Er stand auf und Sekunden später war ich alleine. Diese Sache hatte mich derart aufgewühlt, dass ich aufstand und ans Fenster ging. Was war los mit mir? Was war mit ihm los?
Die Wasserrohre für den Sprenger aufzustellen ist reine Knochenarbeit. Ich tat das in letzter Zeit alleine, aber nun war da Marcus mit dabei. Ich sah wie er sich mühte und ich weiß, welche Kraft das auf feuchtem Feldboden kostete. Aber Marcus jammerte nicht. Er schleppte die Rohre, half mir beim anschließen. Er war talentiert, ohne Zweifel. Aber es dürfte nicht lange dauern, dann würde er mir zusammenklappen.
Das tat er nicht, aber es war dann wohl endgültig der Rest. »Morgen früh fahr ich«, sagte er beim Abendessen.
Es überraschte mich nicht, sowenig wie meine Eltern.
Am späten Abend stand ich vor seiner Tür und klopfte. »Marcus?«
»Komm rein.«
Er lag auf seinem Bett und las ein Magazin, aber diesmal hatte er nur eine Short an. Es war eine Augenweide, ihn so zu sehen.
»Was gibt’s? Versuch nicht, mich zu überreden, ich fahre Morgen nach Hause. Das hier ist nichts für mich.«
Ich brauchte lange für eine Frage, wusste nicht einmal ob ich sie stellen sollte. Aber ich musste es tun. »Und was ist mit mir?«
Er ließ das Magazin auf seinen Bauch sinken. »Was meinst du damit?«
»Hey, wir sind ein echt gutes Team.«
»Aber das ist mir alles zu schwer.. und das frühe Aufstehen erst.. Nee, lass mal, du kriegst das auch ohne mich hin. Und zudem..«
»Was zudem?«
»Es riecht hier überall nach.. Kuhstall, Schweinemist, Hühnerkacke, Misthaufen. Das ertrag ich einfach nicht. Und du.. du riechst auch so danach.«
»Ach, ich rieche nach Misthaufen?«
»So meinte ich es nicht, aber irgendwie…«
»Und du meinst das im ernst?«
Er sah mich wieder so komisch an. »Lass mich jetzt bitte schlafen, die Reise wird lang genug.«
Ich konnte nicht fassen was er da sagte, aber ich schwieg. Womöglich hatte er Recht. War das nicht das Klischee, dass ein Landwirt nach Mist riecht? Ich wurde wütend, knallte beim hinausgehen die Türe zu.
»He, Maria, ganz ruhig, Stefan will dir nur Gutes tun.« Ich lenkte mich beim melken ab, sprach mit meinen Kühen. Sollte er doch heimfahren. Die Tiere hier waren anders, ganz anders. Dankbar, lieb, und man konnte mit ihnen kuscheln. Naja, nicht so, aber lieb haben, das konnte ich sie. Und ich spürte ihre Gegenliebe.
Paula. Immer wieder hatte ich nach ihr gesehen zwischendurch. Sie konnte jeden Augenblick kalben und ich musste, wollte unbedingt dabei sein. Ich sah ihr in die Augen klopfte auf ihren Kopf. Wahrscheinlich war es besser, wenn ich bei ihr bliebe diese Nacht. Ich spürte, dass es nicht mehr lange dauern würde.
Ich ging nach oben und holte meinen Schlafsack, der für solche Fälle gedacht war und rief Dr. Beier an um ihn darauf vorzubereiten. Ich wollte Paulas Kälbchen nicht dem Zufall überlassen, es war beim ersten Mal manchmal nicht ohne Komplikationen.
Beladen mit Schlafsack, kleinem Radio, einer Flasche Wein und Handy wollte ich gerade die Treppe runter, als Marcus unter der Tür stand.
»Wo willst du denn hin?«
Ich war sauer auf ihn, ja, richtig sauer. Er war am anderen Tag verschwunden und ich hatte keine Lust mehr, mich mit ihm zu unterhalten. Sicher, er tat das einzige Richtige für sich, aber mir würde er unheimlich fehlen.
»In den Stall.«
»Und warum?«
»Interessiert dich das wirklich?«
Er hörte scheinbar an meinem Unterton, dass ich lieber gar nichts gesagt hätte.
»Nein, eigentlich nicht.«
»Dann gute Nacht…«
Ich legte aber dann doch mein Zeug auf dem Boden ab. »Morgen früh muss ich in den Mais, wahrscheinlich sehen wir uns nicht wieder.« Ich reichte ihm die Hand. »Mach’s gut, Marcus. Einerseits verstehe ich dich, andererseits tut’s mir leid dass du gehst.«
»Warum tut es dir leid?«
»Wir haben darüber gesprochen. Ich hätte dich gern hier gehabt, aber für dich ist es ja nichts. Da gibt’s halt keinen Kompromiss.«
»Ist es nur, weil ich du mich für die Arbeit brauchst, oder..?«
Nun hatte er mich getroffen. Er wusste, er ahnte es. Seine Nähe war es und er hatte es gespürt. Was sollte ich ihm da sagen? Dass ich mich ein wenig in ihn verliebt hatte? In seine Art, sein Wesen? Ich erinnerte ihn an seine Worte, obwohl es mir ein bisschen wehtat. Umstimmen konnte ich ihn eh nicht und ein Wiedersehen war praktisch unmöglich.
»Du, ich stinke mal wieder mächtig nach Mist, besser du bist nicht so lange in meiner Nähe.«
Ich ließ ihn los, nahm meine Sachen auf und sah im noch einmal in die Augen. Er schluckte, sagte aber nichts. Damit war ich einer allzu gefühlvollen Verabschiedung aus dem Weg gegangen.
Langsam ging ich die Treppen hinunter, spürte Marcus’ Blicke in meinem Rücken. Aber es war nichts zu ändern.
Paula hatte ich schon am Vorabend in eine separate Box gebracht, in der sie viel Platz hatte. Sie sah mich an als ich zu ihr kam als wollte sie Danke sagen.
»Nee, Mädchen, ich lass dich nicht alleine. Notfalls muss der Mais halt warten mit dem Düngen. Ich bleib bei dir.«
Ich tätschelte ihren Kopf, gab ihr einen Kuss auf die Schnauze und richtete mich in einer Ecke der Box ein. Ich liebe den Geruch nach frischem Heu und nach Stall. Warum schlief ich nicht öfter hier? Man konnte sich da so wunderbar ablenken.
Ich zog mich aus, stellte den Radio ganz leise und kroch in den Schlafsack. Meine Gedanken kreisten um Marcus. Wie schade das sich ihn nicht wiedersehen würde. Naja, er hatte schon recht. Auch wenn man es selbst nicht merkt, ich dachte mir schon dass der Geruch nach Bauernhof an einem haftete. Aber da es mich selbst nicht störte war es mir egal. Marcus hatte ja nur seine Meinung geäußert.
Ich versuchte, nicht einzuschlafen, denn mein Schlaf war tief und fest. Und dann würde ich den Moment verpassen.
Ich hörte in der allgemeinen Unruhe des Stalls plötzlich Schritte. Mein Blick auf die Uhr zeigte kurz vor Mitternacht.
Papa konnte es nicht sein, Mama auch nicht. Die wussten dass ich mich um Paula kümmerte. Also gab es nur eine Person, der diese Schritte gehören konnten. Ich tat, als schliefe ich. Innerlich total aufgeregt harrte ich der Dinge, da kommen könnten. Ich hörte, wie das Gatter aufgemacht und wieder geschlossen wurde, Schritte im trockenen Heu. Paula muhte kurz. Ich hielt meine Augen geschlossen.
Die Schritte kamen ganz nah, dann, kurz neben mir, blieb die Person stehen. Was sollte ich jetzt machen?
Dieser Jemand schien sich ins Heu zu setzen, direkt neben mich. Ich zerplatzte bald vor Aufregung. Würde mich die Person gleich berühren, irgendwie? Paula muhte wieder, aber nun mit einem anderen Ton. Sofort wurde ich Hellhörig. Das könnte Alarm bedeuten. Vielleicht hatte sich Paula ja aufgeregt deswegen und nun ging’s los..
Ich öffnete meine Augen.
»Hallo Stefan.«
»Oh, Dr. Beier.«
»Ja, ich habe nichts mehr vor und bevor ich von dir aus dem Schlaf gerissen werde und hier herfahren muss, bin ich lieber gleich los.«
»Aber wenn es nu nichts wird, diese Nacht?«
»Dann nicht.«
Er zog seine Jacke aus, warf sie ins Stroh und legte sich neben mich. Ich mochte Dr. Beier. Er war immer da wenn man ihn brauchte und das sehr schnell. Es war ihm egal ob man Sonntags zum Frühstück anrief oder mitten in der Nacht. Er war zu seinem Beruf geboren und oft dachte ich, auch Tierarzt zu werden. Aber meine Noten passte da nicht und schließlich war es doch auch stressig.
Dr. Beier war manchmal mit seiner Familie zu Gast bei uns. Er hatte ne liebe Frau, einen Sohn und eine Tochter. Hanna war 6 und Hubert 12. Eine liebe Familie wie ich fand, eigentlich ein Traum. Nicht dass ich neidisch gewesen wäre, aber irgendwie waren sie wie ein Vorbild für mich.
Die Nacht passierte wirklich nichts. Paula blieb ruhig und es schien nun doch noch etwas länger zu dauern.
Als ich aufwachte war Dr. Beier bereits verschwunden. Paula lag im Heu und kaute vor sich hin.
Plötzlich stand Marcus in der Box. »Morgen Stefan.«
Ich rieb meine Augen. Wieso war er noch hier? Es war sieben Uhr.
»Ich hab noch n bisschen Zeit und unser Abschied gestern Abend war ein bisschen doof.«
Ich kapierte erst nicht. »Was heißt doof?«
»Naja, ich weiß auch nicht.«
Ich zog den Reißverschluss meines Schlafsacks auf. Dass ich nur eine Short anhatte störte mich nicht und ihn sollte es auch nicht. »Komisch«, sagte ich.
»Was?«
»Du wirst gleich abgeholt und kommst zuvor in den Stall. Meinst du nicht, dass die anderen das riechen werden? Und mir bleibst du lieber auch zwei Meter vom Leib, ich dufte nicht nach Veilchen.«
Er sah mich an mit seinen großen, schönen Augen. Aber die konnten mich nicht von meinem Sarkasmus ablenken. Es waren seine Worte.
Er sah zu Boden, sehr verlegen wie mir schien, aber es war mir wirklich egal. Ich zeigte auf Paula. »Sie wird sehr bald ein Kälbchen bekommen. Und ich hab ihr versprochen, bei ihr zu sein wenn es soweit ist.«
Marcus’ Blick wurde immer verlegener, er traute sich nicht, mich direkt anzusehen.
»Das ist hier nun mal so. Aber ich glaube, du musst langsam gehen.«
»Es ist noch ein bisschen Zeit«, sagte er leise.
»Gut, wenn du meinst.«
Ich stand auf und sah, wir er mich anstarrte in meinen Shorts. Es war mir peinlich, hier in dieser eigentlich wenig einladenden Umgebung. Trotzdem kam der Voyeur in mir durch. Langsam zog ich mein Hemd an, dann die Strümpfe, die Hose, die Schuhe. Er schien jede meiner Bewegungen beobachtet zu haben.
»Ich würd ja gern bleiben.. «
»Aber?«
»Ach, es ist so schwer. Ich hab Muskelkater und der Tag ist zudem so lang.«
Er war ja wenigstens ehrlich. »Und dann der Gestank und die Fliegen..,« ergänzte ich.
Ich spürte, dass ihm diese Worte von vorher leid taten.
Plötzlich rührte sich Paula. Sie wandte sich merkwürdig hin und her. Sekunden später hatte ich das Handy in der Hand, um Dr. Beier zu rufen. Aber es war zu spät..
Zuerst kamen die Füße des Kälbchens zum Vorschein.
»Komm, hilf ziehen«, schrie ich.
»Was soll ich?«
»Verdammt, du sollst die Füße packen und ziehen. Nimm das Tuch da drüben.«
»Warum das Tuch?«
»Mensch, die Füße sind nass, du rutschst sonst ab.«
Marcus starrte mich an.
»Was ist jetzt? Willst du mir nun helfen oder nicht? Kapierst du es nicht? Da kommt eine kleine Kuh auf die Welt und die braucht unsre Unterstützung.«
Zaghaft nahm Marcus das Handtuch und griff zögerlich die kleinen Beine, die aus Paulas Bauch herausragten. Ich packte mit an.
»Zieh, Marcus, zieh einfach.«
Endlich schien er zu begreifen und packte mit zu. Gemeinsam zogen wir und mit einem mal fiel das Kleine vor uns ins Stroh.
Nun lag vor uns das kleine Kälbchen.
»Hilf es mir abzutrocknen«, sagte ich fast atemlos zu Marcus, der sich neben mich und Paula gekniet hatte.
Das Kälbchen zappelte und versuchte unter allen Umständen aufzustehen.
Ich zeigte Marcus mit dem Arm in die Ecke, wo die Tücher lagen. »Was ist, willst du es nicht abtrocknen? Es kann sich sonst leicht erkälten. Übrigens – es ist ein Junge.«
»D.. doch..«
»Na los, du kannst nicht ewig warten.«
Es war warm genug, dem Kälbchen würde nichts passieren, ich tat es mit Absicht. Ich hatte Marcus beobachtet als der Kleine auf die Welt kam. Marcus’ Augen waren starr vor Schreck, er wusste eigentlich gar nicht richtig was da passierte. Vielleicht waren da Abscheu und Ekel, vielleicht aber auch Faszination und Erstaunen. Und ich ahnte in dem Augenblick, dass sich etwas in ihm regte.
»Na los, trockne es endlich ab«, rief ich Marcus zu, als ginge es wirklich ums Leben.
Zaghaft beugte er sich zu dem Kleinen hinunter und begann es ungeschickt abzuwischen. Ich wollte ihm erst helfen, dann ließ ich es bleiben.
Dr. Beier kam in den Stall. Ohne Worte ging er zu dem Kälbchen hin, horchte es ab, tastete mal hier mal da, leuchtete in die Augen.
»Ein bisschen schwach, das Herzklopfen, aber das muss nichts heißen.«
Diese Worte beunruhigten mich, aber ich verließ mich auf Dr. Beiers Aussage. »Puh, das war aber jetzt schnell gegangen.«
Er lächelte und fuhr mir durch die Haare. »Haste gut gemacht. Wenn Probleme auftauchen, sag Bescheid. Ich komm morgen wieder, wegen der Impfungen. Und muss mir die Herztöne genauer anschauen.«
»Ok, aber das war ich nicht alleine, der den Kleinen auf die Welt gebracht hat. Marcus ist mir zur Hand gegangen.«
Marcus stand da und sah zu dem Kälbchen hin, das nun auf wackligen Beinen in der Box stand und von Paula abgeleckt wurde.
Dr. Beier ging zu Marcus hin und wuschelte ihm den Kopf. »Klasse gemacht. Solltest dir mal überlegen ob das nichts für dich wäre.«
»Marcus? Der Wagen ist da«, rief meine Mutter in den Stall.
»Moment.. ich komm gleich.«
Ohne Regung stand Marcus da. »Wie heißt er denn?«
Ich hatte mir noch keine Gedanken darüber gemacht, aber ein besserer Name fiel mir dann nicht ein.
»Marcus.«
»Was?«
Ich grinste. »Ja, gefällt dir der Name nicht?«
Seine Augen wurden feucht. Langsam ging er auf das Kälbchen zu und streichelte zaghaft den kleinen Kopf. »Was hat der Doktor gemeint, mit schwachem Herzklopfen?«
»Das hat nichts zu sagen, mach dir keine Sorgen«, beruhigte ich ihn, obwohl mir nicht ganz wohl war dabei.
»Ich fahr nicht«, rief er plötzlich.
»Was heißt, du fährst nicht?«
Mama war an die Box gekommen.
»Ich bleib hier.«
Ich winkte meiner Mutter, dass sie gehen sollte. Marcus war gar nicht hier. Irgendwo schwebte er mit seinen Gedanken und ich wusste, dass er wirklich nicht fahren würde. Ich ging zu Paula hin und küsste sie auf die Schnauze. »Danke, meine Süße«, flüsterte ich.
Das Kälbchen saugte an seiner Mutter und Marcus sah fasziniert zu. Er war eigentlich nicht mehr ansprechbar und ich sagte auch nichts mehr. Ich ließ ihn alleine, andere Arbeit wartete noch auf mich.
Es wurde spät an diesem Abend bis ich vom Feld kam. Dabei musste ich beim einparken des Traktors grinsen. Den ganzen Tag da draußen hörte ich Radio, fand jedes Lied einfach nur schön. Obwohl es diesig war und kühl, fand ich, dass die Sonne scheint. Ich unterdrückte, dass es Marcus war, aber dennoch – er war der Auslöser meiner guten Laune. Er würde bleiben, den Rest seiner Zeit, da war ich sicher. Vielleicht würde er sich nur noch im Stall aufhalten, aber das war mir egal. Er war da, in meiner Nähe und mehr hatte ich nicht gewollt.
Wir saßen beim Abendessen. Immer wieder sah ich zu Marcus, der neben mir saß. Ein hübscher Kerl. Und schon leicht angebräunt. „Knusperboy“ dachte ich und musste grinsen. Nur, wie ging es weiter? Er würde hier bleiben, hatte er kurz zuvor gesagt. Ich wusste dass es das Kälbchen war, das es ihm angetan hatte. Oder nicht nur? Wie konnte ich herausfinden was er von mir hielt? Klar, im Grunde völliger Schwachsinn. Was sollte er von einem nach Mist riechenden Landwirt wollen?
Nach dem Essen gingen wir noch einmal nach dem kleinen Marcus sehen. Dr. Beier war unter Tage hier gewesen und hatte ihn geimpft. Meine Eltern sagten, es wäre alles okay mit ihm, nur das Herz wäre ein bisschen schwach. Aber das würde sich geben.
Wir gingen in die Box. Marcus-Kälbchen stand bei seiner Mutter und sah uns an. Ich beobachtete seinen Namensvetter.
»Er ist so süß«, brachte er mit leuchtenden Augen hervor. Dass das wohl mit dem Namen zusammenhängen könnte sagte ich nicht.
»Und, hast du es bereut hier geblieben zu sein?«, fragte ich.
Marcus lächelte nur.
»Nein, nicht mehr.«
»Du kannst ja hier bleiben und auf ihn aufpassen.«
Marcus strahlte mich an. »Wirklich?«
»Ja klar. Man kann bei so jungen Kälbchen nicht wissen.«
Ängstlich sah er mich an. »Was kann man nicht wissen?«
»Naja, in dem Alter kann alles Mögliche passieren.«
Marcus’ Augen wurden groß. »Was denn zum Beispiel?«
»Kreislauf, Durchfall, Infektionen.. es gibt ne Menge Sachen.«
Ich log fast das Blaue vom Himmel herunter, nur um ihn in die Verantwortung zu bringen. Dabei vergaß sich nicht, dass das Kälbchen nicht ganz so gesund war. Aber Dr. Beier hatte gesagt, das wäre kein Grund zur Sorge. »Du kannst auch hier bei ihm schlafen wenn du willst.«
»Hier, im Stall?«
»Ja, tu ich auch immer, zumindest die ersten Nächte.«
Marcus sah mich an, dann wieder zu dem Kälbchen. Und das sah ihn ebenfalls an. So, als wollte es ihn dazu überreden. Dann stakste es neugierig auf uns zu. Marcus streckte seine Hand aus und ließ sie sich ablecken.
»Glaubst du wirklich dass ihm was passieren kann?«
Ich zog die Schultern hoch. »Wie gesagt, man kann es nicht wissen.«
»Gut, ich möchte bei ihm bleiben. Aber wo und wie..?«
»Ich bring dir meinen Schlafsack.«
Marcus lag da unten im Heu, ich oben auf meinem Bett und kam aus dem Grübeln nicht mehr heraus. Ich hatte ihn soweit, dass er den Geruch aus Heu und Stall akzeptierte und er liebte das Kälbchen, ohne Zweifel. War ja immerhin bei seiner Geburt dabei. Und dann der Name..
Und ich hatte mich in Marcus verliebt. In das Kälbchen sowieso, aber auch in diesen süßen Jungen. Sie hatten etwas gemeinsam. Süß und kuschelig. Immer deutlicher spürte ich es, wenn er in meiner Nähe war.
Sollte ich noch mal runter in den Stall, nach ihm sehen? Etwas zog mich zu ihm, ich fand keine Ruhe.
Wenig später betrat ich den Stall, leuchtete mit der Taschenlampe meinen Weg. Der Lichtkegel traf Paula, neben ihr lag Marcus-Kälbchen und sah mich müde an. Drüben an der Wand machte ich den Schlafsack aus.
Langsam ging ich zu ihm hin, leuchtete aber daneben um den Jungen nicht zu wecken. Ich ging in die Knie und sah den Haarschopf, mehr nicht. Alles andere war in meinem Schlafsack versteckt. Ich konnte mich nicht beherrschen, war mir über die Folgen meines Tuns aber auch nicht klar.
Langsam streckte ich meine Hand zu dem braunen Wuschelkopf aus, fuhr sanft hindurch. Marcus räkelte sich daraufhin und ich nahm meine Hand wieder weg. Schade dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte, er sah bestimmt aus wie ein Engel wenn er schlief.
Ich stand langsam wieder auf und schlich mich zum Boxentor.
»Stefan?«
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Er hatte mich nicht sehen können, dennoch wusste er dass ich es war.
Marcus setzte sich auf und ich sah im Schein der Taschenlampe seinen nackten Oberkörper. Der Junge lag in meinem Schlafsack, würde dort seinen Duft hinterlassen.. Merkwürdigste und abstruseste Gedanken schossen mir plötzlich durch den Kopf.
Ich kniete mich neben ihn. »Was ist, kannst du nicht schlafen?«.
»Doch, aber du hast mich ja geweckt.«
»Tschuldige, das hab ich nicht gewollt.«
»Macht ja nichts.«
Wir sahen uns an und plötzlich baute sich eine ganz seltsame Atmosphäre zwischen uns auf. Man konnte sie förmlich spüren und ich meinte dieses berühmte Knistern hören zu können. Ich machte die Taschenlampe aus und nun sah ich durch das schwache Mondlicht, das durch die kleinen Stallfenster fiel, nur noch vage die Umrisse seines Körpers. Die Stille wurde nur durch das Rascheln des Strohs der unruhig schlafenden Kühe unterbrochen.
»Gute Nacht, Stefan«, hörte ich dann wie durch Watte.
»Schlaf gut«, brachte ich mühsam und enttäuscht hervor. Er wollte nichts von mir, das wurde mir in diesem Moment klar.
Langsam tuckerte mein Traktor durch das junge Maisfeld, aus dem Anhänger schleuderten die Düngekügelchen ins Feld und ich träumte in der frühen Sommersonne vor mich hin. Marcus sagte beim Frühstück kein Wort, verschwand kurz darauf auch wieder im Stall. Es war ja schön dass er sich um seinen Namensvetter so rührend kümmerte, aber lieber hätte ich ihn bei mir gehabt. Da ich sich seine Antwort ahnte fragte ich ihn erst gar nicht, ob er mit aufs Feld fahren wollte. Er würde den Rest seines Praktikums im Stall herumhängen und nach der vergangenen Nacht würde ich auch nicht mehr zu ihm gehen. Egal war mir das nicht, aber ich wollte mich nicht unnötig quälen.
Als ich den Weg oben am Feldrand erreichte, stand genau in Fahrtrichtung ein Motorrad quer auf dem Weg. Ich konnte nicht an ihm vorbei, um meinen Trecker zu wenden und hielt an.
Ein Mann, so hatte es den Anschein, eingehüllt in eine enge Lederkombi. Der schwarze Helm war genauso von aufgemalten, goldenen Flammen geziert wie der Tank der Maschine, das dunkle Visier war auf mich gerichtet.. Der Fahrer hatte den Motor der Maschine, eine KTM 950 ADVENTURE in schwarz, abgestellt, stützte sich mit beiden Beinen ab und schien auf mich zu warten. Ein komisches Gefühl kam in mir hoch. Was wollte der Mann von mir?
Zugegeben, die Figur dieser Person machte mich an.
Langsam und neugierig ging ich auf das Gefährt zu. Der Unbekannte nahm seine Hand hoch und schob langsam das Visier nach oben. Ich erkannte ihn dann an den Augen, die so unverwechselbar waren. »David??«
Er grinste mich an.
»Hallo Stefan.«
Ich war zunächst sprachlos. Diese wasserblauen Augen, der sinnliche Mund. David sah mich an und sein Grinsen erstarb. Eher ernst wurde sein Gesichtsausdruck.
»Was führt dich hierher?«, fragte ich ihn.
»Zufall.«
»Nichts zu tun aufm Hof?«
Sein Gesicht wurde noch ernster. »Ich bin nicht mehr auf dem Hof.«
»Nicht? Was machst du dann?«
»Bin nach Hamburg gezogen.«
»Okay, warum nicht? Aber was machst du dort?«
»Ist das wichtig?«
»Nein, nicht wirklich«, antwortete ich, wobei ich mich fragte warum er mir keine Antwort darauf gab. Sonst war David nicht so verschlossen. Sicher, wir hatten uns eine Zeitlang nicht gesehen, aber das dürfte nicht der wirkliche Grund gewesen sein.
Er zog seinen Helm vom Kopf und schüttelte ihn, fuhr sich durch die wirren Haare. Wild sah er aus, schön und geheimnisvoll.
»Bin mit Andreas zusammengezogen«, sagte er schließlich und strich unsicher über den Tank seiner Maschine. Mich wunderte es etwas, immerhin hatte er doch auch was mit Angela aus der Parallelklasse gehabt. Naja, wahrscheinlich war er ein Bi. Störte mich nun auch nicht wirklich.
»Hey, das ist ja toll.«
»Arbeite jetzt im Landesamt für Verfassungsschutz.«
»Das wolltest du doch schon immer, oder? Nur, warum plötzlich diese Entscheidung? Du wolltest doch den Hof übernehmen?«
David stieg von der Maschine und zog den Reißverschluss seiner Kombi auf. Sein weißes T-Shirt darunter hatte einen großen, dunklen Fleck auf der Brust. Ich konnte mir vorstellen wie warm es unter dem Ding war.
Warum hatte ich damals nicht reagiert, nach seinem Kuss? Vielleicht könnte er heute mir gehören. Marcus tauchte vor meinem geistigen Auge auf.
»Und nun bist du rein zufällig in der Gegend?«
»Naja, Andreas ist drei Tage auf Seminar, ich hab Urlaub und da wollte ich halt mal wieder meine alte Heimat besuchen.«
Ich deutete auf sein Motorrad. »Scheint dir ja nicht schlecht zu gehen.«
Er grinste wieder so schelmisch. »Naja, ganz gehört sie mir ja noch nicht, aber bald.«
Ich hatte durch unser Gespräch nicht mitbekommen, dass sich der Horizont verdunkelte. Ich wusste zwar dass es Gewitter geben würde, aber nicht so früh.
»David, ich muss weitermachen, sonst gibt’s Probleme mit dem Wetter«, sagte ich und deutete mit dem Daumen hinter meinen Rücken auf das Feld.
Er lächelte. »Ja klar, weiß Bescheid.«
»Möchtest du dableiben, ich mein, wir haben immer einen Platz für dich frei im Haus.«
Er sah mich an, diese Augen schienen mich zu durchdringen und ich beneidete Andreas zutiefst. Wenn ich mir Andreas so vorstellte, passten sie beiden prima zusammen.
»Kannst ja schon mal vorfahren«, sagte ich, »ich bin in einer Stunde hier fertig.«
David nickte nur, zog seinen Reißverschluss wieder hoch, setzte seinen Helm auf und startete die Maschine. Ich sah ihm nach wie er die Landstraße hinauffuhr. Etwas weiter weg drehte er die Maschine voll auf und verschwand mit unheimlichem Geheul im Wald.
Nachdenklich fuhr ich das letzte Stück des Feldes ab, meine Gedanken pendelten zwischen David und Marcus hin und her. Marcus. Ich hatte ihn David gegenüber nicht erwähnt. Aber das spielte ja auch keine Rolle, möglicherweise würden sich die beiden vor meiner Rückkehr gar nicht begegnen.
Es reichte mir gerade noch, den Trecker in die Scheune zu fahren bevor das Unwetter hereinbrach. Wie immer blieb ich ein paar Minuten auf dem Traktor sitzen. Aber eine Unruhe überfiel mich. Konnte es Hagel geben? Der war für gar nichts gut da draußen.
Müde stieg ich ab und beschloss trotz anderem Vorsatz, nach den beiden Marcus‘ zu sehen.
Erst jetzt fiel mir Dr. Beiers Auto auf dem Hof auf. Sofort geriet ich in Panik, denn eigentlich gab es keinen Grund dass er hier sein musste. Ich beschleunigte meine Schritte und hörte schon von weitem Stimmen aus dem Stall.
Mit rasendem Herzschlag ging ich durch den strömenden Regen zu dem Stall hin, sah den Doktor, Vater, Mutter, Marcus – und David vor der Box stehen.
Ich drängelte mich zwischen ihnen hindurch und sah Dr. Beier über dem Kälbchen knien. Aber er kniete nur da, tat nichts, machte nichts, sagte nichts, starrte nur auf den leblosen Körper vor ihm.
Meine Mutter hatte Marcus in die Arme genommen und drückte ihn – und der Junge schluchzte, weinte.
Es kam immer mal vor dass ein Jungtier stirbt, aber nun stiegen mir ebenfalls Tränen in die Augen.
Paula stand da und sah mich an, das machte alles nur noch schlimmer.
Dr. Beier und mein Vater zogen das tote Kälbchen langsam aus der Box, ich drehte mich um und ging hinaus, wollte das nicht sehen. Tränen vernebelten meinen Blick.
Der Regen hatte aufgehört, kein Hagel. Ich spürte eine Hand auf meinem Rücken.
»Tut mir so leid«, hörte ich David sagen. »Willst du nicht mitkommen, was anderes machen? Das wird hier doch immer so weitergehen.«
Ich sah ihn an. »Nein, David, das ist mein Leben. Es ist nicht immer gerecht, aber damit hab ich mich abgefunden. Es ist nur, ich hab dieses Kälbchen besonders lieb gehabt…«
Ich sah zurück und meine Mutter hielt Marcus noch immer im Arm. Nun würde er nie wieder etwas mit all dem zu tun haben wollen. Ich ging auf die beiden zu, stellte mich in den Weg. Marcus sah mich mit verweinten Augen an.
Meine Mutter trennte sich von ihm und ich stand alleine vor ihm, David war mir nicht gefolgt.
»Tut mir so leid, Marcus..«
Er starrte mich an. »Warum nur?«
Ich zog die Schultern hoch.
Er ging an mir vorbei, hinein ins Haus.
»Wer ist der Junge«, fragte mich David, nachdem er zu mir gekommen war.
»Ein Praktikant«, antwortete ich nur knapp.
David stellte sich vor mich und sah mir in die Augen. »Und?«
»Was heißt und?«
»Nichts, ich meinte nur.«
In diesem Augenblick drohte ich durch zudrehen. Das Kälbchen war meine einzige Hoffnung, dass Marcus hier bleiben würde. Und ich brauchte seine Nähe. David schien mir trotz allem doch recht glücklich und nur ich stand nun bald da, mit Nichts.
»David, ich hab mich in den Jungen verliebt«, sagte ich leise.
Er sah mich mit großen Augen an. »Was hast du?«
»Du hast schon verstanden.«
Er pustete laut die Luft aus seinen Lungen. »Du bist.. schwul?«
»Ich denke mal, sowas ist ja nun nichts Neues für dich.«
»Nein, aber du.. ist ja ein Ding. Und er?«
»Marcus? Keine Ahnung. Ist mir aber auch egal. Nachdem was grade passiert ist wird er Morgen fahren.«
»Warum?«
Ich erzählte ihm die Geschichte von Anfang an.
»Oh, dann seh ich das auch so.«
»David, lass gut sein. In zwei, drei Tagen ist hier wieder Tagesordnung angesagt und damit hat’s sich’s.«
»Du gibst ihn einfach auf, wie?«
»Wieso? Marcus ist nicht schwul, ich glaubs wenigstens nicht.«
»Willst du es nicht herausfinden?«
»Wie denn? Soll ich ihn vielleicht fragen „hey Marcusboy, bist nicht zufällig schwul?“
»Red kein so ein Scheiß. Du weißt dass du Müll von dir gibst.«
»Dann gib mir nen realen Tipp. Ansonsten vergiss es.«
David kickte ein Steinchen über den Hof, begann hin und her zu laufen. »Ich kann zwei Tage hier bleiben.«
»Schön. Wenn du möchtest, nichts dagegen«, erwiderte ich wenig freundlich. Seine Nähe beunruhigte mich, aber ich hätte wenigstens jemanden zum reden gehabt. Und danach war mir.
Er stellte sich vor mich und packte mich an den Armen. »Hör zu, du Landei. Du kennst Andreas, sehr gut, er saß in der Schule neben dir. Ich war sowas von Eifersüchtig, das glaubst du nicht. Ich wusste ja nicht ob ihr was zusammen habt, aber ich hab von da an, wo ich wusste dass ich ihn haben will, alles versucht, ihn zu kriegen. Ich hab um ihn gekämpft als ich merkte, dass da noch andere waren die sich an ihn ranmachen wollten.«
Mein Mund stand offen. »Und von all dem hab ich nichts bemerkt? Er saß doch neben mir..«
»Ja, Augen zu und durch, das ist wohl deine Devise. Hauptsache Augen zu. Er hat oft zu mir gesagt dass er in dich verknallt war, aber alle Signale die er gesendet hat verpufften im Nichts.«
Andreas.. Wir unternahmen viel, machten Hausaufgaben, gingen schwimmen und Rad fahren. Aber Signale – nein, ich hatte nie welche gesehen. Oder sehen wollen?
»Und jetzt?«, fragte ich unsicher.
»Meine Güte, soll ich zeigen wie man um einen Jungen kämpft oder zumindest rauskriegst ob der unter Umständen schwul ist?«
»Marcus ist nicht schwul.«
»Soso, da ist der Herr sich wohl sehr sicher.«
»Ziemlich«, antwortete ich patzig.
»Naja, hat wohl keinen Sinn mir dir darüber zu diskutieren. Ich fahre denn mal wieder und lass dich trauern. Falls du es nicht gemerkt hast – ich hatte dir grade meine Hilfe angeboten. Aber du merkst ja nicht mal das.«
»Ich brauch deine Hilfe nicht. Von keinem«, gab ich trotzig zur Antwort.
Da bemerkte ich, dass Marcus unter der Tür stand und zu uns herübersah. Er war nah genug um unsre Worte zu verstehen. David bemerkte meinen Blick und drehte sich um. Marcus wirkte wie versteinert.
Plötzlich nahm mich David in die Arme und küsste mich mitten auf den Mund. Er hielt mich so fest, dass ich mich nicht wehren konnte – und ich ließ es dann geschehen. Ich kannte es ja schon, auch wenn es lange zurücklag und schon gar nicht mehr wahr zu sein schien. Ich spürte wie sich seine Zunge auf meine Zähne presste und ließ sie ein, mir war alles egal.
Wie lange wir so dastanden weiß ich nicht mehr, ich sah nur über Davids Schulter hinweg dass Marcus noch immer dort stand und uns beobachtete.
Wortlos trennte sich David von mir und lief zu seiner Maschine, startete und brauste vom Hof.
Ich stand da wie angewurzelt, sah ihm nach, spürte noch seine Zunge in meiner Mundhöhle, roch das Leder seines Kombis. Es haftete an meinem ganzen Körper.
Langsam drehte ich mich um, Marcus stand noch immer da und starrte mich an. Mir war nicht klar was er gerade dachte, aber auch irgendwie egal. Ich musste in den Stall, wahrscheinlich das Beste was mir gerade passieren konnte.
Ich brachte Paula wieder zurück an ihren alten Platz im Stall, musste mir dabei aber immer wieder Tränen aus dem Gesicht wischen. Ein letzter Blick zurück in die Box, wo ich noch immer Marcus-Kälbchen stehen sah. Sein Herz war zu schwach, niemand hatte ihm helfen können.