Florian
CONSTANTIN
Ich weiß noch, als ich ihn das erste Mal sah.
Alles begann mit einem Wasserschaden. Man muss wissen, es war ein altes Haus, das ich zu jener Zeit bewohnte. Alt und mit erschreckend maroden Rohrleitungen. Aber wen kümmern schon Rohrleitungen? Solange Wasser aus dem Hahn fließt, gibt es wenig Grund, über Rohrleitungen nachzudenken. Laurentius meinte sofort, zu platzen sei ihre Form der Rache für die Nichtbeachtung, die wir ihnen schenkten. Laurentius kultivierte schon immer eine recht eigentümliche Sichtweise der Welt, was in seinem Fall aber mehr als verständlich ist.
Jedenfalls platzte eines jener besagten Wasserrohre, genau genommen war es eines der Rohre im Badezimmer des ersten Stockwerks. Zwei geschlagene Stunden sprudelte knapp siebzig Grad heißes Wasser aus der Wand, sickerte durch den Boden, und tauchte ganz der Schwerkraft folgend schließlich an der Decke des darunter liegenden Speisezimmers wieder auf. Wenn man es ganz genau nahm, lief es unter der Decke zur nächstgelegenen Wand und dort hinter der Wandvertäfelung entlang. Siebzig Grad heißes Wasser verursacht spektakuläre Schäden, insbesondere dann, wenn es auf Holz trifft. Was ihn in mein Haus brachte.
Der Tischlerei- und Restaurationsbetrieb Maximilian Niedereuters genoss schon immer einen vorzüglichen Ruf, gerade wenn es um die ebenso sorgfältige wie behutsame Reparatur und Rekonstruktion beschädigter, antiker Holzvertäfelungen ging. Siegfried Momsen galt unbestreitbar als bester Restaurator der Firma Niedereuter, wenn nicht sogar der ganzen Region. Doch wo viel Licht, da auch viel Schatten. Laurentius meint immer, das Universum besäße eine Neigung zur Symmetrie und führte dabei Momsen als Beweis an. Was dieser an fachlicher Qualifikation besaß, ließ er an menschlicher vermissen. Siegfried Momsen war ein Choleriker der schlimmsten Sorte.
In erster Linie war er jähzornig, insbesondere wenn ihm selbst ein Fehler unterlief. Wobei zum Verständnis erwähnt werden muss, dass Siegfried Momsen per Definition niemals ein Fehler unterlief, was zwangsläufig bedeutete, dass etwas oder jemand anderes den bewussten Fehler verursacht haben musste. Brachte dieser Charakterzug für sich genommen Momsen bereits an die Erträglichkeitsgrenze, katapultierte er sich mit einem anderen weit darüber hinaus. Denn Momsen war das, was man gemeinhin einen Arschkriecher, Speichellecker und hemmungslosen Opportunisten nannte. Seine Lebensmaxime hieß: Nach oben buckeln, nach unten treten. Seine Schleimspur hätte jede Gartenschnecke vor Neid erblassen lassen.
Uns als Kunden gegenüber legte er eine geradezu penetrante Unterwürfigkeit an den Tag, die nur schwerlich zu ertragen war. Doch auch hier griff Laurentius Symmetriepostulat. Was Momsen an brechreizerregender Servilität seinen Kunden gegenüber zu viel hatte, kompensierte er nach unten zu seinem Azubi.
Sein Azubi…
Während Momsen den Wasserschaden begutachtete und mir gleichzeitig die Ohren mit seinem Sirup an Schmeicheleien verkleisterte, stand er scheu, ängstlich und mit gesenktem Blick etwas abseits. Er, das war ein in einen profanen Blaumann verpackter blonder Engel. Ich weiß noch genau, was es war, was mich dazu brachte, ihm zu verfallen: Seine Verletzlichkeit.
Mein Engel war für meine Augen mit einer beeindruckenden Schönheit gesegnet. Einer Schönheit, die er hingegen wie eine Last oder einen Fluch mit sich herum trug Zu seinen hängenden Schultern, den unsicheren und ängstlichen Bewegungen und dem erwähnten gesenkten Blick, gesellte sich ein opferhaftes Zusammenzucken, das jedes mal dann präsent wurde, wenn das Wort an ihn gerichtet wurde.
Jeder verstand sofort, warum mein Engel zusammenzuckte, hätte er auch nur eine Ansprache Momsens erlebt. Denn der gehörte zu jener Sorte Mensch, die sich in ungezügelte Rage reden konnte. Einmal angefangen war er nicht mehr zu bremsen. Momsen kannte nur eine Art mit meinem Engel zu kommunizieren, nämlich die, ihn zu beschimpfen. Prinzipbedingt war alles falsch, was er tat. Er reichte das falsche Werkzeug an, verwendete die falsche Spachtelmasse, war zu nichts zu gebrauchen, höchstens als abschreckendes Beispiel, stünde nutzlos in der Ecke und sei überhaupt ein Schwachkopf, Idiot, Penner, die Inkompetenz in Person, degeneriertes Genmaterial und so weiter und so fort. Momsens Vorrat an Beschimpfungen schien unerschöpflich. Wie Schläge prasselten sie auf meinen Engel ein, und wenn Worte nicht mehr reichten, hagelte es auch schon mal Werkzeug. All dies wurde schweigend geschluckt, doch konnte man genau sehen, wie Momsens Opfer sich mehr und in sich verkroch.
Obwohl er jeden Blickkontakt vermied, kreuzten sich unsere Blicke, wenn auch nur für einen schüchternen Moment. Doch dieser Moment reichte, um meinem Engel hoffnungslos zu verfallen. Denn was ich sah, versetzte mir einen Schlag. Noch nie in meinem Leben hatte ich in derart traurige Augen geschaut. In ihr sah ich eine abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit, dass es mir heiß den Rücken runter lief. Doch gleichzeitig schimmerte unter den endlosen Schichten Traurigkeit eine Sehnsucht und ein Verlangen nach Glück und Liebe hervor, die mir fast Tränen in die Augen getrieben hätten.
Ich war so gut wie paralysiert, klebte mit beiden Augen an meinem Engel, dass ich zuerst gar nicht registrierte, dass Momsen von verbalen Schlägen auf echte, physische übergewechselt war. Zwei gepfefferte Ohrfeigen röteten die Wangen meines Engels.
Nur unter allergrößten Anstrengungen gelang es mir, ruhig zu bleiben und Momsen nicht…
„Herr Momsen, ich möchte Sie höflichst bitten, in meinem Haus niemanden zu schlagen!“, meine Stimme war geeignet, um Eisblumen auf Glasscheiben wachsen zu lassen.
„Ja, natürlich, entschuldigen Sie vielmals. Ich habe mich von der Dummheit meines Auszubildenden hinreißen lassen.“, natürlich war in Momsens Welt mein Engel auch noch an meiner Zurechtweisung schuld.
„Nun gut!“, ließ ich mich vernehmen, nickte Momsen zu und schaute zum blonden Azubi hinüber.
Genau in jenem Moment wurde mir klar, dass ein Fluch über meinem Engel lag.
Ich hoffe, es klingt nicht anmaßend, doch besitze ich zweifelsfrei eine exzellente Menschenkenntnis. Zuweilen kann ich in Menschen lesen, wie in einem offenen Buch. So auch im Buch meines Engels. Es war keine angenehme Lektüre, nichts, was der Erbauung dienen konnte. Seine Seiten waren mit Worten wie Ablehnung, Verzweiflung, Schmerz, Trauer und Hoffnungslosigkeit gefüllt.
„Du kennst die Regeln!“, wurde ich später von Laurentius ermahnt.
„Selbstverständlich, und ich werde sie achten. Es ist unser Gesetz, an das ich gebunden bin.“
„Ich wollte dich nicht belehren. Ich möchte nur wissen, ob du dir sicher bist?“
„Ich weiß, dass du mich nicht belehren wolltest. Du bist zwar mein Marschall, es ist deine Pflicht, mich zu hinterfragen, aber in erster Linie bist du mein Freund. Der Einzige, dem ich bedingungslos vertraue. Also Laurentius, Freund, was denkst du?“
„Du hast recht, er mag dich. Er begehrt dich. Ich habe ihn beobachtet. Er hat ständig heimlich zu dir hinüber geschaut. Oh, du hast deutlich Eindruck hinterlassen. Dein kleiner Engel im Blaumann dürfte die nächste Zeit genug Material für feuchte Träume gesammelt haben.“
„Na super. Es ist lange her, dass ich als Wichsvorlage gedient habe.“, um so geschmeichelter fühlte ich mich.
„Und du bist dir absolut sicher, dass er…“
„Ja!“, unterbrach ich Laurentius mit fester Stimme, „Er wird es tun! Nicht heute und auch nicht morgen, aber der Tag wird kommen, an dem er es tun wird. Wenn es soweit ist, werde ich da sein und ihm eine Alternative anbieten, unsere Alternative, eine Existenz zwischen Leben und Tod.“
Laurentius zuckte mit seinen Schultern: „Dann kann ich wohl davon ausgehen, dass wir dich in der nächsten Zeit wenig zu Gesicht bekommen werden? Nun gut, ich werde erst mal alles über deinen blonden Engel in Erfahrung bringen, was es in Erfahrung zu bringen gibt.“
Laurentius Einsatz konnte man nur als perfekt bezeichnen. Oder nein, perfekt würde ihm nicht einmal annähernd gerecht werden, denn mit einfacher Perfektion gab sich Laurentius nie zufrieden. Dies war etwas, um das mich die anderen Häuser stets beneideten. Laurentius war in erster Linie mein Freund und erst in zweiter mein Marschall, so, wie er auch bei meinem Vater erst Freund und dann Marschall war.
Innerhalb weniger Tage hatte Laurentius ein Dossier über meinen Engel im Blaumann zusammengestellt. Er hieß Florian und war Halbwaise. Seine Mutter war sehr früh gestorben. Florian war fünf, als ein betrunkener Fahranfänger meinte, dass der Fußweg die bessere Fahrbahn wäre und dabei drei Passanten umnietete. Wie es aussah, war Florians Vater nie über den Verlust seiner Ehefrau hinweggekommen und in übermäßigen Alkoholkonsum abgedriftet. Um das Klischee perfekt zu machen, schien er seinem Sohn die Schuld am Tod seiner Mutter zu geben. Warum dies so war, ließ sich nicht ergründen, doch erklärte es wenigstens Florians Unterwürfig- und Leidensfähigkeit. Florian musste über beide Ohren mit Schuldgefühlen vollgestopft worden sein, sodass ihm jede Gegenwehr, jegliches Selbstbewusstsein fehlte. Denn eines stand fest, sein Vater verprügelte ihn mit unerschütterlicher Regelmäßigkeit und mein Engel ertrug es.
Zum Zeitpunkt unseres Aufeinandertreffens war Florian 17 Jahre alt und machte eine Lehre als Tischler und Restaurateur. Während der Arbeiten in meinem Haus stellte sich heraus, dass er ein wahrer Könner seines Fachs war. Eigentlich gebührten ihm die Lorbeeren, die sich Momsen zugute hielt Sobald Florian Holz unter seinen Fingern fühlte, es geschickt und behutsam mit seinen Werkzeugen bearbeitete, vollzog sich eine Veränderung in ihm. Seine Traurigkeit wich einer Inbrunst und Leidenschaft, die ihn die Welt um sich herum vergessen ließ. Während dieser Momente intensiver Arbeit wirkte Florian glücklich.
Doch leider gab es nur sehr wenige dieser Momente. Die meiste Zeit lebte Florian in einer Hölle.
So sehr ich mir wünschte, sein Leben zu verbessern, so sehr war mir klar, dass dies nicht ging. Es blieb mir nur eins. Ich musste Florians Schatten werden. Er bemerkte mich nicht und das durfte er auch nicht, denn dies hätte unseren Regeln, unseren Gesetzen widersprochen. Ich wachte über ihn, nahm aus der Distanz Teil an seinem Leben und erlebte wie er eine Hölle. Mit anzusehen, wie ihn sein Vater misshandelte, mit seinem Gürtel auf ihn einschlug, war unerträglich, doch ich konnte nichts tun. Ich durfte nicht eingreifen, so sehr ich mir es wünschte.
Auf diese Weise verging ein Jahr, während dem ich Florians heimlicher Schatten war und mit ihm litt. Ich war dabei, wie aus einem Jungen ein Mann wurde, dessen Schönheit sich zu seinem größten Fluch entwickelte. Es begann mit simplem Mobbing. Angestachelt durch Tischlermeister Momsen, der sehr schnell begriff, dass ihm mit Florian ein ernstzunehmender Konkurrent erwachsen war, der ihm fachlich und handwerklich haushoch überlegen war, begannen Gesellen und Azubis meinen Engel zu schikanieren. Gerade sein engelhaftes Aussehen wurde ständig als Anlass für Spott und Häme genutzt. Momsen musste nichts weiter tun, als Florian ein paar mal als „unsere Elfe“ zu bezeichnen.
Die Saat war ausgebracht. Natürlich reagierte Florian auf die Titulierung Elfe mit schamhaftem Schweigen und natürlich war sein Schweigen genau der Dünger, der Momsens Saat aufgehen ließ. Rüdiger, ein Geselle, wurde von seinem Meister wegen irgendeiner Nichtigkeit angemacht und war dementsprechend geladen, als er in den Aufenthaltsraum des Betriebes kam. Rüdiger kochte vor Wut. Der kleinste Anlass reichte, um ihn explodieren zu lassen und dieser Anlass hieß Florian. Er hatte nichts getan, außer genau in dem Moment den Aufenthaltsraum verlassen zu wollen, als der wutschnaubende Geselle hinein wollte. Es kam, wie es kommen musste, man rempelte sich an.
„Schwul mich nicht an, du Arschficker!“, fauchte Rüdiger.
Florian reagierte, wie man es von ihm erwartete. Er erstarrte, begann unzusammenhängendes Zeug zu stammeln, um schließlich zu flüchten und geschützt vor der bösen Welt in der hintersten und dunkelsten Ecke des Firmenlagers vor sich hin zu heulen.
Und was tat ich? Versteckte mich in einer noch dunkleren Ecke und haderte mit unseren Gesetzen. Warum durfte ich Florian nicht einfach in den Arm nehmen, seine Ängste, seine Verzweiflung mit einem Kuss hinweg fegen?
Ich wusste, warum ich es nicht durfte. Die Gesetzte und Regeln bestanden aus guten Gründen. Sicherten sie nicht zuletzt unser aller Überleben.
Warum griff niemand ein?
Laurentius begann, sich ernsthafte Sorgen um mich zu machen. Seit einem Jahr folgte ich Florians Wegen, wachte über ihn. Hoffte und flehte darum, dass sich jemand seiner annahm und aus der Hölle, in der er lebte, befreite. Aber da war niemand. Sah denn niemand, was für ein begehrenswertes Wesen er war?
Ich hielt es nicht aus, wollte ein paar Worte mit ihm wechseln und mich nicht als Schatten vor ihm verstecken. Also sorgte ich für einen kleinen Unfall, bei dem eine antike Anrichte arg in Mitleidenschaft genommen wurde. Laurentius war wenig begeistert, verstand aber meine Beweggründe. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, mich zu ermahnen.
„Du weißt, dass du ein gefährliches Spiel spielst? Ein Fehler, ein falsches Wort… Du bringst nicht nur dich in Gefahr.“
„Ich weiß, was du sagen willst. Vertrau mir. Ihr werdet nichts tun, was uns gefährden könnte.“, ich seufzte, „Es ist nur… Ich liebe Florian. Er ist ein fantastischer junger Mann voller Liebe, innerer Schönheit und fantastischen Möglichkeiten. Warum erkennt das niemand? Warum behandelt ihn jeder wie Abschaum? Weißt du was? Ich wäre sofort bereit, ihn aufzugeben, sollte sich jemand anderes finden, der ihn in seine Arme schließt.“
„Oh je!“, seufzte nun seinerseits Laurentius, „Du bist wirklich hoffnungslos verliebt!“
„Sieht wohl so aus.“, gab ich kleinlaut zu.
„Darf ich dir eine Frage stellen?“
„Natürlich!“
„Sollte Florian wirklich jenen Weg einschlagen, von dem du befürchtest oder ersehnst, dass er ihn beschreitet, bist du dir sicher, dass er mit unserer Art Leben glücklich wird? Wirst du ihn gehen lassen, sollte er sich gegen uns entscheiden?“
„Ich weiß es nicht… Mein Verstand sagt mir, dass ich es würde. Doch mein Herz… Ich weiß es einfach nicht…“
Florians Arbeit war erwartungsgemäß perfekt. Nach drei Tagen war von dem Schaden an der Anrichte nichts mehr zu sehen. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass sich das Möbelstück in meinem Arbeitszimmer befand. So besaß ich einen unverfänglichen Vorwand, in Florians Nähe sein zu können.
Wie schon bei dem Wasserschaden ein Jahr zuvor schien ich Florian nervös zu machen. Allerdings nur so lange, bis er in seine Arbeit abtauchte. Da inzwischen keiner seiner Kollegen mehr mit ihm, der Tucke, zusammenarbeiten wollte, arbeitete er allein, abgesehen von zwei kurzen Pflichtbesuchen Momsens.
„Haben Sie gar keinen Durst oder Hunger? Kann ich Ihnen etwas anbieten?“
Mit dieser Frage versuchte ich, Florian zu einem Gespräch zu verleiten. Der arme Junge zuckte zusammen, als hätte ihn der Schlag getroffen.
„Ähm… Oh… Ich…“, stammelte mein Engel los, wobei er jeden Augenkontakt vermied, „Ein Glas Wasser wäre nett, danke! Und… bitte sagen Sie Florian.“
„Florian, ein netter Name.“, erwiderte ich freundlich, „Ich bin Constantin.“
„Aber… Ich, Sie, ich kann nicht…“
„Constantin! Keine Widerrede. Oder seh‘ ich wie ein alter Sack aus, den man siezen müsste?“, so sah ich wirklich nicht aus. Man schätzte mich höchstens auf 25 Jahre, meist aber jünger.
„Constantin…“, hauchte Florian, als wenn mein Name eine Kostbarkeit wäre, die es zu beschützten galt. Oh, wie sehr sehnte ich mich danach, dieses scheue Rehlein in meine Arme zu nehmen. Ganz vorsichtig hob Florian seinen Kopf und wagte, mir einen Blick zuzuwerfen und ein ängstliches, aber ehrliches Lächeln zu schenken. Er war es nicht gewohnt. Freundlichkeit verunsicherte ihn.
Aus dem Wasser wurde dann doch ein Tee und etwas Gebäck. In den Tagen seiner Arbeit bei mir blühte Florian auf. Man konnte richtig sehen, wie er sich freute. Ein Hauch von Glücklichkeit begann ihn zu umspielen. Doch das Schicksal wollte nicht, dass Florian glücklich war. Seine Kollegen spürten die Veränderung und missgönnten sie ihm.
„Ah, hatten wir bei dem reichen Pinkel etwa Spaß?“, fing einer an, als Florian am letzten Abend sein Werkzeug in die Firma brachte.
„Wer weiß, vielleicht steht der Typ auf unsere Elfe. Komm Florilein, erzähl mal, mit welcher Latte hat man dich genagelt?“
„Ach, den will doch keiner ficken!“, ätzte ein anderer, „Da musst du ja Angst haben, was kaputt zu machen. Nein, unser Florian ist bestimmt ein toller Bläser, nicht wahr?“
Florian wusste nicht, wie ihm geschah. Eine knappe Woche ohne Angst und Leid endete in einem Inferno aus Beschimpfungen und Beleidigungen. Doch dieses mal war etwas anders. Ein Ruck ging durch Florian. Plötzlich richtete er sich auf und schaute seine Kollegen und Peiniger direkt an.
„Constantin ist nicht so!“
Mir stockte der Atem. Florian trat für mich ein, verteidigte meine Ehre. Was hatte ich angerichtet? Das konnte niemals gut gehen. Nicht bei diesen Typen.
„Oh, sind wir schon beim Constantin? Oh ja, natürlich, er ist nicht so! Ne, der Typ ist genauso eine Elfe wie du. So ein zartes Porzellanpüppchen, nur eben mit Geld satt! Erzähl mal, wie viel hat er dir bezahlt?“
Wäre es nicht um Florian gegangen, ich wäre über die Bezeichnung als Porzellanpüppchen amüsiert gewesen.
„Constantin ist ein anständiger und ehrenwerter Mann!“, versuchte Florian verzweifelt mich zu verteidigen.
„Ach ja? Und was sind wir? Etwa nicht ehrenwert?“, mit diesen Worten fiel die Temperatur im Raum auf unter null Grad. Etwas Schlimmes, etwas ultimativ Schlimmes bahnte sich an. Einer der Gesellen war auf Florian zu getreten und hatte ihn mit seiner Hand am Nacken gepackt: „Willst du scheiß Arschficker etwa andeuten, wir wären weniger wert als dein Constantin?“
Florian begann zu zittern, Angstschweiß bildete sich auf seiner Stirn: „Nein, natürlich seid ihr gute Menschen!“
Alles Flehen nutzte nichts, der Typ packte Florian nur noch fester: „Weißt du was? Ich glaube dir nicht! Niemand glaubt dir! Du hast uns beleidigt. Ich glaube, wir müssen dir etwas Demut lehren! Los, packt ihn!“
Die Brücke
CONSTANTIN
Was dann begann, war unbeschreiblich. Zitternd und mit Tränen in den Augen beobachtete ich das Geschehen aus meinem Versteck heraus. Sie packten ihn zu viert und drückten ihn auf den großen Kaffeetisch des Aufenthaltsraums. Florian hatte nicht die geringste Chance. Von den übrigen acht Kollegen besaß keiner genügend Rückgrat, um gegen das, was die vier mit Florian anstellten, einzuschreiten. Drei mischten sogar mit. Der Rest? Teils aus Angst, ebenfalls als Elfe zu gelten, oder einfach aus purem Desinteresse, stand daneben und tat nichts, rein gar nichts. Niemand erhob seine Stimme, als einer von Florians Peinigern ihm die Hose runter zog. Niemand erhob seine Hand, als Florian geschlagen, beschimpft, bespuckt und schließlich von mehreren Kollegen missbraucht wurde. Man stand viel mehr daneben und stachelte die Akteure sogar an: „Los, ramm ihn ihm rein! Der braucht das!“
Wer war schlimmer? Die Typen, die über Florian herfielen oder ich, der aus seinem sicheren Versteck heraus das Treiben beobachtete und nicht eingriff? Dabei hätte ich eingreifen können. Die paar Männer wären lächerliche Gegner Noch nie empfand ich einen derartigen Hass auf unsere Gesetze, der fast meinen Hass auf Florians Kollegen vergessen ließ. Doch eigentlich hatte ich mir den Grund für unsere Gesetze gerade selbst wieder vor Augen geführt. Die zwölf Arbeitskollegen Florians würde ich quasi mit einem Fingerschnippen niederstrecken können. Es gab keine Alternative. Mir blieb nichts anderes übrig, als untätig und vor unbändiger Wut kochend in meinem Versteck zu verharren.
Nachdem sich der harte Kern der Kollegen an Florian ausgetobt hatte, begriffen sie offenbar, was sie eigentlich getan hatten und welche Konsequenzen ihre Tat nach sich ziehen konnte. Der gleiche Typ, der Florian als erstes gepackt und vergewaltigt hatte, kam plötzlich mit einer Handkreissäge an und ließ sie einmal kurz direkt vor Florians Gesicht aufkreischen.
„Dir ist klar, dass niemand von unserer kleinen Party etwas zu erfahren braucht. Ich meine, eine Tischlerei kann ziemlich gefährlich sein. Viele Werkzeugmaschinen, da kann schnell mal ein Unglück passieren.“, etwas absurd gab der Typ dann Florian noch einen Klaps auf den Hintern, „Los, zieh dich an! Du siehst scheiße aus!“
Lachend, scherzend und munter miteinander plaudernd, so als sei rein gar nichts vorgefallen, brach der Trupp in den Feierabend auf und ließ ein leise vor sich hin wimmerndes Häufchen Elend zurück. Florian ließ sich zu Boden sinken. Sein Wimmern ebbte ab, er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sein Blick wurde hart und kalt. Etwas in Florian war zerbrochen. Mir fröstelte, was eigentlich nicht möglich war, und wertete es daher als einen Fingerzeig meines Unterbewusstseins. In den nächsten Stunden würde ich Florian nicht von der Seite weichen.
Mechanisch wie ein Roboter zog Florian seine Arbeitskleidung aus, ging in die Betriebswaschräume, duschte sich, kleidete sich an, packte seine Sachen und ging. Eigentlich waren seine Tätigkeiten unspektakulär und alltäglich, doch die Emotionslosigkeit, mit der Florian vorging, ließ mich erneut schaudern. Es war, als würde er schlafwandeln. Seine Miene war vollkommen ausdruckslos.
Es kam, wie ich es befürchtet hatte. Diesem Jungen schien kein Glück vergönnt zu sein, jeder Anflug davon entpuppte sich als böse Täuschung, als Verhöhnung und zynisches Vorspiel der nächsten Demütigung.
Ich wusste, wohin Florian ging. Welchen Weg er einschlug. Vermutlich wusste ich es, bevor er es wusste. Florian schwang sich auf seinen Motorroller und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. Es war Nacht, niemand bemerkte den Schatten, der hoch über ihm schwebte, aus der Neben- zur Hauptstraße und von dort zum Ortsausgang. Ich eilte voraus. Ich wusste, wo Florians Weg enden würde. Wenige hundert Meter hinter dem Ortsschild begann sich die Landstraße den Berg empor zu schrauben, der das südliche Ende unserer Stadt markierte.
Die Talbrücke mit ihren vierhundertsiebzig Metern Spannbreite war nicht nur ein beeindruckendes Bauwerk, sie genoss auch den unrühmlichen Ruf, magischer Anziehungspunkt derjenigen zu sein, die mit ihrem Leben nicht mehr klar kamen. Nach einem freien Fall von etwas über zweihundertfünfzig Metern bleibt von einem menschlichen Körper wenig übrig.
In jenen Momenten hasste ich die Menschen, obwohl ich früher selbst zu ihnen gehörte. Wie konnten sie es zulassen, dass einer der ihren keinen Sinn mehr darin erkennen kann, zu leben?
Florian parkte seinen Roller auf dem Rastplatz am südlichen Ende der Brücke. Er schloss den Lenker ab, kettete sogar das Vorderrad an einen Laternenpfahl. Mit leichtem Schritt, völlig unbeschwert und auf eigentümliche Weise erleichtert, wanderte Florian zur Mitte der Brücke.
Bitte tu es nicht! Flehte ich wortlos. Laurentius hatte recht. Ich war in Florian verliebt. Ich war so sehr in ihn verliebt, dass ich zweifelte, ob ich ihm wirklich eine Alternative bieten konnte.
Florian hörte mein Flehen nicht. Seelenruhig, erklomm er die Brüstung der Brücke, schloss seine Augen, breitete seine Arme aus, begann zu lächen und ließ sich fallen. Florian war tot, faktisch tot, die wenigen Sekunden, die sein Körper noch funktionierte, bis ihn der Aufprall eines Besseren belehrte, waren unerheblich.
Doch der Aufprall sollte nie erfolgen.
„Weißt du nicht, dass es eine Todsünde ist, sich umzubringen?“
Als sich Florian fallen ließ, um sein Leben zu beenden, war ich losgesprungen und genau in seine Sturzbahn geflogen. Auf halber Höhe fing ich ihn auf. Die unerwartete Unterbrechung ließ Florian zusammenzucken und die Augen aufreißen.
„Constantin?“
„Faktisch bist du tot. Du hast dich soeben umgebracht. Es gibt kein Zurück ins Leben. Aber es gibt eine Alternative zum Tod! Ich biete dir diese Alternative an. Das schwarze, ewige Nichts des Todes oder eine Existenz im Schatten. Wie entscheidest du dich?“
„Eine Existenz im Schatten?“, Florian starrte mich an, er hatte er überhaupt noch nicht realisiert, dass er in gut hundertfünfzig Metern Höhe frei in der Luft schwebte, nur gehalten von meinen Armen und Händen. „Warum sollte ich die wählen? Ist es nicht das, dem ich zu entfliehen versuchte?“
„Nein! Was du zu entfliehen versuchst, sind Hass, Neid, Rachsucht, Missgunst und Ablehnung.“
„Und was erwartet mich? Welchen Preis muss ich bezahlen, wenn ich dein Angebot annehme?“
„Was dich erwartet, darf ich nicht sagen. Nur so viel, du wirst keinen Menschen mehr fürchten müssen, kein Mensch wird dich verletzen können. Der Preis? Du musst mir Treue schwören! Dein Leben gehört von nun an mir und mir allein! Du lebst, weil ich dich halte. Schau!“
Als erwachte er aus einem Traum, sah sich Florian um. Ungläubig stellte er fest, dass ich die Wahrheit sprach. Wir schwebten nach wie vor mehr als hundert Meter über der Erde. Ich hielt wortwörtlich sein Leben in meinen Händen.
„Es gibt noch etwas. Für die Welt, für deinen Vater, deine Kollegen, für jeden den du kennst, bist du heute gestorben. Dies ist eine Entscheidung, die du getroffen hast, als du dich von der Brücke gestürzt hast. Du kannst nicht mehr zurück.“
„Wer bist du? Was bist du?“
Ich lächelte. Florian stellte genau die gleichen Fragen, die Laurentius meinem Vater gestellt hatte.
„Ich brauche deine Entscheidung und ich brauche sie jetzt! Willst du, Florian, ohne Furcht und Angst in meinem Dienst leben. Willst du geachtet, respektiert und vielleicht sogar geliebt werden?“
„Ja!“, Florian brach in Tränen aus, „Ja, ich will leben! Bitte lass mich leben!“
„Interessant, vor wenigen Minuten wolltest du dich noch umbringen.“
„Ja, das wollte ich.“, flüsterte Florian leise, „Doch wer weiß, vielleicht gibt es doch noch ein paar Dinge, für die es sich zu leben lohnt. Ja, Constantin, bitte, wer oder was immer du auch bist, lass mich leben.“
„Ist das dein freier und eigener Wille?“, ich wurde ernst und fixierte Florian mit meinen Augen, mein Geist drang in den Seinen ein, „Dir ist klar, dass dein Leben von nun an mir allein gehört? Du bist an mich gebunden und mir zu Treue verpflichtet.“
„Ja, dies ist mein Wille!“, antwortete Florian wie in Trance.
„Schwörst du?“, ich war in seinen Gedanken.
„Ja, ich schwöre! Bei meinem Leben!“
Damit war der Pakt geschlossen. Von nun an war Florian einer meiner Untertanen, ein Mitglied des Hauses Varadin. Er war zwar noch keiner von uns, doch durch seinen Eid war eine Verbindung geschaffen, die nur durch den Tod wieder gelöst werden konnte.
Ich packte Florian fester, schlang meine Arme um ihn und flog davon. Die Welt unter uns verschwamm zu Schemen, während wir zu einem unserer sicheren Häuser jagten, in dem uns Laurentius und ein paar andere schon erwarteten. Benebelt von der Kraft meiner Gedanken, sank Florian in einen tiefen Schlaf. So bekam er auch nicht mit, wie wir landeten und ich ihn in ein großes Schlafzimmer brachte. Laurentius und Christiano halfen mir, Florian zu entkleiden und zu baden. Wir versorgten seine Wunden und Blessuren, die die Misshandlungen hinterlassen hatten, mit hochwirksamen Lotionen.
„Ich rieche Blut!“, bemerkte Christiano und hatte Schwierigkeiten, sich zu beherrschen, „Schlechtes Blut. Jemand hat ihn krank gemacht! Was hat man mit dem armen Jungen angestellt?“
„Sie haben ihn einer nach dem anderen vergewaltigt.“, berichtete ich leise, „Gebt mir bitte die rote Salbe. Lasst uns sehen, dass wir den körperlichen Schaden schnell geheilt bekommen.“ Wie lange es brauchte, um Florians verletzte Seele zu heilen, stand auf einem anderen Blatt.
Mein mentaler Befehl hatte Florian einschlafen lassen. Kein menschliches Wesen konnte unseren geistigen Befehlen widerstehen, auch Florian nicht. Noch nicht sollte ich sagen. Versunken in den tiefsten Tiefen des Schlafs entspannte sich Florian, sodass ich vorsichtig und sehr sanft die rote Salbe an seiner intimsten Körperöffnung anwenden konnte.
Die Schweine, anders konnte man Florians ehemalige Kollegen nicht bezeichnen, hatten ihn blutig gefickt. Ohne die rote Salbe oder eine klassisch schulmedizinische Versorgung wäre er vermutlich verblutet. Christiano hatte recht, als er meinte, er würde schlechtes Blut riechen, denn ich hatte es ebenfalls gerochen. Einer der Peiniger hatte mit seinem Sperma, das er in Florian hinterlassen hatte, eine für Menschen nur schwer heilbare Krankheit übertragen, Hep C. Glücklicherweise war dies nichts, um das sich mein neuer Untertan irgendwelche Sorgen machen musste. Spätestens, wenn er einer von uns wurde, spielten Krankheiten keine Rolle mehr.
Gewaschen und gesalbt betteten wir Florian zur Nacht. Laurentius und ich zogen uns zurück, während Christiano an Florians Seite blieb und über ihn wachte. Die Wirkung der Salbe konnte zuweilen recht heftig sein und so war es gut, wenn jemand notfalls beruhigend eingreifen konnte.
„Er hat es also wirklich getan.“, ergriff Laurentius das Wort, als ich uns in der Bibliothek einen Whiskey einschenkte.
„Du hast gesehen, wie sie ihn zugerichtet haben!“, ich verzog meinen Mund. „Einer der Schweine hat ihn sogar mit Hep C infiziert. Du hast sein Blut doch auch gerochen, oder?“
„Natürlich hab ich das…“, Laurentius wirkte grüblerisch.
„Was liegt dir auf dem Herzen?“
„Er wird es schwer haben, sich anzupassen. Die Demütigungen und Verletzungen der letzten Jahre könnten in Wut, oder schlimmer noch, in Rache umschlagen.“
„Ich weiß. Ich werde ihn langsam auf sein neues Leben vorbereiten.“
„Wirst du ihm sagen, dass du ihn liebst?“
„Nein! Auf keinen Fall!“
Laurentius lächelte: „Du bist mit den Jahren sehr weise geworden, mein Freund. Dein Vater wäre sehr stolz auf dich. Ja, du bist es wirklich, der einzig wahre Fürst des Hauses Varadin
Aufwachen
FLORIAN
„Wo bin ich?“
Mein Erwachen war, mit Verlaub, ungewöhnlich. Wie sollte man es anders beschreiben, wenn man sich gleichzeitig gut, munter und lebendig, anderseits aber wie durch die Mangel gedreht fühlt. Ich hatte einen Muskelkater, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Jeder einzelne Muskel brüllte laut und deutlich.
„In einem Bett!“
Die Antwort auf meine Frage kam unerwartet. Ich hatte noch nicht einmal die Augen geöffnet, hielt sie eher fest zusammengekniffen, um mich etwas zu berappeln, und war mir von daher keiner Person in meiner Nähe bewusst. Immerhin hatte die Stimme recht. Ein vorsichtiger Blick durch knapp geöffnete Lider bestätigte seine Behauptung. Ich lag ihn einem Bett. Und in was für einem Bett! Einem riesigen, antiken Teil mit pompösem Kopf- und ebensolchem Fußteil. Das Ganze wurde zudem von einem wuchtigen Baldachin, der durch kunstvoll gedrechselte Stützen gehalten wurde, überspannt. Dieses Bett musste ein Vermögen wert sein. Ich konnte sowas beurteilen, schließlich war ich Tischler.
Das Zusammentreffen mit Constantin Varadin brachte sich in Erinnerung und alles, was dazu geführt hatte. Meine Kollegen und ihre… Nein, ich konnte daran noch nicht einmal denken, was sie mir angetan hatten.
Und was hatte ich mir angetan? Selbstmord!
Was für eine feige Art, abzugehen und damit eigentlich die Angemessenste für mich. Feigheit – dieser Begriff brachte meine gesamte Existenz genau auf den Punkt. Ich war ein gottverdammter Feigling und zusätzlich ein Wurm, den man nur verachten konnte. Warum hatte mich dieser Constantin Varadin gerettet? Wie hat er mich gerettet? Ist er wirklich geflogen oder hab ich mir das nur eingebildet? Verdammt, wo bin ich?
„Frühstück?“
Da war sie wieder, die Stimme. Vorsichtig, um meine schmerzenden Muskeln keinen Anlass zur Rebellion zu geben, lugte ich in Richtung der Stimme.
„Ah, auf „Frühstück“ reagierst du! Hören kannst du also. Wie steht es denn mit sprechen?“
Gesprochen hätte ich gerne, doch der junge Mann, der in einem Sessel neben meinem Bett saß, verschlug mir die Sprache. Was für ein attraktiver Kerl: Schwarze Haare, dunklere Haut, den Zügen nach Spanier oder Portugiese, ein rattenscharfer Körper in geilen Klamotten, die Sex brüllten und dazu ein unverschämt freches Grinsen. Bildete ich mir das nur ein, oder flirtete der Typ mit mir?
„Hey, natürlich flirte ich mit dir!“, antwortete der Typ, „Und bevor du dich wunderst, ja, ich kann deine Gedanken lesen. Wir alle können Gedanken lesen. So und nun zurück zu meiner Frage, du kleiner Schnuckel, möchtest du Frühstück?“
Schnuckel? Noch nie hatte jemand so offen und frei einen derart netten Begriff für mich verwendet. Die bisherigen Bezeichnungen lauteten eher Looser, Schwanzlutscher oder Arschficker. Arschficker, das brachte unangenehme Erinnerungen.
„Frühstück wäre nett. Doch vorher darf ich dir eine Frage stellen?“
„Eine ungeschickte Idee. Was, wenn ich Ja sage, dann wäre deine Frage beantwortet und du könntest keine zweite stellen. Interessant wäre es, wenn ich Nein sagen würde. Hätte ich dich dann angelogen? Schließlich hab ich deine Frage beantwortet, obwohl ich behauptet hätte, es nicht zu tun.“
Mir wurde ganz wuschig, der Typ verwirrte mich: „Ich korrigiere mich. Darf ich dir ein paar Fragen stellen?“
„Gerne!“
„Wie heißt du und was bist du? Wer und was ist Constantin Varadin? Ist er mit mir gestern wirklich geflogen?“
Der Typ lächelte freundlich: „Also, ich bin Christiano. Constantin ist wirklich mit dir geflogen, was aber für uns nichts Besonderes ist, denn wir sind, um auch deine letzte Frage zu beantworten, Vampire.“
„Vampire?“, wollte der Typ mich verarschen?
„Sicher!“, Christiano zeigte sich entrüstet, dass ich seine Behauptung anzweifelte, allerdings grinste er dabei frech, „Du glaubst mir nicht?“
„Kein Stück!“, ich glaubte ihm nicht die Bohne!
„Ach, und die hier sind nur Dekoration?“
Christiano öffnete seinen Mund und zeigte auf seine sehr spitzen Eckzähne, die plötzlich wuchsen und länger wurden. Gleichzeitig mit seinen Zähnen veränderten sich seine Augen. Sie wurden gelb und unmenschlich. Entweder war der Typ wirklich ein Vampir, oder ich war verrückt! Unwillkürlich griff ich mir an den Hals, um nach eventuellen Bissstellen zu suchen, was bei meinem Vampir zu einem Lachanfall führte.
„Keine Angst, dich hat niemand gebissen.“
„Ihr seid wirklich Vampire?“
Diese Information musste ich erst einmal verdauen. Vampire gab es nicht! Jedenfalls nicht in der Wirklichkeit. Vampire waren Fiktion, Sinnbild des Bösen in Literatur, Film und Fernsehen. Gut, im Fernsehen gab es Ausnahmen und bei den Filmen soll es Parodien geben, in denen die Vampire eher Lachnummern darstellten. Gab es da nicht eine Klamotte mit Leslie Nilson als Blutsauger?
Nochmal, Vampire gibt es nicht! Das ist völliger Quatsch! Davon war ich jedenfalls bisher überzeugt. Andererseits schienen mir Christianos Zähne überaus real zu sein. Die hatte er mittlerweile wieder eingezogen und war damit beschäftigt, einen kleinen Teewagen an mein Bett zu rollen.
„Was haben wir denn da schönes für dich? Orangensaft, Vollkorntoast, Marmelade, Obstsalat, Butter und Knoblauchsalami. Sieht alles sehr lecker aus.“
„Ha, jetzt hab‘ ich dich! Knoblauch? Ich dachte, du wolltest ein Vampir sein. Und dann Knoblauch und lecker? Ihr Vampire trinkt doch Blut?“
Christiano grinste verlegen und kratze sich am Hals, wobei er eine schiefe Grimasse zog: „Ich bin ein wirklicher Vampir, keine Lachnummer eines B-Movies. Ich liebe Knoblauchsalami, genauso mag ich Toast, Orangensaft und Himbeermarmelade. Allerdings hast du in einem Punkt recht, als Vampir muss ich Blut trinken, um zu überleben. Genau genommen bräuchte ich nur Blut, um zu leben. So eine Scheibe Toast mit Marmelade esse ich nur, weil sie mir schmeckt. Doch besitzt sie für unsereins nicht den geringsten Nährwert.“
„Was mache ich hier?“
Die Frage kreiste zusammen mit tausend anderen in den Weiten meines Gehirns umher. Wieso rettet ein Vampir – dass Constantin tatsächlich ein Vampir war, nahm ich als Arbeitshypothese einfach mal als gegeben hin – mir das Leben, verfrachtet mich in sein Haus, versorgt offenkundig meine Wunden, lässt mich in einem fast königlichen Bett schlafen, stellt mir einen freundlichen Geist zur Seite und verwöhnt mich mit einem opulenten Frühstück, wie ich es noch nie genossen hatte?
„Nun, du bist mein neuer Untertan!“, rief Constantin, der gerade das Schlafzimmer betrat, „Und, wie geht es unserem kleinen Brückenspringer heute?“
„Der hat einen ganz guten Appetit!“, meinte Christiano zufrieden, „Apropos Appetit, Constantin, jetzt wo du da bist, dürfte ich mich kurz entschuldigen? Ich…“
„Natürlich!“, Constantin schüttelte seinen Kopf, „Warum hast du dich nicht gemeldet? Geh!“
„Ich…“, stammelte mein Bewacher unsicher, deutete wild fuchtelnd zur Tür, „Ich bin dann unten…“
Christiano verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Constantin Varadin hockte sich in einen Sessel und betrachtete mich lange und ausgiebig. Meine Menschenkenntnis zählte noch nie zur besten, doch Constantins Blick konnte ich nichtmal ansatzweise deuten. Ich weiß nur, dass ich mich studiert oder gemustert fühlte. Um die Spannung zu brechen, stellte ich eine Frage.
„Wo musste Christiano so schnell hin?“
Constantin schreckte auf, als hätte ich ihn aus einem tiefen Gedanken geweckt: „Oh, nun ja, er hat drei Tage neben dir gewacht. Er braucht etwas Blut und dürfte sich inzwischen eine Konserve B rhesus positiv geschnappt haben.“
„B rhesus positiv?“
Constantin grinste: „Nur ein Scherz. Die Blutgruppe ist völlig egal. Aber er braucht dringend Blut. Wir alle brauchen Blut.“
„Ihr seid also Vampire? Ich sagte schon zu Christiano, dass ich das nur schwer glauben kann.“
„Das liegt durchaus in unserer Absicht. Was meinst du, wie die Menschen reagieren würden, wenn sie erführen, dass es wirklich Vampire gibt? Man stelle sich das nur einmal vor. Eine Gesellschaft von humanoiden Wesen, die sich von ihrem Blut ernähren. Was denkst du, würde passieren? Wie lange würden wir überleben? Du kennst die Menschen, du hast am eigenen Leib erlebt, wozu sie fähig sind. Man würde uns jagen und töten. Ich für meinen Teil liebe mein Leben und möchte es nicht verlieren.“
„Ein überzeugender Standpunkt. Nur, was hat das alles mit mir zu tun?“
„Alles und nichts!“, antwortete Constantin Varadin geheimnisvoll.
Plötzlich kroch ein dunkler Schatten über meine Seele. Seit ich erwachte, ging es mir gut, für meine Verhältnisse geradezu fantastisch. Eigentlich hatte ich mich noch nie so gut gefühlt. Christiano und Constantin waren nett zu mir. Noch nie war jemand nett zu mir. Zeit meines Lebens war ich ein Außenseiter, der froh sein konnte, wenn man ihn nur ignorierte und nicht mobbte oder gar schlug, was häufig genug passierte. Mein Schicksal war es, süß, niedlich und engelhaft auszusehen. Ich hasste das! Es war der Grund dafür, warum man mich hänselte. Nein, eigentlich war er es nicht. Kinder brauchen keinen Grund, um gemein und hässlich zu sein. Es war schlicht ein Vorwand, den man nutzen konnte. Ob mit blonder Mähne oder kurzgeschnitten, ich war der niedliche Klassenschönling, was bedeutete, dass mich die Mädels liebten und die Jungs hassten.
Sie hassten alles, was nicht der Norm entsprach. Zeitweise versuchte ich, weniger gut auszusehen, indem ich maximal hässliche Klamotten trug. Doch das brachte rein gar nichts, außer einem zusätzlichen Grund, für den man mich mobben konnte. Als mir mit vierzehn langsam klar wurde, dass ich schwul war, war meine Hölle perfekt. Wenn das raus kam, konnte ich mein Testament machen. Wenn die Typen in meiner Schule eins hassten, dann Schwule. Das war mein beschissenes Leben. Meine Mitschüler hassten mich, mein Vater hasste mich, später hassten mich meine Kollegen und Mitschüler der Berufsschule. Und warum? Weil ich etwas anders war.
Ja, ich war ein Loser. Jemand, den man rumschubst, anrempelt, übergeht, beleidigt, beschimpft und… vergewaltigt. Die Ereignisse des Abends flammten plötzlich vor mir auf. Tränen schossen mir in die Augen. Mir war es egal, was dieser Constantin Varadin von mir dachte, sollte er mich für einen Loser halten. Ich war es gewöhnt.
„Hey…“, der mutmaßliche Vampir wirkte betrübt, „Warum weinst du?“
Ich konnte es nicht mehr zurückhalten. Von einer Sekunde auf die andere klappte ich zusammen: „Sie haben… sie… sie… sie sind wie Tiere über mich hergefallen! Sie sind in mich eingedrungen! Sie haben mir alles genommen. Sie haben mir meine Seele geraubt. Wisst Ihr, wie sich das anfühlt, wenn dir ein Kerl seinen Schwanz bis zum Anschlag in den Arsch rammt, als wärst du nur eine aufblasbare Puppe, ein reines Objekt, ein Ding ohne Wert? Mit jedem Stoß haben sie mir ihre Verachtung in den Körper gerammt. Verdammt, warum habt Ihr mich gerettet? Warum? Warum habt Ihr mich nicht einfach sterben lassen? Ich bin ein Nichts!“
„Nein, da irrst du!“, korrigierte mich Constantin Varadin mit sanfter Stimme, „Jedes Lebewesen hat einen Anspruch darauf, respektiert zu werden. Gib dir nicht die Schuld daran, was andere getan haben. Sie sind schuld. Sie hatten kein Recht, dich so zu behandeln. Niemand hat das. Lass dich nicht von falscher Schuld leiten, komm zurück ins Leben.“
„Wie kann ich das? Wie kann ich vergessen, was man mir angetan hat?“
„Das sollst du gar nicht! Was geschehen ist, ist geschehen. Akzeptiere es, aber lass es dich nicht zerstören. Man kann dir deine Würde nur nehmen, wenn du es zulässt.“, die Worte des angeblichen Vampirs wirkten wie Balsam auf meiner Seele. Ich weiß nicht, was er mit mir anstellte, aber irgendwie entfachte er ein Feuer in mir, das mich Hoffnung, Mut und Zuvertrauen fassen ließ.
„Was geschieht nun mit mir?“
Meine Situation als ungewöhnlich zu bezeichnen, traf es nicht annähernd. Mir war so, als hätte ich mit Constantin einen Pakt geschlossen. Allerdings war meine Erinnerung an die Zeit nach der Sache mit meinen Kollegen etwas diffus. Hatte ich ihm mein Leben verpfändet? Was hieß dies bei einem Vampir, soweit es Vampire wirklich gab.
„Das hängt davon ab, was du möchtest. Ja, dein Leben gehört mir. Entschuldige, wenn ich der Einfachheit halber deine Fragen direkt aus deinen Gedanken beantworte, es spart Zeit und vermeidet Missverständnisse. Ich bin Constantin Fürst von Varadin. Ich bin das Oberhaupt und aktueller Stammvater des Hauses Varadin, Graf von Calastan. Doch das sind nur Titel, mit denen man bei Dinnerparties angeben kann, und für dich im Moment unerheblich. Für dich bin ich Constantin. Jetzt zu deiner wichtigsten Frage: Warum bist du hier? Ganz einfach, ich brauche dich!“
„Mich?“, ich musste lachen, „Wozu könnte mich ein Constantin, Fürst von Varadin, Graf von Calastan wohl brauchen? Brauchst du einen Tischler für deinen Sarg?“
Constantin schmunzelte: „Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Eine gute Idee, das Ding knarzt fürchterlich. Vielleicht könntest du dir den bei Gelegenheit wirklich einmal ansehen.“
„Du verarscht mich, oder?“
„Das würde mir nie einfallen!“, antwortete Constantin. Ich konnte nicht sagen, ob er mich nun verarschte, oder nicht. Der Typ musste einen verdammt guten Pokerspieler abgeben.
„Zurück zum Thema.“, fuhr Constantin fort, „Es gibt nicht viele von uns. Wir vermehren uns nicht durch Sex, sondern durch…“
„Beißen?“, schlug ich vor.
„Ja, im Prinzip ist das richtig. Ich biete dir an, ein Vampir zu werden. Als Stammvater des Hauses habe ich das Recht dazu.“
„Ich ein Vampir? Ich glaube, du solltest dir deine Kandidaten besser aussuchen. Ich weiß ja nicht, was eure Standesehre dazu sagt, aber ich bin eine Schwuchtel! Die Jungs aus meiner Firma sind nicht ohne Grund über mich hergefallen.“
„Du bist keine Schwuchtel!“, zischte Constantin scharf, wurde aber sofort wieder sanft, „Du liebst Männer. Daran ist nichts verwerflich. Fast alle meiner Vampire lieben Männer, ich übrigens auch.“
„Ähm, nun ja…“, ich spürte, dass meine Wagen heiß wurden. Im Schlusssprung ins Fettnäpfchen, super gemacht, Florian!
„Also, über das Thema brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Die Sache sieht so aus. Mit deinem Sprung von der Brücke hast du dich faktisch umgebracht. Dein bisheriges Leben hat in dem Moment geendet. Dir ist klar, warum? Ich konnte dich kaum gehen lassen. Denn dadurch, dass ich dich auffing, habe ich meine wahre Existenz enthüllt. Für dich gab es nur zwei Möglichkeiten, den Tod oder ein Leben in meinem Dienst. Der kann sehr unterschiedlich aussehen. Du kannst ein Mensch bleiben, für mich arbeiten und wirst ein gutes, ein sehr gutes Leben führen. Oder du wählst den wahren Weg, den des Vampirs. Du wirst einer von uns. Ein Mitglied der Familie Varadin. Ich finde Florian Varadin klingt ziemlich gut.“
Das klang verdammt gut. Allerdings war ich mir der Motive meines Gönners nicht sicher. Warum wählte er mich, einen Loser und Versager?
„Wie kommst du darauf, dass du ein Versager bist?“, Constantin hatte wieder in meinen Gedanken gelauscht, „Ich habe dich arbeiten gesehen. Das war pure Leidenschaft und Hingabe an die Aufgabe. Momsen, dieses Arschloch, wäre ohne dich ein Nichts! Nun, er wird von nun an ohne dich auskommen müssen. Schließlich hast du offiziell Selbstmord begangen. Deine Trauerfeier findet in fünf Tagen statt.“
„Meine Trauerfeier? Aber dann kann ich nie wieder unter Menschen!“
„Ja und nein. Solltest du in der Tat ein Mensch bleiben wollen, würde man dich erkennen. In diesem Fall müssten wir dich in einem unserer Häuser im Ausland unterbringen. Als Vampir hingegen, wird dich niemand wiedererkennen. Du könntest neben Momsen stehen, dich mit ihm unterhalten und er würde nicht wissen, dass du Florian bist, es sei denn, du willst, dass er es weiß!“
„Wird das jetzt ein Verkaufsgespräch, oder was?“
Constantin lachte auf. Ich hatte noch nie ein derart offenes, ehrliches Lachen gehört. Mein angeblicher Vampir hatte Tränen in seinen Augenwinkeln. Dabei schaute er mich mit einem glücklichen Gesichtsausdruck an, den ich zuerst nicht deuten konnte. Erst als er bemerkte, wie er mich betrachtete und dieser Ausdruck sofort verschwand, begriff ich es.
Constantin mochte mich! Nein, mehr noch, dieser Mann war in mich verliebt. In mich? Hier musste ein Irrtum vorliegen, niemand verliebt sich in einen Typen wie mich!
„Doch!“, kam Constantins leise Erwiderung. Ein sorgenvoller Ausdruck ersetzte seine Fröhlichkeit, „Es tut mir Leid. Ich wollte nicht, dass du es erfährst. Nicht jetzt. Entschuldige bitte, ich…“
„Warum?“, die Frage war genauso mehrdeutig, wie die Verwirrung in meinem Schädel.
„Warum ich dich liebe? Kann man Liebe erklären? Ich bin dir verfallen, als ich dich vor einem Jahr das erste mal sah. Du bist so sanftmütig, humorvoll und lustig, wenn du dich sicher und wohl fühlst. Du bist aufrichtig, ehrlich, gutmütig, besitzt eine noble Gesinnung. Nur dein Selbstbewusstsein, das ist, mit Verlaub, beschissen. Aber daran kann man arbeiten. Und warum ich dir nicht sagen wollte, dass ich dich liebe? Liebst du mich? Du kennst mich nicht. Wie solltest du. Ich muss dir ein Geständnis machen, für das du mich möglicherweise hassen wirst: Ich habe dich beobachtet. Seit ich dich das erste Mal sah, war ich dein Schatten. Ich wachte vor deinem Fenster, ich beobachtete dich aus dunklen Winkeln. Ich habe alles gesehen und miterlebt. Ich schäme mich dafür, denn ich habe zugelassen, dass man dich beschimpfte, dich mobbte, sogar schlug und vergewaltigte. „
Diese Enthüllung hätte eigentlich einen Schock bei mir auslösen müssen. Tat es aber nicht. Wäre Constantin ein Mensch, ich hätte ihn verachtet und gehasst, für das was er nicht getan hatte, nämlich mir zu helfen. Aber als Vampir? Hätte er mir helfen können, ohne sein Geheimnis zu enthüllen. Außerdem, er hat über mich gewacht! Wenn er mich wirklich liebte, musste es für ihn eine ähnliche Hölle gewesen sein, wie für mich. Allerdings gab es da einen Punkt, denn ich klären musste.
„Hast du gehofft, dass ich mich umbringe?“
Für einen Moment senkte Constantin seine Augen, dann erwiderte er meinen Blick: „Ja! Ich tat es. Eine Weile, bis ich es nicht mehr ertragen konnte, dich leiden zu sehen. Ich hoffte, dass ein netter Kerl käme und dich vor deinen Peinigern rettet. Aber dieser nette Kerl kam nicht. Bitte verzeih mir, dass ich dir nicht geholfen habe.“
„Ich nehme mal an, dass du es nicht konntest, oder?“
„So lautet unser Gesetz, an das ich gebunden bin.“, meinte Constantin bitter, „Trotzdem, ich war kurz davor, es zu brechen und die Konsequenzen auf mich zu nehmen.“
„Die Konsequenzen?“
„Die Vernichtung meines Hauses! Die anderen Häuser hätten mich und mein Haus ausgestoßen und ausgelöscht. Ich hätte es fast getan und mich und meine Untertanen verdammt. Klingt nicht sonderlich nach einem guten Stammvater, oder?“
„Ich bin froh, dass du es nicht getan hast. Woher willst du wissen, dass ich es wert bin? Auf jeden Fall nicht, wenn andere, egal ob Mensch oder Vampir, darunter leiden müssten, ohne gefragt zu werden. Hm, du sagst, du bist ein Fürst der Vampire. Klingt für mich recht undemokratisch. Vermutlich hast du die Macht, deine Vampire in den Tod oder eine ausweglose Schlacht zu schicken, oder?“
Constantin wirkte plötzlich hellwach und sehr an dem interessiert, was ich so vor mich hin erzählte: „Ja, diese Macht habe ich tatsächlich.“
Die überraschend ehrliche Antwort ließ mich einen Moment nachdenken: „Ich glaube, ich könnte dir oder deinem Banner folgen, wenn ich wüsste, dass es für etwas Gutes, für etwas, das über unser selbst hinaus geht, wie Wahrheit, Freiheit oder Gerechtigkeit, wäre. Hättest du wegen mir deine Gesetze verletzt, wäre das egoistisch und eigennützig gewesen.“
„Hallo, mein Freund, du bist ja ein richtiger Romantiker. Für dein Alter hast du ein paar sehr weise Ansichten.“
„Meinst du? Wer weiß, vielleicht liegt es daran, dass ich meist allein mit mir und meinen Gedanken war. Ich habe zu viele Bücher gelesen, statt mit gleichaltrigen Fußball zu spielen. Aber wahrscheinlich hätte man mich eh nur mitspielen lassen, wenn ich die Rolle des Balls übernommen hätte.“
Wir schwiegen, es war keine unangenehme Stille, eher ein willkommenes Schweigen, in dem jeder seinen Gedanken nachgehen konnte. Ich dachte über Constantins Worte nach. Er hatte sich in mich verliebt. Eine ungewöhnliche Situation, gerade weil er im Vorteil war. Er kannte mich, war mir über ein Jahr auf Schritt und Tritt gefolgt. Gut möglich, dass er mich besser kannte, als ich mich selbst.
„Wie funktioniert das?“, fragte ich zusammenhanglos.
„Was?“, stellte Constantin die zu erwartende Gegenfrage.
„Wie wirst du mich zum Vampir machen? Beißt du mich und saugst mir das Blut aus?“
„Nicht ganz. Wenn ich dir das Blut aussaugte, wärst du anschließend tot. Nein, zu einem Vampir wird man durch den Biss. Unsere Zähne können nicht nur Blut saugen, sie injizieren auch ein Sekret. Primär verhindert es die Blutgerinnung. Doch wenn wir es wollen, leitet es die Verwandlung ein, die dich zu einem von uns macht. Du wirst stärker werden, kräftiger als jeder Mensch, deine Reflexe werden beschleunigt, deine Agilität wird jeden Akrobaten vor Neid erblassen lassen. Du wirst über unvorstellbare psychische Kräfte verfügen. Simple Gemüter werden sich deinem Willen nicht widersetzten können. Du wirst zum Schatten, einem Fürsten der Nacht.“, verkündete Constantin feierlich.
„Ähm, aus welchem schlechten Film hast du diese Sprüche geklaut?“
„Dracula, Hammer Production 1958, mit Christopher Lee als Graf Dracula und Peter Cushing als van Helsing. Cooler Film.“, meinte Constantin und zeigte nur den Hauch eines Schmunzelns. Der Kerl hatte mich die ganze Zeit aufgezogen. Ich schnappte mir eins der vielen Kissen und warf es nach meinem Gastgeber, „Oh, du, verarsch mich nicht.“
„Warum nicht?“, entgegnete der Vampir gut gelaunt, während er das Kissen mit spielerischer Leichtigkeit fing und wieder zurück legte, „Du bist einfach nur niedlich, wenn du den beleidigten spielst. Aber ernsthaft, was ich sagte stimmt. Es hat eine Menge Vorteile, ein Vampir zu sein.“
„Und die Schattenseiten?“
„Also gut…“, Constantin Varadin wurde ernst und ich hatte den Eindruck, dass es dieses mal nicht gespielt war, „Du wirst die Sonne niemals wieder sehen. Wir sind Geschöpfe der Nacht, des Schattens und der Dunkelheit. Die Sonne verbrennt uns zu Staub.“
„Ähm, wie hast du mich die ganze Zeit bewacht?“
Ein Schmunzeln wanderte über die Lippen meines Gastgebers: „Das war nicht ganz einfach. Sagen wir, es gibt Sonnencreme mit vampirkompatiblem Lichtschutzfaktor. Aber Spaß beiseite. Jeder Vampir sehnt sich danach, die Sonne wiedersehen zu dürfen. Es nagt an unserer Seele und verursacht eine tiefe Sehnsucht, die einige unserer Brüder und Schwestern in den Wahnsinn trieben. Wie auch immer, man kommt damit klar. Es ist nur etwas, das du wissen musst, entscheidest du dich für ein Leben als Vampir.“
„Und das ist alles?“, fragte ich ungläubig.
„Nein!“, antwortete Constantin scharf, „Wir befinden uns im Krieg. Vampirjäger stellen uns nach und versuchen, uns Holzpflöcke ins Herz zu rammen. Die Jäger sind gut organisiert und keine einfältigen Spinner. Teilweise werden sie von Regierungsorganisationen unterstützt, wenn sie nicht selbst sogar Staatsdiener sind. Und dann gibt es da noch die anderen Häuser. Vampir ist nicht gleich Vampir. Die Nosferatu zum Beispiel. Wenn du sie sieht, wirst du kaum glauben, dass sie einmal menschlich waren. Ein Nosferatu entspricht noch am ehesten dem verzerrten Monsterbild, das die Menschen von uns haben. Blasse, fast pergamentartige Haut, zentimerterlange Fingernägel, dunkle, tiefe Augen und spindeldürr. Viele Vampire verehren die Nosferatu. Sie sind sehr spirituell und leben zurückgezogen in ihren Klöstern. Die Nosferatu sind sanfte, leise Wesen. Doch sollte man sich nicht täuschen lassen. Wer sie bedroht, steht immer noch einem Vampir gegenüber.“
Constantin legte eine kurze Pause ein, dann fuhr er fort: „Wären alle Vampire wie die Nosferatu, hätten wir keine Probleme. Aber es sind nicht alle wie sie, ganz im Gegenteil. So sind etwa die Dracul der Meinung, wir, die Vampire, wären die intelligente, dominante Spezies und sollten die Menschen beherrschen. Ein Dracul betrachtet Menschen im besten Fall als billige Arbeitskräfte, als Domestiken und Lakaien, die man am besten alle Versklaven sollte. Es gibt aber auch Dracul, die der Meinung sind, Menschen wären…“
„Was?“, mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich fürchtete Constantins Antwort.
„Nahrung!“
Es war die Antwort, die ich befürchtet hatte. Löste sie doch sehr gemischte Gefühle bei mir aus.
„Keine Angst. Nicht alle Häuser sind so, wie die Dracul. Obwohl ich zugeben muss, dass sich die meisten für etwas Besseres halten. Man könnte meinen, wie hätten die Arroganz erfunden. Zwischen den Häusern herrscht ein latenter Krieg, mal kalt und heimlich, mal aggressiv und offen. Jedes Haus versucht, die Vorherrschaft zu erlangen. Im Moment ist die Situation mal wieder sehr angespannt. Graf Breskoff, Stammvater des Hauses Breskopol, könnte man als eine Art König der Vampire bezeichnen. Sein Problem ist, dass er alt und schwach ist. Es heißt, jemand würde ihn langsam vergiften. Wenn Breskoff stirbt, wird es einen offenen Krieg um die Nachfolge geben. Dabei ist völlig unbestritten, wem die Königsehre zusteht.“
„Wem?“, fragte ich ahnungslos.
„Mir!“, meinte Constantin matt, „Das Haus Breskopol hat keinen Thronfolger. Ich will dich nicht mit vampirischer Ahnenforschung langweilen, aber es ist unbestreitbar, dass ich der Kronprinz bin und damit der Feind der meisten Häuser. Oder zumindest derer, die die Überzeugungen der Dracul teilen. Man hasst mich und mein Haus. Man verachtet, dass ich mit den Menschen sympathisiere, sie als gleichwertig erachte, und man verabscheut mich, weil ich Männer Frauen bevorzuge. Mit beidem habe ich ihrer Meinung nach die Königswürde verwirkt.“
„Versteh ich das jetzt richtig. Du bist nicht nur der Stammvater eines der Vampirhäuser, sondern auch der nächste in der Thronfolge. Du magst Männer und bist konkret in mich, einen Tischler verliebt, was aber von den deinen nicht sonderlich geschätzt wird. Euer jetziger König droht in Folge einer Vergiftung zu sterben. Täusche ich mich, oder willst du mich am Vorabend eines Bürgerkriegs zu einem Vampir machen?“
„Ähm… ja!“ Kurz und knapp.
„Oh kay…“, derartige Enthüllungen muss man erst mal sacken lassen, „Und warum erzählst du mir das alles? Schließlich bin ich ein Fremder.“
„Nein“, wandte Constantin ein. Ein gleichzeitig scharfer, autoritätserheischender, aber auch versöhnlicher Tonfall erklang, als er meinte: „Darf ich dich daran erinnern, dass dein Leben mir gehört? Du hast es aufgegeben, weggeworfen, als du von der Brücke sprangst. Ich möchte dein Freund sein, vielleicht sogar dein Geliebter, aber ich bin dein Fürst. Du bist an mich durch Eid gebunden, dadurch ein Teil der Familie und somit kein Fremder. Ich vertraue dir.“
„Danke.“
„Gut, dann lass ich dich erstmal in Ruhe frühstücken. Frische Kleidung findest du im Schrank. Die linke Tür führt in dein Badezimmer. Ich bin in meinem Arbeitszimmer.“
„Ähm…“, setzte ich an, wurde aber von Constantin unterbrochen, „Nochmal, du bist jetzt Teil der Familie. Mein Haus ist auch dein Haus, was heißt, dass es für dich keine verschlossenen Türen gibt. Naja, fast keine. Zu deiner und unser aller Sicherheit ist die Haustür verschlossen.“
„Oh! Na dann… Bis nachher.“
„Bis nachher.“, sprachs und verließ den Raum.
Das Haus Varadin
FLORIAN
Ich hatte wirklich Hunger. Man konnte von meinen Vampiren halten was man wollte, doch wie man ein gutes Frühstück zubereitet, schienen sie zu verstehen. Nicht, dass Honig, Käse, Orangensaft und Brötchen sonderlich außergewöhnlich oder innovativ waren, überhaupt nicht. Was so außergewöhnlich war, war der Geschmack. Entweder hatten sich meine Sinne verfeinert, oder das Haus Varadin ließ sich bei der Versorgung ihrer nicht vampirischen Mitglieder nicht lumpen und versorgte sie mit exzellenter Produktqualität.
Nach einem opulenten Frühstück, das einiges an verlorener Kraft zurück brachte, lehnte ich mich zurück und schaute mich in meinem Zimmer um. Bisher waren mir nur das barocke Bett, Christiano und Constantin bewusst aufgefallen, doch nun ließ ich meinen Blick schweifen und studierte meine Umgebung.
Zuerst einmal war der Begriff Zimmer völlig falsch gewählt. Mein Zimmer war ein Appartment, wobei das wuchtige Bett nur einen kleinen Teil des Raumes einnahm. Überhaupt das Bett: Wer dachte, das antike Schmuckstück stünde stilgebend für den Rest der Einrichtung, sah sich getäuscht, denn die war klassisch modern. Bauhaus, das heißt Leder, Edelstahl, Freischwinger, reduziert elegante Formsprache prägten den Raum. Der Inneneinrichter musste entweder völlig wahnsinnig oder ein absolut genialer Kopf gewesen sein, aber mein barockes Bett passte sich recht harmonisch in das Gesamtensemble ein.
Der Raum gliederte sich in drei funktionale Bereiche. Schlafen mit Bett, Nachttisch und einem kleinen Fernseher, Entspannen mit einer Sitzgruppe inklusive Freischwingerledersessel und großem Flachbildfernseher und Arbeitsbereich bestehend aus einem Schreibtisch mit PC und Sitzgelegenheiten. Was meinte Constantin, als er von meinem Badezimmer sprach? Bezog sich das nur auf das Badezimmer, oder auf das ganze Appartment?
Badezimmer? Ich wuchtete mich aus dem Bett und bereute es sofort. Was hatte Constantin gesagt? Christiano hatte drei Tage an meinem Bett gewacht? Diese verdammten Schweine! Nein, nicht Constantin, auch nicht Christiano. Ich meinte meine Kollegen. Was hatten sie mir angetan? Meine Beine befolgten nur widerwillig meine Befehle. Arg wackelig schlich ich ins Badezimmer.
Badezimmer? Wellnesstempel traf es eher. Nicht, dass das Fitnessensemble aus Stepper, Trimrad und Multifunktionskrafttrainer nicht spektakulär genug wären. Nein, nein. Neben einer freistehenden Dusche beherbergte das Badezimmer auch einen riesigen Whirlpool, in den ich mich auch prompt hineingleiten ließ. Das Wasser war fantastisch. Die kräftigen Wasserstrahlen massierten meine malträtierten Muskeln und belebten meinen Körper. Allein für diese Wohltat stand ich tief in Constantins Schuld.
Was sah Fürst von Varadin in mir?
Ich duschte, ließ das Wasser den Schmutz meiner Vergangenheit hinwegspülen.
Vampire? Gegen alle Vernunft schien es sie wirklich zu geben. Nur, wollte ich selbst einer werden?
Constantin meinte, mich zu lieben. Warum? Wer war ich schon? Obwohl… Konnte man mit derartigen Fragen an das Konzept der Liebe herangehen? Liebe lässt sich wohl kaum rational fassen. Blieb eigentlich nur noch die Frage, ob ich Constantin liebte.
Die Antwort lautete: Vielleicht. Konkret wusste ich es nicht. Ich mochte ihn. Daran bestand kein Zweifel. Ich fand ihn attraktiv, aber das fand ich Christiano auch, obwohl… Wenn ich die beiden Männer miteinander verglich, konnte ich mir Christiano eigentlich nur als Kumpel und Freund vorstellen. So geil er auch aussah, der Junge war ein echtes Sahneschnittchen, so wenig konnte ich mir etwas beziehungsähnliches mit ihm vorstellen. Constantin war da anders. Der Mann besaß eine fast schon unheimliche Präsenz und Tiefe. Er war dominant, was mich aber nicht störte. Es kam meiner Vorstellung einer Partnerschaft sogar sehr entgegen. Schlug hier mein Loosergen wieder zu? Die Charakterschwäche, die mich letztendlich auf die Brücke getrieben hatte?
Nein! Ich wollte nicht vergewaltigt werden! Niemand will das. Meine Sehnsucht nach einem starken, kräftigen Mann, jemandem, der mich schützend in seinen Arm nahm, bedeutete noch lange nicht, dass ich es genoss missbraucht zu werden.
Woher kam nur diese Klarheit? Constantin musste etwas mit mir angestellt haben. Noch nie sah ich mein Leben, meine Ziele, Wünsche, Ängste und Hoffnungen so klar vor mir, wie unter der Dusche im Haus Varadin.
Was sah Constantin in mir?
Schnuckel. Dieses Wort hatte Christiano für mich verwendet. Ich trocknete mich ab und betrachtete meinen nackten Körper im großen Ganzkörperspiegel des Badezimmers. Und was sah ich? Den verfluchten blonden Engel, der ich bisher war. Zum Teil… Anderseits entdeckte ich auch neue Wesenszüge. Meine Vergangenheit hatte mich gezeichnet. Ich war ein blonder Engel, der verdammte süße Schnuckel, den alle für seine Schönheit hassten. Aber da war mehr. Eine dunkle Aura umgab mich, drohend und unheilvoll. Fragte sich nur, für wen.
„Was zum Teufel denkt sich der Typ eigentlich?“
Der Fluch war nicht wirklich ernst gemeint, sondern spiegelt eher meine amüsierte Verwunderung über Inhalt und Art des Kleiderschrankes dar. Das es sich um einen begehbaren Kleiderschrank handelte, hätte mich eigentlich nicht überraschen dürfen, berücksichtigte man Arbeits- und Badezimmer. Der Inhalt hingegen war frech. Natürlich gab es ausschließlich Designerklamotten. Das allein wäre ebenfalls nicht sonderlich verwunderlich. Frech und Anlass meiner Ausrufs waren die Schnitte. Es begann bei den Unterhosen, die sich gegenseitig Konkurrenz darin machten, aus möglichst wenig Stoff geschneidert zu sein. Ich probierte mehrere Exemplare aus. Das Resultat war jedes mal das gleiche. Alle Slips passten perfekt und ließen mein Päckchen obszön geil aussehen.
Wie nicht anders zu erwarten, wollten die drei verschiedenen bereitliegenden Hosen nicht hinter den Unterhosen zurückstecken. Low cut war das Schlüsselwort. Alle Teile waren dermaßen niedrig geschnitten, dass meine Schamhaare fast hervorlugten. Dass sich jedes Beinkleid wie eine zweite Haut an meinen Körper schmiegte, muss ich wohl kaum erwähnen, egal, ob Cargo, Jeans oder Lederhose.
Bei den Shirts gab ich auf. Ich suchte mir einfach eines heraus das mir gefiel und zog es über. Kurz noch ein paar Socken und ein paar Sneakers angezogen und ich war fertig bekleidet. Unvorsichtigerweise wagte ich, einen prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen.
„Shit!“
Nein, ich kultiviere keinen Egotrip. Es ist auch nicht arrogant gemeint, wenn ich behaupte, dass ich generell gut aussehe. Aber was ich ihm Spiegel erblickte, war mehr als gutaussehend. Ich war Sex pur. Wer auch immer den Kleiderschrank bestückt hatte, verfolgte eine Absicht, nämlich mich zum Sexobjekt zu machen. Es war so schlimm, dass ich von meinem eigenen Anblick eine Erektion bekam, die man in der körperbetont geschnittenen Hose natürlich deutlich sah.
„So kann ich unmöglich unter Leute gehen!“, meinte ich mangels anderer Anwesenden zu mir selbst, was sich aber als Irrtum herausstellte.
„Falsch, so musst du unter die Leute gehen!“, hörte ich Christianos Stimme neben mir. Erschrocken zuckte ich zusammen. Ich hatte nicht gehört, wie der junge Vampir mein Zimmer betrat.
„Entschuldige“, meinte Christiano verlegen, „Das Anschleichen ist so eine Vampirsache. Ich vergesse immer, dass du noch keiner von uns bist.“
„Schon ok!“, nickte ich meinem Gast zu, „Aber mal ehrlich. So kann ich doch nicht rumlaufen.“
„Doch, doch! Du siehst einfach zum Anbeißen aus.“, Christiano zeigte seine bedrohlichen Beißerchen, „Ähm, keine Angst. Ich beiß dich schon nicht.“
„Nicht?“, hakte ich skeptisch nach.
„Ne, bestimmt nicht. Ich möchte gerne weiterleben dürfen.“, versicherte Christiano sehr glaubwürdig, „Dich anzuknabbern ist einzig und allein Constantins Vorrecht.“
„Darf ich dich etwas fragen?“
„Schieß los!“
„Die Sache mit dem Blut. Ihr ernährt euch davon. Wo bekommt ihr es her und von welchem Lebewesen stammt es.“
„Es ist menschliches Blut. Kein anderes ist als Nahrung geeignet. Meistens kaufen wir es von Blutbanken, was aber langweilig ist. Ich treibe mich oft am Wochenende in Clubs rum. Die Gothszene ist zwar nicht mehr so groß wie früher, aber dafür gibt es jetzt andere Szeneparties, auf denen man auf seine Kosten kommen kann. Ich weiß, es scheint nicht ganz fair zu sein, irgendwelchen Jungs ein wenig Blut abzuzapfen, aber sie kommen nicht wirklich zu schaden. Ganz im Gegenteil steigert ein Vampirbiss das Immunsystem.“
„Ähm…“, damit hätte ich jetzt nicht gerechnet, „Ihr sucht euch Leute, die ihr aussaugen könnt?“
„Aussaugen wohl nicht. Ich will niemanden umbringen. 200ml, also gerade mal ein Glas voll, reicht für eine Woche. Und die verteile ich meist über zwei oder drei Typen.“
„Nochmal „Ähm“. Ich glaube, ich würde mich wehren, wenn man mich beißen würde, oder nicht?“
„Nö, würdest du nicht. Constantin hat dir doch von unseren Suggestionskräften erzählt, oder? Außerdem finden es manche Typen sogar geil, von einem Vampir gebissen zu werden. Natürlich glauben sie nicht wirklich an Vampire und halten das für ein Spiel. Wenn sie dann die Zähne in ihrem Hals spüren und merken, dass es kein Spiel ist, ist es ihnen egal, da sie im gleichen Moment vor Geilheit platzen. Fast jedem geht dabei einer ab. Während sie sich dann von ihrem Höhepunkt erholen, lasse ich sie die Erinnerung an den Biss vergessen. Die Wunde heilt innerhalb einer Stunde und hinterlässt keine Narbe.“
„Und Constantin ist damit einverstanden?“
„Ja, sicher!“, Christiano wiegte seinen Kopf hin und her, „Es ist nicht optimal, aber wir müssen auch von etwas leben. Niemand kommt zu schaden. Ganz im Gegenteil. Jeder der gebissen wurde ist für Jahre vor Infektionskrankheiten geschützt. Außerdem mag ich euch Menschen, schließlich war ich selbst mal einer. Unser Haus behandelt die Menschen mit Respekt. Viele der anderen Häuser gehen bei der Suche nach Blut deutlich rabiater vor. Für die seid ihr sowas wie Milchkühe für euch sind. Vieh, das man melken kann. Die anderen beschränken sich auch nicht auf ein Glas. Die saugen dir locker einen halben Liter raus, egal, wie du dich dabei fühlst.“
Mir kam der Gedanke, meine lieben Exkollegen zu beißen. Die Vorstellung hatte etwas befriedigendes, auch wenn sie sich später nicht mehr daran erinnern könnten. Ich glaube, ein klein wenig Rache konnte man mir schon zubilligen, oder?
„Frag Constantin. Vielleicht erlaubt er es dir.“, meinte Christiano.
An den Gedanken, dass Vampire Gedanken lesen konnten, musste ich mich erst noch gewöhnen. Einerseits ersparte es eine Menge Worte, andererseits fühlte ich mich auch irgendwie nackt.
„Werde einer von uns.“
„Was, kannst du dann meine Gedanken nicht mehr lesen?“
„Doch, aber es stört dich nicht mehr.“, erwiderte Christiano, „Constantin ist unser Stammvater. Bis auf Laurentius entstammen wir entweder direkt ihm oder einem unserer Brüder. Du musst wissen, dass es sein Blut ist, das durch unsere Adern fließt. Wir sind eine Familie. Du hast keine Vorstellung, wie stolz es mich macht, ein Sohn des Hauses Varadin zu sein. Und Florian, es würde mich sehr freuen, dich einen Bruder nennen zu können. Bitte, werde einer von uns.“
Er meinte das ernst. Dieser dauerflirtende Vampir meinte es absolut ernst. Es war erstaunlich. Noch nie in meinem Leben hatte ich dermaßen viel offene und ehrliche Zuneigung verspürt, wie von den Vampiren des Hauses Varadin. Nun, vielleicht nicht von allen, da ich erst zweien begegnet war.
„Komm, ich will dir das Haus zeigen.“, Christiano schnappte mich am Handgelenk und zog mich mit erstaunlicher Kraft mit sich.
„Aber… Meinst du, dass ich wirklich so rumlaufen kann?“, mir machte meine Aufmachung, die man nur als sexuell aufreizend bezeichnen konnte, nach wir vor Sorgen. Nicht nur die Jeans war tief geschnitten, mein T-Shirt war es ebenfalls und entblößte regelmäßig die Hautpartie, knapp oberhalb meines Hosenbundes. Genau den Bereich, über den Christiano gerade seine eleganten Finger gleiten ließ.
„Natürlich. Schließlich habe ich deine Klamotten ausgesucht.“
Das erklärte einiges. Vampir Christiano Varadin war ein lüsternes Kerlchen, aber auch, wie ich in den nächsten Stunden erfuhr, ein wirklich guter Kumpel. Er zeigte mir das Haus. Meine Vermutung, dass mein Zimmer wirklich mein Zimmer war, bestätigte sich. Das Haus Varadin war wohlhabend, sehr wohlhabend, oder eher außerordentlich wohlhabend. So wenig wie mein Appartment die Bezeichnung Zimmer verdiente, verdiente das Haus die Bezeichnung Haus. Wir befanden uns eher auf einem Anwesen. Das Gebäude erstreckte sich über mehrere Stockwerke, wobei die meisten sich unter der Erde befanden, was bei der Art der Bewohner wiederum verständlich war.
Was mich überraschte war der Betrieb, der im Haus herrschte Es war, als wenn ich mich in einem Bienenstock befand. Kaum hatten wir die Wohntrakte verlassen, wimmelte es von Personen. Ich sah Großraumbüros, Besprechungsräume, Teeküchen, Computer, Drucker, Monitore und massenweise Telefone, die ohne Unterbrechung blinkten oder klingelten.
„Das Haus Varadin ist an hunderten Unternehmen weltweit beteiligt.“, erläuterte Christiano, „Es sichert uns Einfluss, Macht und Einkommen, das heißt letztendlich unsere Existenz. Wir managen den Konzern immer von dem Ort aus, an dem wir uns befinden.“
Eine junge Frau näherte sich Christiano und hielt ihm ein Fax entgegen: „Rogers will wissen, wie weit er bei dem Immobiliendeal in Dubai gehen darf.“
„Ah, entschuldige Susan“, entgegnete mein Begleiter, „Ich wollte dich noch informieren, hab es aber vergessen. Fax Rogers, er kann bis drei gehen und teile ihm verschlüsselt per E-Mail mit, dass er bis fünf freie Hand hat. Man hat seine Telefonleitung angezapft. Die Typen wollen uns über den Tisch ziehen. Mehr als fünf ist das Objekt nicht wert.“
„Ok und danke!“, meinte Susan und war weg.
„Entschuldige bitte, aber das war wichtig.“, meinte Christiano zu mir.
„Ich muss mich entschuldigen, dass ich dir deine Zeit stehle.“, erwiderte ich verlegen, „Ähm, ist sie eine…“
„…Vampirin?“, wurde meine Frage vervollständigt, „Nein. Susan ist ein Mensch, der sich so wie du dem Haus Varadin verpflichtet hat. Lass mich mal sehen… Nein, im Moment sehe ich… Oh doch, da hinten…“
Wir standen in einem Großraumbüro voller Personen, die mit den unterschiedlichsten Geschäftstätigkeiten befasst waren. Nachdem sich Christiano umgeschaut hatte, zeigte er auf einen anderen jungen Mann, der wie ein Broker aussah. Anzughose, weißes Hemd, Krawatte und Hosenträger. Das Jackett hing über der Rückenlehne seines Stuhls, während der Typ mit zwei Telefonen gleichzeitig vor einer ganzen Monitorwand mit Chartdaten hin- und herwandernd telefonierte.
„Das ist Gorden, unser Finanzgenie. Außer mir ist er der einzige andere Vampir im Raum. Die Mehrheit hier im Haus sind ganz normale Menschen. Es gibt nicht viele Vampire. Selbst hier machen wir kaum ein Prozent aus.“
Umso geehrter musste ich mich eigentlich fühlen, dass mich Constantin zu einem von ihnen machen wollte.
„Wollen wir weiter gehen?“, fragte mein Tour-Guide freundlich.
„Klar!“, mich hatte die Neugier gepackt und wollte alles sehen. Das Haus der Varadins war mehr als ein Haus. Es war ein Kommandozentrale, fast ein kleiner Staat. Es gab Abteilungen für Information, Finanzen, Handel und sogar Politik. Als einfacher Tischlergeselle war mir vieles ein wenig zu hoch, was nicht heißen soll, dass ich zu dumm war, die Dinge zu verstehen. Ich war nicht dumm. Das hatten jedenfalls meine Lehrer in der Schule immer behauptet und gemeint, dass ich locker auch ein Gymnasium hätte besuchen können. Mein Vater war dagegen. Ich sollte etwas anständiges und bodenständiges lernen. Dagegen war im Prinzip nichts einzuwenden. Ich war gerne Tischler. Ich hätte es aber sehr geschätzt, wenn mich mal jemand gefragt hätte, was ich eigentlich wollte. Aber mich hat nie jemand nach meiner Meinung gefragt.
Das Gebäude schien riesig zu sein. Wir durchwanderten unzählige Flure, nahmen Treppen, die mal aufwärts und mal abwärts gingen, fuhren zig mal mit dem Fahrstuhl, bis ich vollends die Orientierung verlor. Auffällig war das vollständige Fehlen von Fenstern, wenn es auch nicht sonderlich verwunderte, sobald man sich daran erinnerte, wer das Haus bewohnte. Christiano zeigte mir wirklich alles, sogar die Gruft. Constantin hatte nicht gescherzt, als er von seinem Sarg sprach. Und ja, er knarzte fürchterlich. Sollte es sonst nichts für mich zu tun geben, würde ich zumindest dieses Problemchen beseitigen.
Während unseres Rundgangs fielen mir plötzlich kleine Ampeln auf, die über manchen Türen angebracht waren und rot zeigten. Nachdem wir an mehreren vorbeigegangen waren ohne sie zu passieren, sprach ich Christiano darauf an.
„Sonnenlicht!“, war seine knappe Antwort, die er aber noch etwas erläuterte, „Hinter diesen Türen befindet sich eine weitere Tür. Zusammen bilden sie eine Schleuse. Man kann immer nur eine der beiden Türen öffnen, niemals aber beide gleichzeitig. Dahinter befinden sich Räume mit Fenstern oder sie führen direkt ins Freie. Die Farben sind leicht zu deuten. Rot bedeutet Tageslicht, Grün dementsprechend Nacht. Ein gelbes Licht signalisiert einen Sonnenaufgang in weniger als einer halben Stunde. Wenn du willst, kannst du nach draußen gehen, hab aber Verständnis, wenn ich es vorziehe, hier zu bleiben.“
Christiano grinste breit und frech. Ich mochte ihn. Mehr und mehr entwickelte er sich zu einem guten Kumpel, und obwohl er ständig mit mir flirtete, wollte er auch nicht mehr als ein Kumpel, ein Freund, sein. Und das nicht etwa, weil er befürchtete, mit Constantin Stress zu bekommen, weil dieser ein Auge auf mich geworfen hatte. Jedenfalls war dies der Eindruck, den ich gewann. Ich konnte mich natürlich auch irren.
Während wir nun also durchs Haus schlenderten, begegneten wir ständig irgendwelchen Leuten. Obwohl jeder sehr beschäftigt schien, begegnete man sich immer mit Freundlichkeit, scherzte miteinander und klönte zuweilen auch ein wenig. Christiano stellte mich jedes mal vor und ich wurde mit freundlichen Worten willkommen geheißen. Je mehr Leuten wir begegneten, desto mehr fiel mir etwas auf. Zuerst hielt ich es für Einbildung, doch mit der Zeit wurde das Gefühl immer deutlicher. Jedes mal, wenn ich jemandem neuen vorgestellt wurde, fragte ich Christiano hinterher, ob es sich um einen Mensch oder Vampir gehandelt hatte, bis ich nicht mehr fragen musste. Ich wusste es auch so.
„Entschuldigen Sie, dass ich so dreist frage, aber Sie sind ein Vampir, oder?“, fragte ich einen Mann, der sich mir als Marcello vorgestellt hatte.
„Die Frage ist nicht dreist. Und ja, ich bin einer dieser gruseligen Blutsauger. Nebenbei, den Einzigen, den man hier siezen sollte, ist Constantin und das auch nur bei offiziellen Anlässen. Ich bin Marcello, klar?“
„Florian!“
Etwas später, wir waren wieder allein, blieb Christiano stehen und schaute mich fragend an: „Woher wusstest du, dass er ein Vampir ist?“
Ich grinste verlegen: „Es liegt daran, wie euch die Menschen begegnen. Obwohl sich jeder um einen freundschaftlichen Umgang bemüht, verspüre ich soetwas wie Ehrfurcht bei den Menschen in euren Diensten. Sie mögen euch, lieben euch vielleicht sogar, aber sie fürchten euch auch ein wenig. Ich hoffe, das war jetzt nicht respektlos, aber du hast gefragt.“
Christiano schüttelte frustriert den Kopf: „Nein, du bist nicht respektlos und ja, du hast völlig Recht. So sehr wir es uns wünschen, dass es nicht so ist, aber zwischen euch und uns herrscht eine Kluft. Du bist der erste Mensch den ich kenne, der mich völlig unbefangen und natürlich behandelt. Danke!“
„Hey, ich muss dir danken. Du bist abgesehen von Constantin das erste vernunftbegabte Lebewesen, das mich nicht wie Dreck behandelt. Mehr noch, bei dir habe ich das Gefühl, bei einem Freund zu sein.“
„Das wäre ich sehr gerne.“
„Egal wie ich mich entscheide?“
„Egal wie du dich entscheidest.“
„Wow!“, ich war baff, „Das erste mal in meinem Leben hatte ich einen Freund, einen echten Kumpel!“
„Ja, hast du!“, Christiano strahlte freudig, „Und dieser Freund wird dich jetzt zu Constantin bringen. Ich glaube nämlich, dass er sehnsüchtig auf dich wartet.“
Neuland
CONSTANTIN
Das lief doch eigentlich ganz gut, oder? Nicht wirklich, sonst hätte ich mir die Frage nicht gestellt. Aber wie stellt man es an, jemandem zu erklären, dass man seit Jahren in ihn verliebt ist, ohne dass einen der Adressat wirklich kennt. Das war die Lage. Ich wusste alles über Florian, Florian über mich hingegen nichts. Das klang nicht unbedingt nach einem optimalen Start für eine Beziehung. Beziehung? Ich konnte froh sein, wenn sich Florian nicht vor mir fürchtete. Constantin Varadin, zukünftiger König der Vampire.
Eines musste man Florian wirklich lassen. Der Junge hatte es faustdick hinter den Ohren. Als er meinte, wir stünden direkt vor einem Bürgerkrieg, traf er den Nagel perfekt auf den Kopf. Genaugenommen hatte der Krieg bereits begonnen. Und wenn er auch nicht mehr wie früher mit Schwertern und Mann gegen Mann ausgetragen wurde, war er deswegen nicht weniger brutal und unerbittlich.
Statt mit geschmiedetem Stahl kämpften wir mit Derivaten und Hedgefonds. Hier ein geflüstertes Wort, dort eine gezielte Bemerkung, und schon lösten sich Millionenwerte in Nichts auf. Und warum das alles? Für nichts. Jedenfalls für nichts, was wirklich wichtig wäre. Denn wenn man es genau nahm, kämpfte ich einen Kampf, der gar nicht der meinige war. Ich hatte Florian nicht belogen, als ich ihm erklärte, dass es Häuser gab, die der Meinung waren, Menschen wären eine niedere Lebensform, vergleichbar einem Rind, das auch nicht gefragt wurde, ob es als Steak enden wollte.
Es war eine Frage der Überzeugung. Auf der einen Seite die Dracul, die sich selbst als Spitze der Evolution betrachteten und daraus das Recht ableiteten, die natürlichen Herrscher der Welt sein zu müssen. Es war erschreckend, mit ansehen zu müssen, wie mehr und mehr Häuser sich den Ansichten der Dracul anschlossen. Ich musste handeln. Was die Dracul dachten und planten, brachte uns meiner Ansicht nach direkt an den Rand des eigenen Untergangs. Die Menschen würden sich niemals von einer Herde Vampire beherrschen lassen. Oh, wie ahnungslos ich doch war. Natürlich ließen sie sich beherrschen. Man musste nur dafür sorgen, dass sie es nicht merkten.
Ohne Gordens brillianten betriebs- und volkswirtschaftlichen Verstand hätten wir nie entdeckt, was die Dracul planten. Eines muss man ihnen lassen, sie denken in großen, sehr großen Dimensionen. Das Gesamtbild erstreckte sich über Jahrzehnte. Man nahm sich einfach aller Zeit der Welt, denn was spielt Zeit im Leben eines Vampirs schon für eine Rolle? Langsam, unmerklich und heimlich infiltrierten sie die politischen und finanzwirtschaftlichen Schaltstellen der gesamten Welt. Es gab keine Börse, die nicht direkt oder indirekt von den Interessen der Dracul beeinflusst wurde. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und sie hätten ihr Ziel erreicht, nämlich die vollständige Kontrolle der Weltwirtschaft in ihre Hand zu bekommen.
Bis zu dem Zeitpunkt, als Breskoff Stopp rief. Graf Breskoff war schon immer ein weitsichtiger und kluger Mann gewesen. Er wusste, dass unser Überleben von Diskretion und faktischer Unsichtbarkeit abhing. Außerdem teilte er die Ansicht meines Vaters, dass es mehr als einen Platz an der Spitze der Evolution gab. Zumal es niemanden gab, der behauptete, dass die Spitze einem irgendwelche Sonderrechte einräumte. Viel mehr, so Breskoff und so auch mein Vater, als er noch unter uns weilte, verlangte einem eine derartige Position Verantwortung ab.
Und so kam es, dass sich die Häuser in Fraktionen spalteten. Einerseits diejenigen, die die Ansichten der Dracul vertraten, anderseits die, die Breskoffs Überzeugung teilten. Natürlich stand ich hinter Breskoff. Er war nicht nur der beste Freund meines Vaters, sondern auch mein Patenonkel, Vorbild und Lehrmeister. Unsere Häuser waren seit Alters her eng miteinander verbunden. Unser Wort besaß nach wie vor einiges an Gewicht in der Ratsversammlung der Häuser. So bereiteten mir die offen hinter den Dracul stehenden Häuser noch die geringsten Sorgen. Was mich beunruhigte waren diejenigen, die sich opportunistisch verhielten, keinen offenen Standpunkt vertraten und nur auf den richtigen Moment warteten, um einem einen Dolch in den Rücken zu rammen.
Denn während die wahren Dracul echte Überzeugungstäter waren, nutzten manche Häuser ihre Lehren als Vorwand, um Breskoffs und vor allen meine Position zu diskreditieren. Ein wahrer Vampir macht sich nicht mit einfachen Menschen gleich. Was für Heuchler! Dabei war es absolut klar, worum es ihnen wirklich ging, um die Königswürde, um Macht und Einfluss. Dass sie es ernst meinten, wurde spätestens dann klar, als wir entdeckten, dass man Breskoff vergiftete.
Und in dieser Situation verguckte ich mich ausgerechnet in diesen Schnuckel namens Florian. Er verkörperte einfach alles, was ich für schön und liebenswert hielt. Er war sanftmütig, introvertiert und liebte seine Arbeit. Egal wie gemein seine Umwelt zu ihm war, er murrte nicht, sondern versuchte einfach noch ein wenig besser zu sein, bis er es schließlich nicht mehr ertrug. Ich konnte nicht anders, ich musste ihn einfach retten.
Natürlich war seine Rettung nicht vollkommen selbstlos. Ich fand den Jungen einfach geil. Wie gesagt, ich hatte mich in ihn verliebt, und das nicht nur geistig. Shit, ich konnte mich kaum satt sehen an meinem blonden Engel. Auf eine pervers erregende Art erreichte Florian etwas, das sich seit einer Ewigkeit nicht mehr verspürte: Ich hatte Schmetterlinge im Bauch! In seiner Nähe fühlte ich mich schwach und unsicher. Was sagt man? Worüber redet man? Mag er mich auch? Verliebt er sich vielleicht in mich? Wie verhindere ich, dass ich mich zum totalen Affen mache? Was, wenn sich Florian in Christiano verliebt? Der war schließlich auch nicht gänzlich unattraktiv. In dieser Hinsicht konnte ich wohl beruhigt sein. Christiano flirtete gern, aber Flo war nicht der Typ Mann, den er als Partner bevorzugte.
„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“, Laurentius riss mich aus tiefen Gedanken.
„Ehrlich gesagt, nein.“, ich bedachte meinen Marschall und Freund mit einem entschuldigenden Blick, „Es tut mir Leid, aber ich war mit meinen Gedanken wo anders. Also, erzähl mir nochmal, was du über Breskoffs Vergiftung rausbekommen hast.“
„Er wird sterben!“, verkündete Laurentius ausdruckslos, „Nach optimistischten Schätzungen hat er noch drei Monate, realistisch eher zwei. Das Gift ist alt, sehr alt und stammt von den Nosferatu. Es wird von ihnen zur Vollstreckung der Todesstrafe verwendet, was aber in den letzten siebenhundert Jahren nicht mehr vorgekommen ist. Einmal verabreicht, gibt es keine Heilung. Es lagert sich im Körper ein und setzt seine Wirkung über fünf bis sechs Monate frei. Die Nosferatu erklärten mir, dass es dem Verurteilten Zeit geben sollte, über sein Verbrechen nachzudenken.“
„Hm, solche Dinge sehen ihnen ähnlich.“, sprach ich meine Überlegungen aus, „Aber es für ein Attentat zu verwenden, passt nicht zu ihnen.“
„Du sagst es.“, bestätigte Laurentius, „Sie waren es auch nicht. Du weißt ja, wie zurückhaltend sie sind, wenn es um ihre spirituellen Gemeinschaften geht. Es benötigte eine Menge Überzeugungsarbeit, bis man mir beichtete, dass vor einem Jahr eine Portion des Giftes aus einem ihrer Klöster entwendet wurde. Dabei wussten überhaupt nur die Synodalen von der Existenz des Giftes.“
„Mit anderen Worten, man hat Breskoff ermordet. Damit dürfte ich ihr nächstes Ziel sein, oder?“
„Ja! Mein Freund, du bist in Gefahr. Ich habe die Sicherheitsvorkehrungen bereits verschärft. In unseren Häusern solltest du sicher sein. Sämtliche Mitglieder unseres Hauses sind überprüft und absolut loyal. Ich gehe auch nicht davon aus, dass Breskoff von einem Verräter in den eigenen Reihen vergiftet wurde. Als König muss er an vielen offiziellen Veranstaltungen teilnehmen oder Ratsuchenden eine Audienz gewähren. Einem Attentäter bieten sich eine ganze Reihe an Möglichkeiten, ihm ein Gift zu verabreichen, ohne dass jemand etwas bemerkt. Gerade weil dieses Gift erst Monate später seine Wirkung entfaltet.“
„Was für ein teuflischer Plan…“, stellte sich die Frage, wer dahinter stand. Waren es die fundamentalistischen Dracul oder eines der anderen Häuser, die auf dem Ticket der Dracul mitreisten?
„Was wirst du mit Florian machen?“, wechselte Laurentius das Thema.
„Ich weiß es nicht. Es ist seine Entscheidung, ob er einer von uns wird. Ich will ihn nicht drängen.“
„Dir ist schon klar, was es für euch beide bedeutet, solltet ihr zusammenfinden. Nimmst du ihn als deinen Partner, wird er automatisch zum Thronfolger. Sollte dir etwas zustoßen, wird er Stammvater des Hauses Varadin.“
„Ich weiß… ich weiß…“, ich wusste es und ich verdrängte es, „Hältst du ihn für unwürdig?“
„Als dein Marschall stünde es mir nicht an, deine Wahl zu kritisieren. Als dein Freund und Lehrer sage ich dir, dass du gut gewählt hast. Florian besitzt eine Seele voller Schönheit. Er ist ehrlich, offen, neugierig und unvoreingenommen. Ich mag ihn. Die Frage ist, ob dir bewusst ist, welche Verantwortung du auf seine Schultern legst?“
„Ja, leider. Ich werde ihm alles sagen. Er soll selbst entscheiden, schließlich ist es sein Leben.“
„Für diese Worte verehre und liebe ich dich. Du trägst wahrlich den Geist deines Vaters in dir.“
„Ja, ganz toll! Es ist genau der Geist, für den mich unsere lieben Brüder der anderen Häuser hassen und verachten.“
Ein für Laurentius sehr weicher Ausdruck schlich sich in seine Miene: „Constantin, du bist besser als die! Ich folge nicht deinem Weg, weil du mein Fürst bist, sondern weil er der richtige, der einzig richtige Weg ist. Du weißt nur zu gut, was uns allen droht, sollten die anderen die Macht erlangen. Ich habe es erlebt, das Zeitalter der Verdammnis. Ich weiß was uns erwartet, wenn wir verlieren.“
„An deiner Sozialkompetenz müssen wir wohl noch arbeiten. Du sollst mich doch eigentlich aufbauen.“, meinte ich müde und fatalistisch lächelnd, „Warum darf ich kein ganz einfaches, normales Leben führen? Verdammt, ich habe mich nie danach gesehnt, Stammvater zu sein. Von der Königswürde will ich gar nicht erst anfangen!“
„Weißt du“, erwiderte Laurentius leise und nachdenklich, „Diese Einstellung ist es, die dich zu einem guten Fürsten macht. Du empfindest Macht als Last, die anderen sehnen sich danach, berauschen sich daran, wollen sie um jeden Preis. Für sie ist Macht purer Selbstzweck.“
„Also spielen wir das Spiel mit?“
„Natürlich!“
Damit war mal wieder alles gesagt. Ich wusste, das sich alles in guten, in den besten Händen befand. Die Macht und der Einfluss des Hauses Varadin basierten zu einem großen Teil auf den unvorstellbaren Fähigkeiten meines Marschalls. Laurentius hatte aufgehört die Attentate auf seine Person zu zählen. Obwohl man manche wirklich sehr ausgefeilt und professionell vorbereitet hatte, hatte keines meinen Marschall auch nur ansatzweise in Gefahr gebracht. Außer ihm gab es nur noch zwei Personen, denen ich mein Leben blindlings anvertraute. Laurentius war mein Schwert, meine Augen und Ohren. Seine Agenten wussten, wie und wo man diskret an Informationen gelangen konnte, ohne dabei aufzufallen.
„Und, was wirst du mit Florian machen?“
Dankbar für den Themenwechsel, hellte sich meine Miene gleich wieder auf. Ein Gedanke an meinen blonden Engel reichte, und meine Laune wurde besser.
„Ich? Nichts! Ich werde ihn zu nichts drängen und die Entscheidung ihm selbst überlassen. Ich kann ihm ja schlecht befehlen, sich in mich zu verlieben, oder?“
„Wohl nicht.“, stimmte Laurentius zu, „Was ist mit der anderen Sache?“
„Auch dazu werde ich ihn nicht drängen. Sollte er sich entscheiden, keiner von uns zu werden, werde ich dies akzeptieren. Du kennst meine Einstellung dazu.“
„Ja, natürlich!“, ein schwer zu deutender Ausdruck schlich sich auf Laurentius Gesicht, „Ich glaube, er mag dich. Er mag dich sogar sehr, gleichzeitig fürchtet er dich. Versteh mich nicht falsch. Ich glaube, dass ihm Titel, Status, Ansehen völlig egal sind. Ich habe ihn beobachtet. Florian betrachtet die Welt mit dem ungetrübten Blick eines Kindes.“
„Hältst du ihn für naiv?“
„Nein, er kann so wirken, aber er ist nicht naiv. Es ist erstaunlich. Bei allem, was er durchgemacht hat, hat er den Glauben an das Gute erhalten. Ich glaube, er ist nicht gesprungen, weil man ihn vergewaltigt hat, sondern weil man ihm eben diesen Glauben an das Gute geraubt hat. Mit seiner Rettung hast du ihm diesen Glauben zurückgegeben. Florian braucht dich.“
Der Körper eines Kriegers mit dem Herz eines Poeten, das war Laurentius. Seine beispiellose Menschenkenntnis ließ mich immer wieder staunen, da er fast immer ins Schwarze traf. Was Florian betraf, er war wie ein ungeschliffener Diamant und ich mir nicht sicher, ob er geschliffen wirklich an Schönheit gewann.
Und wo ich gerade beim Thema Florian war: die Schmetterlinge in meinem Bauch tanzten Samba und schlugen Purzelbäume. So schräg das Bild auch war, so treffend war es. Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden, wenn ich an Florian auch nur dachte oder sein Name erwähnt wurde. Ein Vampir benimmt sich wie ein Backfisch. Wenn das meine Gegner wüssten, sie hätten sich tot gelacht und mir wäre es egal gewesen. Meine einzige Sorge war, die Sache mit Florian nicht zu verbocken. Ich brauchte ihn, denn wie alles, was wir wirklich inständig lieben, gab mir einen Grund, ein guten Grund, den besten Grund, zu leben.
Fly me to the moon
FLORIAN
Ich muss gestehen, dass ich ein klein wenig Bammel hatte, meinem Lebensretter wieder gegenüber zu treten. Nach allem, was ich über Constantin Varadin erfahren habe, war er ein wirklich mächtiger Mann. Jemand, dessen Wort im wahrsten Sinne über Leben und Tod entschied. Sowas nenne ich keinen sonderlich beruhigenden Gedanken. Auf der anderen Seite fühlte ich mich zu ihm hingezogen, wie ich mich noch nie zu jemandem hingezogen fühlte. Schon vor einem Jahr, als Momsen und ich den Wasserschaden an der Täfelung eines Speisesaals reparierten, musste ich mich ganz auf meine Arbeit konzentrieren, um nicht permanent an Constantin Varadin zu denken. Shit, in seiner Nähe lief ich mit einem Dauerständer rum.
Dabei war es gar nicht mal sein Aussehen, das zweifellos sehr gut war. Viel mehr zog mich seine Aura in seinen Bann. Wer an Liebe auf den ersten Blick glaubt, hätte vermutlich gefolgert, dass es mich voll erwischt hatte, und lag damit gar nicht mal so verkehrt.
Christiano und Constantin – Ich kam nicht umhin, die beiden Männer miteinander zu vergleichen. Christiano war straight in dem Sinne, dass man bei ihm ziemlich genau wusste, was man mit ihm erhielt. Er war einfach ein absolut cooler Kumpel. Ehrlich bis in die Knochen, gerade heraus, immer gut gelaunt und immer da, wenn man ihn brauchte. Constantin war anders, vielschichtiger, widersprüchlicher. Constantin war eine Herausforderung. Gleichzeitig hart und weich, bedrohlich aber auch Schutz gebend. So sehr ich mich von ihm angezogen fühlte, so sehr fürchtete ich mich vor ihm. Macht das das Wesen eines Fürsten der Vampire aus?
Zum Schluss unserer Erkundungstour des Hauses führte mich Christiano schließlich in das Allerheiligste, wie er es scherzhaft nannte. Genaugenommen handelte es sich schlicht um einen isolierten Gebäudetrakt, dessen Eingang von zwei schwergewichtigen Bodyguards bewacht wurde, die uns aber ohne Probleme passieren ließen. Eine halbe Minute später stand ich in Constantins Büro.
Vielleicht sollte man es eher als Audienzsaal bezeichnen, obwohl die normal hohe Decke dem widersprach. Das Büro war groß, schätzungsweise 60 Quadratmeter Der Boden war mit einer dermaßen dichten und weichen Auslegeware bedeckt, dass man befürchten musste, von ihr verschluckt zu werden. Direkt dem Eingang gegenüber, aber am anderen Ende des Zimmers stand Constantins Schreibtisch. Ein wuchtiges, antikes Stück, das einen perfekten Kontrapunkt zur klassisch modernen Einrichtung des restlichen Raumes bildete.
Allerdings war ich weniger von der Möblierung fasziniert, als von dem Mann, der wenige Schritte neben Constantin stand. Seine Gesichtszüge als hart zu bezeichnen, wäre ebenso falsch wie Chilischoten pikant zu nennen. Der Typ sah aus wie gemeißelt, und zwar aus Granit. Obendrein zierte seinen Schädel eine Glatze. Zusammen mit den auch noch sehr tief in ihren Höhlen liegenden Augen sah der Kopf wie ein Totenschädel aus. Nur das eiskalte, sezierende und ständig analysierende Blitzen in seinem Blick ließ erahnen, welch scharfer Verstand hinter der undurchdringlichen Maske tickte. Mir jedenfalls jagte der Mann einen ziemlichen Schrecken ein.
Wenn es um Kontraste und Kontrapunkte ging, dann hatte dieser Arbeits- und Büroraum das übliche Quantum mehr als erfüllt. Was nämlich für das Mobilar galt, ließ sich nahtlos auf die beiden Personen übertragen, die wir im Zimmer vorfanden. Wenn der Totenschädelmann den antiken und rustikalen Möbeln entsprach, dann stand Constantin eindeutig für die Moderne. Krasser konnten sich zwei Personen kaum unterscheiden. Während Constantins Miene freudig aufstrahlte, als wir das Zimmer betraten, zuckte der Glatzkopf nicht mal mit den Wimpern. Dass er tatsächlich lebte, was ich anfangs bezweifelte, konnte man am gelegentlichen Blinzeln der Augenlider erkennen. Aber auch das erfolgte kontrolliert und sehr beherrscht.
„Florian!“, rief mir mein Lebensretter fröhlich zu und zwinkerte scherzhaft, „Wie gefällt dir dein neues Heim? Ich hoffe, Christiano war ein guter Tour-Guide. Als Style-Guide scheint er ja ganze Arbeit geleistet zu haben…“
Ich wusste, dass ich rot wurde. Ich fühlte es an der Hitze, die meine Wangen plötzlich abstrahlten. Während der Hauserkundung hatte ich mein Outfit vollkommen verdrängt, jetzt, von Constantin darauf angesprochen, fiel es mir siedendheiß wieder ein. Christiano hatte sich alle Mühe gegeben, aus mir soetwas wie einen Sexgott zu machen, was hieß, dass meine Kleidung mehr als aufreizend war. Wenn ich nur daran dachte, wie knapp meine Jeans auf meinen Hüften ruhte und dass man den Beginn meiner Schambehaarung zumindest erahnen konnte, wurde mir noch heißer, als mir eh schon war.
„Junge, du siehst absolut geil aus!“, meinte Constantin mehr zu sich selbst, als zu mir. Seine Augen ruhten fest und verträumt auf meinem Körper. „Ähm, ach ja. Darf ich dir meinen Marschall vorstellen? Laurentius Varadin.“
Der Todenschädel besaß nicht nur einen Namen, er war auch der Marschall Constantins. Was dies auch immer bedeuten mochte, es klang auf jeden Fall bedrohlich. Und um erst gar keinen Zweifel an seiner Bedrohlichkeit aufkommen zu lassen, quittierte Marschall Laurentius Varadin mein „Sehr erfreut!“ mit einem undefinierten Grunzen. Man sollte sich hüten, voreilige Schlüsse zu ziehen, aber die allerbesten Freunde würden wir wahrscheinlich nicht werden.
„Also dieses Haus… es ist fantastisch!“, irgendwie fühlte ich mich verpflichtet, etwas zu sagen. Warum also nicht mit ein paar Plattitüden beginnen. Himmel war ich nervös. Nicht wegen dieses Laurentius. Constantin machte mich irre. Hinter seinem Schreibtisch sah er so würdevoll, mächtig und erhaben aus. Doch gleichzeitig wirkte er auch unsicher, verletzlich und nervös. Was die Nervosität anging, ging es ihm wahrscheinlich genauso wie mir.
Wahrscheinlich? Streichen wir das! Es erging ihm genauso! Unsere Blicke trafen sich, hielten einander fest, um dann beiderseits zum gleichen Zeitpunkt verlegen wegzuschauen. Oh, er war so süß. Der Fürst der Vampire, Graf von Calastan, Stammvater des Hauses Varadin war schüchtern – wegen mir! Dieser schelmische Blick, mit dem er mich bedachte. Die Schmetterlinge in meinem Bauch bekamen Ausflugslaune. Plötzlich fühlte ich mich gut in meinen aufreizenden Klamotten. Ich wollte gut aussehen! Ich wollte wie ein Sexgott aussehen! Für ihn und nur für ihn! Er sollte nach mir greifen, mich an meinen Hüften packen und mit seinen langgliedrigen, aristokratischen Fingern unter mein T-Shirt wandern. Ich wusste zwar nicht, ob ich Constantin in diesem Moment liebte, aber eines wusste ich sehr genau. Dass ich ihn begehrte.
Ich musste ziemlich eindeutige Signale ausgesandt haben, denn Fürst Varadin wurde sehr unsicher und lief knallrot an, was sich sofort auf mich übertrug. Der geile Moment war fürs erste vorüber und wir beide hüstelten eine Runde, um die Peinlichkeit des Moments zu überspielen. Es war an der Zeit, etwas Ernstes von mir zu geben.
„Ich glaube, ich muss euch danken. Dir Christiano, denn ich habe erfahren, dass du drei Tage an meinem Bett gewacht hast. Aber ganz besonders dir, Constantin, dass du mich gerettet hast. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich euch danken kann, aber mir ist dabei klar geworden, dass ich nichts habe, was ich euch geben könnte. Mir ist erst jetzt richtig klar geworden, dass ich nichts mehr besitze. Selbst mein Leben gehört euch, Fürst Varadin. Ich hatte die Idee, euch und Christiano mein Blut als Nahrung zu schenken, bis ich begriff, dass selbst dies nicht mehr mein Eigentum ist, über das ich frei verfügen könnte. Ihr habt es selbst gesagt. Ich gehöre Euch. Ich bin ein Leibeigener des Fürsten des Hauses Varadin.“
Es war das erste mal, dass ich eine Reaktion bei Laurentius beobachten konnte. Sie war minimal, kaum zu erkennen, aber umso interessanter. Mir war, als wenn ein anerkennendes Blitzen in seinen Augen zu sehen wäre. Constantins Reaktion war hingegen deutlich, er war von meinen Worten entsetzt und wollte etwas sagen, hätte ich ihm nicht einen flehenden Blick zugesandt, das Ende meiner Worte abzuwarten.
„Ich bereue es nicht, Euer Angebot angenommen zu haben. Ich akzeptiere den Preis. Ich bin der Eure.“, meine feste Miene entspannte sich und wurde fröhlicher, „Allerdings gibt es eine Sache, die mir gehört und über die Ihr nicht verfügt, meine Liebe, doch möchte ich sie dir, Constantin, schenken. Nicht aus Dankbarkeit, sondern aus Verlangen und Leidenschaft. Shit, ich bin in dich verschossen, seit ich dich das erste mal gesehen habe!“
Manchmal geschehen noch Wunder. Der Totenschädel lächelte zufrieden, was sehr, sehr unheimlich aussah. Mehr noch, Laurentius konnte sogar sprechen: „Welch brillianter Verstand…“
Was er damit auch immer sagen wollte. Ich war sowieso mehr an Constantins Worten interessiert.
„Stimmt das? Du liebst mich wirklich? Obwohl ich ein Vampir bin? Obwohl wir vor einem Bürgerkrieg stehen?“
Ich zuckte mit den Schultern: „Ich weiß es nicht, doch ich glaube schon. Ich kenne mich mit Liebesdingen nicht so genau aus. Es hat einfach Klick gemacht und die Sache war klar: Ich will diesen Mann! Und ja, ich will einer von euch werden.“
Mit Constantins strahlendem Lächeln hätte man eine ganze Großstadt erhellen können. Den Mann hielt es nicht mehr hinter seinem Schreibtisch. Er sprang auf, rannte auf mich zu, umarmte mich und begann mich zu küssen. Es war fantastisch. Ich war in einer Zehntelsekunde hart!
„Seht euch diesen Vampir an. Küsst einen Menschen ohne ihn zu beißen. Was für eine Schande!“, lachte Christiano, „Übrigens, Constantin, hast du gehört, was der Junge gesagt hat? Er würde uns etwas von seinem Blut schenken wollen. Und das sogar freiwillig!“
„Hast du das wirklich ernst gemeint?“, hakte Constantin nach.
„Ähm, ich glaube schon.“, ich ließ eine Augenbraue zucken, „Außerdem klang es ziemlich geil, wie Christiano es beschrieb. Ne, mal ernsthaft. Ich möchte euch danken, euch beiden. Und wie könnte man einem Vampir besser danken, als mit seinem Blut? Außerdem… wenn ich selbst zum Vampir werde und die Seiten wechsle… Also, mich würde es schon mal interessieren, wie sich das anfühlt… Ihr wisst schon… Gebissen zu werden.“
Was anschließend passierte, war recht interessant. Constantin schickte Laurentius einen fragenden Blick, den dieser mit einem zustimmenden Nicken beantwortete. Wobei die Kopfbewegung sich nur im Bereich von zwei oder drei Millimetern abspielte. Der Marschall des Hauses Varadin war kein Mann ausladender Körpersprache.
„Du kannst es natürlich nicht wissen, aber einem Vampir sein Blut zu schenken, ist ein besonderes Zeichen von Zuneigung.“, begann Constantin zu erläutern, „Du schenkt Christiano und mir Leben. Du…“
„Och Menno!“, unterbrach Christiano, „Mach’s nicht so theatralisch. Die Rolle des Kostümvampirs steht dir eh nicht. Ich glaube, dass unser neuer Freund zwar nicht genau weiß, was er da anbietet, aber findest du nicht auch, dass es einfach unhöflich wäre, ein derartiges Geschenk abzulehnen?“
Constantin musste lachen, strich mir mit dem Zeigefinger dort über Hals, wo meine Schlagader verlief und meinte dann zu Christiano: „Du bist unverbesserlich. Aber gut. Wenn Florian es unbedingt möchte, bin ich einverstanden. Ihr zwei scheint euch ziemlich gut zu verstehen, oder?“
Die Frage ging wohl an mich. Mir war im Verlauf meiner Plaudereien mit Christiano, die wir während unseres Rundgangs pflegten, schon aufgefallen, dass der Biss eines Vampirs eine mehr oder weniger unterschwellig erotische Komponente besaß. Wie mir mein neuer Freund erläuterte, wählten heterosexuelle Vampire im Allgemeinen Opfer des anderen, während schwule oder lesbische ihr eigenes Geschlecht bevorzugten. So unterschwellig erotisch wie Christiano meinte, empfand ich die Beißerei eigentlich nicht. Die Vorstellung, von zwei spitzen Zähnen während eines Kusses penetriert zu werden, erschien mir eigentlich sogar sehr sexuell zu sein. Und weil eben jene sexuelle Komponente mit einspielte, schien es mir geraten, dazu etwas zu sagen.
„Christiano ist ein Freund, ein Kumpel. Der erste, den ich je hatte.“, ich fixierte Constantin, „Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“
Erwischt! Der Angesprochene wurde rot im Gesicht: „Ein wenig…“
Ich weiß nicht, woher ich plötzlich diesen Mut her nahm. Oder vielleicht spielte Mut auch gar keine Rolle, weil es so spontan passierte, dass ich selbst erst realisierte, was ich tat, als es schon geschehen war. Ich zog den immer noch bei mir stehenden Constantin Varadin zu mir heran und küsste ihn auf die denkbar intensivste Weise. Oh, der Typ schmeckte einfach nur gut. Und küssen konnte er ebenfalls, soweit ich dies beurteilen konnte. Auf sehr viel praktische Erfahrung konnte ich kaum verweisen.
„Ähm!“, räusperte sich der glatzköpfige Totenschädel und meinte, „Wenn ich dann nicht mehr gebraucht werde…“
Mit diesen Worten zog sich Laurentius zurück. Aus den Augenwinkeln schaute ich ihm nach und wurde in meiner Vermutung bestätigt. Selbst wenn er ging, bewegte er nur gerade eben so viele Muskelgruppen, die für eine schnelle und akkurate Fortbewegung nötig waren.
„Florian, oh Flo!“, seufzte mein Lieblingsvampir verzückt, „Ich wollte nicht…“
„Klar wolltest du!“, mischte sich Christiano ein, „Aber Chef, du kennst mich. Glaubst du, ich würde dir Florian wirklich ausspannen? Flo ist ein wirklich süßer Bengel, aber er ist nicht mein Geliebter. Wie er schon sagte, wir sind Kumpel, gute Freunde, mehr aber auch nicht, ok?“
„Ok!“, erwiderte Constantin sehr verlegen, „Junge, du machst mich schwach, und so krank das ist, mir gefällts.“
„Und wie geht es jetzt weiter?“, fragte ich ebenfalls ein klein wenig verlegen. Constantins Miene änderte sich. Er wirkte plötzlich betrübt, seine bisher so gute Laune verschwand und machte einem besorgten Ausdruck Platz.
„Es ist inzwischen nach Sonnenuntergang. Breskoff will mich sehen. Sein Zustand verschlechtert sich rapide. Es ist nicht klar, wie viel Zeit im noch bleibt. Ich hatte gehofft, die nächsten Stunden mit dir verbringen zu können, aber dies ist sehr wichtig und kann nicht aufgeschoben werden. Christiano wird sich um dich kümmern, bis ich zurück bin.“
Täuschte ich mich, oder sah ich Angst in Constantins Augen?
„Bitte sei vorsichtig! Du hast erzählt, dass Breskoff vergiftet wurde. Wenn du wirklich sein Nachfolger bist, schwebst du ebenfalls in Gefahr.“
„Du warst in einem früheren Leben nicht zufälligerweise Politiker?“
Constantin war weg und ich mit Christiano allein. Schweigend saßen wir noch eine Weile im Constantins Arbeitszimmer, bis wir es ebenfalls verließen.
„Mach dir keine Sorgen. Laurentius ist bei ihm.“, versuchte mein neuer Freund mich zu beruhigen.
„Oh, toll. Totenschädel passt auf ihn auf. Jetzt bin ich wirklich beruhigt.“, seit wann war ich sarkastisch?
„Ach, macht dich unser Marschall nervös?“
„Nervös? Untertreib nicht!“, lachte ich trocken auf, „Der Typ jagt mir Angst ein!“
Christianos Grinsen reichte von Ohr zu Ohr: „Ja, der gute Laurentius ist schon ein Fall für sich. Aber täusch dich nicht. Er würde keine Sekunde zögern und sein Leben für dich opfern, sollte es nötig sein. Laurentius ist Schwert und Schild unseres Hauses. Er ist ein Krieger.“
„Ok!“
Wir schwiegen wieder eine Weile. Christiano schien genau zu wissen, wann ich meine Zeit brauchte, um etwas zu verarbeiten. Und er hatte recht. Vermutlich musste Laurentius so furchteinflößend aussehen, wie er aussah oder genaugenommen, wie er auftrat. Ohne Worte machte er einen Standpunkt klar: „Bis hierhin und nicht weiter!“
„Komm, es ist eine wunderschöne Mondnacht, lass uns nach draußen gehen!“
Christiano packte mich am Ärmel und zerrte mich mit sich. Die Treppen, Gänge und Flure des Gebäudes wirkten zwar immer noch verwirrend auf mich, aber mein Begleiter wusste genau, wo wir hin mussten. Was mir allerdings auffiel war, dass die ganzen Büros, in denen bei unserem ersten Besuch noch rege Geschäftigkeit herrschte, nun verwaist waren. Christiano erklärte mir, dass nur sehr wenige Menschen im Haus wohnten. Der Rest pendelte wie Millionen anderer Menschen täglich zwischen Wohnung Arbeit hin und her. Außer mir befand sich nur noch das Haushälterehepaar im Haus, alle anderen waren Vampire, wie etwa Gorden oder Laurentius Wachtruppe, die für die Sicherheit des Anwesens sorgten.
Wir erreichten eine jener Türen, an der eine dieser kleinen Ampelanzeigen angebracht war. Diesmal leuchtete sie grün. Christiano öffnete die Tür und wir betraten einen kleinen Raum mit ein weiteren Tür. Diese leuchtete rot, wechselte aber auf grün, nachdem Christiano die erste Tür wieder geschlossen hatte. Wir befanden uns wohl in einer der vorher schon erwähnten Schleusen, die verhinderten, dass tödliches Sonnenlicht ins Innere des Hauses gelang.
Derzeit bestand keine Gefahr. Christiano öffnete die zweite Tür und wir traten hinaus ins Freie. Ich schaute mich um. Mein Freund hatte mich auf eine Dachterrasse geführt, von der aus sich das gesamte Anwesen der Varadins überblicken ließ. Bisher hatte ich vermutet, mich in jenem Haus zu befinden, in dem ich den Wasserschaden beseitigt hatte, doch dem war nicht so. Wir befanden uns auf dem Land, weit ab der großen Städte. Die Luft war frisch und klar und außer einem zunehmenden Mond und den Sternen störte kein Lichtschein die Stimmung.
„Ah, was für eine wunderbare Nacht.“, Christiano atmete tief ein, um viel von der frischen Luft in seine Lungen zu bekommen, dann breitete er seine Arme aus und begann, über der Terrasse zu schweben. Letzteres musste so ein typisches Vampirding sein.
„Ist es!“, meinte mein Kumpel, der wieder meine Gedanken gelesen hatte, „Du wirst ebenfalls fliegen. Sobald du einer von uns bist, wird es für dich die natürlichste Sache der Welt sein. Komm“, Christiano schwebte auf mich zu, „Lass mich dir ein wenig unsere Welt zeigen.“
Imbiss
Ich flog! Es wollte es kaum glauben, aber ich flog. Diese Vampirgeschichte war schon beeindruckend. Nur dadurch, dass Christiano mich am Handgelenk festhielt, konnte ich fliegen! Genau genommen konnte ich nur mit ihm fliegen, aber das war mir egal. Ich flog durch die Lüfte, nur das zählte.
Wir jagten im Tiefflug über die dunkle Landschaft. Der Wind spielte mit meinen Haaren. Der Duft der nachtfeuchten Luft drang in meine Lungen. Die silbrige Sichel des Mondes beschien die Landschaft, spiegelte sich in einem See, den wir überflogen. Nie hatte ich vermutet, dass die Nacht zu schön sein konnte.
Christiano stieg höher, auf dass wir ein größeres Gebiet überschauen konnten.
„Dort hinten, der helle Schimmer am Horizont, dort liegt die Stadt.“, erklärte Christiano, „Die ganz schwach glimmenden Lämpchen hier vorne stammen von unserem Anwesen. Und schau mal da hinten hin. Siehst du das Glitzern des Sees? Oh, ich liebe die Nacht.“
So flogen wir noch eine ganze Weile umher. Ich war beeindruckt, und obwohl ich nur fliegen konnte, weil mich Christiano hielt, fühlte ich mich sicher. Aber so überwältigend der Ausflug auch sein mochte, die Luft war mir einfach zu kalt, was hieß, dass ich zu frieren begann. Christiano schien die kalte Luft hingegen überhaupt nicht zu stören.
„Himmel, du frierst ja!“, rief mein Flugkapitän plötzlich, „Mensch, Flo, sag doch was! Komm, wir fliegen zurück.“
Fünf Minuten später landeten wir wieder auf Dach des Anwesens, wo mir Christiano gleich die Arme rubbelte.
„Oh Mann, du bist ja völlig durchgefroren.“, meinte mein neuer Freund, während er mich wieder ins Innere des Gebäudes führte, „Komm, ich bring dich ins Kaminzimmer.“
Der Kamin war zwar nicht an, dafür lagen ein paar dicke Decken bereit, in die ich prompt eingehüllt würde und die mich ziemlich schnell wieder auf Temperatur brachten.
„Du machst Sachen. Warum hast du denn nichts gesagt?“, fragte Christiano besorgt. Er hatte sich mir gegenüber in einem schweren Clubsessel aus antikem, rotem Leder niedergelassen.
„Ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe es selbst erst bemerkt, als du mich darauf angesprochen hast.“, ich musterte Christiano. Eigentlich war es das erste mal, dass ich die Zeit hatte, ihn eingehend zu studieren. Seine schwarzen Haare waren lang, flossen in gleichmäßigen Wellen bis zu seinen Schultern herab und rahmten ein klassisch südländisches Gesicht ein, bei dem ich mir immer noch nicht sicher war, ob es spanisch oder portugiesisch war.
„Ich bin Portugiese.“, lachte mich Christiano an und gab seinem Kopf einen Ruck, mit dem seine Haare wild nach hinten wirbelten, „Und, gefalle ich dir?“
„Gefallen?“, Tiefstapelei kann auch eine Form der Eitelkeit sein. Aber Christiano hatte recht, er gefiel mir sehr. Er war einfach rattenscharf. Am liebsten wäre ich gleich über ihn hergefallen. Dabei war ich eigentlich der total schüchterne Typ, „Du weißt ganz genau, wie geil du aussiehst, oder soll ich wirklich alles aufzählen? Etwa, wie perfekt deine geraden, schwarzen Brauen deine Augen zum Strahlen bringen, wie deine Wangenknochen… Junge, du bist Sex pur! Du weißt ganz genau, dass ich allein von deinem Anblick ’nen Steifen bekomme.“
„Ok, ok, ok“, stoppte mich Christiano, „Es ist gut! Du hast mich erwischt… Ich… Warte…“
Von einer Sekunde zur anderen veränderte sich Christiano. Er war zwar immer noch der gleiche Typ, aber der Sex war weg. Der Mann, der mir gegenüber saß, war immer noch gut aussehend und sogar sehr attraktiv, aber das Verlangen war verschwunden.
„Das war der Vampirlockruf. Ziemlich effektiv, oder?“, meinte der Vampir und grinste verschmitzt.
„Ziemlich…“, bestätigte ich trocken, „Genau wie eine Venusfliegenfalle.“
Christiano klappte entsetzt der Unterkiefer herunter. Mit einem derartigen Kommentar hatte er nicht gerechnet.
„Ich bin ein Vampir. Ich werde mich dafür nicht entschuldigen oder mir ein schlechtes Gewissen einreden lassen.“
War da jemand beleidigt? Eigentlich wollte ich Christiano nur etwas aufziehen, aber das ging wohl in die Hose. Mein Freund reagierte sehr dünnhäutig, offenbar berührte das Thema einen wunden Punkt.
„Christiano, entschuldige bitte. Ich wollte dich nur aufziehen. Hey, bitte sei nicht böse auf mich, ja?“
Christiano zeigte mir ein gequältes Lächeln: „Ich weiß, dass du es nicht böse gemeint hast. Es ist nur so… Du hast keine Ahnung, was wir uns alles als Beschimpfungen anhören lassen müssen: Schmarotzer, Zecke, Parasit, fliegender Tod, Mörder… Soll ich weiter machen? Ich habe niemals jemanden getötet, um mich zu ernähren! Ich bin auch kein Schmarotzer, denn ich gebe etwas zurück. Wusstest du, dass ein Vampirbiss Infektionskrankheiten bekämpft und die Blutbildung verbessert? Es gibt sogar Studien, die zeigen, dass ein Biss von uns vor Schlaganfällen und Herzinfakten schützt. Aber nein, wir sind Monster, Ungeheuer, die man ausmerzen muss. Mich kotzt das an. Ich will doch nur das, was jeder will: Leben!“
Man sollte Klischees eben grundsätzlich misstrauen. Horrorfilmvampire waren fiktive Figuren und hatten wenig mit Christiano, Constantin, Gorden oder sogar Laurentius gemein. War Christianos Wunsch vermessen? Im Prinzip nicht, wenn dabei nicht die Sache mit der Blutsaugerei wäre. Einfach Menschen zu beißen, egal ob dies für ihre Gesundheit zuträglich war oder nicht, war zumindest fragwürdig.
„Was ist mit Blutkonserven?“
„Was ist mit Dosenfleisch?“, stellte Christiano die Gegenfrage, „Konserviertes Blut hat etwas von Milch aus Milchpulver. Unter bestimmten Bedingungen sind wir sogar auf frisches Blut angewiesen, etwa um Verletzungen heilen zu können.“
„Hast du Hunger?“, grinste ich Christiano frech an, „Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich dich zum Essen eingeladen.“
Und wieder klappte der Unterkiefer runter: „Du meinst das wirklich ernst?“
„Klar! Soll ich dir was verraten? Ich bin neugierig, wie das ist. Ich meine, wer kann schon von sich behaupten, von einem Vampir gebissen worden zu sein? Außerdem bist du mein Freund.“
„Du bist echt speziell, weißt du das?“, mein Kumpel und Freund schüttelte den Kopf, „Eigentlich hatte ich heute Morgen schon eine Konserve, aber so ein kleiner Snack frisch von der Quelle klingt schon sehr verlockend.“
Da war es wieder, dieses Verlangen nach körperlicher Nähe zu Christiano. Ich wusste, dass er mich beeinflusste und trotzdem konnte ich mich seinem Lockruf nicht entziehen. Ob Homer wohl an diese Art geistigen Zwang dachte, als er von Odysseus Sirenen schrieb?
„Du tust es schon wieder…“, brachte ich noch halbwegs rational heraus.
„Das gehört dazu. Es ist ein Reflex, auf den ich selbst keinen Einfluss habe. Komm her…“
Was für eine gewaltige Kraft doch in seiner Stimme steckte. Dabei sprach Christiano völlig ruhig und eher leise. Trotzdem reagierte mein Körper. Ich erhob mich, die Decke über meinen Schultern rutschte herab, während ich die ein oder zwei Meter zu Christiano überbrückte. Dieser empfing mich mit offenen Armen. Einen Moment gelang es mir, mich dem Zwang Christianos zu ergeben, zu widerstehen.
„Du hast einen sehr starken Willen.“, konstatierte mein vampirischer Freund, „Allerdings…“
„Ich weiß. Einem Vampir zu widerstehen…“
„Oh, täusch dich nicht. Ich glaube, du könntest mir widerstehen. Aber du willst es nicht.“
Dieser Mann hatte ja so recht. Ich wollte es tatsächlich nicht. Darum ging es mir schließlich, zu erfahren, wie sich ein Opfer eines Vampirs fühlt. Wobei ich das Wort Opfer inzwischen hinterfragte. Die ganze Angelegenheit war extrem erregend. Christiano zog wirklich alle Register der Verführungskunst. Seine Finger wanderten unter mein knappes T-Shirt oder strichen über meine Wangen, um schließlich an meinem Hals zu enden.
„Angst?“
„Ja, ein wenig.“, gestand ich ehrlich. Ich hatte Angst, doch viel mehr hatte ich eine fast schon schmerzhafte Erektion. Christianos körperliche Nähe war atemberaubend. Als er dann auch noch begann, mich zu küssen, verlor ich jegliche Zurückhaltung und ließ mich fallen. Christiano war zärtlich. Noch nie war ein Mann, insbesondere ein attraktiver Mann wie er, zärtlich zu mir gewesen.
„Du brauchst keine Angst zu haben.“, flüsterte Christiano und berührte mich dabei auf eine unheimlich sinnliche Weise, dass ich befürchtete, ohnmächtig zu werden, „Du hast wirklich einen schönen Hals. Der lädt geradzu zum Anbeißen ein.“
Diesen Scherz macht er sicherlich nicht mit jedem Blutspender. Die bekamen vermutlich auch nicht zu sehen, wie Christianos Augen sich gelb verfärbten und seine Eckzähne zu langen, spitzen Saugzähnen mutierten.
Christiano lächelte mich freundlich an. Sein Blick zeigte Freundschaft und nicht etwa das triumphierende Strahlen eines Raubtiers unmittelbar vor dem erlegen seiner Beute. Ganz im Gegenteil meinte ich sogar soetwas wie Dankbarkeit herauslesen zu können.
Und dann nahm er mich. Ich verspürte einen kurzen, heißen Stich in meinem Hals, und die Saugzähne waren in meiner Halsschlagader. Himmel, das Gefühl war Sex pur. Diese Vampire wussten, wie sie einen dazu brachten, freiwillig zum Blutspender zu werden. Ich konnte genau fühlen, wie Christiano mein Blut absaugte, und fand es geil. Sein Körper verströmte eine derartige Energie und Lebenskraft, dass es mir fast die Sinne raubte. Statt Schwäche zu empfinden, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre, steckte mich die Ausstrahlung des Vampirs an. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er endlos weitersaugen dürfen. Aber genau das tat Christiano nicht. Nach bestenfalls zehn Sekunden ließ er von mir ab, was mit einer ultimativen Welle von Geilheit verbunden war, sodass mir prompt einer abging. Was für ein Orgasmus.
Und was für ein Schwächeanfall danach…
Mir wurde kurzzeitig schwarz vor Augen und ich wäre zu Boden gesackt, hätte mich mein vampirischer Kumpel nicht sofort aufgefangen.
„Ganz ruhig. Das geht gleich vorbei, sobald sich dein Kreislauf wieder fängt.“, Christiano bettete mich auf ein Sofa und deckte mich mit der Decke zu, mit der ich mich vorher schon aufgewärmt hatte. „Hier, trink erstmal ein Glas Organgensaft. Das wird dir gut tun.“
Er hatte recht. Nach dem Glas Saft ging es mir gleich deutlich besser, ich kam mir sogar kräftiger vor und hätte Bäume ausreißen können, wenn ich auch ein klein wenig müde war. Ich wäre sogar eingedöst, hätte Christiano nicht angefangen, mir sehr sanft und zärtlich durchs Haar zu streichen.
„Danke, Flo!“
Die immer leicht ironisch, spöttische Art war verschwunden. Stattdessen zeigte er sich offen und unverstellt. Christiano gewährte mir einen unverfälschten Blick in seine Seele. Und was ich da vorfand, war tatsächlich tief empfundene Freundschaft für mich. Christiano mochte mich. Einfach so. Ohne Vorbehalte oder Einschränkungen. Was für ein Kontrast zu meinen früheren Arbeitskollegen. Die mochten mich auch, als Prügelknaben oder Stück Fleisch, über das man einfach mal rübersteigen konnte.
Unwillkürlich musste ich an Kurt denken. Kurt war ein Mitschüler auf der Berufsschule und behauptete immer, mein Freund zu sein, sogar mein bester Freund. Komisch nur, dass er dies immer dann sagte, wenn ich ihn mit Lösungen für unsere Aufgaben versorgte. Was erwartet man von einem Freund, oder besser erhofft man sich von ihm? Ein wenig Anerkennung? Vielleicht auch, dass der vermeintliche Freund die Freundschaft bei Gelegenheit erwidert? Vielleicht…
Bei Kurt herrschte Fehlanzeige. Ganz im Gegenteil zeigte er mir dann irgendwann, was er unter einem besten Freund verstand. Nämlich einen Deppen, der nicht merkte, dass man ihn nach Strich und Faden ausnutzte. Ich merkte natürlich nichts. Ich klammerte mich an die Illusion von Freundschaft, die mir Kurt vorspielte – Bis zum Absturz.
Es war das Ende des Ausbildungsjahrs. Durch Zufall erfuhr ich, dass Kurti eine Party schmeißen wollte, und ging natürlich fest davon aus, eingeladen zu sein. Schließlich war ich sein bester Freund.
„Was willst du denn hier?“
Diese fünf Worte wurden mir mit einer derartigen Abscheu entgegengeschleudert, dass sie sich tief in mein Hirn einätzten. In jenem Moment konnte ich ebenfalls bis auf den Grund von Kurts Seele blicken. Was ich dort fand, war Verachtung und Häme. Kurt lachte mich aus, machte sich über meine Naivität lustig. Der Schmerz war… unschön.
Bei Christiano war alles anders. Es gab weder Häme, noch Verachtung, geschweige denn Abscheu. Stattdessen sah ich Zuneigung, ein Gefühl tiefer Freundschaft, Dankbarkeit und Freunde darüber, mich als Freund gewonnen zu haben. Was für ein Kontrast.
„Ich danke dir!“, erwiderte ich, „Ohne Constantin und dich, wäre ich nicht mehr am Leben. Und wenn dir meine Blutspende gefallen hat, freut mich das.“
„Du musst mir nichts zurückzahlen. Das weißt du, oder?“
„Müssen tat ich vielleicht nicht, aber ich wollte es.“
„Deswegen: Danke, Flo! Du bist ein guter Mensch und außerdem“, Christianos freches Grinsen kehrte zurück, „schmeckt dein Blut ausgesprochen delikat. Es ist eine ganze Weile her, so gute Qualität getrunken zu haben. Du trinkst nicht, du rauchst nicht und nimmst auch sonst keine Drogen. Entschuldige, wenn ich das Thema anschneide, aber abgesehen von den Folgen deiner… ähm, deines Überfalls, bist du ein gesunder und kräftiger junger Mann, was man in jedem Tropfen schmecken konnte. Danke Flo, für dieses ebenso köstliche wie kostbare Geschenk.“
„Überfall ist gut… Nennen wir es doch beim Namen: ich wurde vergewaltigt.“, befand ich mich in der Phase der Verleugnung, dass ich so abgeklärt darüber reden konnte? „Aber was meinst du mit Folgen?“
„Oh, das hätte ich wohl nicht erwähnen sollen.“, Christiano wich einen Moment meinem Blick aus, „Einer deiner Peiniger ist krank, schwer krank. Er hatte dich mit Hepatitis C infiziert. Aber das haben wir geheilt. Physisch bist du kerngesund.“
Womit Christiano wohl meinte, dass ich es psychisch wohl noch nicht war. Er irrte sich. Ich war gesund oder zumindest auf dem besten Weg dahin – Dank seiner Freundschaft.
Hinterhalt
Wenn ich an meinen ersten Tag im Haus zurück denke, wird mir jetzt noch schwindelig. Konzentriert auf wenige Stunden erfuhr ich, dass Vampire wirklich existierten, ich von ihnen gerettet wurde, sich einer ihrer Fürsten in mich verliebt hatte, ich quasi ihm gehörte, ein Vampir die erste Person in meinem Leben war, die ich als einen Freund bezeichnen konnte, man kurz vor einem Bürgerkrieg stand und der Vampirfürst auch gleichzeitig Thronfolger war. Es war wirklich sehr viel passiert. Zum Schluss erlaubte ich einem Blutsauger sogar, mich anzubeißen. Ich war fix und alle. Der Tag war richtig lang und so schlief ich an meinen neuen Freund Christiano gelehnt ein.
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, doch als ich wieder erwachte, lag ich in meinem Bett. Mir wurde warm ums Herz. Mein Vater hatte mich nie ins Bett getragen, wenn ich auf dem Wohnzimmersofa eingepennt war. Ich reckte mich und sah mich um. Alles wirkte normal. Bis auf eine gedimmte Lampe war das Zimmer dunkel. Warum war ich aufgewacht? Eigentlich fühlte ich mich hundemüde.
Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis der schrille Alarmton, der durch das Anwesen hallte, bis zu meinem Bewusstsein vordrang. Wie konnte ich sowas überhören? Der Ton war infernalisch laut. Aus dem beschränkten Fundus meiner Lebenserfahrung kam mir ein Leitsatz in den Sinn. Die Lautstärke von Alarmtönen steht, oder sollte es zumindest, im direkten Verhältnis zur Schwere des Alarms. Wenn das zutraf, musste etwas sehr, sehr schlimmes vorgefallen sein. Ich war versucht, mir die Ohren zuzuhalten. Stattdessen sprang ich aus dem Bett und stürmte aus meinem Zimmer, um nach dem Grund des Alarms zu fahnden.
Ich brauchte nicht lange zu suchen, um die Ursache des Lärms zu entdecken. In der Haupthalle des Hauses wurde ich fündig. Laurentius stand blutüberströmt neben einem Körper, der auf dem kalten Marmorboden lag, ebenfalls blutig und offenbar verletzt. Gleiches galt für Laurentius. Seine Kleidung war zerrissen, sein Körper, soweit sichtbar, von Schnittwunden übersät. Teilen seines Gesichtes fehlte die Haut, was ihn aber nicht zu stören schien.
„Ich habe versagt…“ Diese drei fast geflüsterten Worte sagten alles. Ich wusste, wer vor ihm auf dem Boden lag, neben dem Christiano kniete. Ich stürmte los.
„Constantin!“
„Nein!“, rief Christiano und sprang auf, um mir den Anblick zu ersparen, doch es war zu spät. Ich sah Constantin, oder besser das, was von ihm übrig war. Ich glaube, dieses Bild wird mir auf ewig ins Gehirn eingebrannt bleiben. Constantins rechter Fuß war weg, abgerissen, ebenso sein linker Arm auf Schulterhöhe. Im Rumpf klafften diverse Löcher, durch die man ins Körperinnere sehen konnte. Kein Mensch konnte derartige Verletzungen überleben, aber Constantin war kein Mensch. Sein Brustkorb hob und senkte sich, wobei aber jedes mal Blut aus diversen Wunden quoll.
„Was ist passiert?“
„Ein Attentat.“, erklärte Christiano und ich merkte, dass er darum kämpfte, die Fassung zu wahren, „Eine Autobombe. Eine verdammt große Autobombe. Unsere Limousinen sind gepanzert. Aber dies…“
„Aber Constantin lebt!“, rief ich, „Wir müssen etwas tun!“
„Es ist zu spät!“, erklärte Laurentius emotionslos und kühl, „Seine Wunden heilen nicht. Er verblutet. Das Einzige, was ihn retten könnte…“
„Was?“, schrie ich verzweifelt. Wenn es ein Heilmittel gab, warum gab man es ihm dann nicht.
„Er braucht Blut.“, erklärte Christiano, „Frisches, lebendiges Blut. Keine Konserven. Nur frisches menschliches Blut könnte ihn jetzt noch retten. Das Blut eines jungen Menschen.“
„Ja und warum gebt ihr ihm keines?“, ich verstand das Problem nicht.
„Weil wir keines haben. Keiner unserer Spender könnte rechtzeitig hier sein. Das Haushälterehepaar ist zu alt.“
„Und was ist mit mir? Ich könnte…“
„Nein!“, schnitt mir Laurentius barsch das Wort ab. Christiano lieferte die Erklärung: „Sieh dir seine Verwundungen an. Er bräuchte viel Blut, sehr, sehr viel Blut. Es könnte sein, dass… dass du es nicht überlebst. Das Risiko ist zu hoch.“
War es Mut? Wollte ich etwas beweisen? Hatte ich mich in Constantin verliebt? Oder hatte mich einfach nur der Wahnsinn gepackt? Wie auch immer, ich wollte Constantin retten. Natürlich wollte ich nicht sterben, aber war ich das nicht schon? Außerdem hatte Christiano nicht gesagt, dass ich auf jeden Fall sterben würde. Es bestand nur ein gewisses Risiko, dass es passieren könnte.
„Wie hoch stehen meine Chancen, das zu überleben?“
„Fünfzig fünfzig, und das ist auch nur ins Blaue geschätzt. Die ehrliche Antwort lautet, dass ich keine Ahnung habe.“
„Ihr habt doch Blutkonserven?“ Mir war eine aberwitzige Idee gekommen.
„Ja, aber die nützen Constantin nichts. Das Blut ist nicht frisch genug.“
„Ihm nicht, aber sind sie frisch genug, meinen Blutverlust zu kompensieren?“
Christiano runzelte die Stirn und kratzte sich am Kinn.
„Theoretisch ja. Sie haben Blutbankqualität. Es sind richtige Vollblutkonserven. Was schwebt dir vor.“
„Constantin soll von mir trinken. Wenn er damit fertig ist, füllt ihr das was mir fehlt wieder nach.“
„Du bist wahnsinnig! Dein Körper ist doch kein…“, mein Freund rang verzweifelt nach Worten, wurde aber nicht fündig, „Shit, ich weiß nicht, was dein Körper ist. Trotzdem, was du vorhast, ist extrem gefährlich. Du könntest eine Embolie erleiden. Wir können dir das Blut auch nicht einfach mit wieder mit Druck in den Körper pumpen. Es wird zu einer zeitweisen Unterversorgung mit Sauerstoff kommen, die dein Hirn schädigen könnte. „
„Ja, ja, ja. Das weiß ich alles.“, unterbrach ich Christiano, „Aber kann es funktionieren?“
„Ja, es könnte tatsächlich funktionieren…“, Christiano schaute hilfesuchend zu Laurentius. Der sagte natürlich nichts, sondern nickte nur minimal mit seinem Kopf, worauf sich mein Freund wieder mir zuwandte: „Ich muss dich warnen. Wenn Constantin dich beißt, wird das keine so geile Erfahrung sein, wie vorhin bei mir. Er wird es dir mit Gewalt raussaugen. Sein Körper kämpft ums Überleben, weswegen er keine Kontrolle über sich hat. Er wird sich instinktiv nehmen, was er braucht. Mann, was für ein Glück, dass ich mir nur ein Schlückchen genehmigt habe. Hast du verstanden, was ich dir sagen will?“
„Ja, ich habe verstanden.“, mir war verdammt mulmig, „Lass uns anfangen.“
„Nein!“, stoppte Laurentius uns, der mich mit einem abmessenden Blick bedachte, „Wir haben noch etwas Zeit und müssen die Konserven für dich vorbereiten. Welche Blutgruppe hast du?“
„Er ist ein Universalspender 0 negativ. Ich habe ihn vor drei Stunden gebissen. Keine Angst, es waren höchsten 100ml, eher weniger, wahrscheinlich 75ml.“
„Ich hole die Konserven.“
Laurentius verschwand und ich war erstaunt, dass der Mann mehr als zwei zusammenhängende Worte herausbringen konnte. Wer weiß, vielleicht war der Typ gar nicht mal so unsympathisch, wie er immer tat. Die Art, wie er sich um meine Gesundheit sorgen machte, schien zumindest ein wenig darauf hin zu deuten, dass er mich nicht als reine Futterquelle betrachtete.
„Ohmmm… Florian…“
Vor Schreck wäre ich fast bis an die Decke gesprungen, denn wer da aufstöhnte, war niemand anderes als Constantin.
„Ich bin hier! Keine Angst, alles wird gut. Ich spende dir Blut. Hörst du?“, brabbelte ich los, „Komm ja nicht auf die Idee, den Löffel abzugeben. Du willst mich schließlich noch zu einem Vampir machen, oder hast du das vergessen? Bitte Constantin, verlass mich nicht… Ich…“
Ich sprach es nicht aus. Aber wir alle wussten, was ich meinte, was Christiano dadurch dokumentierte, dass er mir seine Hand auf die Schulter legte.
Constantin wollte noch etwas entgegnen, doch außer einem blutvergurgelten „Nein!“, bekam er nicht mehr raus, bevor sich sein Körper zu verändern begann. Seine Augen wurden gelb. Die Saugzähne fuhren aus. Constantins ganzes Gesicht veränderte sich und ähnelte immer mehr einem der Monstervampire, wie ich sie aus Filmen kannte. Sein Anblick jagte mir Angst ein.
„Die Zeit wird knapp.“, flüsterte Christiano, „Sein Körper verwandelt ihn in einen Jäger. Verdammt, wo bleibt Laurentius?“
Wer war ich?
Ein Tischlergeselle? Florian das ewige Opfer? Der Typ, der sich nie wehrte, der alles mit sich machen ließ und dem kein besserer Ausweg einfiel, als sich von einer Brücke zu stürzen?
Hätte Constantin nicht über mich gewacht, läge jetzt mein zerschmetterter Körper am Grund eines Tals. Niemand würde sich an mich erinnern. Und wenn doch, dann nur an eine jämmerliche Schwuchtel ohne Rückgrat.
Doch dann kam Constantin und zeigte mir eine neue Perspektive, einen neuen Aspekt meines Lebens. Bisher hielt sich das Interesse an meiner Person in engen Grenzen, und wenn sich doch jemand für mich interessierte, konnte man fest davon ausgehen, dass dies nicht zu meinem Vorteil geschah. Es musste erst ein Vampir kommen, um meine Welt auf den Kopf zu stellen.
Vampire? Absurder konnte sich mein Leben wohl kaum entwickeln, wenn ausgerechnet der vermeintliche Inbegriff des Bösen, das Sinnbild menschlicher Urängste, zu meinem Retter wurde. Kein Kollege, Mitschüler oder Verwandter zeigte so viel unvoreingenommenes Interesse an meiner Person, wie diese vermeintlichen Monster.
Vampire? Irgendwie rechnete ich damit, jeden Moment in einer Zwangsjacke gefesselt aufzuwachen und mich in der Gummizelle einer Klapsmühle wiederzufinden. Nette und sehr nachsichtige Ärzte in schneeweißen Kitteln würden mir dann erklären, dass ich gerade eine psychotische Phase durchmachen würde, in deren Verlauf ich nicht in der Lage war, Fiktion von Wirklichkeit zu unterscheiden. Vampire? Jedes Kind weiß, dass es keine Vampire gab. Allein die Tatsache, dass ich sie sah, mich mit ihnen unterhielt und ihre Existenz akzeptierte, war der beste Beweis dafür, dass es sie nicht gab und nur eine Einbildung waren. Wer weiß, vielleicht stürzte ich immer noch von der Brücke. Vielleicht hatte mein Hirn einfach zu gemacht, und alles was ich in den letzten Stunden glaubte erlebt zu haben, spielte sich ausschließlich in meinem Kopf ab. Ich stürzte noch. In der realen Welt war ich noch im Fallen.
Constantin ein Vampir? Wohl kaum. Seine tödliche Verletzung? Nichts weiter als eine Metapher, mit der der Rest meines Verstandes versuchte, mir das Unvermeidliche verständlich zu machen. Ihn zu retten hieß, mich zu opfern…
Was war real? Was sollte ich tun? Denn selbst wenn ich in einer Fiktion lebte, so war ich das erste mal in meinem Leben glücklich. Constantin hatte mir Hoffnung gegeben, mehr noch, Liebe. Ohne ihn…
Ich wartete Laurentius Rückkehr nicht mehr ab. Noch bevor Christiano mich hindern konnte, hatte ich Constantin mein Handgelenk vor den Mund gehalten. Der Stammvater des Hauses Varadin biss zu – Instinktiv und voller Verzweiflung biss er zu. Christiano hatte recht. Dieser Biss war alles andere als geil, er war schmerzhaft, brutal, sogar gewalttätig. Mit unvorstellbarer Gier sog Constantin an meiner Schlagader, saugte das Leben aus meinem Körper. Ich spürte, wie ich schwächer wurde und sich mein Blick trübte.
„Bleib hier!“, hörte ich Christiano aus weiter Ferne rufen, „Nicht bewusstlos werden… Bleib bei uns…“
Ich driftete fort. Dunkelheit umschloss mich, nahm mich in sich auf. War dies das Ende?