht ganz fertig“, sagte er und schaute mich um Verzeihung bittend an. Doch als ich aufstand, um sie mir anzuschauen, guckte er gleich wieder böse.
„Ich tu sie nur in die Waschmaschine. Alles weitere macht diese von allein“, beschwichtigte ich ihn, worauf er zwar noch etwas skeptisch blickte, mich aber dann doch gewähren ließ.
Allerdings folgte er mir auf Schritt und Tritt und beobachtete genau, was ich tat. Ob er lernen oder auf mich aufpassen wollte, konnte ich nicht sagen. Erst als ich fertig war, verschwand er auf dem Flur und ließ mich allein. Ich wusste überhaupt nicht, was ich davon halten sollte, aber ich war neugierig. Vielleicht war es genau das, was mich dazu antrieb, ihm hinterherzulaufen.
Der Flur machte vor dem Wohnzimmer einen Knick nach links, dem ich folgte. Die erste Tür rechts stand halb offen und es brannte ein sanftes Licht. Leise trat ich hinein, aber wohl nicht leise genug. Kaum war ich drin, drehte sich mein Gastgeber zu mir um und sah mich überrascht an. Ich schaute noch viel perplexer zurück. Er war gerade dabei seine Hose zuzuknöpfen, sein schlanker Oberkörper war komplett frei, an Bauch, Brust und Armen zeichneten sich deutlich Muskeln ab. Wie konnte ein Mensch nur so gut aussehen? Seine nackte Haut war fast weiß, wodurch die schwarzen Haare und leuchtend grüne Augen noch mehr herausstachen. Selbst als er auf mich zukam, konnte ich meinen Blick nicht von ihm abwenden.
„Geht es dir gut? Du hast einen ganz roten Kopf.“
Besorgt tastete er über meine Stirn und Wangen und schaute dann etwas ärgerlich drein.
„Ich sagte doch, du sollst dich ausruhen. Du bist ganz heiß!“
Wie recht er doch hatte! Allerdings kam dies von keinem Fieber. Er nahm mir die Decke und das Handtuch von den Schultern und zog mich zu seinem riesigen Bett. Mit weichen Knien kletterte ich auf die Matratze und ließ mich von meinem Gastgeber zudecken. Kurz verschwand er aus dem Schlafzimmer, nur um wenige Augenblicke später mit einem dunklen Becher wiederzukommen, den er mir auffordernd hinhielt. Ich setzte mich auf und nahm das mir Dargebotene entgegen. Skeptisch musterte ich das leicht prickelnde Getränk, dann den Mann neben mir.
„Das ist etwas gegen Fieber und für einen erholsamen Schlaf“, erklärte dieser und setzte sich im Schneidersitz auf das Fußende des Bettes.
Seine Anwesenheit machte mich genauso nervös, wie sie mich beruhigte. ‚Jetzt muss ich ihm wohl vertrauen.‘ In einem Zug leerte ich den Becher und stellte ihn dann auf den Nachttisch ab. Das Getränk schmeckte etwas nach Zitrone, aber nicht nach so einem künstlichen Medikament. Die Wirkung setzte nach gut zwei Minuten ein. Meine Lider wurden immer schwerer und mein Körper begann sich zu entspannen. Bis zum Schluss hielt ich Blickkontakt zu meinem Retter, der wie ein Hund über mich wachte. Dann schlief ich ein.
Als ich wieder aufwachte, wusste ich nicht, ob es Morgen oder Abend war, denn dieses Schlafzimmer hatte keine Fenster. Der leckere Geruch von frischen Brötchen hatte mich aus meinen Träumen gerissen und lockte mich aufzustehen. Ich setzte mich im Bett auf und sah mich um. Das Licht war auf ein Minimum gedimmt, aber trotzdem konnte man die Umgebung gut erkennen. Rechts von mir standen zwei bis drei Kommoden an der Wand und mal abgesehen von dem riesigen Bett, welches das Zimmer dominierte, stand nichts weiter darin.
Als ich mich umschaute, entdeckte ich am Fußende ein paar Sachen, die fein säuberlich dalagen. Ich schälte mich also aus Decke und Bademantel, zog mir die Klamotten an und folgte dem leckeren Duft bis in die Küche. Der Tisch war reichhaltig gedeckt mit Butter, verschiedenen Sorten Marmelade, Käse und Wurst. Unterschiedliche Arten von Säften und Brötchen standen auch bereit. Wie viele Leute sollten denn zum Frühstück kommen? Vor lauter Erstaunen bekam ich überhaupt nicht mit, wie mein Gastgeber sich von hinten näherte.
„Du bist wach“, hörte ich mit einmal und spürte warmen Atem in meinem Nacken.
Erschrocken drehte ich mich um, stolperte über meine eigenen Füße und fiel nach hinten. Er reagierte blitzschnell. Sein Arm schoss nach vorne, packte mein Handgelenk und zog mich zu sich heran. Den anderen Arm schlang er um meine Taille und drückte mich somit noch dichter an sich. Ich fühlte mein Herz schmerzhaft pochen, was nicht allein vom Schock kam. Wir standen gut eine halbe Minute so dicht beieinander, bis mein Gastgeber sich endlich regte. Fast dachte ich er wolle mich küssen, seine Lippen bewegten sich nahe den meinen, glitten aber vorbei, an meiner Wange entlang bis zu meinem Ohr.
„Hier … brauchst du keine Angst zu haben“, hauchte er, hob dann mein Kinn an, damit ich ihn anschauen musste. Von allein hätte ich nie meinen Kopf hoch bekommen. „Und auch nicht vor mir“, setzte er noch nach und streichelte kurz über meine Wange.
Eine Antwort wartete er nicht weiter ab. Er ließ mich einfach so stehen, ging zur Küchenecke und setzte den Wasserkocher auf. Ich blieb vollkommen verdattert zurück und hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Dieses Wesen brachte mich vollkommen aus dem Konzept. Das Rauschen des Wassers löste meine Starre und mit weichen Knien schleppte ich mich zum Tisch.
Er war nur für eine Person gedeckt, also setzte ich mich auf den entsprechenden Platz. Wirklich etwas hinunter bekam ich nicht, trotz des leckeren Tees, der mir wieder serviert wurde. In meinem Rücken befand sich die gläserne Wand, doch das helle Sonnenlicht drang kaum hinein, da das Glas nun milchig war. Veränderte es etwa bei Sonneneinstrahlung seine Konsistenz? Gestern Abend war es auf jeden Fall klar gewesen. Nicht nur das machte mich nervös. Ich spürte dieses Wesen im Raum, sah es aber nicht. Ich wollte ihn unbedingt sehen, im Blick behalten. Wieder mahnte mich mein Instinkt zur Vorsicht, aber ich wollte mehr wissen, viel mehr.
„Willst du nicht auch frühstücken?“, versuchte ich ein Gespräch.
„Es ist elf Uhr“, antwortete er schlicht.
„Für Urlaub eine akzeptable Zeit“, ließ ich nicht locker und drehte mich so auf dem Stuhl, dass ich meinen Gastgeber sehen konnte.
Er stand an der Küchenzeile angelehnt, soweit es ging im Dunkeln. Die Arme vor der Brust verschränkt, starrte der junge Mann geradeaus, als könne er direkt durch dieses milchige Glas blicken. Er schien wirklich sehr in Gedanken versunken zu sein, da er nicht mal merkte, wie ich mich ihm näherte. So kam es mir zumindest vor.
Mit meinen 1,90 Meter war ich ja schon recht groß, aber mein Gastgeber überragte mich um mindestens zehn Zentimeter. Seine langen, zu einem festen Zopf nach hinten gebundenen, schwarzen Haare glänzten im Zwielicht und seine blasse Haut verlieh dem schmalen Gesicht fast schon edle Züge. Was beschäftigte ihn nur so, dass Melancholie und Verbitterung bei ihm ein und aus gingen?
„Alles okay?“, fragte ich sanft und legte meine Hand leicht auf seinen Arm.
Als würde der junge Mann gemächlich aus einer Trance erwachen, schaute er langsam zu mir hinüber und zog etwas seine Brauen zusammen. Wie in Zeitlupe hob er seine Hand, streichelte mir über die Wange hinab bis zum Kinn und sah mich dermaßen herzzerreißend an, als müsste er gerade eine folgenschwere Entscheidung treffen und wäre schon jetzt darüber betrübt. Meine für mich so urtypische Vorahnung enttäuschte mich auch dieses Mal nicht. Mit einem Ruck drehte sich mein Gastgeber um.
„Geh! Sofort! Deine Sachen liegen im Bad.“
Kalt diktierte er mir dies über seine Schulter hinweg, ließ mir keine Frage zwecks des Warums und verschwand einfach hinter der Tür rechts von der Küchenzeile, die er laut ins Schloss fallen ließ. Ich stand noch einige Sekunden wie angewurzelt da und konnte mich vor Schrecken nicht regen. Dabei war ich mir doch so sicher gewesen, dass ich bisher nichts Falsches getan hatte … oder? War ich ihm gerade zu Nahe getreten? War ich ihm gestern zu plump gewesen? Ich … ich wusste es einfach nicht.
Hätte er mich doch lieber im See belassen! Wütend und traurig zugleich stampfte ich aus der Küche durch den Flur ins Bad. Meine Sachen lagen fein säuberlich da und selbst die schweren Schuhe waren trocken, was mich schon sehr wunderte. Doch ich war zu durcheinander, um diesen Gedanken mehr Aufmerksamkeit widmen zu können. Rasch zog ich mich an, bemühte mich gar nicht erst, die neue Kleidung ordentlich zusammenzulegen und stürmte dann regelrecht hinaus, ohne warme Worte des Abschiedes.
An der Eingangstür klebte eine knappe Wegbeschreibung, wie ich wieder zurückfinden würde und so stapfte ich verbissen durch den puderweichen Schnee und versuchte die große Hauptstraße zu finden, die jeden Augenblick zwischen den Bäumen auftauchen sollte. Es hatte wieder angefangen zu schneien und der Wind nahm auch von Mal zu Mal zu. Als ich endlich zwischen den dichten Tannenwald stieß und nach oben blickte, sah ich die dunklen Wolken, welche sich immer mehr zusammenzogen. Ich schlang meine Arme dichter um meinen zitternden Körper und verfluchte meine Kopflosigkeit, als ich aus dem Hotel gestürmt war, meine Jacke liegen gelassen zu haben.
Krampfhaft quälte ich mich die Straße entlang und hatte ständig dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Es kroch das gleiche, unangenehm kalte Prickeln mein Rückgrat hinauf, als ich auf der vermeidlichen Lichtung stand und zum ersten Mal in die dunkel blitzenden Augen meines ehemaligen Gastgebers blickte. Verfolgte er mich etwa? Wollte er auf Nummer sicher gehen, dass ich auch wirklich verschwand?
Motorengeräusche, die sich immer stetiger vom Pfeifen des Windes abhoben, holten mich aus meinen Gedanken. Ein großer Van mit dicken Schneeketten tauchte auf der Straße auf und hielt dann direkt neben mir an. Ausnahmsweise war das Glück mir hold, denn die Besitzer des Autos boten mir an, mich bis auf die Hütte rauf mitzunehmen. Das ältere Ehepaar stellte sich als Wurst- und Fleischlieferant heraus, die das kleine Hotel mit frischen Waren versorgte. Meine Ausrede, ich hätte mich verlaufen, standen beide zuerst recht skeptisch gegenüber, akzeptierten diese dann aber mit dem lockeren Kommentar: „Die Jugend von heute.“
Des Metzgers Frau flößte mir gleich warmen Tee ein, die sie in einer Thermokanne dabei hatte. Dankbar trank ich kleine Schlucke und genoss das süßlich schmeckende Getränk, welches mich langsam auftauen ließ. Was mir nach ein paar Minuten auch auffiel, war, dass dieses kalte Kribbeln im Nacken nachgelassen hatte. Ich versuchte jedoch alle Gedanken an diesen jungen Mann zu verdrängen, da mir wichtigere Dinge bevorstanden.
Raoul hatte mich zum letzten Mal verletzt und ich hatte nicht vor, ihm abermals zu vergeben. Ich würde meine Sachen packen und abreisen. Den Urlaub hatte ich von meinem Gehalt im Vorfeld bezahlt, also würde es in dieser Richtung keine Probleme geben. Nur das Aufeinandertreffen mit meinem nun Exfreund behagte mir gar nicht. Wenn ihm etwas nicht passte, konnte er so ziemlich aufbrausend werden und für eine Szene hatte ich nicht wirklich die Kraft. Irgendwie hing ja doch noch mein Herz an Raoul, schließlich waren wir ein Jahr lang zusammen gewesen. Aber dass er mich so heftig hintergangen hatte, schmerzte einfach zu sehr.
Ich hatte ein ganz mulmiges Gefühl, als wir endlich bei der Hütte eintrafen, weswegen ich das Gebäude durch den Hintereingang betrat und nicht durch die größere Schankstube. Gerade als ich die breite Treppe im Hausflur hinaufschleichen wollte, tauchte Raoul auf. Zuerst blieb er wie vom Blitz getroffen abrupt stehen und starrte mich einfach nur an. Dann kam er wütend auf mich zugestampft.
„Chris! Sag mal spinnst du?! Weißt du eigentlich, wie viel Sorgen sich alle wegen dir gemacht haben?“
Er packte meinen linken Oberarm und drückte schmerzhaft zu. Fast hatte ich schon ein schlechtes Gewissen. Als ich wegrannte, dachte ich nicht im Entferntesten daran, dass mich irgendjemand suchen könnte. Vielleicht bereute ja Raoul seinen Seitensprung und wollte mich wieder zurück. Aber dafür fehlte irgendein Gefühl in seinem Blick. Ich wusste nur gerade nicht, welches. Doch als die Wirtin der Hütte vom Schankraum in den Hausflur kam und mich begrüßte, wurde mir einiges klarer.
„Herr Josias! Wie schön, es scheint ihnen besser zu gehen. Als ich von ihrer Magenverstimmung hörte und sie deswegen heute Morgen nicht zum Frühstück kommen konnten, hatte ich mir wirklich schon Sorgen gemacht. Aber wie ich sehe, wurden sie von ihrem Schatz gut gepflegt. Wenn sie Hunger haben, es gibt ja gleich Mittag“, plapperte die gute Frau und verschwand auf mein verkniffenes Lächeln hin in der Küche.
„Ja … wahnsinnig gute Pflege“, murmelte ich gepresst. „Mach, was du für richtig hältst, aber ich reise ab!“
Wütend riss ich mich von meinem Exfreund los und ging die Treppen hinauf. Dass er nicht einen einzigen Gedanken an mich verschwendet hatte, wo ich die Nacht über geblieben war, trieb mir fast die Tränen in die Augen. Ich hatte gerade mal die ersten paar Stufen erklommen, als Raoul mich mit einmal packte, zur Seite an die Wand schleuderte und seinen Unterarm dermaßen gegen meinen Hals presste, dass ich kaum mehr Luft bekam. Viel zu erschrocken über diese gesamte Aktion, vergaß ich komplett mich zu wehren. Mein Exfreund war zwar schon immer aufbrausend gewesen, aber noch nie brutal.
„Einen Scheiß wirst du tun!“, zischte Raoul und wollte gerade ansetzen, noch irgendetwas Dummes zu sagen, als ihn jemand von mir wegzerrte und er im hohen Bogen die Treppe nach unten flog.
Erstaunt schaute ich auf meinen Exfreund hinab, der sich laut stöhnend halb aufrichtete und dann wütend zu mir hochstarrte. Doch er sah gar nicht zu mir, sondern zu dem schwarzen Schatten schräg hinter mir. Wieder kroch dieses eiskalte Kribbeln mein Rückgrat hinauf und ließ meine Nackenhaare sich aufstellen. Ganz langsam wand ich meinen Blick um und sah abermals dieses dunkle Wesen vor mir, welches mich aus dem See gerettet hatte. Warum war er hier? Wollte er mich etwa wiedersehen? Aber warum hatte er mich dann vorher erst aus seinem Haus rausgeworfen? Ich verstand irgendwie gar nichts mehr. Raoul hatte sich wieder komplett aufgerichtet und funkelte mich wütend an.
„Ist das etwa dein neuer Stecher oder was? Glaubst du wirklich, der hält es länger als ne Woche mit dir aus?“
Bei diesen Worten geriet ich ins Schwanken. Ich war zu ungewöhnlich, zu speziell, für manche sogar beängstigend. Dass mein Exfreund es ein Jahr mit mir ausgehalten hatte, war echt ein Rekord.
Geh deine Sachen holen“, holte mich die sanfte Stimme des Schwarzhaarigen aus meinen trüben Gedanken.
Einen kurzen Augenblick sah ich ihn noch an, fühlte, wie mein Herz in der Brust schneller zu schlagen begann. Doch er fixierte weiterhin meinen Exfreund, bereit für jeglichen Unsinn, den dieser noch fabrizieren könnte. Schwer atmete ich aus, stieg weiter die Treppen hinauf und ließ beide hinter mir. Sollten die sich doch die Köpfe gegenseitig einschlagen.
Meine Tasche hatte ich schnell gepackt, mir meine Jacke drübergezogen, die noch am gleichen Fleck lag, wo ich sie am Vorabend fallengelassen hatte und so stieg ich keine zehn Minuten später wieder die Stufen hinab. Raoul stand am Eingang zum Treppenhaus, vor ihm dieser blonde Schönling von gestern, der dessen untere Lippe begutachtete, die leicht aufgeplatzt war.
Die hatten sich doch nicht wirklich geprügelt? Aber mein Grünauge sah nicht im Mindesten durcheinander oder verletzt aus. Ruhig atmend stand er in einiger Entfernung da und fixierte beide Männer. Als ich mich zu ihm gesellte, wand er sich ab, ging zur Tür und öffnete mir diese. Raoul sah mich kein einziges Mal an und ließ mich kommentarlos ziehen.
Draußen hatte der Wind ganz schön an Intensität zugelegt und aus dem sanften Schneefall einen kleinen Sturm gemacht. Ich schloss meine Jacke bis zum Hals und kuschelte mich tiefer in meinen dicken Schal. Der schwarzhaarige, junge Mann hatte mir meine Tasche aus der Hand genommen und mich zu seinem Schneemobil geführt. Sorgsam befestigte er diese auf dem dafür vorgesehenen Platz und setzte sich dann auf den vorderen Sitz. Erst nach kurzem Zögern platzierte ich mich hinter ihm.
„Bring mich bitte zum Bahnhof, ja?“, rief ich ihm über das Pfeifen des Windes hinweg zu, worauf er knapp nickte, den Motor startete und dann sofort losbrauste.
Durch den Ruck beim Anfahren rutschte ich erschrocken ein ganzes Stück nach hinten. Aber mein dunkler Engel ergriff meinen Unterarm, zog mich dicht zu sich heran und bedeutete mir, dass ich mich an ihm festhalten solle. Wieder zögerte ich kurz, bis ich seiner Aufforderung nachkam. Doch als ich dies schlussendlich tat, fühlte ich mich sofort sicherer, trotz das diese leise Warnung, ich müsse mich vorsehen, weiterhin im Hinterkopf lauerte. Rasant glitten wir die schneebedeckte Straße entlang und so dauerte es nicht lange, bis wir am Bahnhof ankamen.
Zusammen betraten wir das kleine Gebäude und ich steuerte sofort den einzigen Schalter an, um mir die Fahrkarte zu kaufen. Es war zwar normal, dass dort kaum Leute waren, da die Gemeinde nicht besonders groß war. Doch an dem Tag wartete nicht eine einzige Menschenseele auf einen Zug, geschweige denn saß ein Verkäufer im Kartenhäuschen. Suchend wand ich mich um und ging einige Schritte Richtung Ausgang zu den Gleisen hin, als ein Bahnangestellter um die Ecke kam, auf uns zu.
„Guten Tag die Herren. Ich muss ihnen leider mitteilen, dass heute kein Zug mehr fahren wird. Eine Schneelawine hat die Gleise in Mitleidenschaft gezogen, die zuerst wieder freigelegt werden müssen“, begann er uns gleich aufzuklären.
„Und wie lange soll das bitteschön andauern?“, fragte ich nicht gerade begeistert.
„Drei bis vier Tage müssten sie sich auf jeden Fall noch gedulden. Da ist eine Menge runtergekommen. Ich rate ihnen, sich so schnell wie möglich eine Unterkunft zu suchen. Der Sturm, der draußen wütet, soll laut Wetterbericht noch viel stärker werden.“
„Oh, toll. Danke.“
Höflich nickte ich dem Beamten zu, der sich daraufhin schleunigst verabschiedete. Ich stand einfach nur da und hatte die Nase gestrichen voll. Das ich nicht mit viel Glück gesegnet war, daran hatte ich mich schon gewöhnt und trotzdem zerrte diese Pechsträhne stark an meinen Nerven. Die anderen Hotels, welche verstreut auf dem Berg lagen, waren um diese Jahreszeit komplett ausgebucht und ein Auto besaß ich auch nicht, mal davon abgesehen, dass diese Straßen für Nichteinheimische mehr als nur gefährlich waren. Und zu allem Übel wurde mir auch noch meine Tasche aus der Hand gerissen. Mein schwarzhaariger Schönling trug sie Richtung Ausgang, was mich total durcheinanderbrachte. Ich lief ihm hinterher und langte nach meinem Gepäck. Doch er hielt es eisern fest.
„Was soll das?“, fragte ich gereizt.
„Hier kannst du wohl kaum übernachten“, meinte mein Gegenüber barsch.
„Und? Warum interessiert dich das? Zuerst wirfst du mich hochkantig aus deinem Haus raus und jetzt erscheinst du als die Fürsorge in Person. Warum???“
Ich war mehr als aufgebracht und wollte nicht nur ein paar Antworten, sondern ihn auch verstehen. Auf meine energische Frage hin verschwand sein starrer Gesichtsausdruck und verwandelte sich in Unsicherheit. Seine Augen wanderten hin und her, als würde er etwas Bestimmtes suchen. Hinter seinem hübschen Kopf schien es mächtig zu arbeiten, was ihn seltsam … menschlich wirken ließ. Er gab meine Tasche frei und sein Arm zuckte ganz kurz hoch, als wolle er wie schon einmal meine Wange berühren. Tief atmete mein schwarzer Engel durch, bis er endlich antwortete.
„Ich bin mir unsicher“, sagte er unzufrieden mit sich selbst. Ich hingegen begann zu schmunzeln.
„Wer ist das nicht? Das ist mit das Normalste der Welt.“
„Für mich nicht.“
Nun runzelte ich meine Stirn und blickte leicht mit dem Kopf schüttelnd zu ihm auf, als er sich weiter zu erklären versuchte.
„Ich kann für nichts garantieren, was eventuell noch geschehen wird. In mir herrscht momentan ein riesiges Chaos und ich kann nicht vorhersagen, wie alles endet.“
Über was für Sachen machte sich dieser Fremde nur so einen Kopf? War er vielleicht schwer krank? Hatte er gerade eine längere Beziehung hinter sich, wie ich? Oder war er schizophren? Vielleicht gleich mehreres zusammen? Dieser junge, hübsche Mann kam mir sehr zwiespältig vor. Trotz das mich mein Instinkt mehr warnte als zuvor, war meine Neugier geweckt, die es vorerst zu stillen galt.
„Woher willst du aber den Ausgang kennen, wenn du den Anfang komplett beiseiteschiebst?“, fragte ich ihn deshalb.
Mein Gegenüber musterte mich eingehend, bevor er dann ganz leicht zu lächeln begann. Wow, wenn seine grünen Augen mit Wärme gefüllt waren, sah er mehr als nur atemberaubend aus. Dieser Typ hatte mich in Sekunden um den kleinen Finger gewickelt.
„Darf ich dich als meinen Gast begrüßen, solange kein Zug fährt?“, bat dieser Schönling mich überaus höflich.
„Gerne“, stimmte ich zu und reichte ihm wieder meine Tasche. Eine kleine Spitze erlaubte ich mir trotzdem. „Solange du mich nicht wieder vor die Tür setzt.“
„Das nächste mal gebe ich dir den Motorschlitten mit“, lachte er gelassen, was mir schon wieder die Sprache verschlug. Der „Kleine“ hatte ja Humor.
Wenig später stand ich abermals im Flur des Hauses, aus dem ich zuletzt geflüchtet war, mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend. Ich war mir ziemlich sicher, dass es alles andere als klug war, wieder hier zu sein. Doch ich ignorierte dies gekonnt. Mir wurde das Gästezimmer gezeigt, was gegenüber vom Schlafraum meines Engels lag. Es war genauso breit, nur nicht ganz so tief. Links stand ein riesiger Kleiderschrank im modernen Stil, rechts ein Schreibtisch samt Bürostuhl. Geradezu war mittig ein Bett aufgebaut, auf dem zwei Leute gemütlich Platz hatten und am Kopfende von diesem zu beiden Seiten zwei kleine Nachttische.
Auch hier gab es keine Fenster. Scheute er etwa das Tageslicht? In Gedanken begann ich mich selbst auszulachen. Ein Vampir? Dann wurden meine Gedanken ruhig. Ich hatte ja schon viel erlebt, aber das? Vorsichtig sah ich meinen Gastgeber an, der mich freundlich anblickte.
‚Hm, blass, menschenscheu und –fremd, hat nicht wenig Geld, kälteunempfindlich und dann diese dunkle Aura. Gefrühstückt hat er auch nicht. Eigentlich passt alles. Außer das er mich bisher noch nicht bis auf den letzten Blutstropfen ausgesaugt hat. Oder gehörte das alles zu seinem Jagdstil? Oh man, was denk ich hier eigentlich?‘
„Das Zimmer ist wirklich schön. Richtig groß“, plapperte ich drauf los, um mich langsam wieder zu ordnen.
„Freut mich, wenn es dir gefällt.“
Gut, das wäre geklärt. Und nun? Etwas hilflos standen wir uns gegenüber und wussten nicht so richtig, was wir miteinander anfangen sollten.
„Ich hätte jetzt irgendetwas machen müssen, oder?“, fragte dieser Engel nach einer kleinen Weile, worauf ich leicht schmunzelte.
„Nicht unbedingt.“
Geknickt seufzend lehnte sich mein Gastgeber an den Schreibtisch.
„Tut mir leid.“
„Das muss es nicht, schließlich bist du nicht hier zu meiner persönlichen Bespaßung“, versuchte ich ihn aufzumuntern. Dankbar lächelte er mich an.
„Vielleicht sollte ich mich etwas erklären.“
Neugierig geworden, ließ ich mich auf die Bettkante fallen und lauschte seinen Worten.
„Ich komme nicht von hier“, begann er, weswegen ich etwas lachte.
„Ich auch nicht.“
Damit schien ich ihm wirklich ein wenig Mut gemacht zu haben, denn er sah schon viel entspannter aus.
„Ich wuchs abgeschieden von all dem hier auf, kenne mich maximal mit der Etikette der gehobenen Gesellschaft aus. Ein normales Leben mit normalen Leuten ist mir fast fremd.“
War er etwa adlig? Das würde zumindest so einiges erklären. Aber fürs Erste reichte mir das an persönlichen Informationen. Gediegen stand ich auf.
„Dann habe ich ja den besten Deal für uns.“
Mein Gastgeber legte seinen Kopf leicht schief und sah mich fragend an.
„Ich bringe dir etwas Normalität bei und dafür darf ich die paar Tage kostenfrei bei dir wohnen.“
Mit dem Angebot hatte er wohl nicht gerechnet, so überrascht, wie der Engel ausschaute. Auffordernd hielt ich ihm meine Hand hin, die er sofort ergriff.
„Gerne!“
„Okay. Lektion Nummer eins: Wenn man einen Gast hat, den man zum ersten Mal in sein Haus einlädt, zeigt man ihm als Erstes die Räumlichkeiten, führt ihn überall rum und gibt so kleine, überflüssige Kommentare wie ‚Das ist das Bad, Wohnzimmer, Schlafzimmer‘ und so weiter.“
„Ein Rundgang also? Gut.“
Mein Gastgeber schien über meine lockere Art mit allem umzugehen erfreut zu sein und überließ mir vorbildlich den Vortritt. Auf dem Flur allerdings hielt ich inne und drehte mich zu meinem Engel um.
„Ach und eines der wichtigsten Sachen: Man stellt sich zu allererst vor. Ich bin übrigens Christian Josias. Oder einfach nur Chris und ja, den Vornamen spricht man wirklich englisch aus.“
„Florian Redewig oder halt Flo. Und bei mir trifft wohl das Gleiche zu, wenn es um den Vornamen geht.“
Ich grinste über beide Ohren und ließ mich dann herumführen. Gleich bei dem ersten Zimmer, was mir gezeigt wurde, geriet ich ins Staunen. Direkt neben meinem Gästequartier war eine riesige Bibliothek. Gleich links stand wieder ein Schreibtisch aus dunklem Holz mit einem Bürostuhl, daneben eine Stehlampe und gleich danach zwei große, bequem ausschauende Ledersessel, nur getrennt durch einen kleinen Tisch, auf dem ein Schachbrett eingraviert war. Ansonsten sah ich nur Bücher. Die Regale an den Wänden waren voll damit.
„Das ist ja Wahnsinn!“, brachte ich meine Begeisterung zum Ausdruck und ging ein paar weitere Schritte hinein.
Überrascht stellte ich fest, dass am Kopfende der Raum einen Knick nach links machte und es da noch ein ganzes Stück weiterging. Kein Wunder, warum mein Zimmer kein Fenster hatte, wenn es von zwei Seiten allein schon von dieser Bibliothek umgeben war. Ich schaute mir ein paar Bücher genauer an und war von der Vielfalt verblüfft, die da herrschte. Von älterer Literatur, über Gesetzestexte, Gedichtsammlungen und neuster Jugendliteratur war wirklich alles zu finden.
„Das Zimmer scheint dir zu gefallen“, meldete sich mein Gastgeber zu Wort.
„Machst du Witze? Das hier ist einfach nur der Hammer! Du hast die alle doch nicht wirklich gelesen?“, fragte ich und deutete auf die Bücher.
„Bisher noch nicht. Dieses Haus wird oft als Unterkunft für ein kleines Trainingswochenende benutzt. Deswegen ist für jeden etwas dabei.“
„Aha. Hey, hier sind ja richtige Spezialitäten dabei: Skylark, Beck, Nero Impala“
„Das ist eine Auswahl meiner kleinen Schwester.“ Verwundert blickte ich zu ihm rüber. In diesen Büchern ging es ausschließlich um Jungs und beim Händchen halten blieb es darin nicht wirklich. „Sie ist richtig vernarrt in diese Autoren.“
Ein Mädchen, was schwule Literatur mag. Na ja, so was soll es ja auch geben.
„Okay, gehen wir weiter.“
Ich war ja hoffentlich etwas länger hier. Da könnte ich mir bestimmt später immer noch ein Buch zu Gemüte führen. Auf dem Flur wandten wir uns der Tür links zu, die nach draußen zu einem kleinen, schmalen Kiesgarten führte, wie mir Flo erklärte. Denn als wir rauskamen, war alles mit Schnee bedeckt und dicke Flocken trieben, vom starken Wind getragen, hinab. Das Ganze erinnerte mich an einen alten, japanischen Film und so ein typisches Haus. Eine zwei Schritt breite Terrasse umschloss U-förmig den Garten, und als mir mein Engel mitteilte, dass in dem Gebäude gerade rüber ein Dojang war, machte es die ganze Sache perfekt.
Schmunzelnd folgte ich ihm nach links, wodurch wir nach ein paar Metern wieder im Freien standen. Das war die Seite, die ich aus dem Küchenfenster schon kannte, doch anstatt mich wieder nach links zu führen, wo wir hätten in der Küche rauskommen müssen, stieg er rechts die zwei Stufen der Terrasse hinab und ging auf eine mannshohe Buschgruppe zu. Ich schlang meine Arme um mich, da es durch den Wind hier draußen doch recht kalt war. Mein Gastgeber bemerkte es sofort und reichte mir seine Hand.
„Wir sind gleich da“, munterte er mich auf und ich ließ zu, dass er meine Finger vorerst nicht losließ. Erst jetzt, als ich unmittelbar davor stand, entdeckte ich den schmalen Eingang, der doch tatsächlich zu einer kleinen Wasseroase führte.
„Das ist eine natürliche, heiße Quelle, die direkt aus dem Boden kommt. Dem Wasser muss man nicht einmal künstliche Stoffe zusetzen, um es so klar werden zu lassen.“
Voller Erstaunen betrachtete ich diese kleine Insel, die hier und da etwas blubberte, bedeckt mit einem sanften Nebel, der vom sachten Wasserdampf herrührte.
„Wow.“ Mehr brachte ich nicht heraus.
Nach einer kleinen Weile zog mich mein Engel wieder zurück zur Terrasse. Mir wurden noch die Gemeinschaftsduschen gezeigt, von denen auch die Tür zur Küche abging, in der wir nun wieder standen.
„Das war‘s schon“, sagte Flo bescheiden und blickte entschuldigend zu mir.
„Na ja, das Bad und den Haushaltsraum kenne ich ja schon“, lachte ich, worauf er ebenfalls schmunzeln musste. „Das Haus hier ist wirklich der Wahnsinn!“
„Es gefällt dir also?“ Er schien sich wirklich unsicher zu sein.
„Ein paar Tage lässt es sich hier auf jeden Fall locker aushalten. Sag mal, in der Bibliothek der Schachtisch. Ist der nur Zierde oder spielst du auch?“
„Sehr gerne sogar. Ich finde nur selten jemand, der gegen mich antritt.“
„So gut, ja?“
Mein Gastgeber zuckte lediglich mit den Schultern. Also war es beschlossene Sache. Für die nächste Zeit verschwanden wir in der Bibliothek und versuchten uns gegenseitig mit den verschiedensten Taktiken schachmatt zu setzen. Und das war ein nicht gerade leichtes Unterfangen. Mein Engel war wirklich gut, aber ich auch. Wir hatten gerade einen Gleichstand erreicht, als ich mich gähnend streckte und auf die Uhr schaute.
„Oh, schon achtzehn Uhr. Was meinst du, Lust auf etwas zu essen?“
„Natürlich, wenn du Hunger hast. Allerdings kenne ich mich in Sachen Kochen nicht besonders gut aus.“
„Dafür ich umso mehr. Lass uns mal nachschauen, was dein Kühlschrank so hergibt.“
Gesagt getan und wenig später standen wir schon in der Küche und plünderten was das Zeug hielt.
„Beschriftete Tupperware, damit man weiß, was drin ist und wie lange es noch haltbar ist. Nicht schlecht“, kommentierte ich amüsiert und suchte mir Gehacktes samt anderen Kleinigkeiten raus. Nach dem ich noch die Nudeln gefunden hatte, stand das Abendmahl fest. „Wie wär‘s mit Spaghetti Bolognese?“
Mein Engel lächelte breit, was ich als Zustimmung gelten ließ und loslegte. Interessiert beobachtete er mich, wie ich die Zwiebeln mit etwas Knoblauch anbriet, das Gehackte zugab und samt den restlichen Zutaten eine köstlich duftende Bolognese zauberte. Die Nudeln kochten eh fast von alleine und so war keine zwanzig Minuten später das Abendbrot servierfertig. Flo deckte den Tisch und machte sogar eine Flasche Rotwein auf.
Dadurch, dass es draußen schon dunkel war und es hier drinnen nur gedämpftes Licht gab, herrschte eine leicht romantische Atmosphäre. Während ich die gut gefüllten Teller auf unsere Plätze abstellte, schenkte er ein, weswegen ich mich schon mal hinsetzte, was er wenig später mir gleich tat. Ich langte nach meinem Glas und hielt es auffordernd zu meinem Engel hin.
„Auf einen gelungenen Abend.“
Kurz sah er mich verwundert an, lächelte dann aber warm.
„Auf einen gelungenen Abend.“
Gemeinsam stießen wir an und aßen danach gemütlich die Spaghetti. Es herrschte eine entspannte Stimmung, ohne dass irgendjemand etwas sagen musste. Beim Schachspielen hatten wir uns etwas unterhalten, was wohl erstmal beiden genügte. Dies bedeutete jetzt nicht, dass die Gespräche schlecht verlaufen waren. Im Gegenteil war es sehr angenehm gewesen, seiner melodischen Stimme zu lauschen. Wie der Gesang einer Sirene hatte mich diese mehr und mehr in den Bann gezogen und es mir schwer gemacht, mich auf das Spiel zu konzentrieren.
Die Küche war nach dem Essen schnell aufgeräumt und im gegenseitigen Einvernehmen zogen wir uns gemeinsam in das Wohnzimmer zurück, an den Kamin, in dem schon ein Feuer sanft flackerte, mit einem guten Buch. Ich brauchte keine große Unterhaltungsshow, schließlich war das mein Urlaub und da wollte ich lediglich entspannen. Und zu wissen, dass ein schwarzer Engel in meiner Nähe war, der mir jeden Wunsch von den Augen ablesen würde, nur um ein guter Gastgeber zu sein, amüsierte mich ungemein.
Obwohl es schon recht seltsam war, dass aus einem melancholischen, schizophrenen, ständig böse dreinschauenden Typen so ein zuvorkommender, höflicher, zurückhaltender, junger Mann mutierte. Jedoch gab es wiederum für alles Gründe und ich war mehr als nur neugierig, seine zu erfahren. Mit einem guten Buch in der Hand verstrich die Zeit wie im Flug und ich merkte, wie meine Augen immer schwerer wurden.
„Ich glaube es wird Zeit, ins Bett zu gehen. Du kannst ja kaum noch das Buch richtig festhalten“, schmunzelte Flo und stand auf.
„Ich glaube du hast recht“, gähnte ich schwach und erhob mich vom Sofa.
Vor den Türen unserer Schlafzimmer wünschten wir uns noch eine gute Nacht und wieder zerfloss ich fast bei diesem liebevollen Blick, den dieses Grünauge mir zum Abschied zuwarf. Kaum das ich mich ausgezogen hatte und unter meiner Decke gekrochen war, schlief ich auch schon ein, gefolgt von vielen kleinen Träumen, die alles andere als jugendfrei waren.
Trotz dessen wachte ich am nächsten Morgen recht ausgeruht auf, streckte mich wohlig und hüpfte dann aus dem Bett. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass es gerade zehn Uhr durch war, weswegen ich mich fix anzog, im Bad das allmorgendliche Prozedere hinter mich brachte und dann die Küche aufsuchte. Wieder war der Tisch gedeckt und wieder nur für eine Person. Mein Engel stand abermals an der Theke angelehnt und starrte geradeaus. Doch dieses Mal lächelte er mir sanft zu, als er mich bemerkte.
„Guten Morgen. Gut geschlafen?“
„Sehr gut sogar. Sag mal, frühstückst du gar nichts?“ Fragend deutete ich auf den gedeckten Tisch, worauf er mich entschuldigend anschaute.
„Ich bin schon etwas länger wach.“
„Leistest du mir trotzdem etwas Gesellschaft?“
So schnell gab ich nicht auf, schließlich wollte ich ihn in meiner Nähe haben und nicht, dass er allein in einer Ecke stand und Trübsal wegen was auch immer blies.
„Gerne.“
Wow, von diesem Lächeln konnte ich einfach nie genug bekommen. Er brühte mir noch rasch einen Tee auf, bis er sich dann mit zu mir setzte, seinen eigenen Tee trank und mit mir ein wenig plauderte. Nach dem Frühstück räumten wir zusammen den Tisch ab und als wir gerade fertig waren, klingelte ein Handy. Beide sahen wir verwundert auf. Meines lag auf stumm geschaltet in meiner Reisetasche im Gästezimmer, also konnte es nur seines sein. Nach kurzem Suchen fand mein Engel es schließlich und ging ran. Begeistert sah er nicht gerade aus, sprach auch nicht unbedingt viel und gab nur ab und an ein paar brummende Laute von sich.
Es sah wohl nach einem längeren Gespräch aus, weswegen ich ihm stumm bedeutete, in der Bibliothek zu sein. Ich stand auch kurz vor der Tür, als ich sachtes Vogelgezwitscher von draußen hörte. Mit gerunzelter Stirn wand ich mich dem Steingarten zu und als ich die Tür zu diesem öffnete, verschlug es mir fast die Sprache. Es hatte aufgehört zu schneien, kein Wind ging und die Sonne schien direkt der Länge nach auf den Garten, was den liegen gebliebenen Schnee wie kleine Diamanten glitzern ließ. Dieses Haus, dieser Ort, hatte wirklich etwas Magisches an sich. Genießerisch trat ich in die warmen Strahlen der Sonne und erfreute mich an das knirschende Geräusch unter meinen Füßen. Es war einfach herrlich!
Mir kam eine Idee auf, die ich kurzerhand umsetzte. Schauen wir doch mal, was die liebe Sonne unserem Vampir wirklich ausmacht. Mit den Händen formte ich eine Kugel und begann dann diese auf dem Boden weiterzurollen, bis eine recht große Kugel daraus geworden war. Das Gleiche machte ich noch zweimal und schon war mein kleiner Schneemann fertig. Zwar war er gerade mal hüfthoch, aber ich fand ihn trotzdem gelungen. Schnell verschwand ich wieder im Haus, holte meinen alten Zweitschal und Mütze, samt ein paar kleinen Ästen, die Flo immer zum Anzünden im Kamin nutzte.
Okay, Arme hatte er und Kleidung auch. Als Gesicht und typische Mantelknöpfe dienten größere Kiessteine, die hier unter dem Schnee zur Genüge rumlagen. Fehlte nur noch die Nase. Durch die Gemeinschaftsdusche hin, lief ich in die Küche, holte eine Möhre und legte diese auf die Terrasse neben der Tür. Jetzt hieß es nur noch abwarten. Die Zeit vertrieb ich mir mit Schneebällen basteln. Er kannte also kein normales Leben? Na mal schauen, wie ihm das gefällt. Ich freute mich jetzt schon diebisch und da der Schnee genau die richtige Konsistenz hatte, machte es umso mehr Spaß.
„Was machst du denn da?“ Flo stand am Türrahmen angelehnt und musterte argwöhnisch mein Treiben. Das Gespräch muss wirklich nicht toll verlaufen sein, so düster wie er dreinschaute. Ich versuchte allerdings, mich nicht beirren zu lassen.
„Ich baue einen Schneemann, sieht man doch“, meinte ich gelassen und richtete dessen Schal zur Bestätigung. „Jetzt fehlt nur noch die Nase“, erklärte ich weiter und deutete auf die Möhre zu seinen Füßen.
Auffordernd nickte ich ihm zu und war innerlich gespannt auf seine Reaktion. Es dauerte etwas länger, bis er sich endlich in Bewegung setzte, die Möhre aufhob und langsam auf mich zukam. Kurz zögerte er, trat dann aber doch aus dem Schatten, blinzelte genervt wegen des Lichts und blieb dann schwer seufzend vor dem Schneemann stehen.
Alles klar, ich wusste nun, dass mein Gastgeber kein Vampir war. Aber so wie er in der Sonne erstrahlte, stand es mein Engel tausendmal besser. Es schien fast so, als ob er die warmen Strahlen regelrecht aufsaugte und sein Körper zum glitzern brachte. Wieder war ich einfach nur geplättet. Unsicher sah dieser Schönling von der Möhre auf zum Gesicht des eisigen Freundes und wusste immer noch nicht so recht, was er da machen sollte.
„Die Nase“, wiederholte ich deswegen Mut bringend.
Kurz sah er zu mir rüber, dann stopfte er endlich die Möhre in die Mitte der obersten Kugel. Es sah richtig lustig aus, da das grüne Blätterwerk an den Seiten herabfiel, als hätte der Schneemann einen Bart.
„Perfekt!“, kommentiere ich und schlich mich langsam zu meinen geformten Bällen.
„Und für was ist das jetzt gut? Stellt es etwas Besonderes dar?“
„Nö, ist nur ein Schneemann. Nur Spaß!“
„Spaß?“, wiederholte Flo skeptisch und schien richtig zu überlegen. Zumindest, bis ihm mein erster Schneeball an der Schulter traf. Erschrocken drehte er sich zu mir um.
„Du solltest dich echt mehr entspannen“, lachte ich und warf gleich einen nach. Er wich noch nicht mal aus, sondern stand komplett irritiert da.
„Und was soll das jetzt?“
„Sag bloß, du hast noch nie eine Schneeballschlacht gemacht? Greif dir einfach etwas Schnee, forme es zu einer Kugel und bewirf damit deinen Gegner. Sinn und Zweck? Es gibt keinen! Es macht einfach nur Spaß! Ach und du darfst selber so wenig wie möglich abbekommen“, erklärte ich schnell und warf noch ein paar nach.
Flo brauchte etwas, um sich zu sammeln, baute sich nur zaghaft einen Schneeball und warf diesen dann doch recht gekonnt nach mir, der mich geradewegs am Hals traf. Kalter Schnee unter dem Pullover war wirklich nicht nett. Mein Engel schien sich über meine kurze Schüttelaktion sehr zu amüsieren.
„Spaß? So so.“
Die Härte aus seinem Gesicht war glücklicherweise gänzlich verschwunden und zurück blieb natürlicher Spieltrieb. Innerlich klopfte ich mir auf die Schulter über meinen Erfolg und lieferte mir dann mit meinem Gastgeber die lustigste Schneeballschlacht, die ich je erlebt hatte. Als ich wenig später bei einem Ausweichmanöver ausrutschte, blieb ich einfach lachend liegen und sah schnaufend meinen Engel an, der sich sofort besorgt über mich gebeugt hatte.
„Alles okay?“
„Klar.“
Beruhigt setzte er sich neben mich und musterte mich schmunzelnd.
„Du wirst dich noch erkälten, wenn du länger so liegen bleibst.“
„Ich weiß“, seufzte ich und setzte mich auf.
„Heute ist wirklich geniales Wetter“, meinte ich nach einer kurzen Pause.
„Du bist gerne draußen, hm?“
„Ich liebe die Natur. Sie hat so was Ungebändigtes an sich, was mich meist einfach mitreist“, begann ich zu schwärmen.
„Was hältst du dann davon, heute einen kleinen Ausflug mit den Schneemobilen zu machen? Ich kenne hier ein paar gute Strecken.“
Nicht eine Sekunde brauchte ich bei diesem Angebot zu überlegen und stimmte sofort zu. Winterfestere Kleidung war schnell angezogen und so folgte ich Flo in die Garage, welche etwas abseits vom Haus stand. Die Einfahrt war seltsamerweise schon freigeräumt, obwohl es den Tag und die Nacht komplett durchgeschneit hatte. Mein Engel musste wirklich früh aufgestanden sein. Als ich ins Innere geführt wurde, kam ich wiedermal aus dem Staunen nicht heraus.
Neben zwei geländegängigen Motorrädern stand ein großer Pickup, auf dessen Rädern Schneeketten gezogen waren. Und davor warteten zwei Schneemobile auf ihren Einsatz. Flo warf mir einen Schlüssel zu und deutete auf eines der Fahrzeuge. Es war zwar etwas länger her, als ich das letzte Mal mit so etwas gefahren bin, aber an den Spaß dabei erinnerte ich mich noch sehr gut. Auf einem Regal lagen verschieden große Helme, und als ich einen gefunden hatte, der mir passte, ging es auch schon los.
Man, ich fühlte mich wie ein kleines Kind, dem man Freifahrtscheine für den Jahrmarkt geschenkt hatte. Mein Gastgeber kannte sich hier wirklich super aus und steigerte von Mal zu Mal den Schwierigkeitsgrad der Strecke. War die Piste zu Anfang gerade und gut einsehbar, wurden die Kurven enger und die kleinen Hügel größer. Zum Schluss jagten wir wie die Wilden über den Schnee, als wäre der Teufel persönlich hinter uns her und wir würden ihn auslachen, weil er einfach zu langsam war.
Gegen fünfzehn Uhr machten wir eine kleine Pause in einem beschaulichen Gasthof, wo mein Engel wohl öfter hinzugehen pflegte, denn die Rechnung wurde ihm wie immer nach Hause geschickt. Als ich meinen Anteil bezahlen wollte, meinte er lediglich, ich sei sein Gast und damit war das Thema für ihn vom Tisch. Erst als es dämmerte, schlugen wir den Heimweg ein und kamen im Dunkeln an der Garage an.
„Ahh, jetzt eine heiße Dusche und dann ein gutes Schachspiel. Oder was meinst du?“, streckte ich mich wohlig, als die Fahrzeuge abgestellt waren und wir das Haus betraten.
„Das klingt sehr verlockend.“
So verschwand ich zuerst in meinem Zimmer, holte mir Waschzeug und frische, bequeme Sachen und ging dann ins Bad, wo ich mich gut eine halbe Stunde aufhielt. Danach folgte ich einfach dem frischen Teeduft bis in die Bibliothek. Mein Gastgeber war wirklich ein Engel, denn neben dem Spieltisch stand ein etwas kleinerer Tisch mit verschiedenem Fingerfood. Käsespießer mit Weintrauben, kleine Mozzarellabällchen mit Minitomaten, eingelegte Oliven und kleine Stücke frisches Baguettebrot. Abgerundet wurde alles durch zwei Gläser gefüllt mit Wein.
„Wow“, brachte ich meine Überraschung zum Ausdruck und setzte mich ihm gegenüber.
Der sanfte Teegeruch entpuppte sich als kleine Kerze, welche eine angenehme Stimmung verbreitete. Die einzelnen Schachrunden waren etwas ruhiger wie am Tag zuvor, was wohl daran lag, dass man nun den Gegner kannte und sich mit den entsprechenden Zügen mehr Zeit ließ. Wir redeten über Allerweltssachen, Politik, Umwelt, die Vor- und Nachteile verschiedener Motorradtypen. Doch persönliche Themen kamen vorerst nicht zur Sprache. Wir schienen das allerdings beide zu vermeiden, weswegen es mir nicht unangenehm war. Meine Vergangenheit war etwas umfangreicher, weshalb ich ihn nicht schon jetzt mit irrelevanten Details belasten wollte.
Zum Schluss entfalteten die vielen Aktivitäten an der frischen Luft ihre Wirkung, denn ich wurde recht zeitig müde. Mein Gastgeber zeigte ganz gentlemanlike vollstes Verständnis und wieder wurde ich mit einem dermaßen anbetungswürdigen Lächeln verabschiedet, was regelrecht danach rief, näher erforscht werden zu wollen.
Seine Lippen, sein Kinn, sein Hals, die langen Finger … Ich wüsste einiges damit anzustellen. Allerdings war ich so müde, dass ich es nicht mal schaffte, mir selbst Erleichterung zu verschaffen. So schlief ich mit einem wohligen Seufzer ein, in Gedanken diese dunkelleuchtenden, grünen Augen, welche mich zu verschlingen drohten und ich wusste bisher noch nicht, ob dies nun gut war oder schlecht.
Der nächste Morgen begann für mich recht früh, trotzdem war ich putzmunter. Ich wachte gegen acht Uhr auf und konnte einfach nicht mehr schlafen. ‚Was soll‘s‘, dachte ich bei mir und schwang mich aus dem Bett. Leise schlich ich ins Bad, um meinen Gastgeber nicht zu wecken und erledigte die Morgentoilette. Beim Zähneputzen kam mir eine kleine Idee und als ich wieder im Zimmer war, suchte ich meine Sportsachen heraus.
Wenn ich früher durcheinander war oder ich einfach ein paar Dinge im Kopf ordnen musste, machte ich ein paar Entspannungsübungen, die mir mein älterer Bruder beigebracht hatte. Einer besonderen Form einer bestimmten Kampfsportart konnte man es nicht zuordnen, was wohl daran lag, dass ich von allen ein bisschen praktizierte. Nicht aktiv, nur halt wenn es dringend notwendig war. Ich glaube, dass ich auch etwas eingerostet war. Der Grund, warum ich damals so etwas lernen wollte, war ganz simpel der, dass ich mich gegen dämliche Schwulenhasser wehren wollte.
Ich zog mich auf jeden Fall um und lief dann hinüber zum Dojang. Unter meinen nackten Füßen spürte ich die angenehme Wärme der Bodenheizung, die auch hier installiert war und begann mit den Übungen. Es waren lediglich ein paar Bewegungsabläufe, machten aber meinen Kopf frei und ließen mich abschalten. Am oberen Ende des Dojangs stand ein riesiger Spiegel, der in der Wand eingelassen war, in dem ich noch zu Anfang meine Technik überprüfte und gegebenenfalls korrigierte. Doch nach einer Weile schloss ich meine Augen und gab mich der Übung hin.
Mein Körper bewegte sich fast schon automatisch, folgte dem altgelernten Ablauf und erst als ich mich wieder soweit entspannt fühlte, schloss ich die Übung ab und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, ob ich auch an der richtigen Stelle stand. Vorerst interessierte mich das allerdings wenig, denn als ich in den Spiegel sah, schauten mich grünleuchtende Augen direkt an. Erschrocken drehte ich mich zu Flo um, der gelassen auf mich zukam und sich neben mich stellte.
„Fang nochmal bitte von vorne an“, bat dieser. Ich fühlte mich nur unwohl.
„Hör mal, das war nichts Besonderes“, stammelte ich, er jedoch unterbrach mich.
„Du solltest dein Können nicht selbst schmälern. Bitte zeig es mir.“
Sein Blick wurde so intensiv, dass ich einfach nachgeben musste, wenn auch widerwillig. Anfangs waren die Nachahmungen meines Gastgebers recht holprig und ich musste sie ein wenig korrigieren. Aber als er einmal den Dreh raus hatte, bewegte er sich so geschmeidig, als hätte er diese Kombination schon seit Ewigkeiten einstudiert. Ich war wirklich beeindruckt.
„Du hast echt Talent für so etwas“, sagte ich anerkennend, worauf er warm lächelte.
„Es macht nur Spaß, dir zuzuschauen. Hättest du was dagegen, etwas auszuprobieren?“
Sacht wich ich einen Schritt zurück.
„Ich … ich habe lange nicht mehr trainiert“, antwortete ich wage und rümpfte etwas die Nase, in der Hoffnung, dass er meine Ablehnung darüber erkannte. Doch selbst wenn er dies tat, ignorierte er sie gekonnt.
„Bitte.“
Oh man, wer konnte da schon Nein sagen. Ganz langsam griff er mich an und wie automatisch wich ich aus beziehungsweise konterte. Er tat dies weiter, immer auf verschiedene Arten und ich reagierte immer mit anderen Bewegungen, die aber genau die gleichen waren, wie aus meiner Übung. Flo merkte, dass ich mir langsam sicherer wurde und erhöhte sein Tempo. Ich verließ mich ganz auf meine Reflexe, was bisher auch super funktionierte.
Mit der Zeit wurde er immer schneller, seine Angriffe stetig kräftiger, bis wir einen wilden Tanz durch den halben Dojang vollführten. Und mit einmal stellte ich fest, dass mein Gastgeber nicht mehr wirklich auf mich achtete, sondern tatsächlich versuchte, meine Verteidigung zu durchbrechen. Er suchte nach einem Schwachpunkt.
Dafür allerdings kannte er mich zu wenig. Schon als Kind wurde ich von meinem großen Bruder damit solange getriezt, bis ich es perfekt beherrschte. Er wollte immer, dass ich mich selbst beschützen konnte. Ich hingegen wollte lediglich so stark werden, wie er. Die Gedanken der Vergangenheit lenkten mich für eine Sekunde ab, weswegen Flo mich zu packen bekam, zu Boden schleuderte und wenige Augenblicke später über mir thronte. Ein diebisches Lächeln zierte seinen süßen Mund.
„Hab dich!“, freute er sich.
Allerdings hatte er die Rechnung ohne mich gemacht. Geringe Verlagerung der Beine samt des Beckens und schon schaffte ich es, mit etwas Schwung die Situation umzudrehen. Nun lag mein Engel unter mir, soweit fixiert, dass kaum eine Bewegung möglich war.
„Ach wirklich?“, fragte ich spöttisch und blickte in grüne, überraschte Augen.
Dann wurde er mit einem Mal ernst und sah mich durchdringend an. Ob mein Herz von der körperlichen Belastung her so schnell schlug oder dass doch von diesem Schönling herrührte, konnte ich gerade nicht unterscheiden. Als ich meinen Griff etwas löste und schon aufstehen wollte, hob Flo plötzlich seinen hübschen Kopf und küsste mich. Es war nur ein ganz einfacher Kuss und ich war viel zu überrascht, um meine Augen zu schließen. Er befreite einen seiner Arme und streichelte sanft über meine Wange. Liebevoll begann mein Engel zu lächeln, als ich mich genießerisch in seine Hand kuschelte und sie leicht küsste. Dann legte er sie in meinen Nacken und zog mich sanft zu sich hinab.
Der zweite Kuss war wie ein Aphrodisiakum, je mehr ich davon kostete, desto williger wurde ich. War er am Anfang noch recht zart, die Zungen sehr zurückhaltend, wurde er von Mal zu Mal intensiver und zum Schluss fast gierig. Wir bissen uns leicht in die Zunge, saugten an den Lippen, pressten unseren Unterleib immer dichter aneinander. Als mein Engel mit seinen Händen unter mein T-Shirt glitt, sog ich tief die Luft ein und gab leichte Seufzer von mir, als er mit meinen Brustwarzen zu spielen begann. Flo streichelte zärtlich drüber, bis sie sich hart aufstellten, kratzte leicht und zwirbelte diese, bis er sich kurzerhand aufsetzte, mir das Shirt über den Kopf zog und mit seiner Zunge weitermachte.
Süßes Lecken ging in spielerisches Beißen und Saugen über und da mein bestes Stück stark an seinem Bauch rieb, brachte es mich fast zum Überkochen. Meine Hose landete recht schnell in der nächsten Ecke, genau wie sein Oberteil. Doch irgendwie kam ich nicht dazu, mich zu revanchieren, da ich plötzlich seine Hände überall spürte und ich mich ihnen heiß zuckend ergab. Einen kurzen Blick erhaschte ich auf die Augen meines Engels, die wilder als jedes Raubtier funkelten. Und ich war eindeutig seine Beute.
Genießerisch leckte er über meine Haut, saugte sich in meiner Halsbeuge fest, was mich laut aufstöhnen ließ. Triumphierend grinsend, dass er eine von meinen erogenen Zonen entdeckt hatte, ging er weiter auf Wanderschaft und je tiefer er kam, desto ungeduldiger zuckte mein Körper. Meine Kontrolle über mich selbst, hatte ich längst verloren und mich willig meinem Schicksal ergeben.
Zärtlich leckte er über meine Körpermitte, umschloss sie mit seinem Mund und begann mich dermaßen zu verwöhnen, dass ich mich hin und her wand. Mal war der Druck leicht wie eine Sommerbrise, mal stark wie ein kräftiger Sturm. Mein schwarzer Engel schien regelrecht Freude daran zu haben, mich zu quälen und erlöste mich erst, als ich ein gepresstes „Bitte“ jammerte.
Nachdem ich kurz verschnauft hatte, wischte ich die Spuren meines Glückes behelfsmäßig mit ein paar Taschentüchern weg und kuschelte mich dann in Flos Arme, der das Oberteil seines Kampfanzuges wärmend von vorne über meine Brust und Schulter gelegt hatte und mich dicht zu sich heranzog. Sanft küsste er mir auf die Schläfe und schmuste dann über meine Wange.
„Tut mir leid wegen meiner harten Vorgehensweise. Aber ich konnte von dir in diesem Zustand einfach nicht genug bekommen“, entschuldigte er sich fast flüsternd.
„Es sei dir verziehen“, schmunzelte ich und drehte mich so, dass ich ihn leicht auf den Mund küssen konnte.
Er begann darauf hin zu schnurren und so saßen wir noch eine kleine Weile da und kuschelten einfach miteinander, bis der Schweiß auf unserer Haut trocknete und mich frieren ließ. Flo merkte dies natürlich sofort.
„Wir sollten duschen gehen.“
Ich grummelte zwar etwas, da ich mich nur ungern aus seinen Armen wand, aber er hatte ja recht. Liebevoll führte mein Engel mich an der Hand haltend in die Gemeinschaftsdusche. Für den ersten Moment war es draußen ganz schön kühl, vor allem als Flo den Hahn aufdrehte und nur kaltes Wasser herauskam. Ihm schien das überhaupt nicht zu stören. Er stand mitten im Schauer, den Kopf nach oben gereckt und genoss es einfach. Nach einer Weile streckte er den Arm nach mir aus.
„Komm, jetzt ist es ganz warm.“
Zögernd folgte ich seiner Bitte und betrachtete skeptisch den Duschkopf. Doch als ich das fast schon heiße Wasser auf meiner Haut spürte, trat ich dicht an meinen Engel heran und ließ mich bereitwillig von ihm einseifen. Seine Berührungen taten so gut, waren wie Seide, schmeichelten meinem gesamten Körper, der daraufhin leicht zu vibrieren begann. Wohlig seufzte ich auf, als Flo abermals begann, an meinem Hals zu knabbern. Sein Atem brannte heißer als das Wasser auf meiner Haut, verglühte mich fast und ich ließ es einfach geschehen. Dicht drängte ich mich an den Körper des Anderen, suchte seine Lippen und forderte diese gierig für mich ein.
„Christian.“
Das heißere Aufstöhnen meines Engels brachte mich endgültig um den Verstand. Seine fiebrig glänzenden Augen durchbrachen selbst den immer dichter werdenden Dampf um uns herum und fixierten mich.
„Nimm mich“, flüsterte ich ihm aufgeregt zu, da ich es kaum länger aushielt.
Was geschah nur mit mir? Ich war wie Wachs in seinen Händen und es machte mir absolut nichts aus. Dabei war doch sonst ich immer der Aktivere. Mein Engel ließ sich das nicht zweimal sagen, drehte mich kurzerhand um und drückte mich gegen die Wand. Ich hörte das Reißen einer Verpackung, hörte, wie er sich das Kondom drüber zog und sich dann wieder dicht an mich presste.
„Sicher mein Herz?“
Seine Stimme bebte vor Erwartung. Er strich meine nassen Haare beiseite und biss leicht in meine Halsbeuge. Zitternd holte ich tief Luft. Zu viele Empfindungen strömten mit einmal auf mich ein. Kalte Fliesen gepaart mit heißem Wasser. Seine Lippen und Hände, die meinen gesamten Körper liebkosten, als wäre ich etwas Besonderes und seine Lebensaufgabe bestünde lediglich darin, mir Wohlwollen zu bereiten. Die Euphorie vor dem Kommenden ließ meine Sinne komplett schwinden und so verrenkte ich mich etwas, legte meine Hand in seinen Nacken und gab ihm mit einem innigen Kuss die Erlaubnis.
Trotz dass er mich weiterhin mit etlichen Küssen und Knabbereien, mit süßen Berührungen weiter liebkoste, schmerzte es, als er begann, in mich einzudringen. Zischend sog ich die Luft ein, worauf Flo seine Bemühungen mich zu entspannen intensivierte. Wie konnte er nur so vergleichsweise ruhig bleiben? Schließlich hatte nur ich beim ersten Mal das Vergnügen. Als er sich jedoch zu bewegen begann, blieb kein Platz mehr für sinnige Gedanken. War mein Engel anfangs noch sanft, vorsichtig und rücksichtsvoll, wurde er immer ruppiger und fast schon animalisch. Und was tat ich? Mit wohligen Lauten feuerte ich ihn noch zu viel mehr an und reckte mich ihm so weit es ging entgegen.
Als es endlich soweit war, glaubte ich abzuheben. Ich spürte, wie ein kräftiges Zucken Flo durchfuhr und er sich regelrecht an mir festkrallte, dass ich Probleme hatte, mich an der Wand abzustützen. Diese Welle schwappte wenige Sekunden später auf mich über. Kleine Sterne explodierten vor meinen Augen und hinterließen ein kaltheißes Prickeln, welches sich in meinem kompletten Körper ausbreitete. Dann wurde es schwarz um mich herum und das Einzige, was ich noch wahrnahm, war neben unendlicher Befriedigung, schützende Wärme, süße Zuneigung und aufkeimende Liebe.
*-*-*
Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich im Schlafzimmer meines Engels wieder. Ich lag in seinem Bett mit einem kühlen Lappen auf der Stirn und er saß auf der Kante und musterte mich besorgt.
„Hey“, flüsterte ich und lächelte schwach.
„Na du“, erwiderte er erleichtert, dennoch mit Zurückhaltung.
Ich nahm einfach seine Hand und kuschelte meine Wange an diese.
„Entschuldige. Ich vertrage wohl doch nicht soviel, wie ich dachte“, meinte ich dann.
„Nein, nein, es ist meine Schuld. Ich hätte mehr auf den Temperaturunterschied und vor allem auf dich achtgeben sollen. Nur hattest du mich so gefangen.“ Er seufzte schwer, als wäre das etwas Tragisches gewesen. Darauf hin legte ich den Lappen beiseite, setzte mich auf und nahm Flos Gesicht in beide Hände.
„Und das war auch gut so. Das Einzige, worüber ich mich etwas ärgere ist, dass ich dein süßes Gesicht nicht vor Augen hatte, als es bei dir soweit war. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, denn für den Anfang fand ich es schon gar nicht mal so übel.“
Liebevoll lächelte ich ihn an, was er zögerlich erwiderte. Dann küsste ich ihn sanft, worauf ein zärtliches Zungenspiel folgte. Mein Engel schien wirklich richtig erleichtert zu sein, denn er zog mich eng zu sich heran und schloss mich in seine Arme.
„Ich wusste nicht, ob ich alles richtig gemacht hatte, da ich mich einfach von meinen Gefühlen, von meinem Instinkt hatte leiten lassen.“
„Das ist doch vollkommen normal, schließlich hat Sex rein gar nichts mit Verstand zu tun, außer was das Kondom betrifft und daran hattest du doch gedacht. Es klingt fast so, als wäre das dein erstes Mal gewesen“, beruhigte ich ihn und versuchte alles durch etwas necken aufzulockern. Allerdings verkrampfte daraufhin Flo noch viel mehr, weswegen ich ihn stirnrunzelnd anschaute. Sein Kopf war komplett rot angelaufen.
„Das … das ist doch jetzt nicht dein Ernst?!“ Ich war etwas von ihm abgerückt und sah ihn mit großen Augen an.
„Ähm … ich …“, stotterte er, blickte kurz an mir vorbei, dann wieder auf die Bettdecke. Ich drehte mich herum und entdeckte ein dünnes Buch auf dem Nachtschränkchen. Bevor es mein Engel vor mir in Sicherheit bringen konnte, ergatterte ich es und studierte den Einband.
„Das erste Mal Anal. So verführen sie ihren Mann richtig“, las ich laut vor und betrachtete das Bild der zwei kopulierenden Männer darauf. Flo war aufgesprungen und fuhr sich fahrig durch seine offenen Haare. „Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“, fragte ich immer noch so ziemlich baff.
„ … 19 …“, antwortete er stockend.
„Zwei Jahre jünger als ich???“
Ich war komplett fertig, ließ mich zurück ins Bett fallen und begann laut zu lachen. Mein Engel setzte sich verhalten zu mir und beäugte mich, als wäre ich nicht mehr ganz dicht. Etwas, glaube ich, hatte er sogar recht. Mit einmal setzte ich mich auf, schlang meine Arme um ihn und gab ihm einen dicken Kuss.
„Du bist echt das ungewöhnlichste Wesen, dem ich je begegnet bin.“
„Ungewöhnlich gut oder ungewöhnlich nicht so gut?“ Mein Liebster machte sich wirklich Gedanken. Ich rückte noch näher zu ihm heran und küsste ihn nach jedem Satz an einer anderen Stelle.
„Ungewöhnlich liebevoll. Ungewöhnlich zärtlich. Ungewöhnlich süß.“
Mit einem verklärten Blick in den Augen sah mich mein Engel an und ich bekam schon wieder dieses heftige Herzklopfen, was mir die Sinne schwinden ließ. Ich begann mit meinem Gesicht über seines zu schmusen und kraulte seinen Nacken und Hals entlang, was ihn wie ein Kater zum Schnurren brachte.
Lange blieb uns die Zweisamkeit nicht erhalten, denn ein Handy begann nervig zu fiepen. Lag das vorhin auch schon auf dem Nachttisch? Flo‘s Gesicht wurde sehr ernst und als er abnahm, versteinerte es sich fast. Er stand auf und entfernte sich etwas vom Bett. Ich verstand zwar kein Wort des Anrufers, hörte aber sehr wohl, dass es eine weibliche Stimme war. Kurz brummte er ins Telefon, dann legte er auf.
„Wir kriegen Besuch“, kommentierte er knapp und verschwand im Raum nebenan. Ich kletterte aus dem Bett und raffte den weichen Bademantel fester um mich. Als Flo wieder im Schlafzimmer erschien, hatte er seine lockeren Trainingssachen gegen feste Hosen und einen Pullover getauscht.
„Den Anruf von gestern hatte ich vollkommen vergessen. Tut mir leid.“ Liebevoll strich er mir über die Haare und gab mir dann einen sachten Kuss.
„Nicht so schlimm, schließlich hatte ich ja auch etwas Schuld daran. Ich wollte dich ablenken und lachen sehen.“
„Beides hast du geschafft und ich habe es genossen.“ Liebevoll lächelte er mich an und liebkoste meine Wange. Ich nahm seine Hand in meine und kuschelte mich ein wenig daran. „Ich muss zum Flughafen in die Stadt und sie dort abholen. Wenn ich gut durchkomme, brauche ich mindestens eine Stunde mit dem Jeep. Aber ich versuche, mich zu beeilen.“ Er klang fast traurig darüber, mich gute zwei Stunden allein lassen zu müssen.
„Wichtig ist, dass du vorsichtig fährst.“ Zärtlich verwickelte ich seine Zunge mit meiner in ein süßes Gefecht, bis er sich widerwillig von mir trennte.
„Ich muss los.“
Ich nickte verständnisvoll, aber dann fiel mir doch noch etwas ein.
„Du hast einen Jeep und kennst dich in der Gegend gut aus. Warum hast du mich nicht in die Stadt gefahren, als die Züge ausfielen?“
„Es war sehr stürmisch und die Strecke selbst für Einheimische gefährlich.“
„Und gestern?“ Verschmitzt grinste ich ihn an, worauf er wieder zu mir zurückkam und mich dicht an sich heranzog.
„Da wollte ich dich schon lange nicht mehr gehen lassen.“
Den Kuss, welchen er mir nun gab, ließ abermals mein Herz schneller schlagen und raubte mir fast den Atem. Gott, ich war ihm jetzt schon bis auf das letzte Haar verfallen.
„Bis dann, mein Herz.“
Nach einem letzten Kuss auf meine Stirn verabschiedete er sich endgültig und ließ mich allein im Haus zurück. Ein paar Minuten lang starrte ich noch die Eingangstür an, hörte, wie der Motor des Jeeps aufheulte, Schnee laut knirschte und sich dann immer weiter entfernte. Erst als ich wirklich kein Geräusch mehr vernahm, ging ich ins Gästezimmer, um mich anzuziehen. Allerdings war meine Tasche weg, das Bett frisch bezogen und mein Handtuch hing auch nicht mehr über dem Stuhl. Verwundert ging ich in Flo‘s Zimmer, dann in den Raum nebenan, wo er vorhin verschwunden war.
Das Licht schaltete sich dort automatisch an und mit Erstaunen betrat ich den begehbaren Kleiderschrank. Auch meine Tasche fand ich wieder. Sie lag vor einem der Schränke, dessen Türen offen standen und dessen Regale leer waren. Schmunzelnd schüttelte ich meinen Kopf. Jetzt war es wohl beschlossene Sache. Das wenige Gepäck war schnell ausgeräumt und bequeme Sachen auch gefunden.
Knurrend machte sich mein Magen bemerkbar und so beschloss ich erstmal in die Küche zu gehen, um mir ein kleines Frühstück zu machen. Beschwingt trat ich aus dem Schlafzimmer meines Engels und wollte Richtung Küche gehen, als ich plötzlich innehielt und die kleine Person anstarrte, die locker vor der Sitzgruppe im Flur stand und mich anlächelte.
„Aha, soweit ist es schon, dass du es wagst, sein Schlafzimmer zu betreten.“
Arrogant sah sie auf mich hinab, mit einer Kälte in den Augen, die ich zu Anfang von Florian her kannte. Mein Instinkt jagte ein Warnsignal nach dem anderen durch meinen Körper und als ich den Stab in ihrer rechten Hand erkannte, den sie nun lässig darin zu drehen begann, wusste ich auch warum.
„Ich weiß zwar nicht, wer du bist, aber Flo ist auf dem Weg in die Stadt, um jemanden vom Flughafen abzuholen. Es wird zwar noch etwas dauern, aber wenn er wieder da ist, lässt sich bestimmt alles aufklären“, versuchte ich mit ruhiger Stimme zu schlichten.
„Das weiß ich doch, schließlich habe ich vorhin mit ihm telefoniert. Aus irgendeinem Grund wollte er mich nicht hier haben und ich war neugierig. Mit irgendetwas musste ich ihn doch weglocken, damit ich mir in Ruhe selbst ein Bild machen kann. Es wäre sonst sehr lästig, wenn er mir ständig dazwischenfunken würde. Also. Dann erzähl mir mal, warum gerade du meinen Florian verdient hättest!“
Bitte? Was redete die Kleine da überhaupt? Sie ließ mir kurz Zeit zum Antworten. Ich war allerdings so perplex, dass ich nicht ein Wort herausbekam.
„Hm, selbstbewusst scheinst du schon mal nicht zu sein. Sprich: Diskussionsfähigkeit gleich null. Weißt du, hier zählt nicht, ob du gut kochen oder saubermachen kannst. Du musst schon mehr zu bieten haben, als auf die Knie zu gehen und zu blasen.“
Wie bitte??? Was bildete dieses Mädchen sich überhaupt ein?!
„Ich habe ihm keinen geblasen!“, wetterte ich sinnfrei los. Geschichten aus dem Liebesleben waren keine Details, die ich gerne preisgab.
„Na wenigstens etwas. Du siehst recht schmächtig aus, aber das hat bekanntlich nichts zu sagen. Was wäre, wenn es Florian nicht gut ginge und du ihn vor sich selbst schützen müsstest. Könntest du wenigstens das?“
Drohend kam sie langsam immer weiter auf mich zu, was mir so bedrohlich vorkam, dass ich die gleichen Schritte rückwärts tat, bis ich an die Tür zum Kiesgarten stieß.
„Ich verstehe nicht ein Wort von dem, was du sagst. Flo ist stark. Ich glaube nicht, dass er jemanden braucht, der ihn beschützt.“
„Flo ist stark. Sehr stark und genau darin liegt das Problem. Da du mir meine Fragen nicht beantworten kannst oder willst, muss ich die Antworten wohl selbst herausfinden.“
Als wäre dies der Startschuss gewesen, ging die Kleine mit einmal auf mich los. Gerade noch so schaffte ich es, die Tür hinter mir aufzureißen und hinauszustolpern. Ich war so perplex über die Aktion, dass ich die zwei Stufen hinabfiel und der Länge nach mit dem Rücken im kalten Schnee landete. Kichernd trat das Mädchen aus dem Haus.
„Also so wird das nichts.“
Wieder und wieder griff sie an und ich wich jedes Mal nur ganz knapp aus. Keuchend flüchtete ich ins Dojang. Sie kam mir gemächlich nach, schien aber langsam die Lust an ihrem Spiel zu verlieren.
„Laaaaaaaaaaaangweilig! Sag mal, kannst du mir verraten, was Flo überhaupt an dir findet? Wie lange kennt ihr euch nun? Zwei Tage? Drei? Wie kamst du nur auf diesen lächerlichen Gedanken, dass ich meinen Florian so ohne Weiteres an dich abtrete? Du besitzt weder eine besondere Kraft, noch bist du seiner würdig. Du bist nichts!“
Nach jedem Satz schlug sie härter zu, präziser, energischer. Je weniger ich mich wehrte, desto wütender wurde die junge Frau. In meinem Kopf herrschte das reinste Chaos. Zum Teil hatte sie ja recht. Ich war ein Niemand, nichts Besonderes. Aber ob ich meinem Engel würdig war, konnte er nur selbst entscheiden. Vielleicht war ich kein Superactionhero, aber so einfach aufgeben wollte ich auch nicht. Ich hatte mein Herz an dieses ungewöhnliche Wesen verloren und nicht vor, es so leicht wieder rauszurücken. Ja, es stimmte, ich war nicht besonders stark, aber von vorneherein einfach so aufgeben tat ich deswegen noch lange nicht.
Mein Kampfeswille war endgültig geweckt, was das Mädchen zu spüren bekam. Ihrer nächsten Attacke wich ich galant aus, griff aber dann nach ihrem Stab, trat dagegen und diesen somit aus ihrer Hand. Überrascht sah sie mich an, begann zu lächeln und nickte mir dann anerkennend zu. Damit war allerdings noch lange nichts ausgestanden. Das ich nun ihre Waffe im Besitz hatte, schien sie wenig zu stören. Weiterhin ging sie wie eine Wilde auf mich los, versuchte mit geschickter Technik meine Verteidigung zu brechen und mich zu Fall zu bringen.
Fairerweise warf ich den Stab beiseite und startete nun kleine Gegenattacken. Wenn man sich einmal richtig darauf konzentrierte, merkte man, dass die Kleine gut trainiert war und jeglichen Vorteil versuchte für sich auszunutzen. Letzteres tat ich allerdings auch. Nach einer kleine Weile bemerkte ich, dass das Mädchen kaum Kraft besaß. Sie nutzte lediglich den Schwung des Gegners aus und wandelte diesen in Energie um, die sie für sich selbst einsetzte. Wenn sie wirklich zuschlug, musste sie auch genau den entsprechenden Punkt treffen, um eine Wirkung zu erzielen.
Mir war klar, dass ich nur einen einzigen, richtigen Schlag korrekt platzieren musste, um sie fürs Erste von ihrem hohen Ross runter zu holen. Und wenige Sekunden später ergab sich mir genau diese Chance, die ich auch zu nutzen wusste. Ich brauchte nicht mal weit auszuholen, leitete all meine Kraft in meinen rechten Arm und schlug ihr direkt in die Nieren. Mit einem krampfhaft unterdrückten Schmerzenslaut brach sie zusammen und blieb keuchend auf den Boden sitzen.
„Fuck! Scheiße tut das weh!“, jammerte sie, schien aber nicht verärgert darüber zu sein, dass ich sie so stark getroffen hatte. Ich nutzte die kleine Pause aus, um gleich etwas klarzustellen.
„Hör mal. Ich habe ja nun mitbekommen, dass dir Flo sehr wichtig ist, aber mir auch. Ich kann’s selber kaum erklären, aber in den letzten drei Tagen scheine ich immer mehr für ihn zu empfinden, als in so einer kurzen Zeit überhaupt normal möglich ist. Ja, ich bin sicherlich kein Superheld. Doch solange wie Florian mich an seiner Seite haben möchte, solange werde ich auch nicht aufgeben!“
Oje, ich war viel zu emotional geworden, wie ich an den großen Augen des Mädchens erkannte. Wütend funkelte ich sie an und was machte die Kleine? Sie begann lautstark zu lachen. Nach gut einer Minute hatte sie sich endlich wieder soweit beruhigt, dass sie sich in Schneidersitz aufsetzen konnte.
„Also wenn das so ist, habt ihr meinen Segen“, meinte sie dann und lächelte fröhlich zu mir hinüber. Ich zweifelte bis dato an ihrem Geisteszustand.
„Ehm, ehrlich gesagt verstehe ich jetzt gar nichts mehr.“
„Nicht so schlimm“, sagte sie lässig, stand auf und kam auf mich zu. Doch bevor sie noch einen weiteren Schritt machen konnte, huschte ein schwarzer Schatten vorbei, packte sie kraftvoll und warf das Mädchen gegen die Wand. Die Kleine hatte nicht einmal die Chance, keuchend an dieser hinabzurutschen, als mein Engel sie fest an die Wand presste und wild anfunkelte.
„Komm ihm noch einen Schritt näher und ich schwöre, ich vergesse mich!“
Sanft legte ich meine Hand auf seine Schulter, um ihn zu beruhigen.
„Florian, sie gab uns ihren Segen.“
Verwirrt blickte er zuerst zu mir, dann musterte er sie stark. Schlussendlich ließ er doch von ihr ab und wand sich endgültig zu mir um.
„Hey, das tat echt weh, du Idiot!“, schimpfte die Kleine hustend und schnappte nach Luft.
Ihn störte das allerdings wenig und er beäugte kritisch meine untere Lippe, die ein klein wenig aufgerissen war. Liebevoll streichelte er darüber und küsste zärtlich die Stelle, als wollte er mir den Schmerz nehmen.
„Tut mir leid. Ich hätte schneller ihre List durchschauen und eher wieder hier sein müssen.“
„Du kannst doch nicht hellsehen. Außerdem hat sie dich mir freigegeben. Was will ich mehr?“
Mit einem süßen Lächeln strich ich meinem Engel eine Haarsträhne aus seinem blassen Gesicht und presste sanft meine Lippen auf seine. In unseren Zärtlichkeiten wurden wir nach wenigen Minuten mit einem lauten Seufzer und quickender Stimme unterbrochen.
„Hach wie süüüüß! Los Flo, stell mich schon diesem Schnuffi vor!“, hippelte das Mädchen aufgeregt und zerrte an Florians Ärmel. Er atmete genervt aus und trat einen Schritt beiseite.
„Cat, darf ich dir vorstellen: Christian Josias. Chris: Cathrina Redewig, meine kleine Schwester.“
Seine was??? Das erklärte zwar einiges, warf aber umso mehr Fragen auf.
„Ich weiß zwar nicht, wies bei euch zwei Hübschen ausschaut, aber ich hab Bock auf Frühstück!“
Genüsslich streckte die Kleine sich, verzog kurz die Nase und rieb sich über die Stelle, wo ich sie recht heftig getroffen hatte und stiefelte dann Richtung Küche. Mein Engel sah alles andere als glücklich aus, weswegen ich seine Hüfte umfasste und zu mir heranzog.
„Ärgere dich nicht länger darüber, schließlich wollte sie dich nur schützen, in Sicherheit wissen, wenn auch auf eine sehr ungewöhnliche Art und Weise. Komm. Ein kleines Frühstück wird uns beiden guttun.“
Dankbar für mein Verständnis, gab mir mein Liebster einen zuckersüßen Kuss, dann folgten wir seiner Schwester in die Küche. Als wir dort ankamen, hatte das Mädchen den Tisch schon komplett gedeckt und der Wasserkocher blubberte auch. Sie stand auf Zehenspitzen an einem der Schränke und versuchte etwas aus dem obersten Regal zu fischen.
„Man Flo, das war doch voll mit Absicht!“, schimpfte sie, stemmte ihre Arme in die Hüfte und funkelte meinen Engel wütend an.
„Das ist ungesund“, war sein einziger Kommentar und füllte unsere beiden Tassen mit Tee.
„Na und? Was interessiert dich das? Du musst ihn ja nicht trinken. Hey, Moment mal. Chriiihiiis …“ Bettelnd sah sie zu mir, weshalb ich sie fragend anschaute. „Ich komm da nicht ran.“
Ich ging zu dem Schrank und warf einen Blick hinein. Ganz hinten am Rand stand eine größere, runde Plastedose, an die selbst ich nur auf Zehenspitzen stehend herankam. Neugierig musterte ich das Zitronenteekonzentrat. Das bestand ja aus purer Chemie und Zucker!
„Daaanke.“
Freudig nahm die Kleine mir die Dose aus der Hand und übergoss die Chemie mit heißem Wasser, während ich mich zu meinem Schatz an den Tisch setzte. Das Frühstück gestaltete sich als recht entspannt. Cathrina sorgte für genügend Gesprächsstoff, als sie von ihrem Flug hier her berichtete und ich musste manchmal echt laut loslachen. Nur schwer konnte ich glauben, dass beide miteinander verwandt waren, so aufgedreht und fröhlich wie das Mädchen war.
„Sooo, ich habe den Tisch gedeckt und ihr müsst dafür abräumen“, legte sie mit einmal fest, als wir fertig waren. „Und ich gönn mir in der Zeit ein schönes Bad in der heißen Quelle.“
Flo schnaubte daraufhin abfällig und trank den letzten Schluck seines Tees aus. Cat deutete das sofort als Angriff und begann gleich mitzuzicken.
„Hier wird nicht rumgepfft! Ich bin schließlich die Hüttenälteste, also darf ich auch bestimmen.“
Dies ließ mich wiederum aufhorche.
„Ehm, wie jung bist du denn, wenn ich das eine Lady fragen darf?“, fragte ich charmant. Mit ein paar Nettigkeiten bekam man immer die Informationen, die man haben wollte.
„Uh, ein richtiger Gentleman, obwohl die Frage doch etwas dreist ist. Aber gut. Ich bin fünfundzwanzig.“ Ich starrte sie mit offenem Mund an, was sie richtig deutete. „Ich seh viel jünger aus, was“, freute sich die Kleine. Flo stand gemütlich auf, ging zu seiner Schwester und wuschelte ihr durchs Haar, als wäre sie ein süßer Hund.
„Für eine Zwergin hast du dich recht gut gehalten“, meinte er trocken und schaffte seine Tasse zum Geschirrspüler.
Das Mädchen grummelte lautstark unverständliche Sachen in ihren nicht vorhandenen Bart und versuchte krampfhaft ihre Haare wieder zu glätten. Dann verließ sie die Küche, nicht ohne ihrem großen Bruder die Zunge rauszustrecken. Also benehmen wie zwei kleine Geschwister taten die Beiden sich allemal. Schmunzelnd räumten wir also wie befohlen den Tisch ab und verzogen uns dann mit einem Buch ins Wohnzimmer. Nach der ganzen Aufregung am Vormittag brauchten wir wohl beide etwas Ruhe.
Allerdings war dieses Mal die Platzverteilung eine andere. Mein Engel sprach mir den Sessel zu und setzte sich selber an dessen Seite zu meinen Füßen, auf ein riesiges, bequem ausschauendes Kissen. Und das natürlich so, dass ich ohne Anstrengung meinen Arm ausstrecken und ihm im Nacken und Hals kraulen konnte, was er schnurrend genoss. Nach einer ganzen Weile gesellte sich Cat zu uns, eingewickelt in einen Trainingsanzug, der ihr etwas zu groß war. Sie steckte erst ganz vorsichtig ihren Kopf ins Wohnzimmer und trat erst nach einem Nicken meinerseits ein. Als sie ihren Bruder so bei mir sitzen sah, breitete sich ein fettes Grinsen auf ihrem Gesicht aus. Zu einem Kommentar ließ sich Cat allerdings nicht hinreißen. Flo dafür umso mehr.
„Geh deine Haar trocknen!“, wies er sie zurecht.
„Hier drin ist es voll warm“, blaffte die Kleine verständnislos zurück. Mein Liebster ließ daraufhin lautstark sein dickes Buch zuknallen und blickte drohen zu ihr auf. Sie zog schmollend ihre Unterlippe hoch, gab dann aber doch nach. „Boar, du bist schlimmer als Mutter!“
Wütend verzog sie sich ins Bad, aus dem man kurz darauf den Föhn rauschen hörte. Zehn Minuten später ließ sie sich auf die Couch fallen und das, obwohl es aus ihrem geflochtenen Zopf noch immer leicht feucht schimmerte. Mein Schatz blieb dieses Mal allerdings ruhig. Es vergingen zwei weitere Stunden, bis Cat aufstand und sich wohlig streckte.
„Also ich hätte übel Lust auf Mittag. Was meint ihr?“
„Wir haben doch vorhin erst gefrühstückt“, meinte Flo ruhig.
„Das war vor drei Stunden. Außerdem hab ich auf was bestimmtes Lust und bis ich da wieder da bin, vergeht noch ne Stunde.“
Fragend sah mein Engel zu mir auf und ich lächelte ihn bestätigend zu.
„Von mir aus“, knurrte er dann.
„Yippi. Ich nehm das Schneemobil“, freute die Kleine sich und rannte schon Richtung Gästezimmer, um sich umzuziehen. Blitzschnell stand Florian auf und wollte ihr schon nacheilen, als sie nochmal ihren Kopf ins Wohnzimmer streckte. „Und jaaaa, ich fahr vorsichtig.“
Kopfschüttelnd setzte sich mein Liebster wieder hin und ich musste mich zusammenreißen, nicht zu lachen. Nach einer Stunde war sie wirklich wieder da und rief uns freudestrahlend in die Küche. Und was ich dann dort auf dem Teller liegen sah, haute mich fast um. Flo setzte sich stirnrunzelnd auf seinen Platz und betrachtete skeptisch sein Mittagessen.
„So Bruderherz. Ich präsentiere dir feierlich deinen ersten Döner.“
Mit einem Heißhunger in den Augen packte die junge Frau ihren aus und biss dann genüsslich hinein. Ich tat es ihr gleich und war überrascht, wie warm und knusprig das Brot noch war. Auch mein Schatz überwand endlich sein Misstrauen und probierte einen Bissen. Er schien kurz zu überlegen, es dann aber für gut zu halten und aß gemütlich weiter, während seine Schwester über beide Ohren zwecks ihres Erfolgs strahlte.
So ähnlich verliefen zwei weitere Tage, in denen das Mädchen uns komplett beschäftigte. Entweder fuhren wir mit den Schneemobilen durch die Gegend, wo ich auf Flos Rücksitz verbannt wurde und sie bei einer Pause prinzipiell eine Schneeballschlacht anzettelte oder wir wurden in immer verschiedenen Kartenspielen verwickelt. Zwar war Cathrina auch ab und an über Stunden allein unterwegs, um angeblich die Gegend zu erkunden für die nächste Trainingsgruppe. Trotzdem kamen Flo und ich uns kein weiteres Mal näher, als zärtliches Gekuschel kurz vor dem Einschlafen.
Es war der dritte Morgen, als Cathrina aufstand und begann, den Frühstückstisch abzuräumen.
„So, dann werd ich wohl langsam Mal meine Tasche zusammenpacken“, sagte sie ruhig.
„Und ich fahr den Wagen vor“, meinte Flo darauf.
Genervt sah die Kleine zu ihrem Bruder hinüber.
„Kannst du nicht wenigstens etwas Traurigkeit heucheln, dass ich schon wieder gehen muss?!“
Er gab ihr lediglich einen liebevollen Kuss auf die Schläfe, worauf sie leicht lächelte. Damit war dieses Thema fürs Erste gegessen. Mein Schatz kümmerte sich also um das Auto, während ich und Cat die Küche aufräumten. Wieder musste ich die junge Frau mustern, die so wenig mit Flo gemein hatte, was bei ihr nicht unbemerkt blieb.
„Was ist? Habe ich noch irgendwelche Krümel am Mund?“
Ich grinste etwas schief und wusste nicht so recht, wie ich anfangen sollte.
„Du bist so anders als Florian“, begann ich stockend. Milde lächelte sie daraufhin.
„Das wird wohl daran liegen, dass wir verschiedene Eltern haben.“
Verwirrt schaute ich sie an. Lässig lehnte sich die junge Frau an den Tisch, welchen sie gerade abgewischt hatte.
„Flo ist einer von drei wahren Kindern von Viktoria. Ich hingegen bin lediglich adoptiert. Im Prinzip habe ich rein gar nichts mit der Familie zu tun. In Wirklichkeit gehöre ich hier überhaupt nicht her.“ Zwar lächelte sie immer noch, aber in ihren Zügen konnte ich trotzdem einen Hauch an Bitterkeit erkennen. Trotz ihrer fröhlichen Miene wirkte sie traurig. Dann sah sie mit einmal erschrocken zur Seite. Mein Liebster stand im Türrahmen zum Flur hin und funkelte Cathrina böse an.
„Flo. Es ist wirklich nicht schlimm, nur die Wahrheit …“, versuchte sie zu erklären, doch ihr Bruder hörte überhaupt nicht zu.
Wütend ging er auf sie zu und stieß dabei einen im Weg stehenden Stuhl beiseite, was Cat durch das laute Poltern zusammenzucken ließ. Grob packte er ihr Handgelenk und zerrte sie bis zur Küchentheke, wo er sich ein scharfes Messer aus dem Messerblock schnappe und kurzerhand ihren Unterarm damit aufschlitzte. Bevor er das Messer achtlos beiseite warf, tat er das Gleiche bei sich selbst.
„Siehst du das?“, zischte er Cathrina an. „Durch unsere Adern fließt das gleiche Blut und nicht nur durch das Schicksal sind wir aneinander gebunden.“ Fest presste er beide blutenden Arme aneinander, ungeachtet der Tränen in ihren Augen. „Du bist und warst die einzige Person aus der Familie, die stets an meiner Seite war, mir vertraute und hinter mir stand. Du akzeptiertest mich von Anbeginn und zwar so, wie ich war, nahmst mich mit einem Lächeln in die Arme und in die Familie auf, obwohl alle anderen Warnungen aussprachen. Und du willst nicht meine Schwester sein, welche die Gabe besitzt, hinter die Fassade der Menschen zu schauen, direkt in ihre Herzen?“
Cat sah ziemlich fertig aus, und als Flo bemerkte, wie sie leicht zitterte, verschwand der Zorn aus seinem Gesicht und seiner Stimme. Liebevoll nahm er sie in seine Arme und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Tut mir Leid“, jammerte die junge Frau und klammerte sich an ihren großen Bruder.
„Schsch … ruhig. Ist ja gut“, beruhigte Flo sie sanft und ich atmete erleichtert auf.
Oh man, da hatte ich echt zwei Hitzköpfe als neue Freunde gewonnen. Kopfschüttelnd ging ich ins Bad und holte etwas Verbandszeug und andere Kleinigkeiten aus dem Medizinschrank.
„Zum Tisch, sofort!“, forderte ich beide barsch auf, als ich die Küche wieder betrat.
„Keine Sorge. Die Schnitte waren nicht tief. Also …“, begann Cat, doch ich unterbrach sie rabiat.
„Ich sagte: SOFORT!“
Streng sah ich die Geschwister an, worauf sie mich mit großen Augen anstarrten. Dann trollten sich beide und setzten sich nebeneinander mir gegenüber an den Tisch und legten ihren jeweiligen Arm darauf. Ich benetzte eine Kompresse mit Desinfektionsmittel und tupfte leicht über Cats Wunde. Diese sog scharf die Luft ein, da es wohl etwas brannte.
„Hab dich nicht so, schließlich gibt sich Chris alle Mühe, dich zu verarzten“, begann Florian gelangweilt zu meckern.
„Wenn du nicht so einen Aufstand gemacht hättest, müsste er sich jetzt nicht die Arbeit machen“, schimpfte die Kleine zurück.
„Würdest du im Kopf etwas klarer denken können, hätte ich nicht so einen Aufstand machen müssen.“
„Das sagt gerade der Richtige. Du hättest es ja auch mal mit normaler Konversation probieren können!“
Oh je, zuerst bekundeten beide die große Familienzusammengehörigkeit und umarmten sich innig und nun zofften sie sich an und würden sich am liebsten die Augen aus dem Gesicht kratzen. Die beiden waren wirklich wie Hund und Katze – halt echte Geschwister. Ich hatte einen leichten Verband um Cats Arm gelegt, worauf sie sich lächelnd bei mir bedankte und ich mich um Flo zu kümmern begann.
„Solche Worte aus deinem Mund, die erstmal auf Leute losgeht, ohne sich vorher einmal mit ihnen zu unterhalten.“
„Was ist los??? Wer ist denn wie ein Berserker auf meinen Schatz losgegangen, als ich mit ihm zusammengekommen war, hä?! Und er kannte nicht eine einzige Technik!“
„Dann ist das also so etwas wie eine Familientradition?“, mischte ich mich ein. Beide sahen mich schulterzuckend an.
„Na ja, man muss schließlich wissen, an wen man seine Geschwister abtritt“, meinte Cat schlicht, worauf Flo nickend zustimmte. Na toll, da waren die sich also wieder einig. Was soll‘s, immer noch besser, als sich ihr Gezeter anzuhören.
„Sag mal Cathrina, wann geht eigentlich dein Flieger?“, fragte ich, als ich mit der Versorgung meines Engels fertig war und alle Utensilien beisammen räumte.
„So gegen dreizehn Uhr. Warum?“
„Dann sollten wir langsam losmachen“, antwortete mein Schatz für mich und deutete auf die Uhr.
„Schon so spät? Okay, ich räum fix mein Zeug zusammen und dann kann‘s losgehen. Wenn ich zu spät komme, wird mein Freund sauer.“ Fröhlich hüpfend verschwand die junge Frau in ihrem Zimmer.
„Hey“, hielt mich Florian auf, als ich ins Bad gehen wollte, um die Sachen zurückzubringen. „Danke.“ Liebevoll lächelte er mich an, worauf mein Herz schneller schlug.
„Kein Problem. Ich habe das eine Zeit lang öfters getan. Es tut gut, anderen Leuten helfen zu können. Aber bitte tu mir einen Gefallen und mach so etwas nie wieder!“
Ernst sah ich ihn an, worauf er mir das Zeug aus den Händen nahm und auf dem Tisch abstellte. Dann umarmte er mich fest und allein diese intensive Nähe ließ mich erweichen.
„Ich will nicht, dass du dir selbst wehtust“, sagte ich leise. Mein Engel streichelte mir über Wange und Kinn und hob meinen Kopf leicht an.
„Ich versuche es, versprochen.“
Seine grünen Augen fixierten die meinen und ich spürte, wie seine Hand auf meinen Rücken immer tiefer rutschte. Ich hielt es einfach nicht länger aus und küsste ihn stürmisch. Spielerisch begann ich seine Zunge für mich einzunehmen und an seiner Lippe zu knabbern, doch Flo hielt mich sanft zurück.
„Chris, langsam. Ich möchte, dass es dir erst wieder hundertprozentig gut geht, bevor wir es erneut versuchen“, begann er sich zu erklären. Verwundert schaute ich zu ihm auf.
„So lange braucht man doch nicht, um sich zu erholen. Ich war schon am nächsten Morgen wieder fit. Aber … Moment mal. Heißt das, du hast dich die letzten Tage nur zurückgehalten, aus Sorge um mich?“
Leichte Röte benetzte Florians Wangen. Ich schüttelte amüsiert meinen Kopf.
„Mein süßer, schwarzer Engel. Und ich hatte schon Angst, du willst mich nicht mehr.“
„Wie kannst du nur so was denken?“
Zärtlich küsste mich mein Liebster immer und immer wieder und zog mich so dicht wie nur möglich an sich heran, wodurch ich kaum mehr Luft bekam. Aber das war mir egal. Ich genoss seine Wärme, seinen Duft, seine Liebkosungen. Ich bekam einfach nicht genug davon. Es war kaum zu beschreiben, wie sehr ich ihn begehrte. Und seine Erregung an meinem Becken zu spüren, gab mir fast den Rest. Ein lautes Hüsteln unterbrach uns allerdings.
„Glückwunsch Bruderherz, dass du keine Jungfrau mehr bist, aber die zwei Stunden hältst du wohl auch noch ohne aus, oder? Ich geh schon mal vor.“ Breit grinsend drehte Cat sich um, Richtung Ausgang. Flos Gesicht war komplett rot angelaufen.
„Bei den Göttern, wie peinlich“, stöhnte er dann auf.
„Nein, wie natürlich“, lächelte ich ihn an und gab ihm einen leichten Kuss. „Spritz dir etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Das hilft ein wenig.“
Ich räumte noch schnell das Verbandszeug weg, schnappte mir meine Jacke und ging dann zusammen mit meinem Engel hinaus. Cathrina stand lässig am Jeep angelehnt und grinste einfach breit weiter.
„Schmeiß den Schneeball weg und steig endlich ein“, knurrte Flo, während er die Motorhaube umrundete.
„Ich hab überhaupt nichts in der Hand“, zickte die Kleine und ließ die weiße Kugel „unauffällig“ fallen.
Ich platzierte mich auf dem Beifahrersitz, während Cat bereitwillig hinten einstieg und Florian als Fahrer fungierte. Den Wald hatten wir schnell hinter uns gelassen, und als wir auch das letzte Dorf durchquerten, hielten wir kurz an, um die Schneeketten vom Wagen zu ziehen, damit wir auf die Schnellstraße fahren konnten.
„Oh man, eigentlich hasse ich ja den Winter, aber wunderschön anzusehen ist er trotzdem immer wieder“, seufzte Cat nach einer halben Stunde. Ich lächelte mild.
„Jede Jahreszeit hat etwas besonders an sich. Schon allein wenn man von den Gerüchen ausgeht“, meinte ich verträumt und schaute zu der Kleinen nach hinten. Doch diese saß angespannt da und starrte in den Rückspiegel.
„Flo, ich glaube wir werden verfolgt. Dieser dunkelblaue Van weicht uns nicht von der Stoßstange, seit wir auf der Autobahn sind.“
„Du hast es also auch bemerkt“, sagte Florian gefährlich ruhig. Ich sah nur verwirrt zwischen beiden hin und her. „Wir können keinen direkten Kontakt zulassen. Das wäre für Chris viel zu gefährlich.“
„Der Meinung bin ich allerdings auch. Dann zeig mal, Brüderchen, was ich dir so beigebracht habe.“
Auf dieses Stichwort hin schaltete mein Schatz einen Gang tiefer und drückte das Gaspedal durch. Der Motor heulte lautstark auf und durch die Beschleunigung wurden wir regelrecht in den Sitz gedrückt. Ich krallte mich unwillkürlich an der Tür fest und blickte ängstlich zu meinem Engel hinüber.
„Florian, was ist hier eigentlich los?“
Cat übernahm die Antwort auf meine Frage, da ihr Bruder nur betrübt dreinschaute.
„Es ist so, Chris. Das Haus und der kleine Fuhrpark wurden nicht durch Trainingscamps in kleineren Gruppen finanziert. Maximal bringen wir dort unseren Schützlingen spezielle Techniken bei, die sie bei ihrer späteren Berufsausübung gut gebrauchen können.“
Das war keine Erklärung, sondern glich eher einem Ratespiel, denn ich war nicht ein Stück schlauer. Außerdem machte mir Flos neuer Fahrstil Angst. In einem halsbrecherischen Tempo schossen wir die Straße entlang, drängelten uns in die noch so kleinste Lücke und fuhren einen mörderischen Slalom zwischen langsamen LKWs, Wohnwagen und kleineren Transportern. Doch der Van blieb hartnäckig an uns dran.
Zwar konnte ich durch den Seitenspiegel nicht erkennen, wer hinter diesen dunkelgetönten Scheiben saß, trotzdem hatte ich dieses dumpfe Gefühl, den Fahrer zu kennen. Kalt stieg dieses Empfinden in mir auf und ließ mich frösteln. Passierte das etwa alles wegen mir? Auf die Gefahr hin, dass mich meine neuen Freunde für komplett übergeschnappt halten könnten, schloss ich meine Augen und konzentrierte mich auf diesen dunkelblauen Van. Dann ließ ich meine Gabe fließen.
Wie ein sanfter Lufthauch, tastete ich über die Karosserie und drang bis ins Innere des Wagens vor, welcher immer mehr aufholte und nun fast neben uns fuhr. Ich bekam zwar noch mit, dass Cathrina mir einiges erklärte, allerdings drang kein einziges Wort sinnvoll bis zu mir durch. Meine gesamten Sinne waren auf das andere Auto gerichtet, um herauszufinden, welche Gefahr uns hier wirklich drohte.
Und dann spürte ich es. Wie ein kräftiger Schlag in die Magengegend kam es über mich, drang in meinen Körper ein und schien meine Organe zerreißen zu wollen. Schreiend wand ich mich auf meinem Sitz und versuchte diese Kräfte aus mir zu verbannen, doch wieder einmal fühlte ich mich zu schwach dafür.
Es war nicht das erste Mal, dass ich diese Art von Qualen in mir spürte. Sie waren der Grund, warum ich vor langer Zeit von zu Hause weggelaufen bin, von da an immer auf der Flucht, immer diese Angst im Nacken, sie könnten mich finden und das zu Ende bringen, was damals mein großer Bruder nur knapp verhindern konnte.
„Chris!“
Das laute Rufen meines Engels holte mich aus der Vergangenheit zurück und seine sanfte Berührung auf meiner Wange schob den Schmerzschleier ein wenig beiseite. Sehr sorgenvoll schaute er zu mir und achtete einen Moment nicht auf die Straße. Ich hörte noch, wie Cat „Vorsicht!“ rief, sah, wie orangene Pylonen umherflogen. Wir rasten mitten in eine Baustelle hinein, in der Bauarbeiter die äußere Leitplanke der Brücke reparierten, die wir gerade befuhren. Ein Großteil war davon entfernt worden und wir steuerten direkt darauf zu.
Gequält schloss ich meine Augen. Warum? Warum gerade jetzt? Ich war so lange allein gewesen. Da gab es genügend Möglichkeiten, mich still und leise beiseitezuschaffen, ohne großes Aufsehen. Und jetzt wo ich Freunde an meiner Seite hatte, wollten die sie gleich mit in den Tod schicken? Nein! Das wollte ich auf gar keinen Fall!
Schwungvoll schlitterte der Jeep von der Brücke und ich hatte für einen kurzen Augenblick das Gefühl zu schweben. Dann kam nur noch der Fall. Das Auto drehte sich einmal komplett und ich merkte nur noch, wie Florian nach meiner Hand griff. Wärme durchflutete meinen Körper und wischte jeden auch noch so kleinsten Schmerz hinfort. Es war eine total simple, mit Panik behaftete Geste und doch gab sie mir so viel. Nein! Ich wollte nicht, dass mein Engel für eine Sache büßte, mit der er absolut nichts zutun hatte.
Laut hörte ich mein Blut durch meine Adern rasen, dann begann ich zu handeln. Ich setzte eine Kraft frei, die ich tief in mir vergraben hatte und wünschte, sie nie wieder benutzen zu müssen. Sanft aber mit Nachdruck umschloss ich beide Freunde und mich mit einer schützenden Kugel, ließ diese aus dem Wagen schießen und dann ganz sacht zu Boden gleiten. Als wir unten ankamen, zerplatzten die Kugeln wie Seifenblasen. Das Auto landete ein paar Meter weiter von uns entfernt, was alle erschrocken zusammenzucken ließ. Cat war die Erste, die ihre Stimme wiederfand.
„Ehm, ich habe das dumpfe Gefühl, dass meine Erklärungsversuche von vorhin komplett sinnlos waren.“
Was? Keine ängstlichen Blicke? Keine Fragen, was überhaupt gerade geschehen war?
„Ach Schätzchen, das war bestimmt nicht das Einzige, was ihr an ihm verschwendet habt“, hörte ich eine mir wohl bekannt Stimme.
Mit einem Ruck drehte ich mich um und schaute zu den beiden Personen, die gute zehn Meter von uns entfernt standen. Höhnisch sahen sie auf mich hinab, wie all die Jahre schon. Über meine Schulter hinweg wandte ich mich an meine Freunde.
„Passt jetzt bitte gut auf. Ich werde euch von hier wegbringen. Zwar reichen meine Kräfte maximal bis zum letzten Dorf, aber das sollte weit genug sein.“
„Was redest du da für einen Blödsinn“, blaffte Cat mich an. „Wir lassen dich doch nicht mit diesen Spinnern alleine, oder Flo?“ Sie drehte sich zu ihrem Bruder um, doch dieser hockte auf dem Boden und krümmte sich vor Schmerzen. „Florian!“
Während Cathrina sich um ihn kümmerte, folgte der erste Angriff. Konzentrierte Energiebündel donnerten mit einer Gewalt auf uns ein, bei denen ich Schwierigkeiten hatte, mein läppisches Schutzschild aufrechtzuerhalten. Ich hatte viel zu lange meine Gabe nicht mehr benutzt und war entsprechend ungeübt, was mir nun zum Verhängnis wurde.
„Chris, wer sind die?!“, schrie Cat mich an und wenige Sekunden darauf versagte mein Schild.
Mit geballter Kraft wurde ich getroffen und gute zwei Meter nach hinten geschleudert. Ich fühlte mich wie ausgebrannt, als hätte ich an eine Hochspannungsleitung gefasst. Tiefe Risse zierten meine Haut, aus denen stetig etwas Blut floss und es mir schwer machte, bei Bewusstsein zu bleiben. Doch aufgeben wollte ich noch lange nicht. Die Schmerzen in meinen Gliedern ignorierend, rappelte ich mich wieder auf.
„Christian! Alles okay bei dir?“, rief Cathrina zu mir hinüber. Sie sah wirklich sehr besorgt aus.
„Soweit schon, aber lange halte ich denen nicht mehr stand. Ihr müsst hier sofort verschwinden!“ Selbst das Sprechen war anstrengend und ich spuckte bitteres Blut aus.
„Wir müssen gar nichts! Und jetzt sag uns endlich, wer diese Psychopaten dort sind!“
Traurig blickte ich zu den beiden Personen hinüber, mit denen ich bisher nur Schmerz und Leid verband. Ich sah mit an, wie sie die nächste Attacke vorbereiteten und sammelte innerlich meine letzten Reserven.
„Das sind meine Eltern.“
Ich spürte, wie die Kleine mich mit offenem Mund anstarrte und sich dann meinen Erzeugern zuwandte.
„Leute wie ihr seid das Letzte!“, brüllte sie denen entgegen, ungeachtet des gefährlichen Energiebündels, welches unaufhaltsam auf uns zuschoss. Und anstatt nun endlich Angst zu bekommen, stand die junge Frau schnell auf, machte einen Schritt nach vorn und streckte ihre flache Hand aus. Sofort umgab uns eine dunkelvibrierende, gläserne Halbkugel, weit aus mächtiger als mein Schild. „Wisst ihr eigentlich, was ihr eurem Sohn damit antut?!“, schrie die Kleine weiter.
Ihre Augen hatten sich komplett verfärbt und funkelten nun in einem Schwarz, welches dunkler als jede Nacht schimmerte. An ihrem Hals krochen schmale Streifen bis zu ihrer Stirn hinauf und bildeten ein tribalartiges Tattoo. Außerdem umgab sie nun eine dunkle Aura, welche ich bei der ersten Begegnung mit Florian nur zu deutlich gespürt hatte.
„Wir schicken ihn zu unseren Ahnen, in der Hoffnung, dass er dort Läuterung erfährt“, antwortete meine Mutter, doch meine kleine Freundin schnaubte nur abfällig.
„Pha, wir werden ja gleich sehen, wer hier die Läuterung nötiger hat! … DRAGON!“
Schwarze Blitze schlängelten sich um ihren schmalen Körper und verdichteten sich soweit, bis sie sie laut krachend auf ihre Gegner niederließ. Meine Eltern schützten sich in letzter Sekunde, hatten aber sichtlich zu tun, dieser Attacke standzuhalten. Ich hingegen verstand langsam, bei wem es sich um meine neuen Freunde handelte.
„Ihr seid Drachen“, hauchte ich ungläubig. Cat beendete ihren Angriff und fiel erschöpft auf die Knie. Mild lächelte sie mich an.
„Ich bin nur ein kleiner Abkömmling und besitze nicht bei Weitem die Kraft, wie direkt Geborene. Allerdings haben diese auch mehr Probleme, ihre Macht zu kontrollieren. Bitte, du musst Flo leiten. Auf meine Stimme hört er nicht mehr und den Schutzschild kann ich auch nicht ewig aufrechterhalten. Er muss lernen, die Kraft zu kontrollieren, nicht umgedreht.“
Wieder regneten Energiebündel auf uns hinab und ich sah an den Schweißperlen auf Cats Stirn, dass es immer anstrengender wurde, diesen Einhalt zu gebieten. Immer noch stand ich zögernd da. Beide waren Dragons, die dunkelsten Geschöpfe, die die magischen Welten zu bieten hatten. Noch nie hatte man etwas Gutes von ihnen gehört, obwohl sie, laut den Gerüchten, sich zum besseren gewandelt haben sollen. Also in richtige Drachen konnten sie sich nicht verwandeln, aber man sprach ihnen Kräfte zu, welche über die Mächte der Fabelwesen weit hinausgingen. Natürlich sah die junge Frau meine Zweifel.
„Entweder du glaubst den alten Legenden und Märchen oder du folgst deinem Gefühl, deinem Herzen. Aber bitte entscheide dich langsam!“
Und wieder hatte die Kleine recht. Mein Liebster wand sich unter Schmerzen und ich hatte nichts Besseres zu tun, als alles infrage zustellen. Schnell lief ich zu Florian und kniete mich zu ihm hinab. Sanft streifte ich ihm das verschwitzte Haar beiseite und berührte sacht seinen Oberarm. Auch seine Augen hatten sich komplett schwarz verfärbt und er schickte mir kleine Stromschläge, um mich loszuwerden. Ich allerdings hatte nicht vor, ihn so leicht ziehen zu lassen.
„Mein Engel, komm wieder zu dir!“, versuchte ich vergebens zu ihm durchzudringen. Doch er knurrte mich nur an und verschärfte seine Attacken. Gequält biss ich meine Zähne zusammen und versuchte, die kleineren Verbrennungen zu ignorieren, die mein Liebster mir zufügte.
Dann passierte alles auf einmal. Mit einem lauten Schrei wurde Cat nach hinten geschleudert und im selben Augenblick erstarb das Schild. Meine Eltern verschwendeten keine weitere Zeit und schickten neue Energiebündel direkt auf uns zu. Ich wusste, dass mein Schutzschild wie eine Fensterscheibe aus Zuckerglas zerspringen würde, trotzdem stellte ich mich schützend vor die beiden Menschen, die mir in der kurzen Zeit so ans Herz gewachsen waren. Die Attacke meiner Eltern traf mich nur wenig gebremst und fast hätte es mich erneut von den Füßen gerissen, wenn mein Liebster nicht dazwischen gegangen wäre.
Mit einem Brüllen, was mehr einem wilden Tier glich, stellte er sich vor mich und begann, schwarzzischende Blitze auf meine Erzeuger niederregnen zu lassen. Ich stand einfach nur geschockt hinter ihm, sah, wie die schwarzen Tribals an seinem Hals bis zur Stirn raufkrochen und von innen zu glühen begannen. Wild fegten die Energien um uns herum, zerwühlten unsere Haare, zerrten an unseren Sachen. Die gesamte Atmosphäre vibrierte regelrecht.
Mit einem letzten, tiefen Brüllen holte Florian weit aus und schleuderte einen dermaßen kraftvollen Blitz unseren Gegnern entgegen, dass diese vor Schmerzen laut aufschrien und dann hart zu Boden fielen. Tot waren sie allerdings nicht. Zitternd richteten sie sich etwas auf und suchten die Nähe zueinander. Für einen weiteren Angriff sahen beide viel zu geschwächt aus. Langsam drehte sich mein Liebster zu mir um, noch immer mit diesen tiefschwarzen Augen.
„Florian! Denk daran: Du magst vielleicht die schwärzeste Magie in dir tragen, die es gibt. Aber wie du sie einsetzt, ob zum Guten oder zum Bösen, diese Entscheidung triffst nur du allein!“
Cathrina kam langsam auf uns zu. Ihre Kleidung war zum Teil zerfetzt worden und ihre Haut aufgerissen und angesengt. Auf ihrer Stirn zeichnete sich eine starke Platzwunde ab und ihre Augen sahen aus, als ob sie Blut geweint hätte. Trotzdem stand sie aufrecht, schien fast wie zum Sprung bereit, ihren Bruder wenn nötig zurechtzuweisen.
Doch mein Engel beachtete sie gar nicht, fixierte mich nur weiterhin mit diesen unheimlich glühenden Augen. Zurückzuweichen kam für mich allerdings nicht infrage. Florian hatte mich beschützt. Nun war ich an der Reihe, etwas zu tun. Selbstsicher blieb ich stehen und sah ihn mit festem Blick an. Er sollte spüren, dass ich ihn nicht so leicht aufgeben würde. Gemächlich hob mein Liebster seinen Arm und streichelte mit den Fingerspitzen ganz leicht über meine Stirn und Wange.
„Ich weiß“, flüstere er fast.
Zuerst glaubte ich, dass das Schwarz in seinen Augen abnahm, heller wurde. Aber mit einmal leuchtete es wieder dunkel auf. Flo krümmte sich vor Schmerzen und fiel stöhnend auf die Knie. Er schien sehr stark mit sich zu kämpfen. Selbst als ich mich ihm nähern wollte, schleuderte er mir einen Blitz entgegen, um mich fernzuhalten. Unter seiner zerfetzten Kleidung sah ich die Tattoos, die den Anschein machten, sich vom Rest der Haut ablösen zu wollen.
Wie bei einem Fisch hob und senkten sich die Hautfetzen kiemenartig und ließen die Sicht frei auf helles Fleisch. Mir zerriss es das Herz, ihn so gequält aufbrüllen zu hören und dermaßen leiden zu sehen. Zwar konnte ich mich selbst kaum noch auf den Beinen halten, aber das Adrenalin, was durch meine Adern pulsierte, gab mir die passende Kraft, um nach vorne zu stürzen, direkt in Flos Arme. Dann küsste ich ihn.
Zu Anfang richtete er seine gesamten Attacken auf mich, wodurch sich sein Körper wieder etwas erholte. Wie ein Vampir entzog er mir meine letzten Energiereserven, wandelte diese in schwarze Magie um und ließ sie auf mich niederregnen, anstatt sich damit selbst zu schädigen. Aber mir war das egal. Wenn das der einzige Weg war, dass er sich nicht selbst vernichtete, sollte es mir recht sein. Kurz bevor ich jedoch in erlösende Ohnmacht fiel, begann sich der Energiestrom um mich herum zu verändern.
Die schwarzen Blitze hatten einen leichten Grünschimmer angenommen und anstatt mir meine Kraft zu entziehen, spürte ich neue in mich zurückfließen. Mein Liebster versuchte mich nicht mehr mit aller Macht von sich wegzustoßen, sondern umklammerte mich wie ein Ertrinkender kurz vor dem sicheren Tod. Es war ein berauschendes Gefühl, als wäre ich auf irgendeinem seltsamen Trip. Ich glaubte zu schweben, fühlte diese neue Kraft in mir, die stetig wuchs. Wunden heilten, zerfetzte Kleidung wurde wieder ganz und selbst die Umgebung erfreute sich an neuer Blüte. Alles, was vorher zerstört worden war, erschien nun wieder in neuem Glanz.
Tief holte ich Luft, als mein Liebster endlich wieder meine Lippen freigab. Und als ich aufsah, war nach einem Blinzeln das Schwarz in Flos Augen verschwunden. Nun strahlten diese mich wieder in diesem tiefen Grün an, in welches ich noch immer versinken könnte. Zwar versuchte ich mich wirklich zusammenzureißen, presste fest meine Lippen aufeinander. Aber als mein Engel mir abermals mit diesem sorgenreichen und liebevollen Ausdruck ins Gesicht schaute, rollten trotzdem vereinzelte Tränen meine Wangen hinab.
„Es tut mir so Leid“, sagte ich leise mit zitternder Stimme.
Zärtlich küsste Flo die salzigen Tropfen weg.
„Das sollte es nicht. Schließlich habe ich durch dich wieder zu mir gefunden. Ich muss dir danken, mein Herz.“
Wieder und wieder küsste er meine Wange von den Augen bis hinab zu meinem Mund, wo sich endlich unsere Lippen vereinten. Es war ein unglaubliches Gefühl. Nun, da wir unsere Kräfte voreinander nicht mehr verbergen mussten, schienen diese jetzt miteinander zu tanzen, als hätten sie schon ewig zusammengehört. Ich spürte, wie immer neue Energie in mir wuchs, und ließ diese gleichsam zu meinem Engel zurückfließen.
„Wow“, war das Einzige, was ich dazu raus bekam, als wir uns ein wenig voneinander lösten.
„Ehm, ich will zwar euer neues Glück nicht stören, aber ist das normal, dass deine Ellis so krass leuchten?“, unterbrach uns Cat.
Erschrocken fuhr ich zu meinen Erzeugern herum und sah im selben Augenblick, wie sie ihre letzten Kräfte bündelten und mir entgegenschleuderten. Irgendein Schalter legte sich in meinem Kopf um. Meine Haut begann in einem hellen Grün zu schimmern und ich fühlte jede auch noch so kleinste Energieader, die die Natur mir zu bieten hatte. Nach dieser ungewöhnlichen Vereinigung mit meinem schwarzen Engel schienen meine Sinne sich um einiges verschärft zu haben.
Ich benötigte nur einen kleinen Teil, nahm lediglich das, was die Natur mir freiwillig gab, schließlich wollte ich sie nicht so rücksichtslos ausbeuten, wie das meine Eltern schon immer getan hatten. Dann warf ich ihn mit meiner gesamten Kraft zu meinen Erzeugern. Ihre Attacke brach sofort ab und um sie herum loderte ein hellgrünes Feuer, welches reinigend und vernichtend zugleich war. Wenig später war nichts mehr von ihnen übrig. Zitternd sank ich zu Boden.
„Und wieder hast du uns beschützt, mein Herz“, sagte Flo sanft und legte seine Hand auf meine Schulter.
„Ich habe gerade meine eigenen Eltern umgebracht!“, platze es mit bebender Stimme aus mir heraus.
Ich konnte nicht verstehen, warum mein Liebster noch immer zu mir hielt. Eine Kopfnuss von Cat brachte mich wieder etwas runter.
„Sei nicht albern. Es war Notwehr. Und mal davon abgesehen: Eltern sind dafür da, ihre Kinder zu beschützen und nicht diese umzubringen. Das da waren irgendwelche bösen Geschöpfe. Nicht mehr, aber auch nicht weniger!“
Ich sah zu der Kleinen auf, wie sie mit in den Hüften gestemmten Händen zu mir hinabblickte. Auch ihre Wunden waren verheilt und ihre Kleidung wieder in Ordnung. Sie war wohl wieder bei vollen Kräften. Die Energie meines Engels und mir schien wirklich gut miteinander zu harmonieren.
„So, ich schätze mal, ihr braucht mich hier nicht länger. Mein Brüderchen wird alle Erklärungen bestimmt gerne übernehmen. Viel Glück euch beiden und den Segen der Götter“, verabschiedete sie sich und wollte gerade verschwinden, als ich sie aufhielt.
„Cathrina, warte!“
Fragend drehte sie sich zu mir um.
„Danke. Für alles. Ich weiß, dass meine Familie nicht gerade einfach ist.“
Die junge Frau lachte daraufhin laut auf.
„Deine Familie soll nicht einfach sein? Dann wart‘s mal ab, wenn du den Rest von uns kennenlernst und du erfährst, welchen Job wir eigentlich nachgehen. Macht‘s gut ihr beiden und meldet euch mal, ja!“
Und schwubs löste sie sich in einem dunklen Nebel auf, der von einem Windstoß getragen noch einmal um uns herum fegte und dann davonrauschte. Florian erhob sich und streckte seine Hand nach mir aus.
„Lass uns auch nach Hause gehen“, sagte er sanft und nur zu gern ließ ich mich auf die Füße zu ihm hinziehen. Liebevoll schloss er seine Arme um mich und drückte mich dicht an seinen Körper. „Vertrau mir und lass dich einfach fallen“, flüsterte mir mein Engel ins Ohr und ich hatte keine Mühe, der Aufforderung nachzukommen.
Es fühlte sich seltsam an, so formlos durch die Gegend zu schweben, aber ich hatte absolut keine Bedenken. Ich spürte deutlich die Nähe meines Liebsten und das war alles, was ich benötigte. Wie ein starker Lufthauch wehten wir in das Haus und standen mit einmal mitten im Flur vor der Sitzgruppe.
Es war eine recht seltsame Situation. Wir sahen uns einfach nur an, spürten aber nun die Empfindungen des Anderen. Als wir uns küssten, war eine besondere Verbindung zwischen uns entstanden, was nicht nur mich zu überwältigen schien. Wir brauchten nicht laut zu sagen, was uns auf dem Herzen lag, wir fühlten es einfach.
Trotzdem gab es noch so viele Fragen, die unbedingt beantwortet werden wollten. Vorerst zogen wir uns ins Wohnzimmer zurück, machten es uns auf der Couch bequem und ich begann zu berichten, wie es dazu kam, dass ich von zu Hause weglief. Es war alles andere als einfach, meine Geschichte zu erzählen. Aber Florian ließ mir genügend Zeit mich zu sammeln, wenn ich einmal stockte, oder nahm mich einfach in seine Arme. Es war unglaublich, wie viel Kraft mir allein seine Nähe gab. Dabei wollte ich doch für ihn stark sein, gerade nachdem ich seinen bisherigen Lebensweg erfuhr.
Am Ende stand fest, dass es keiner von uns bisher recht leicht hatte, aber dass wir auch kein Mitleid von irgendjemand brauchten. Er hatte gelernt, seine dunkle Magie zu verwenden, ohne das die Luft gleich nach Blut riechen musste, wie es eigentlich sonst bei Drachen so üblich war. Und ich hatte endlich mehr Selbstbewusstsein, akzeptierte mich, so wie ich nun einmal war, egal was andere davon hielten.
„Da dachte ich gerade noch, wieder neu zu mir gefunden zu haben und schon bin ich erneut verloren.“ Schwer atmete mein schwarzer Engel aus und kraulte über meinen Nacken.
Wir lagen zusammengekuschelt komplett auf dem Sofa, Flo auf dem Rücken und ich halb auf ihm drauf. Ich richtete mich etwas auf, um ihn direkt anschauen zu können. Ich leugnete es nicht, dass ich ihn nun mit anderen Augen sah, nachdem was alles passiert war und ich erfahren hatte. Aber es schmälerten nicht im Geringsten meine Gefühle für ihn. Leicht hauchte ich meinem Liebsten einen Kuss auf die Lippen und sprach endlich das aus, was mir die ganze Zeit schon auf dem Herzen lag.
„Ich liebe dich.“
Florian machte recht große Augen und seine Wangen begannen rötlich zu schimmern. Ich lächelte ihn nur verführerisch an und küsste ihn erneut. Aus diesem süßen Zungenspiel entwickelte sich rasend schnell ein wildes Gefecht, in dem wir uns gierig aneinander festsaugten. Mit einem Ruck stand mein Liebster auf, nahm mich auf seine Arme und trug mich ins Schlafzimmer bis auf sein Bett. Liebevoll legte er mich darauf ab und setzte sich auf die Kante. Ich spürte, dass er wieder die Initiative ergreifen wollte, doch dieses Mal hatte ich etwas anderes mit ihm vor.
Zärtlich aber doch mit Nachdruck zog ich Flo auf das Bett und setzte mich kurzerhand auf ihn drauf. Mit dieser Situation war er sichtlich überfordert, weswegen ich mich etwas zu ihm hinab beugte und an seinem Ohr knabberte.
„Vertrau mir und lass dich einfach fallen.“
„Christian, ich … ich weiß nicht wie ich in so einer Situation reagiere“, stammelte er heiser. Unter meinen Fingern konnte ich sein Herz spüren, wie es heftig gegen seine Brust schlug, was mir ein bittersüßes Grinsen auf die Lippen zauberte.
„Lass es uns herausfinden, mein süßer, schwarzer Engel.“
Flo war total perplex und ich nutzte die Gelegenheit, sein Shirt hochzuziehen und seinen flachen, festen Bauch mit warmen Küssen zu benetzen. Ich wanderte immer weiter hinauf, zog ihm dieses nervige Stück Stoff über den Kopf und widmete mich kurz seinen kleinen Brustwarzen, welche sich erwartungsvoll aufgerichtet hatten. Als ich begann an ihnen zu knabbern, krallte mein Liebster seine Hände fast schon schmerzhaft in meine Oberarme.
Wenn er auf diese Kleinigkeit schon so heftig reagierte, war ich auf seine anderen Reaktionen noch viel mehr gespannt. Während ich mich abwechselnd an seinem Hals festsaugte, an den Ohrläppchen leckte und mit seiner Zunge spielte, öffnete ich geschickt seine Hose und zog diese samt Shorts unter etlichen Küssen aus. Meine Kleidung folgte nur wenig später. Zwar versuchte Flo immer wieder die Initiative zu ergreifen, aber vorerst hielt ich ihn davon ab. Ich hatte es mir einfach in den Kopf gesetzt, mich für das letzte Mal zu revanchieren.
Zärtlich glitt meine Zunge über seinen Körper, über seine Brust, Becken, Bauchnabel bis hinab zu seinen Lenden. Ich benetzte meine Finger mit etwas Speichel und streichelte dann über seine Kuppe. Scharf sog mein Liebster die Luft ein und stützte sich auf seine Unterarme ab, sodass er etwas aufrecht lag. Mit einem apathischen Glanz in den Augen sah er auf mich hinab und ich schenkte ihm ein diabolisches Lächeln. Sollte er mir nur zuschauen. In wenigen Augenblicken würde er sich eh unter mir winden und nicht mehr wissen, wo oben und unten ist.
Und so war es auch. Je länger ich ihn verwöhnte, je intensiver ich meine Zunge um seine Körpermitte kreisen ließ, desto lustvoller stöhnte er auf. Längst lag er wieder flach auf dem Rücken und zerriss fast das Kissen unter seinem Kopf. Sein kompletter Körper glühte heiß unter meinen kundigen Händen auf und ich bemerkte, wie sich schwarze Tribals auf seiner Haut auszubreiten begannen, als ich ihn mit etwas Öl sanft auf mein Eindringen vorbereitete.
Ich war mir vollkommen bewusst, dass das nicht ganz ungefährlich war. Er hatte es zwar geschafft, sich letztendlich im Kampf zu beherrschen, seine dunkle Magie zu kontrollieren, aber das hier war eine komplett andere Situation. Hier sollte er sich ganz und gar gehen lassen und sich in keinster Weise zusammenreißen müssen. Und ich setzte alles daran, dies auch zu erreichen. Zärtlich neckte ich ihn mit meiner Zunge, ganz leicht nur. Und im nächsten Moment verwöhnte ich ihn mit meinen Lippen, erhöhte den Druck und half mit meinen Fingern etwas nach. Dann, wenn er glaubte, es kaum mehr aushalten zu können, ließ ich wieder von ihm ab und überhäufte ihn lediglich mit süßen Küssen.
Es war so berauschend, wie dieser athletische Körper vor Erregung zuckte, wie seine Haut im diffusen Licht von Schweiß bedeckt glänzte. Allein ihn so zu sehen, machte mich halb verrückt. Und heiß. Er war noch so unbedarft, fast schon naiv und reagierte recht extrem auf jede auch noch so kleinste Berührung. Mit einmal schien es meinem Liebsten zu viel zu werden. Ruckartig richtete er sich auf und packte mich an den Schultern.
„Quäle mich nicht länger, mein Herz.“
Seine Stimme zitterte und war komplett heiser. Warmer Atem strich über meine Wange und er legte erschöpft und leicht zitternd seinen Kopf in meine Halsbeuge und küsste mich dort. Er war fast zu schwach, um zu betteln. Mein Herz klopfte wie wild vor Aufregung. In meinem Kopf herrschte gähnende Leere. Meine gesamten Sinne waren nur auf ihn gerichtet und ich konnte es nicht erwarten, meinen Engel endlich komplett für mich einzunehmen.
Liebevoll drehte ich ihn um, glitt weiterhin mit den Fingerspitzen und Händen über seine süßen Brustwarzen und den steil nach oben gerichteten Schaft. So zärtlich wie nur möglich drang ich in ihn ein, schließlich sollte er selbst beim ersten Mal Freude dabei empfinden. Trotz meiner Bemühungen spürte ich, dass es ihm schmerzte und seine schwarzen Tattoos begannen dunkel aufzuleuchten.
Die Atmosphäre begann sich noch mehr aufzuladen und ab und an huschten kleine Blitze über die Wand. Ich öffnete meinen Geist und ließ meinem Wesen freien Lauf. Auch meine Gabe begann unweigerlich zu fließen und ließ meine Haut im hellen Grün schimmern. Mein Unterbewusstsein schien sich zur gleichen Zeit schützen und hingeben zu wollen. Florian knurrte mich warnend an, seine Augen wieder zu einem tiefdunklen Schwarz verfärbt.
Doch richtig bekämpfte er mich nicht. Im Gegenteil. Immer dichter schob er sein Becken mir entgegen, bis ich komplett in ihm versank. Laut keuchte ich auf und klammerte mich an seinem Körper fest. Es war als wolle mein Liebster mich meiner letzten Kräfte berauben, mich aussaugen wie ein Vampir. Gleichermaßen jedoch schenkte er mir neue Energie, als wolle er mir für den bevorstehenden Akt Reserven schaffen.
Tief krallte er seine Finger in meine Schenkel und riss die Haut weit auf. Mich heizte das allerdings noch weiter an. Kraftvoll begann ich mich zu bewegen, fühlte, wie ich Stoß um Stoß meinem Höhepunkt entgegentaumelte. Dieser fiebrig heiße Körper unter mir, der wollüstig hin und her zuckte, sich meinen kleinen Quälereien freiwillig ergab, brachte mich komplett um den Verstand.
Wild zischten schwarze Blitze um uns herum, die nun einen leichten Grünstich angenommen hatten. Einige gläserne Abdeckungen der Lampen hielten der Belastung nicht stand und zerstoben in tausend kleine Stücke. Uns beiden war das total egal. Nicht mal das heftige Flackern des Lichtes störte uns. Und dann, mit einem Mal, stürzte eine Welle über mich ein, die mich fast wegzureißen drohte. Mein gesamter Körper wurde von einem Prickeln erfasst und dem absolut geilsten Gefühl, was sich kaum beschreiben ließ. Animalisch brüllte Flo drachengleich auf und sein gesamter Körper begann intensiv zu leuchten, genau wie der meine. Dann brachen wir beide zitternd zusammen.
Später, als ich mich wieder etwas gefangen hatte, beseitigte ich unsere lüsternen Spuren und breitete liebevoll die Decke über uns aus. Kaum lag ich wieder im Bett, zog mich mein Liebster dicht zu sich heran und nahm mich schützend in seine Arme. Es tat so gut, so nah bei ihm zu sein und sein Herz zu hören, was sich bisher noch nicht ganz beruhigt hatte. Sacht küsste er meine Lippen.
„Ich liebe dich“, flüsterte er dann, was mich mit unendlicher Wärme erfüllte.
Sanft kraulte er meinen Nacken und ich streichelte zärtlich über seine feste Brust. Die letzten Tage waren die heftigsten, emotionalsten und ereignisreichsten, die ich je erlebt hatte. Ich hatte etwas verloren, dafür umso mehr neu dazu gewonnen. Und egal was die Zukunft auch bringen mochte, ich war endlich wieder guter Dinge. Vor allem, weil ich nun diesen zahmen Drachen an meiner Seite wusste und er nicht so schnell von dieser wieder weichen würde. Mein schwarzer, süßer Engel im Mondlicht.
*-*-*
Sprachlos klappte Tomas das Buch zu und sah die anderen Jungs an, die genauso ergriffen schienen, wie er selbst. Er und Reyhan saßen auf den Matratzen am Boden, während Alexander und Keyl beim Ausknobeln das Bett gewonnen hatten.
„Was meint ihr, ob das wirklich Christians Tagebuch ist?“, fragte Tomas laut.
„Keine Ahnung, aber das würde so einiges erklären. Mal ehrlich, Florian ist echt unheimlich. Sag mal Alex, Keyl ist doch sein Cousin, frag ihn einfach!“, meinte Rey auffordernd.
Dieser sah allerdings alles andere als begeistert aus. Skeptisch blinzelte er zu seinem Freund hinüber. Dann gab er sich doch einen Ruck und streichelte ihn sanft über die Schulter.
„Schatz? Hey? Bist du noch munter?“
„Bei eurem lauten Gequatsche kann man doch eh nicht schlafen“, antwortete er grummelnd.
Tomas war viel zu ungeduldig, beugte sich vom Fußende her über das Bett und zog dem Anderen kurzerhand die Decke weg.
„Hey! Was soll der Scheiß?!“
„Sag schon Keyl, seid ihr alle dunkle Magier?“
„Wenn, dann hätte ich euch längst zum Schweigen gebracht. Man! Es ist drei Uhr in der Früh und morgen beginnt der erste Tag des Trainingscamps. Ihr solltet euch besser ausruhen!“
„Ja, ja.“ Grinsend gab Tomas die Decke wieder zurück.
„Sag mal, wo hast du das Buch überhaupt her?“, fragte Alex dann.
„Es stand zwischen den alten Wälzern im Wohnzimmer. Der Einband sah noch nicht ganz so mitgenommen aus, weswegen er mir auffiel.“
„Gnaaaa … seid endlich ruhig!“, maulte Keyl mit einmal und warf das Kissen nach Tomas.
Allerdings hatte er zu viel Schwung drauf und schleuderte es direkt gegen die Tür. Dort stand nun aber jemand. Mit weit aufgerissenen Augen starrten die Jungs Florian an, der mit einer gelangweilten Geste das Kissen vor seinem Gesicht aufhielt und dann locker zurückwarf.
„Ihr solltet auf ihn hören“, meinte er schlicht und verlangte dann das Buch.
Keiner der Jungs traute sich zu widersprechen, hatten viel zu viel Respekt vor diesem großen, dunklen Mentor, der bisher immer alles besser wusste. Als der junge Prinz das Gewollte in den Händen hielt, schaltete er von vorne alle Lichter aus und verließ mit einem „Schlaft jetzt!“ ruhig das Zimmer.
Zu Keyls Befriedigung taten alle wie ihnen geheißen, kuschelten sich unter den Decken an ihren jeweiligen Partner und kamen endlich langsam zur Ruhe, auch wenn ihre Gedanken noch länger an diesem seltsamen Buch mit dieser mysteriösen Geschichte hingen. Währenddessen ging Florian in sein Schlafzimmer und setzte sich auf das Bett, wo sich Chris wohlig reckte.
„Schlafen die Jungs immer noch nicht?“, fragte er müde.
„Das hier scheint sie etwas durcheinandergebracht zu haben“, meinte Flo und reichte seinem Liebsten das älter ausschauende Werk. Neugierig richtete sich Christian etwas auf.
„Oh, mein altes Buch. Wo haben die denn das gefunden?“, leicht schmunzelnd nahm er es entgegen und streichelte liebevoll über den Einband.
„Was steht darin geschrieben?“, fragte Florian neugierig geworden über die Reaktion seines Partners.
„Nur ein paar Gedanken, mehr nicht.“
Behutsam legte er das Buch beiseite und zog dann seinen Schatz zu sich heran, um sich an ihn gemütlich rankuscheln zu können. Dieser gab sich vorerst damit zufrieden und genoss die angenehme Wärme des Anderen.
„Schlaf gut, mein Herz“, seufzte Flo wohlig.
„Du auch, mein süßer, schwarzer Engel“, antwortete Chris liebevoll und beide drifteten wenig später ab, in das sanfte Land der Träume.
written by hyen