Das Boycamp II – Teil 3

Nico stieg auf den Stuhl und steckte vorsichtig seinen Zeigefinger in die Spalte. Als hätte er in glühende Kohlen gefasst zog er ihn sofort wieder heraus. Er blies die Luft aus. Beide Jungen waren technisch versiert genug, um sofort zu wissen was da Sache war. »Ich glaub´s nicht. Das ist…. ´ne Linse…. Wozu….? Und wie bist du drauf gekommen? Ich mein, man sieht nichts, die ist ja tief genug da drin.«

»Ich weiß es nicht warum mir das aufgefallen ist. Vielleicht das Gefühl, beobachtet zu werden, keine Ahnung. Ist ja auch egal. Und wozu das sein soll, fragst du? Wozu verdammt, braucht man denn in einem Waschraum, in dem sich zweimal am Tag Jungs fast oder ganz nackt zeigen, eine Webcam?«

»Du willst doch damit nicht sagen…. Oh Scheiße.«

»Doch, will ich. Das ist eine Sauerei und ich werde auf der Stelle Stein herholen.«

Nico war zu sprachlos um ihn daran zu hindern. Vielleicht gab es eine ganz andere Erklärung dafür, obwohl ihm keine einfiel. Erkan hatte Recht, Stein musste das sehen, und zwar sofort. Ihm wurde plötzlich glühend heiß. Wer konnte sich jetzt an der heißen Nummer jener Nacht zwischen ihm und Erkan aufgeilen? Er betete, dass die Kamera zu der Zeit nicht lief und Schweiß rann ihm an den Schläfen herunter. Ihr Spielchen war kein Verbrechen und nicht strafbar, aber schon kamen ihm Dinge wie Erpressung in den Sinn. Wut stieg in ihm auf und er würde schonungslos zu allem stehen – wenn Stein das hier aufdecken würde.
Und noch eines stand für ihn fest: Wer immer das auch war, auf keinen Fall einer aus der Gruppe.

Wenige Minuten später stand Stein auf dem Stuhl, fummelte und fingerte in der Ecke herum. »Tja, das hier ist der Hammer, ohne Zweifel.« Ohne lange zu fackeln langte er mit zwei Fingern in den Spalt und zerrte an dem Paneel. Ein kräftiger Ruck, dann folgte ein knacken, Staub rieselte herab und die Paneele hing halb von der Decke. Die Linse der Webcam schien sie anzugrinsen, fast wie zum Hohn.

Sprachlos starrten die drei auf den Spion.

»Okay Jungs, die Vorstellung ist beendet, überlasst alles andere mir. Und redet darüber bitte nicht, mit niemandem, ich möchte das in Ruhe klären. Wenn das an die große Glocke kommt…. nicht auszudenken.«

Erkan rieb sich am Kinn. »Es muss aber an die große Glocke. Ich werde jedenfalls nicht dulden das dass unter den Teppich gekehrt wird.«

»Nein, du kannst beruhigt sein. Ich krieg raus wer das war und dann kann sich derjenige sehr warm anziehen.«

»Haben Sie einen Verdacht?«, fragte Nico, dessen Aufregung sich nicht legen wollte.

»Nein, nicht den geringsten. Möglicherweise hängt das Ding da schon lange und zwischenzeitlich gab es ja viele andere hier. Ich unterstelle nichts, aber keine Sorge, das krieg ich hin. Jetzt geht bitte zum Frühstück. Die Gymnastik fällt heute aus.«

Selbst der Geruch nach frischen, warmen Brötchen und Kaffee regte den Appetit der beiden wenig später am Tisch nicht an.

»Was ist, Jungs, schlecht geschlafen?«, fragte Alexander dann auch, als er das lustlose Verhalten bemerkte.

»Nein, eigentlich nicht«, versuchte Erkan eine Erklärung und achtete darauf, sich seine miese Laune nicht anmerken zu lassen.

Alexander zog die Schultern hoch und verschwand in der Küche.

Immer wieder blickte Nico zum Tisch mit den beiden Betreuern. War einer von denen am Ende….? Unmöglich. Stein sowieso nicht. Und Charles Rademann? Sie wussten nicht viel von ihm, aber ihm das zuzutrauen…. Es half nichts, man musste abwarten wie Stein an die Sache heranging.

Der kam dann zu ihnen an den Tisch. »So Jungs. Nico und Stefan, ihr könnt mal schon rüber zu euren Zelten und euch die Uniform anziehen. Ihr anderen drei kommt bitte kurz mit mir.«

Die Sache mit der Unterwäsche…. War es ein Schachzug von Stein, ausgerechnet sie beide loszuschicken? Klar, es war logisch. Stefan musste bei der Befragung nicht dabei sein und er auch nicht. Trotzdem suchte er sofort nach einer Lösung, wie er ihm aus dem Weg gehen konnte. Er hatte an dem Morgen nicht die geringste Lust zu reden, nicht nach dem Vorfall und der kreiste sowieso ständig in seinem Kopf und ließ für etwas anderes kaum Spielraum. Wer zum Teufel war dieser unbekannte Spanner? Dummerweise drohte Nico eine Erektion, denn er stellte sich gerade vor wie derjenige vor dem Monitor saß, ihn und Erkan bei ihren Sexspielchen beobachtete und sich dabei einen runterholte. Das war das Stichwort.
Ohne Kommentar stand er auf und lief Richtung Toiletten, während die anderen Stein ins Büro folgten. Stefan blieb sitzen, wie Nico aus dem Augenwinkel feststellte. Hoffentlich würde er alleine loslaufen.

Nico schloss sich in die Klokabine ein und setzte sich auf die Klobrille. Er war rattig, trotz allem was da vorgefallen war, allerdings waren seine Gedanken im Augenblick völlig durcheinander. Vielleicht ergab sich ja was mit Erkan kommende Nacht. Zwar fragte er sich ob es richtig war den Jungen regelrecht auszunutzen, aber warum sollte er deswegen ein schlechtes Gewissen haben?

Während er auf eine Reaktion seiner Gelüste wartete, ließ er fast schon automatisch seine Blicke schweifen. Wer wusste schon wo dieser Spanner noch überall seine Augen hatte? Sein leiser Fluch zwischen die Beine galt schließlich seinem Schwanz, der trotz zärtlichen Fingerspiels nicht aus der Ruhe zu bringen war. »Dann halt eben nicht«, grummelte Nico, zog die Hosen hoch und begab sich dann nach draußen vor das Gebäude.

Stefan war zum Glück nirgends zu sehen, er würde wie erhofft alleine losgelaufen sein. Nico zündete sich eine Zigarette an und blinzelte in die Sonne, die allmählich Lücken in den Nebel riss. Noch eine Stunde höchstens, und der Himmel würde wieder blitzblau sein. Auf der Bank neben dem Eingang entdeckte er die hiesige Tageszeitung, wahrscheinlich hatte sie Alexander aus dem Ort mitgebracht. Er nahm sie und studierte die Schlagzeilen.
Wie immer fast aus dem Nichts stand Rick plötzlich bei ihm und sah ihn an. Nico kraulte seinen Kopf.

„…. Im Entführungsfall Tobias Möller bittet die Polizei weiter um Mithilfe aus der Bevölkerung….“ Rasch las Nico den Artikel. Es stand nun tatsächlich fest dass der Junge entführt worden war. Wütend knallte Nico die Zeitung auf die Bank. »Drecksau«, fluchte er und ging in die Hocke. »Hallo Rick.« Der Hund lenkte ihn von den Gedanken ab, die in dem Moment bei diesem fremden Jungen waren.

»Wo ist Stefan?«, fragte Stein, als er Augenblicke später mit den anderen drei aus dem Gebäude kam. Ihnen stand der Schreck ebenso in die Gesichter geschrieben wie ihm zuvor auch. Es war keiner von denen, dachte er.
Nico wurde verlegen, jetzt war es offensichtlich dass er nicht mit ihm reden wollte. »Er muss vorgegangen sein, ich war noch auf der Toilette.«

Stein nickte, in seinem Blick jedoch waren Fragezeichen zu erkennen. Nico wandte sich ab und joggte auf den Wald zu, bald gefolgt von den anderen. Erkan schloss zu ihm auf.

»Ist ja ein Hammer mit Stefan. Weißt du was ich glaube? Dieser Fetischist und der Spanner mit der Kamera, das ist garantiert ein und dieselbe Person.«

»Meinst du?«, fragte Nico zurück, ohne sich jedoch weitere Gedanken darüber zu machen. Sein Kopf konnte einfach nicht mehr aufnehmen.

»Scheint dich ja nicht sonderlich zu interessieren.«

»Sei mir nicht böse, Erkan, ich hab andere Sachen im Kopf.«

Stefan stand bereits umgezogen an seinem Zelt als der Rest der Gruppe ankam. Der Dienstpan dieses Tages sah vor, dass sie am Vormittag einen Orientierungsmarsch absolvieren sollten. Dazu musste ein Gruppenführer bestimmt werden und Rademann wollte ihnen die notwendigen Instruktionen erklären. Der war jedoch noch nicht da.

Nico kroch hinter Erkan in ihr Zelt und zog den Trainingsanzug aus.

»Nico, ich möchte dir was sagen.«

Er spürte dass das, was Erkan zu sagen hatte, nichts besonders gutes sein konnte. »Ja, ich höre?«

»Du… du und ich werden ja jetzt ne Weile hier verbringen… Also ich mein, das da drüben in dem Waschraum… das war echt geil, ehrlich. Aber ich….«

»Erkan, komm bitte auf den Punkt«, drängelte Nico, denn er ahnte bereits was kommen würde.

»Nico, das ist nichts Persönliches. Aber ich fühl mich echt Scheiße wenn ich mit dir hier herumvögle und ein paar Meter weiter…. Ich weiß todsicher dass du Stefan noch nicht aufgegeben hast. Ich bin so vermessen zu behaupten, dass du ihn noch immer liebst. Und er dich auch. Kommt endlich zu Potte, Mensch.«

»Du glaubst also, dass ich dich ausnutze. Ist es das was dich stört?« Nico war ohnehin gereizt und dieses Gerede ging ihm an die Nerven. Dabei wusste er, dass Erkan Recht hatte. Wieso dachte er dauernd an Stefan? Und jetzt, nach diesem Debakel mit der Unterwäsche, brauchte er Hilfe. Niemand anderer als er konnte ihm beistehen. Wenn nur diese verdammte Wand nachgeben würde…
Erkan schnaufte. »Nein, ich lasse mich prinzipiell nicht ausnutzen, auch von dir nicht. Aber man kann’s echt nicht mehr mit ansehen wie ihr euch quält.«

»Ach, der große Therapeut…. Erkan, ich hab verstanden und nun lass mich damit bitte in Ruhe. Es ist eine Sache zwischen Stefan und mir, okay?«

»Ist ja schon gut. Musst dich nicht gleich so aufregen.«

»Tu ich nicht.«

Wütend auf alles und jeden und vor allem auf sich selbst zog sich Nico an und trat vor das Zelt. Die Sonne hatte inzwischen die letzten Nebelfetzen weggebrannt und schickte ihre Strahlen blinkend durch das Blätterdach.

Nachdem Rademann noch immer nicht aufgetaucht war setzte sich Nico vor das Zelt und rauchte. Ihm war egal dass es verboten war, so wie ihm langsam alles hier egal wurde. Zum ersten Mal dachte er an zu Hause, aber es gelang ihm dabei nicht, Stefan zu vergessen. Sie wären jetzt sicher irgendwo unterwegs…. und hätten drei Wochen für sich gehabt. Jede Nacht zusammen schmusen, kuscheln, Spaß haben, wohltuendes Schweigen die Zigaretten danach, morgens den Kaffee,… Nico spürte plötzlich Druck in den Augen. Verdammt, ich lieb dich doch…. Aber wer führte da jetzt gerade die Regie? Das Engelchen oder das Teufelchen? Nico spürte, dass diese Zwietracht nicht mehr lange auszuhalten war. Heute, irgendwann im Lauf des Tages, würde er mit Stefan reden. Es musste sein. Wenn er ihn nicht mehr wollte, dann sollte das gesagt werden. Nico drückte die Kippe tief in den weichen Waldboden und stand auf.
Nein, Stefan musste den Anfang machen.

»Bist du jetzt sauer?«

Nico sah ein, dass es keinen Sinn machte den Trotzigen zu spielen. Vielleicht war er sauer, ja. Immerhin hatte er sich erst die kommende Nacht mit Erkan in lebhafter Form vorgestellt. Aber es war schließlich nicht Erkans Schuld dass er sich jetzt so mies fühlte.

»Nein, Erkan, bestimmt nicht. Es ist nur…. lass mir bitte Zeit, ja? Es ist alles nicht so einfach. Und dass du nicht mit mir pennen willst – ich denk ich würde das auch nicht wollen an deiner Stelle.«

Erkan nickte und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er stellte sich dicht vor Nico hin und reichte ihm die Hand. »Freunde?«

Nico schlug ein und fiel ihm um den Hals, er konnte seine Tränen nicht mehr kontrollieren. Fest schlossen sich Erkans Hände um seine Taille und Minutenlang blieben sie so stehen ohne ein Wort zu sagen.

Dass Rademann plötzlich neben ihnen stand und sie so sah, war ihnen egal. Nico fand es nur gerade praktisch, dass Stefans Zelt nicht in Sichtweite war.

»Kommt ihr dann bitte raus zum Platz? Ich möchte euch die Infos zu eurem Marsch geben«, sagte Rademann nur kurz. Bildete sich Nico ein blitzen in seinen Augen nur ein? Möglicherweise war es ja auch nur Verlegenheit dass er sie so sah.

Wenig später saßen Raffael, Lutz, Stefan, Erkan und Nico auf dem Sammelplatz um Charles Rademann herum. Es war richtig warm geworden inzwischen, je nachdem würden sie ordentlich ins Schwitzen kommen. Aber zumindest Nico freute sich auf den Marsch, der lenkte garantiert ab. Und vielleicht ergab sich dabei doch die eine oder andere Gelegenheit, die Stefan für ein Gespräch nutzen konnte. Ja, Nico drehte den Spieß einfach um. Er wollte ihm eine Chance dazu geben, wie auch immer.

»Als erstes brauchen wir einen Gruppenführer. Es macht nicht viel Sinn wenn alle das gleiche machen wollen und jeder am Ende alleine herumfuhrwerkt. Dabei entscheidet sich die Wahl nicht nach Alter oder Kompetenz.«

»Aha. Sondern?«, fragte Lutz nach Rademanns Rede.

»Tja, es ist in diesem Falle so, dass derjenige Gruppenführer wird, der als erster etwas dazu sagt«, und reichte Lutz prompt Fernglas, Kompass, Handy, eine Taschenlampe und ´ne Karte.

Die Jungs sahen sich an und prusteten, während Lutz große Augen bekam.
»Aber ich….«

»Keine Bange, natürlich werden dich die anderen Unterstützen. Es ist erstens kein Kriegsspiel, zweitens kommt es nur bedingt auf Zeit an und drittens Schwierigkeitsgrad eins. Also im Grunde völlig harmlos.«

»Und welche Rolle spielen Sie dabei?«, fragte Raffael.

»Ich halte mich raus. Jedenfalls seid ihr auf euch selbst angewiesen, was ja auch Absicht ist. Im Übrigen, eure Vorgänger haben das bravourös gemeistert und ich denke das verlange ich auch von euch. So, komm Lutz, ich zeig dir den Weg.«

Rademann breitete die Karte auf dem Boden aus und nahm einen Rotstift. Er malte einen kleinen Kreis in die Karte. »Hier sind wir. Und ihr sollt so laufen…« Nun fuhr er mit dem Stift einen Weg entlang, beschrieb langsam einen größeren Bogen. »Hier an der Stelle kommt ihr zu den alten Bahngleisen. Die Strecke ist stillgelegt und ihr könnt auf dem Versorgungsweg der Bahn direkt an den Gleisen entlang.« Dann erneut einen Kreis. »Da steht eine alte Verladestation, direkt an dem ehemaligen Steinbruch. Die Gebäude dort sind baufällig, deshalb versucht nicht irgendwie da rein zu kommen. Andere vor euch haben es auch schon versucht, aber da ist alles dicht verschlossen.« Mitten in die eingezeichneten Bauten malte er einen Punkt. »An der Stelle macht ihr Mittagspause, denn wenn nichts dazwischenkommt, seid ihr in zwei Stunden da.« Er sah auf seine Uhr. »Es ist jetzt kurz vor zehn, also das ist machbar.«

»Und Alexander wartet dort mit einem saftigen Steak….«, grinste Erkan.

Rademann lachte. »Nein, leider nicht. Ihr bekommt euer Essen mit.« Er griff hinter sich und zog einen Rucksack zwischen seine Beine. »Hier….«, sagte er und schüttete den Inhalt vor sich auf den Boden.

Lutz verzog das Gesicht. »Das erinnert mich ans Militärfutter eines Freundes…«

»Ja, genau das ist es, nichts anderes. Epas, also Einmannpackungen. Corned Beef, Nudeln mit Rindfleisch…. na ja, seht selbst und sucht euch was aus. Der Nachteil daran ist nur, dass es kalt überhaupt nicht schmeckt. Damit die Sache ein bisschen spannend wird, müsst ihr eure Espritkocher dazu erst abholen. Und zwar hier….« Er zeigte auf eine Stelle in der Nähe der Verladestation. »Da steht ein altes Signal. Direkt an dem Mast ist ein Schaltkasten – und da findet ihr eure Kocher.«

Die Jungs schüttelten den Kopf. Begeisterung war keine zu spüren.

»Gut. Danach geht es so weiter«, und Rademann zog den Stift wieder in einem Bogen zurück zum Startpunkt. »Ihr seht, es geht nicht Querfeldein, immer schön den Wegen und Straßen nach. Gegen fünfzehn Uhr solltet ihr wieder hier sein.«

»Und was ist mit dem Handy?«

»Ja, richtig. Bitte gebt eure Handys jetzt ab.«
Ein Grummeln ging durch die Gruppe.

»Es ist Vorschrift, nicht von mir. Auf dem Diensthandy sind die Nummern aller Betreuer gespeichert, die von Polizei und Feuerwehr kennt ihr. Wobei noch nie jemand hat anrufen müssen. Also, eure jetzt bitte.«

Lautstark waren die Proteste nicht, aber es half auch nichts.

»Und was macht das ganze nun für einen Sinn, da in der Pampa herumzutraben?«, wollte Lutz wissen.

»Ihr werdet sehen. Vergesst jetzt nicht eure Feldflaschen mit Wasser zu füllen, unterwegs gibt es davon nicht viel. In zehn Minuten mit Gepäck wieder hier.«

Die Jungs nickten und gingen zurück zu ihren Zelten.

»Das wird was werden, vor allem möchte ich wissen was „ihr werdet sehen“ zu bedeuten hat. Die haben da doch was vor mit uns«, meckerte Erkan während sie ihre Sachen packten.

»Ich denke, die haben nichts mit uns vor. Das wird sich alleine ergeben.«

»Aha. Und wie soll das vonstatten gehen?«

Zwar stand diese Aktion im Dienstplan, aber an Kleingedrucktes an der Stelle konnte sich Nico nicht erinnern. Also war auch für ihn unklar was da kommen könnte. »Hab echt keine Ahnung, Erkan. Lassen wir uns überraschen.«

Nico hatte auf der topografischen Karte sofort gesehen, dass sie steile Wege gehen mussten, der Steinbruch lag fast ganz oben an dem Berg. Fünf Stunden würden sie unterwegs sein, eine Menge Zeit für die relativ kurze Strecke. Allein das machte ihn stutzig. Aber er behielt diese Tatsache für sich.

Bereits nach einer Stunde, die sie weitgehend auf schmalen Wegen in dichten Tannen- und Buchenwäldern marschierten, hatten sie das Bahngleis erreicht. Offenbar wurde hier früher der Schiefer abtransportiert bis sich der Abbau nicht mehr lohnte. Bemerkenswert war die Höhe in der die Gleise gebaut wurden und etliche Höhenmeter mussten damals überwunden werden. Interessant war deshalb auch die Bauweise. Die Gleise gingen im weiten Bogen um den Berg herum nach oben. Aber all das schien angesichts des Zustands der Gleise und des Bahndamms schon Ewigkeiten zurückzuliegen.

»Zigipause«, rief Lutz, als sie einige Minuten an den Schienen entlanggelaufen waren. Solche kurze Pausen hatte Rademann nicht erwähnt, demnach auch nicht verboten.
Sie setzten sich auf die Schienen und rauchten. Leise wisperte der Wind in den Baumkronen ringsum, am lautesten war das Konzert der unzähligen Grillen, die sich hier in der Nähe der heißen Schottersteine wohl fühlten.

»Na ja, es hätte auch schlimmer kommen können«, unterbrach Raffael das Schweigen der Gruppe. »Meine Welt ist zwar nicht grad heil, aber wenigstens im Moment ist sie in Ordnung.«

»Oh Gott, wir haben einen Philosophen in unseren Reihen«, stöhnte Lutz gekünstelt.

»Besser als grundlos rumzujammern«, warf Nico in das Gespräch und lehnte sich an die Böschung des Bahndamms. Sein Blick ging zu Stefan…. wenn er ihn nicht sehen würde könnte man glauben, er wäre gar nicht dabei. Zwar lief er in der Gruppe mit, aber er sagte keinen Ton und näherte sich Nico nie weiter als zwei Meter. Fast so, als hätte er Angst vor ihm. Angst…. Nicos Herz klopfte los. Stefan hat Angst vor dir. Er fürchtet deine Rache…. Mein Gott, das ist es. Er traut sich nicht…. alles Gefasel. Nie wird er auf dich zukommen, nie im Leben. DU musst es tun…. Heute, irgendwann.

»Meine Güte ist das ne verlassene Gegend hier. Lutz, zeig mal die Karte, möchte gern wissen wo wir überhaupt sind«.

Lutz kam mit der Karte zu Erkan, breitete sie mitten auf dem Gleisbett aus und beschwerte die Ecken mit Schottersteinen.

Zuerst nahm er einen tiefen Schluck aus seiner Feldflasche. »Aaaaalso«, begann er betont fachmännisch. »Hier sind wir losgelaufen, da sitzen wir jetzt grade. Und dort ist die Verladestation oder was immer das sein soll.«

Erkan rieb sich am Kinn. »Hm, das nächste Dorf… lass mal sehen…. Posteholz…. nie gehört….«

In diesem Moment schreckte Nico hoch. »Wie heißt das Kaff?«

»Posteholz…. dürfte so drei Kilometer weg sein.«

Nico sprang auf und kam zu den beiden hin. »Zeig mal….« Ihm wurde glühend heiß als er am unteren Rand der Karte „Lindenbruch“ las. Jetzt fiel es ihm wieder ein…. der kleine Tobias. So nah waren sie da. Mit zitterndem Finger zeigte er auf Posteholz. »Da in der Nähe haben sie den Kleinen entführt….«

»Was entführt? Kleinen?«

Nico fiel ein, dass die Sache mit dem Jungen nicht mitbekommen hatten und schilderte ihnen den Vorfall, jedenfalls das was er selbst davon wusste.

»So eine Sauerei….«

»Sack ab.«

»Der sollte mal jetzt hier sein….«

Nico merkte sich nicht wer was sagte, es spielte auch keine Rolle. Er stand auf und drehte sich langsam um dreihundertsechzig Grad, so, als suche er etwas.

Erkan trat neben ihn. »Glaubst du, dass der Entführer noch hier ist, sich irgendwo versteckt hält mit dem Jungen?«

»Ich weiß es nicht, Erkan, aber ich wollte es gerne wissen. Sie haben sicher schon die ganze Gegend abgesucht, aber scheinbar noch nicht mal Spuren von ihm gefunden. Man wird annehmen dass er längst das Weite gesucht hat.«

»Es wäre besser für ihn….«, setzte Erkan hinterher.

»Kommt, Leute, wir müssen weiter. Ich krieg langsam Hunger und bis zur Station ist’s noch ne gute Stunde.« Lutz packte seine Feldflasche ein und zog das Handy heraus. »Ja, ganz klasse. Seht mal«, rief er und hielt das Telefon in die Luft.

Nico ging zu ihm und nahm das Handy. »Jep. Alle Neune. Die haben vergessen es anzuschalten.«
»Gib mal her«, mischte sich Erkan ein und grübelte. »Ohne PIN geht nichts, das kann ja alles Mögliche sein. Aber wie sagte der gute Charles? Es ist noch nie gebraucht worden. Also beten wir gemeinsam dass es auch diesmal so ist.«

Sie erhoben sich, wobei ein leises Stöhnen zu vernehmen war, und gingen weiter an dem verwilderten Bahndamm entlang. Lange redeten sie nicht miteinander und Nico legte es jetzt darauf an, Stefan näher zu kommen als die zwei Meter. Langsam ließ er sich von der Spitze zurückfallen, Stefan lief wie schon die ganze Zeit am Schluss. Irgendwann musste er auf gleicher Höhe sein, ob er wollte oder nicht.

Die Sonne knallte auf das baumlose Gelände entlang des Bahndamms und trieb den Jungen den Schweiß auf die Stirn, immerhin waren sie dergleichen Anstrengungen alle nicht gewohnt. Zeitweise lichtete sich der Wald um sie herum und nun lief die Gruppe schon eine Weile an einer Wiese entlang.

»Leute, kurze Pause. Da drüben ist ein bisschen Schatten. Lasst uns fünf Minuten ausruhen.«

Logischerweise hatte keiner etwas gegen diese Unterbrechung einzuwenden und so steuerten sie auf die Trauerweiden zu, die in einer Gruppe auf der Wiese standen. Die Jungen blickten dort angekommen überrascht auf einen kleinen, glasklaren Bach. Ohne Zögern warfen sie ihr Gepäck ab, zogen Schuhe und Strümpfe aus und stellten sich in das kühle, flache Wasser.

»Mann, das ist ein Geschenk von oben«, jauchzte Lutz und begann die anderen nass zu spritzen, woraus sich sofort eine gediegene Wasserschlacht entwickelte. Dann war es eben nicht drei Uhr wenn sie zurückkamen, niemand der ausgelassenen Jungs dachte mehr an die Zeit oder an das Essen. Das lief nicht davon und das Camp erst recht nicht. Was Nico am meisten freute – Stefan machte mit, auch wenn sie sich nicht gegenseitig nass spritzten.

Nachdem Nicos Kleider patschnass geworden waren, zog er sein Hemd und die Hose aus, zuerst nur gefolgt von den ungläubigen Blicken der anderen. Dann jedoch taten sie es ihm nach, schließlich standen alle nur noch in ihren Shorts im Wasser, das lustige Treiben war weit zu hören.
Nico beobachtete Stefan dabei genau. Wie herrlich dieses Muskelspiel, das Glitzern der Wassertropfen auf seinen Wimpern und je nasser seine Shorts wurden, desto deutlicher bildete sich sein Penis ab. So detailliert, dass sich Nico zu einem kurzen Seufzer hinreißen ließ. Stefan trug auch eine neue Halskette, so eine aus Stahl. Passte sehr gut zu ihm. Wie ihm sowieso alles stand was er trug. Ob Kleidung oder Schmuck, der Junge hatte Geschmack und verstand es hervorragend, sein Äußeres zur Geltung zu bringen. Darum liebe ich dich so, dachte Nico. Wenn diese lustige Schlacht gleich vorüber ist, rede ich mit dir. Du musst keine Angst haben, nicht vor mir….

Völlig außer Atem setzten sie sich nach einer Weile an das Ufer und ließen sich von der Sonne trocknen. Nico versuchte sich die ersten Worte, mit denen er endlich das Panzerglas zwischen ihm und Stefan sprengen wollte, zurechtzulegen. Vielleicht war es gar nicht so schwierig. Ein einfaches Hallo, das würde für eine Einleitung bestimmt reichen.

»Seht mal, Rehe«, rief Lutz den anderen zu und sie sahen in die Richtung. Zwei dunkle Punkte waren am anderen Ende der Wiese zu sehen, zu weit weg um sie genau zu erkennen. Lutz nahm das Fernglas um die Tiere beobachten zu können, allerdings kannte er sich da sehr gut aus und auf den zweiten Blick wurde er skeptisch. »Hm, irgendwie komische Rehe. Viel zu dunkel und sie kommen auf uns zu. Dabei, müssten die bei unserem Krach eigentlich das Weite gesucht haben.«

»Lass mal sehen«, sagte Erkan, nahm Lutz das Glas aus den Händen und blickte in die Richtung. »Nee, das sind keine Rehe. Zu klein dafür und…. wie die rennen. Hast Recht, genau auf uns zu..«

Nico nahm nun das Glas an sich und stand auf. Langsam wurden die Punkte größer und mit jedem Meter den sie sich näherten wurde es deutlicher. »Ich glaub, das sind Hunde, schwarze Hunde….« Nicos Hände begannen leicht zu zittern.

»Hunde? Zeig noch mal.« Erkans Hände waren ruhig, als er das Glas erneut an die Augen hielt. »Ja, Hunde. Und wenn mich nicht alles täuscht…. die sehen aus wie Dobermänner. Riesenkerle. Und die kommen immer näher….« Augenblicklich spürte er Gefahr aufkommen. Wenn die Tiere dieses Tempo einhielten, waren sie in wenigen Minuten hier. Und es gab keinen Grund, warum sie umkehren oder stoppen sollten.
»Leute, weg hier, und das ganz schnell. Gegen die können wir nichts ausrichten.«

Schlagartig standen die anderen auf.

»Aber vielleicht sind die ja ganz harmlos. Außerdem, wo sollen wir denn hin?« rief Raffael.

»Harmlos? Vielleicht, aber wenn nicht? Los, rauf auf die Bäume. Und zwar sofort«, befahl Lutz und wunderte sich einen Moment lang selbst über die Ruhe, die er trotz allem dabei behielt. Vielleicht war es so etwas wie Verantwortungsgefühl, aber darüber nachzudenken blieb ihm keine Zeit. Die ersten Äste der Trauerweiden waren tief genug, um sie ohne Hilfsmittel zu erklimmen. Dennoch…. »Helft euch gegenseitig rauf, das geht schneller«, schrie er jetzt, da die Konturen der Hunde deutlich wurden und sich Erkans Befürchtung, es könnten Dobermänner sein, bestätigte. Und die rannten wie von Furien gehetzt auf die Gruppe zu. Angesichts dessen war es sicher reiner Selbstmord zu glauben, die Hunde wären harmlos.

Erkan war als erster auf einem der unteren Äste, mehr gesprungen als geklettert, und sofort hielt er seine Hand hinunter um Raffaels Handgelenk zu umklammern. Der junge Türke hatte Kraft, scheinbar mühelos zog er den Jungen zu sich hinauf und schob ihn zusätzlich einen Ast höher. »So hoch du kannst«, schrie er ihm zu und beugte sich erneut nach unten um Nicos Hand zu packen, die er ihm entgegenstreckte. Während Erkan ihn hochzog blickte er zurück und erschrak, weil Stefan wie unter Schock keine Regung zeigte. Er stand da unten und blickte den Hunden entgegen. Ungebremst in ihrem rasenden Sprint setzen sie jetzt laut kläffend zum Endspurt an. Es schien, als würden ihre Beine den Boden gar nicht berühren. Sie rannten nicht, sie flogen förmlich.

Lutz war es inzwischen gelungen, einen Ast auf dem Nachbarbaum zu erklimmen, rasch kletterte er in eine sichere Höhe. Hilfe holen konnte er nicht, das Handy lag in seinem Gepäck und war eh nicht zu gebrauchen.

»STEFAN!«, schrie Nico verzweifelt. »KOMM HOCH!« Als Nico merkte dass Stefan ihn scheinbar gar nicht hörte, rief er zu Erkan über ihm: »Lass mich los.«

»Spinnst du? Kommt nicht in Frage.«

»Erkan, loslassen, bitte. Sieh doch Stefan…. ich muss ihm helfen!«

Es konnte nur noch Sekunden dauern bis die Hunde ihn erreicht hatten. Immer weiter wurden ihre Sätze, sie würden Stefan in Fetzen reißen noch bevor er wusste was los war.

Nico spürte Erkans Schweißtropfen auf seinen Körper fallen, aber er ließ nicht los. »Komm rauf, Mensch, du kannst ihm nicht helfen….«

»LOSLASSEN!«

Erkans Griff um Nicos Handgelenk war fest wie ein Schraubstock. Da hielt er den besten Freund, den er je hatte, fest in seiner Hand. Aber da war noch ein Junge, der geliebt wurde wie kaum ein anderer. Der stand da unten wie gelähmt und war in Lebensgefahr. War es richtig, Nico nicht zu ihm zu lassen? Vielleicht hatten sie zu zweit irgendeine Chance, Liebe hatte Kraft und sie war mächtig. Auch wenn es sich keiner von beiden eingestand, sie gehörten zusammen, dieses Band war jetzt überdeutlich zu spüren. Niemand durfte sie trennen, auch in solch einer Situation nicht. Erkans Schweiß mischte sich mit Tränen. Er wusste was es bedeutete wenn er Nico jetzt losließ.

»ERKAN, VERDAMMT! LASS MICH ENDLICH LOS! ICH MUSS STEFAN HELFEN!«

Langsam öffnete Erkan seine Umklammerung, spürte wie ihm Nicos Hand entglitt und schloss die Augen, deren Tränen in Nicos Haare getropft waren.
Dann hielt sich Erkan laut heulend die Ohren zu. Er wollte nicht sehen und nicht hören was da unten gleich passieren würde.

Nico knickte ein als er auf dem Boden ankam, rappelte sich aber sofort auf und stürzte sich in dem Augenblick auf Stefan, als der erste Dobermann zum Sprung ansetzte. Im hohen Bogen verfehlte er deshalb sein Ziel und landete unsanft auf dem Boden. Kaum waren die beiden Jungen auf die Wiese gestürzt, raste etwas an ihnen vorbei. Sie waren fast ohnmächtig vor Angst, registrierten nicht, wie Rick schnell in die Hüfte des gestrauchelten Dobermanns biss und der daraufhin so jämmerlich aufheulte, das der andere Hund abgelenkt wurde und sofort stoppte.
Für Sekundenbruchteile verharrte der Husky in geringer Entfernung bis er sicher war, dass er nun auch durch sein lautes Bellen die Aufmerksamkeit der Dobermänner auf sich gelenkt hatte. Dann raste er Richtung Bahndamm davon, und die beiden tobsüchtigen Bestien folgten ihm.

Erkan öffnete langsam Augen und Ohren, egal was passiert war, es musste vorbei sein. Verschwommen sah er unten die beiden Jungen leblos im Gras liegen, sonst war nichts zu hören und zu sehen. Er wischte sich über die Augen und zog die Nase hoch.

»Nico? Stefan?«

Keine Antwort, keine Regung. Erkan sah sich um, die Bestien waren offenbar verschwunden. Sofort hangelte er sich vom Baum herab und ging zu den beiden hin. Auf den ersten Blick hatten sie nichts abbekommen, irgendwie waren sie diesen Teufeln entkommen. Dann aber blieb er stehen. Vielleicht war ausgerechnet jetzt der Zeitpunkt für die zwei gekommen, und so kümmerte er sich um Lutz und Raffael, die noch immer wie gelähmt in den Bäumen ausharrten.

»Stefan, alles okay mit dir?«, fragte Nico leise. Das er mit seinem ganzen Körper auf ihm lag und wahnsinnig zitterte störte ihn nicht. Er spürte die heiße, schweißnasse Haut an seiner, den schnellen Herzschlag und das heftige Atmen dieses Körpers.

»Ja, alles klar, mir fehlt nichts….«

Dieses leise Reden, diese wunderbare Stimme. »Bestimmt?«, hakte Nico nach.

»Alles okay. Aber was ist überhaupt passiert?«

»Später, Stefan, später.« Nico fuhr ihm sanft durch die Haare, immer wieder. Wozu eigentlich große Worte?

»Nico…. Ich…. ich war….«

»Sag nichts. Es ist vorbei. Was hinter uns liegt hat es nie gegeben. Hier und jetzt möchte ich neu anfangen. Mit dir.«

»Aber….«

Nico legte ihm den Zeigefinger auf den Mund. »Pscht. Nichts aber. Ich liebe dich, nichts und niemand kann das jemals ändern.« Millimeterweise näherte sich sein Mund diesen Lippen, von denen er nie genug bekommen konnte.

Erkan setzte sich an den Stamm der Trauerweide und blickte von den beiden Jungen weg hoch in die Blätter über ihm. »Danke Baum. Danke Gott.« Lutz und Raffael hatten ihm erzählt was ihm entgangen war. Woher Rick so plötzlich kam und wohin ihm die beiden Hunde gefolgt waren, wussten sie nicht.

Während sich die Lippen der beiden Freunde umschlossen, hallten aus dem Wald hinter dem Bahndamm kurz nacheinander zwei Schüsse auf.

Erkan rieb sich zufrieden die Hände. »Da gehen sie hin, diese räudigen Köter.«

»Bist du sicher?«, fragte Lutz besorgt, der sich mit Raffael zusammen neben Erkan gesetzt hatte.

»Ziemlich. Ich denk mal, das ist vorbei.«

»Hm…. jetzt sieh sich das einer an. Weiß ein Mensch, warum die sich küssen? Das sind…. Ach so ist das….« Raffael stand spontan auf. »Jetzt wird einem alles klar. Diese beiden Schwuchteln…. Der Hartmann hat dem Regbach die Unterwäsche gekratzt weil er scharf auf ihn ist…. Und unsereiner wird verdächtigt. Na warte….«

So schnell wie ihm Erkan im Weg stand konnte er nicht blinzeln. »Was „Na warte“?«, fragte er und neigte den Kopf.

»Ist doch ganz einfach. Ich werd jetzt dem Hartmann da drüben die Fresse polieren. Ist ja auch in eurem Interesse. Stein hat jeden verdächtigt. Wenn ich dem das sage…. Geil…. Aber gut, bevor er sowieso rausfliegt zeig ich ihm mal eben was ich so vom Schwulenpack halte.«

Erkan hielt ihn am Oberarm fest. »So einfach wird das jetzt aber auch wieder nicht.«

»Lass mich los, du Türke und geh mir aus dem Weg. Sonst kann es passieren, das….«

Erkan drückte nur fester zu, mehr musste er nicht machen. Sofort sprang ihm blanker Hass entgegen.

»Yüslüm, übertreib’s nicht. Ich brech dir sämtliche Knochen. Lass deine Stinkefinger von mir und ich sag’s nur einmal.«

»Was sagst du nur einmal? Ich hör grad ziemlich schlecht, weißt du.« Er tippte Raffael an den Kopf. »Von da kommt nämlich im Moment übler Mist rüber und verstopft meine Ohren.«

Im ersten Augenblick fehlten Raffael die Worte, dann holte er aus und ließ seine Faust in Richtung Erkans Gesicht sausen. Mit einem klatschenden Geräusch landete sie jedoch direkt in Erkans offener Hand, die sich sofort wie eine Venusfliegenfalle schloss und mit der Gewalt einer hydraulischen Presse zudrückte. Mit einem undefinierbaren Ton und schmerzverzerrtem Gesicht ging Raffael augenblicklich in die Knie.

Erkan kniete sich vor ihm hin und verfolgte die Tränen, die Raffael die Wangen herunterliefen. »So, Freundchen. Das war nur eine leise, sachte Warnung. Es ist jetzt ziemlich fragwürdig wie du eine Woche hier mit nur einer Hand verbringen willst, aber ich brech dir die Finger gänzlich, falls du es auch nur andeutungsweise darauf ankommen lässt. Nico und Stefan sind für dich erledigt, klar?«

Raffael starrte ihn an, böse, wütend. Blicke, die töten würden, wenn sie es könnten.

Erkan klappte seine Ohrmuschel nach vorne. »Ich hör schon wieder nichts?«
Der Gepeinigte schwieg, worauf ihn Erkan zornig an den kurzen Haaren zu fassen bekam und den Kopf nach hinten zog. »Nun?«

Jetzt nickte Raffael, worauf Erkan seine Hand öffnete und ihn langsam aus der Umklammerung entließ. »Na also. Übrigens verfahre ich da immer nach dem gleichen Muster, ohne Ausnahme.« Bewusst sah er dabei zu Lutz hinüber, der sich aber anscheinend im falschen Film wähnte. Starr blickte er auf den wimmernden Jungen am Boden und war unfähig zu handeln.

Nico stand auf und half Stefan auf die Beine zu kommen, sie hatten nichts von alldem mitbekommen.

»Na ihr beiden, alles okay?«

»Ja, Erkan. Und… vielen Dank.«

»Na ja, ich denke darüber müssen wir noch mal reden.«

Kurz darauf polterte ein Geländewagen in die Wiese und hielt direkt an der Baumgruppe an. Hastig stiegen Stein und Rademann aus dem Fahrzeug, auch Rick sprang heraus und rannte zu den Jungen.

»Was zum Teufel war hier bloß los«, sagte Stein fast zu sich selbst, obwohl er sich die Frage hätte sparen können.
Sein Blick blieb sekundenlang auf Nico und Stefan gerichtet, dann folgte ein kaum sichtbares Nicken in Richtung der beiden.

Da scheinbar keiner der Jungen etwas zum Hergang sagen wollte, begann er selbst. »Die örtliche Polizei hat kurz nachdem ihr losgelaufen seid angerufen und von dem Ausbruch zweier Hunde aus einem Zwinger im Dorf berichtet. Die beiden haben auf ihrer Flucht zwei kleine Hunde totgebissen und eine ältere Frau verletzt, bevor sie in den Wald gerannt sind. Zum Glück wurden sie von Wanderern gesehen und die gaben ihren Standort per Handy durch. Wir fürchteten, wohin sie ungefähr könnten – nämlich in Richtung eurer Marschroute. Deswegen sind Chip…. äh Charles und ich gleich losgefahren. Warum euer Handy nicht ging….«

»….Es war nicht eingeschaltet, von Anfang an nicht«, erklärte Lutz den Umstand und hielt, um das Ganze zu unterstreichen, Stein das Handy hin.

Der nahm es, nickte kurz und verhalten und gab dann die PIN ein. »Jedenfalls sahen wir euch nirgends, darum hab ich Rick laufen lassen. Eure Spur zu verfolgen war ja für ihn ein Leichtes, nur haben wir ihn leider aus den Augen verloren. Glücklicherweise war der Förster auf der Strecke, er wusste ebenfalls von den Hunden. Aus der Richtung hier hörten wir dann irgendwelche Rufe oder Schreie oder wie auch immer, wir vermuteten fast, dass ihr das gewesen seid. Na ja, Rick hat die beiden Dobermänner dann dem Förster regelrecht vor die Flinte geliefert. Und uns jetzt auch hierher geführt.«

Erkan lächelte. »Ich wusste gar nicht dass Rick reden kann. Oder wie hat er Ihnen im Auto gesagt wohin Sie fahren sollen?«

»Rick?«, rief Stein.

Sofort spitzte der Husky die Ohren.

»Das bleibt unser Geheimnis, oder? Die Jungs müssen nicht alles wissen. Aber was ist mit Raffael?« Stein lief auf ihn zu, noch immer kniete der Junge im Gras und hielt sich die Hand.

»Herr Stein, das muss ich Ihnen erklären. Die Hunde waren es nicht….«, erklärte Erkan kurz.

»Okay. Raffael, du fährst besser mit uns«, sagte Stein nachdem er sich die ramponierte Hand betrachtet hatte. »Die anderen sind fit?«

Allgemeine Zustimmung.

»Gut. Dann würde ich mich jetzt mal anziehen, ihr wisst dass es noch ein Stückchen Weg ist bis zum Essen. Und zu spät kommt ihr auch.« Das fast hämische Grinsen in seinem Gesicht ließ hoffen. Man konnte spüren dass er, egal was auch immer sich hier abgespielt hatte, stolz auf die Gruppe war. Bevor er in den Wagen stieg blieb er noch einmal kurz bei Nico und Stefan stehen und legte seine Hand auf Stefans Schulter. »Nun zieht euch an bevor ihr ne Erkältung kriegt.«

Wenig später standen die Vier wieder alleine da und es schien, als wäre hier überhaupt nichts passiert. Erkan und Lutz gingen zum Ufer des Baches, knieten sich hin, füllten ihre Hände mit Wasser und schütteten es sich ins Gesicht.

»Du, Erkan?«

»Was gibt’s?«

»Das mit vorhin, ich mein das mit Raffael….«

»Ja?« Erkan hörte an Lutz’ Stimme, dass kein Vorwurf daraus werden sollte und blieb ruhig.

»Also, ich kenn ihn ja nun ein bisschen…. ich hab mir nicht träumen lassen dass er so…. reagieren könnte.«

»Ich auch nicht. Aber wie du siehst, man kann sich in den Menschen unheimlich täuschen.«

»Was werden sie jetzt mit ihm machen? Ich mein, so ohne weiteres werden die das nicht durchgehen lassen.«

»Keine Ahnung. Von mir aus können sie auch mich rausschmeißen. Ich steh zu dem was ich getan und gesagt hab.« Sein Blick ging zu den beiden hinüber, die sich wieder in den Armen hatten. »Ich kann es nicht haben wenn sich jemand nicht in der Gewalt hat. Raffael ist zu allem fähig, das hat man ja jetzt gesehen. Übrigens…. was ist deine Meinung?«

»Zu den beiden? Da hab ich gar keine Meinung. Ich kenn aus der Sprayerszene auch zwei Schwule und die sind völlig okay. Nein, von mir wirst du da nichts hören.«

»Gut. Eigentlich hab dich ja auch so in etwa eingeschätzt. Schon deswegen, weil du dich vorhin nicht eingemischt hast.«

»Komm, wir müssen uns anziehen«, flüsterte Nico Stefan ins Ohr und nahm die Hände vom Rücken seines Freundes. »Scheiße….«, rief er plötzlich und starrte auf seine Hände. »Du…. du blutest ja. Komm, lass mal sehen.« Nico drehte Stefan um und betrachtete sich seinen Rücken, der durch kleine Äste und Steine einige Schrammen abbekommen hatte.

Erkan und Lutz, die das mitbekommen hatten, waren sofort bei ihnen.

»Ach, ein paar Kratzer…. Sicher als ihr gestürzt seid«, beruhigte Lutz. »Moment, ich hol was. In meinem Gepäck ist Pflaster.«

Stefan jammerte nicht, als Lutz eine rosafarbene Tinktur auf die blutenden Stellen träufeln ließ. »Immer muss mir so etwas passieren«, sagte er nur, während ihm Lutz anschließend Pflaster auf die tieferen Schürfwunden klebte.

»So, das wär’s. Hält todsicher bis wir zu Hause sind. Und nun los, ich sterbe jetzt wirklich vor Hunger.«

»Tut’s weh?«, erkundigte sich Nico, als sie ihren Marsch entlang des Bahndamms fortsetzten.

»Nee, quatsch. Spannt ein bisschen….«

Nico dachte darüber nach, dass die Panzerscheibe zwischen ihnen in dem Moment zu Bruch ging, als sie zusammen in die Wiese stürzten. Nun galt es, die Trümmer zu beseitigen und er war weit davon abgerückt, das alleine Stefan zu überlassen. Es war so unbeschreiblich, ihn von einer auf die andere Sekunde wiederzuhaben, ihn anzufassen, zu küssen und zu streicheln. Sicher hatte er das vermisst, schmerzhaft vermisst. Vielleicht war es Teil ihres Schicksals, dass diese beiden Hunde ausgebrochen waren.
Erkan und Lutz gingen einige Meter voraus, so konnten sich Nico und Stefan ungestört unterhalten.

»Ich weiß nicht wie oft ich mich verflucht habe, Nico. Ich weiß es wirklich nicht. Jeden Tag musste ich an uns denken und als du weg warst, so quasi von einer Minute auf die andere, da ist in mir eine Welt zusammengebrochen. Ich hab mich gehasst, weil ich so ein Feigling war. Meinem Vater zu sagen dass du gar nichts damit zu tun hattest, zuzugeben dass ich allein der Schuldige war, vor allem dass ich es nicht fertig gebracht hab das mit dir unter vier Augen zu klären…. Das konnte ich nicht und ich hab bis heute nicht begriffen, warum. Du hast vorhin gesagt, dass es alles, was hinter uns liegt, nie gegeben hätte. Ich glaub nicht, dass ich es vergessen kann. Es war niederträchtig und gemein von mir und ich weiß nicht ob ich deine Freundschaft überhaupt verdient habe.«

Nico blieb stehen und hielt ihn am Arm fest. »Ich kann dich verstehen, ich denke ich hätte auch so gehandelt. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber ich meine, das ist unwichtig. Du bist mein Freund und du hast mich verdient. Weißt du, nachdem was vorhin passiert ist, scheint uns jemand eine Chance geben zu wollen. Wir müssen sie nutzen, beide. Wir haben soviel Zeit darüber zu reden…«

BREAK BREAK BREAK BREAK BREAK BREAK BREAK BREAK BREAK BREAK BREAK

Nach einer guten Stunde erreichten sie den Steinbruch und damit die Verladestation. Hier war der Wald einst der Zivilisation gewichen, aber an vielen Stellen eroberte er sich das Gelände zurück. Es bestand im Wesentlichen aus einem größeren Flachbau, von dessen Rampe aus früher die Waggons be- und entladen wurden und mehreren Holzhütten, die einst einmal Bürogebäude und Wohnungen im einfachsten Stil beherbergt hatten. Nun war ihre Farbe abgeblättert, die Fenster mit Brettern zugenagelt, die Türen mit Stahlschienen und Schlössern vor Fremdzugriff verriegelt. Das Hauptgleis teilte sich in mehrere Schienenstränge, die knapp hinter dem Gelände an verwitterten Rammböcken endeten und alte, rostige Weichensignale zeugten wie auch ein völlig ramponierter Tiefladewaggon vom einstigen Umtrieb hier oben. Alles in allem ein trostloses Bild, das durchaus einem alten Westernfilm entstammen konnte und das vertrocknete Gestrüpp auf dem Gelände vervollständigte dieses Bild. Einzig das Konzert unzähliger Heuschrecken und Grillen hauchte dem Ganzen so etwas wie Leben ein. Der Steinbruch wirkte in seiner dunkelgrauen Farbe fast bedrohlich und ragte nackt und kalt hinter dem Gelände vor ihnen auf.

»Meine Güte, das ist ja das ödeste was ich je gesehen hab«, meinte Lutz dann auch und blickte den Steinbruch hinauf, dessen obere Grenze in dreißig Metern Höhe auch gleichzeitig den Berggipfel mit wettergebeugten Tannen bildete.

Die Vier gingen Richtung der Rampe und kletterten an ihr hoch.

»Man muss sich mal vorstellen, hier haben Leute gelebt. Irgendwie halt.« Lutz versuchte der Wildnis geistig Leben einzuhauchen. Der Lärm, der viele Staub. Verschwitze Leiber im Sommer, im Winter kalt und Schnee ohne Ende. Kein schönes Leben. »Okay, da hinten ist das Signal. Da müssen wir hin«, beendete er seine Traumreise.

»Haltet mal«, rief Nico und fummelte an einem der Vorhängeschlösser zu der Halle. »Das sieht aber aus als wäre hier erst vor kurzem jemand gewesen…. Da ist kein Staub oder so.«

Die anderen kamen zu ihm hin und nickten. »Ja, da war wer.«

Nico wurde unheimlich, einen Moment dachte er an Tobias. Ein ideales Versteck. Aber das Schloss war nicht aufgebrochen und einen Schlüssel würde der Entführer ja kaum haben. Deshalb gab es nur eine logische Erklärung: Hier hatte man nach Tobias gesucht und sicher sahen die anderen Schlösser genauso aus. Er atmete auf. »Los, kommt, die Kocher holen.«

Auf dem kurzen Weg blieb Nico einen Moment stehen und sah in den Himmel. »Dieser Flieger über uns…. der Tornado, erinnert ihr euch?…. Ich glaube ich weiß jetzt was der hier gemacht hat.«

»Was?«, wollte Lutz wissen und sah ebenfalls nach oben, als würde er nach dem Kampfflugzeug sehen.

»Die haben den Jungen gesucht.«

»Quatsch, bei der Geschwindigkeit…«

»Das ist egal. Wärmebildkameras.«

Die Jungen sahen sich an und gingen dann nachdenklich weiter.

Von Hitze und Kälte verbogen, knarrte die Klappe fürchterlich, die sich an dem von Rademann beschriebenen Schaltkasten unter dem Signal befand, als Lutz sie öffnete. Wie versprochen befanden sich fünf kleine Klappkocher aus Aluminium darin und Lutz verteilte sie, samt den dazugelegten Espritwürfeln.
Die Jungen suchten sich eine Stelle auf der Rampe, die von der Sonne beschienen wurde und begannen ihr Mittagessen zuzubereiten. Nach einiger Zeit zogen Gerüche nach Nudeln, Fleisch und Soße über das Gelände.

»Hmm…. seht mal, Besuch….«, sagte Erkan mit vollem Mund und deutete mit der Gabel hinüber zum Waldrand. »Ob der Hunger hat?«

Nico verschluckte sich beinahe. »Rick. Was macht der denn hier? Der ist doch mit Stein zurückgefahren.«

Erkan wandte sich wieder seinem Essen zu. »Scheinbar nicht. Ich vermute fast, er soll auf uns aufpassen.«

»Na ja, kann uns eigentlich bloß recht sein. Nur, wovor soll er uns beschützen?«, fragte Lutz.

»Immerhin hast ja gesehen was so alles passieren kann. Ah, er ist aufgestanden. Warum spitzt er so die Ohren? Kommt einem vor als…. als würde er uns was zeigen wollen.« Nico blies das kleine Feuer in dem Kocher aus, und legte die leeren Packungen beiseite. »Ich geh mal nachsehen.«

Langsam ging er auf den Husky zu, der sich tatsächlich so aufführte als wolle er auf etwas aufmerksam machen. Wenige Meter bevor Nico bei ihm war drehte er um und lief in den Wald, immer wieder zurückblickend um sicher zu sein, dass der Junge ihm folgte.
Das Gestrüpp wurde immer dichter, Nico musste sich oft bücken um den Zweigen zu entgehen. Einen Weg gab es hier nicht, auch sonst keine Anzeichen dass hier etwas besonderes sein könnte. Rick erklomm eine kleine Anhöhe im Wald und blieb darauf stehen. Was immer es auch war, hier musste es sein. Als Nico zu ihm hochgehen wollte, fiel ihm etwas im Laub auf dem Waldboden auf. Im ersten Augenblick war es nicht zu bemerken, aber dann war deutlich eine merkwürdige Verteilung der trockenen Blätter zu erkennen. Hier war jemand gewesen, hatte irgendwie das Laub verteilt. Vorsichtig näherte sich Nico der Stelle, dann erkannte er Holzbretter. Zunächst nur an einer handflächengroßen, laubfreien Fläche. Mit klopfendem Herzen ging Nico in die Knie und schob das Laub beiseite. Es sah aus, als läge hier eine alte Brettertür und angesichts der Umgebung wäre das nicht einmal unsinnig gewesen. Man hatte früher bestimmt allerhand unnutzes im Wald verschwinden lassen. Aber warum saß jetzt Rick da oben und sah interessiert herunter? Sicher nicht wegen ein paar alten Holzbrettern. Nico schob immer mehr Laub zur Seite, schließlich hatte er das Brett freigelegt. Es war etwa einen Meter fünfzig im Quadrat und schien schon Jahre hier zu liegen. Dann sah Nico die Metallöse, groß genug um vier Finger hindurchzuschieben. Eine Klappe, schoss es Nico durch den Kopf. Er stand auf und merkte, wie seine Knie zitterten. Schweiß stand auf seiner Stirn und sein Herz raste. Es musste etwas auf sich haben, umsonst hatte ihn der Hund nicht hier hergeführt. Nach einigen Sekunden der Überlegung kehrte er zurück zu den anderen, alleine wollte er der Sache nicht auf den Grund gehen.

Völlig außer Atem eilte er aus dem Wald auf die Gruppe zu, die gerade mit rauchen beschäftigt war und blieb schwer atmend auf den Knien abgestützt vor ihnen stehen.

»Kommt ihr mal mit? Da drin im Wald ist was…. Rick hat mich hingeführt und es muss einen Grund dafür geben.«

»Na dann lass und das mal ansehen«, sagte Erkan und stand zusammen mit Lutz auf. Stefan sah etwas unschlüssig aus.

»Bleib du bei den Sachen, Stefan, wir sind sicher gleich wieder hier«, entschied Lutz dann auch. Nico wusste nicht ob ihm das recht sein sollte, lieber hätte er seinen Freund um sich gehabt, wie auch immer. Dennoch ließen die drei ihn zurück und liefen auf den Wald zu.

»Was ist denn da so besonderes?«, wollte Erkan auf dem Weg durch das Unterholz wissen.

»Keine Ahnung, es ist wie eine Art Falltür mitten im Wald. Ich wäre da ja nicht hin wenn Rick mich nicht gelotst hätte. Und nur, weil da son Brett auf dem Boden liegt – das allein kann ja der Grund nicht sein.«

Wenig später hatten sie die Stelle im Wald erreicht. Rick saß noch immer auf dem kleinen Hügel und beobachtete die Jungen, als sie sich der geheimnisvollen Stelle näherten.

Erkan ging in die Knie und betrachtete den Bügelgriff. »Hm, was immer das auch zu bedeuten hat, es ist vielleicht besser wenn wir das Ding da nicht mit bloßen Händen anfassen. Oder hast du schon, Nico….?«

»Nein, ich hab nur die Blätter beiseite gewischt. Sonst hab ich nichts angefasst.«

Ohne zu wissen was das alles auf sich hatte waren die Jungs sehr vorsichtig. Es machte sie nur misstrauisch dass Rick so ein Aufheben um diese Sache machte.

Mit einem um die Finger gewickelten Taschentuch langte Erkan durch die Metallöse und begann vorsichtig, das Brett anzuheben. Erstaunlich leicht hob er es um einige Zentimeter an. Bereits jetzt war zu erkennen, dass sich ein Loch darunter befinden musste. Langsam ließ Erkan das Brett wieder absinken. »Ich weiß nicht, wir sollten vielleicht Hilfe holen. Da drunter muss was sein….«

»Komm, lass uns nachsehen. Vielleicht ist ja alles ganz harmlos.«

»Oh, oh, Lutz, das mit dem harmlos kennen wir ja schon….«

»Okay, ich sag’s auch nicht mehr….«, grummelte Lutz. »Ich sollte dann wohl besser zum Handy gehen…. Hätt´s auch gleich mitnehmen sollen…. Bin gleich wieder da.«

Nicos Aufregung legte sich allmählich und er setzte sich an dem Hügel im Schneidersitz auf den Boden, um auf Lutz zu warten. Erkan tat es ihm nach.

»Und, habt ihr euch ausgesprochen, Stefan und du?«

»Na ja, ausgesprochen in dem Sinn…. Wir haben uns versöhnt, das auf jeden Fall. Ich denke es wird noch seine Zeit brauchen bis wir wieder…. soweit sind.«

»Find ich prima. Es wäre ja auch sonst die Hölle geworden in den Wochen hier.«

»Erkan?«

»Ja?«

»Ich…. ich möchte mich entschuldigen für das Theater… weil du mit mir nichts mehr anfangen wolltest…. wegen Stefan. Ich denke es war doch so eine Art Rache-Akt, der Sex mit dir. Ich hätte es nicht tun sollen. Find gut dass du es abgelehnt hast.«

»Ah, quatsch. Musst dich nicht entschuldigen. Letztlich verstehe ich dich ja auch.«

»Du hast von Anfang an gewusst das ich noch immer an ihm hänge, oder?«

»Nein, nicht gewusst. Das hat man doch gespürt. Denk bloß mal über Steins Worte nach….«

Knackende Äste kündigten Lutz wieder an. »Ich hab’s fast überall versucht, hier am Steinbruch gibt’s keinen Empfang. Vielleicht wenn man hochsteigt auf den Gipfel. Hm, aber die haben an fast alles gedacht….« Er hielt mit grinsendem Gesicht eine Stablampe hoch. »Aber gut, das mit dem Handy macht jetzt nicht viel Sinn. Kommt, lasst uns nachsehen was da drunter ist«, entschied er spontan und fuhr auch gleich mit einem stärkeren Ast durch die Metallöse. Erkan nahm das andere Ende und gemeinsam hoben sie das Brett an. Nico stand davor und als Tageslicht allmählich in das Loch fiel, erkannte er eine Treppe die nach unten führte. Ihm wurde unheimlich zumute. Kühle, muffige und nach Moder riechende Luft schlug ihnen entgegen. In diesem Augenblick schien es totenstill im Wald und eine sonderbare, unheimliche Atmosphäre lag plötzlich über der Stelle. Behutsam ließen die beiden die Falltür nach hinten auf dem Boden ab. Nico trat etwas vor und spähte die bemooste, steinerne Treppe hinunter. Er traute sich nicht weiter vor, so als könnte ihm gleich etwas aus diesem Loch entgegen springen. Angespannt lauschten die drei hinein in die Dunkelheit, aber es war nichts zu hören.

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