Das Boycamp II – Teil 2

»Für gewöhnlich ist das hier der Gruppenraum, aber für diese Nacht euer Schlafquartier. Okay, sucht euch einen Platz aus, dann geht gleich rüber in den Speiseraum. Ist nicht groß, aber er ist gemütlich. Umziehen müsst ihr euch nicht mehr heute und in fünfzehn Minuten gibt’s Essen. Bitte seid pünktlich.«

Erkan ließ sich auf eine der Matten fallen und stöhnte. »Ich werd heute keine Gabel mehr halten können….«

»Hey Türke, wer sagt dass du hier Besteck kriegen wirst?«, foppte ihn Nico.

»Sei froh dass ich futsch bin, sonst würdest du spüren was ich mit leckeren Kerlchen wie dir so alles anstelle….«

Nico lachte. Es war ein Segen dass Erkan hier war, eigentlich ein richtiger Glücksfall. Während er seinen Schlafsack vom Tornister schnallte sah er zu Stefan hinüber, der sich ziemlich abseits eine Matte ausgesucht hatte. Wieder dieser Stich. Warum soll er mir Leid tun, verdammt? fluchte Nico in sich hinein. Stefan machte einen sehr traurigen Eindruck, wahrscheinlich hatte er gehofft dass Nico auf ihn zugehen würde. Für einige Augenblicke zogen Teile ihrer gemeinsamen Zeit an ihm vorüber. Wie zärtlich Stefan sein konnte und doch so leidenschaftlich. Ihre Nächte waren nie langweilig, auch wenn Stefan sich erst in der Nacht vor ihrer Trennung von Nico nehmen ließ. Es muss etwas passieren, dachte er. Irgendetwas.
Eher gespannt war er dann auf Lutz und Raffael. Viel geredet hatten die beiden noch nicht, schienen auch irgendwie eher abwesend zu sein. Aber in drei Wochen würde jeder jeden hier ziemlich genau kennen.

Wenig später betraten sie den kleinen Speiseraum. Völlig in Holz gekleidet fühlte man sich auf der Stelle wohl. Einige Bilder an den Wänden und in der Ecke zur Küche eine größere Vase, in der sich ein Strauss aus getrocknetem Getreide befand. Ein rustikaler, großer, ovaler Tisch in der Mitte, an der Wand unter dem Fenster ein weiterer Tisch. Da saßen bereits Stein, Bode und Rademann. Sie unterhielten sich und unterbrachen das Gespräch, als die fünf den Raum betraten.
»Kommt rein, sucht euch einen Platz«, rief ihnen Stein zu.

Unschlüssig zunächst, suchte sich dann jeder einen Platz. Nico zögerte noch, er wartete wohin sich Stefan setzte. Trotz allem, aber er wollte ihm nicht ständig in die Augen sehen müssen.
Nico wählte dann seinen Platz so, dass Erkan zwischen ihm und Stefan saß. Optimal war es nicht, aber hier musste er einen Kompromiss eingehen. Es waren immerhin drei Wochen, in denen es um Ausweichmanöver ging.
Anregende Düfte begannen den Raum zu erobern. Egal was es zu essen gab, schon allein wie das duftete musste es einfach schmecken.
Erkan knuffte Nico in die Seite und deutete mit dem Kopf zur Küchentür, als der Koch mit dem Servierwagen den Raum betrat. »Sieh mal einer an«, rief er laut.

»Irgendwie wundert mich gar nichts mehr«, setzte Nico nach und stand spontan auf um auf den Koch zuzugehen. »Hallo Alexander«.

Der sah zuerst Nico, dann an ihm vorbei zu Erkan.
»Glaub ich ja nicht«, brachte er völlig überrascht heraus. »Ihr hier?« Man sah ihm an dass er sich erst sortieren musste. Alexander hatte sich eigentlich überhaupt nicht verändert und wenn auf jemanden wegen seines Aussehens die Bezeichnung Koch passte, dann zu ihm.

»Ja, auch. Und was treibst du hier?«, fragte Nico.

»Kochen….«, grinste Alexander. »Das Restaurant wo ich anfing zu lernen hat im letzten Sommer schließen müssen. Ich kann meine Lehre erst nächstes Jahr woanders fortsetzen. Als Stein davon hörte hat er mich von einem auf den anderen Tag hier her geholt. So sitz ich wenigstens nicht auf der Straße bis es weitergeht.«

Nico schnaufte. »Na, dann kann zumindest in dieser Richtung nichts falsch laufen.« Falk Stein stieg wegen dieser Maßnahme noch weiter an in seiner Gunst.

»Aber setzt euch, das Essen wird sonst noch kalt«, unterbrach Alexander die Begrüßungszeremonie und stellte den Riesentopf mit Schinkennudeln auf den Tisch. Ohne lange zu zögern langten die ausgehungerten Jungs zu. Bis auf Stefan, der sich nur ein paar Bissen auf den Teller legte.

Nach dem Essen gab Stein noch ein paar Instruktionen für den Abend, der jedoch nichts Dienstliches mehr beinhaltete. Sie durften sich frei bewegen auf dem Gelände, dieses jedoch nicht verlassen. Um dreiundzwanzig Uhr war Nachtruhe angesagt und natürlich fehlten nicht die üblichen Hinweise auf das strikte Alkoholverbot. Dies durfte nur zu besonderen, angeordneten Anlässen aufgehoben werden. Rauchen war nur außerhalb des Gebäudes erlaubt.

Der Abend war recht kühl, da das Camp fast vierhundert Meter hoch lag. Trotzdem beschlossen Nico und Erkan, die freie Zeit auf dem Gelände zu verbringen. Die anderen drei verkrochen sich nach und nach in ihre Schlafsäcke.

»Und, wie bist du denn nun hierher gekommen?«, fragte Nico, nachdem sich die beiden auf einen der Baumstämme an der Feuerstelle gesetzt und Zigaretten angezündet hatten.

»Na ja, das ging eigentlich ziemlich schnell. Ein Freund von mir war Teilhaber an einem Restaurant in der Stadt und irgendwie erfuhr ich dann dass von ihnen Schutzgeld verlangt wurde. Das ist eine böse Sache und Semir wollte die Polizei nicht einschalten, die Erpresser hätten den Laden in Schutt und Asche gelegt. So sind wir eines Abends los um der Sache selbst ein Ende zu machen. Sind nach Dortmund gefahren, nachdem Semir erfahren hatte wer die Erpresser waren. Haben noch fünf Kumpels unterwegs eingesammelt und dann die Kneipe gestürmt.« Er grinste. »Da war anschließend nur noch Abriss angesagt.«

»Ganze Arbeit geleistet, wie?«

»Oh ja, das kann man sagen. Und weil denen da nichts nachgewiesen werden konnte, haben uns die Bullen eingefangen und erst mal außer Betrieb gesetzt.«

»Knast?«

»Jep. Bis zur Verhandlung. Dummerweise hat’s nämlich auch ein paar Typen von denen bös erwischt. Sie hätten ja türmen können statt sich mit uns zu prügeln. Na ja, die haben echt übel ausgesehen anschließend.«

»Und was war das mit dem Raub?«

»Das war später. Ich hab aufgrund der Vorstrafe meine Stelle verloren und dann keine Arbeit mehr gekriegt. Meine Mutter ist krank, weißt du, und Vater abgehauen mit so ´ner Tussi. Also musste ich an Geld kommen, irgendwie. Semir ging’s auch nicht besser und da beschlossen wir ne Tanke auszunehmen. War eine Verzweiflungstat, ehrlich. Ich hätte das für mich alleine nie gemacht, aber ich hab keinen Ausweg gesehen. Und zudem war mir dann auch alles egal. Sie haben uns noch in der gleichen Nacht eingefangen weil die Bilder von der Videokamera ziemlich deutlich und wir unvorsichtig waren.«

Sie waren nicht mehr so schreckhaft und nervös wie vor zwei Jahren, weshalb sie das Geräusch, das sich ihnen nun näherte, eher neugierig zur Kenntnis nahmen. Schon kurz darauf kam aus dem Dunkel Steins Husky angelaufen. Schwänzelnd ließ er sich von den beiden streicheln.

»Hey Rick, weiß dein Herrchen dass du hier bist?«

Im Gegensatz zu dem Hund hatten sie Stein nicht kommen hören. »Ja, das weiß er«, hörten sie ihn sagen und fuhren nun doch erschrocken herum. »Jungs, nicht so schreckhaft. Wir tun euch ja nichts.«

Stein setzte sich zu ihnen auf den Baumstamm. »Hab deine Akte gelesen, Erkan. Irgendwie bist wohl immer mit den falschen Leuten am falschen Platz gewesen.«

»Ja, das denk ich auch. Vielleicht steigen meine Chancen ja wenn ich meine Teilnahme hier bescheinigen kann.«

»Ziemlich sicher. Ich kenne viele die hier waren und jetzt ein richtig schönes Leben führen. Nur Mut, seht das hier als reelle Chance.«

»Dann kennen Sie meine Akte ja auch«, warf Nico ein.

»Sicher. In Verbindung mit dem was wir hier erlebt haben denke ich mal, musst du dir überhaupt keine Sorgen machen. Anders als dein Freund Stefan… Ihr seid doch Freunde?«

Nico lächelte gequält. »Waren, Herr Stein, waren. Ich glaube das können Sie am besten verstehen.«

»Ja, das ist verständlich. Redet ihr noch miteinander?«

»Nein, ich hab dazu auch keine Lust. Immerhin ist er Schuld dass ich hier bin.«

»Klar. Aber trotzdem, mein Rat an der Stelle: Sprecht euch aus. Einen klaren Strich drunter setzen. Schon weil ihr in einer Gruppe seid.«

»War das eigentlich Absicht? Dass wir beide jetzt hier sind?«

»Darauf hatte zumindest ich keinen Einfluss. Wie dem auch sei, ich lass euch jetzt allein. Denkt dran, um Elf ist Zapfenstreich.« Stein erhob sich und verließ, gefolgt von Rick, den Platz.

»Was hältst du von ihm?«, wollte Erkan wissen, nachdem Stein außer Hörweite war.

»Ich weiß es nicht. Ich hab ja eigentlich jetzt zwei Seiten dieses Menschen kennen gelernt. Keine Ahnung wie ich ihn einschätzen soll. Aber einige Sympathiepunkte hat er schon.«

Erkan nickte. »Und was ist zwischen dir und Stefan vorgefallen? Irgendwie blick ich’s nicht.«

Nico holte Luft und begann ihre Geschichte zu erzählen, von Anfang an.

»Oh, böse Falle. Jetzt kann ich natürlich verstehen warum du ihm aus dem Weg gehst. Gar nicht so einfach wie sich Stein das vorstellt. Also ich hätte da auch meine Probleme mit….«

Als sie kurz vor Elf das Gebäude und den Schlafraum betraten, spendeten nur noch die grün leuchtenden Schilder über den beiden Notausgängen ihr fahles Licht. Im Raum herrschte im Gegensatz zu draußen eine dumpfe, stickige Wärme. Und es war gespenstisch ruhig.

»Man sollte mal ordentlich lüften hier«, flüsterte Erkan als sie zu ihren Schlafplätzen gingen.

»Hm, ich glaub das liegt in der Natur dieser Flachbauten, die sammeln Sonnenwärme wie ein Speicher«, antwortete Nico und begann sich auszuziehen.
»Erkan, ich warne dich….«, grinste er, da ihm Erkan dabei genüsslich zusah, »ich hab zwar im Moment keinen Freund, aber das heißt nicht, dass ich Freiwild bin.«

»Spielverderber. Du hast so ´nen leckeren Body…«

»ERKAN.«

»Schon gut, ich tu dir ja nichts. Außerdem erinnere ich mich gerade an die erste Nacht da oben im Stroh….«

Nico legte sich auf seinen Schlafsack und verschränkte die Arme unter dem Kopf.
»Wir haben geraucht… und du hast mir einen Kuss gegeben….«, sinnierte er.

»Jep, so einen leckeren Boy MUSS man einfach küssen.«

»Erkan, jetzt ist aber Schluss. Du machst mich richtig fusselig.«

Provokant öffnete Erkan seinen Gürtel und zog die Hose aus. »Aha, lang nix mehr gehabt. Ich spür so etwas gleich.«

Nico beobachtete ihn dabei nun ebenfalls und lachte. »Soso. Und ich spür jetzt bleierne Müdigkeit und um dem ein Ende zu machen: Gute Nacht und lass deine Hände aus dem Schlafsack.«

»Aus deinem?«

»Oh du Türke. Aus deinem natürlich.«

»Du gönnst mir aber auch gar nichts. Aber gut, ich beug mich der rohen Gewalt. Nacht Nico.«

»Nacht.«

Nico schloss zwar die Augen, aber von einem zum anderen Moment war er viel zu erregt um schlafen zu können. Erkans halbnackter Körper hatte ihn zum ersten Mal seit langem wieder an etwas erinnert. Und langsam stieg dieses unselige Verlangen in ihm auf, diesen Jungen wieder zu küssen. So wie damals. In seiner Boxershort wurde es eng und er legte sich auf die Seite, vage konnte er in dem fahlen Licht Erkans Gesichtszüge erkennen. Ja, er war zwar männlicher geworden, hatte aber trotzdem nicht viel von seinem jungenhaften Aussehen verloren. Eine geniale Mischung…. Tief holte Nico Luft und bildete sich ein, Erkans männliche Gerüche aufzuschnappen. Unsinn, dachte er, viel zu weit weg, mindestens ein Meter fünfzig.
Er wartete eine zeitlang, bis Erkan gleichmäßig atmete und kurz entschlossen robbte er die kurze Strecke, vergewisserte sich rasch dass die anderen drei in ihren Schlafsäcken vergraben waren und drückte Erkan ohne Vorwarnung einen kurzen Kuss auf die Lippen.
Fasziniert starrte Nico auf das wunderschön geformte Gesicht, die dichten, schwarzen Haare und den krassen Kontrast zwischen Erkans dunkelbraunen Körper und dem schneeweißen Slip. Obwohl Stefan keinen Steinwurf weit zugegen war, fühlte sich Nico nicht schlecht dabei. Dort drüben lag die Vergangenheit mit der er nichts mehr zu tun haben wollte, direkt vor ihm die Gegenwart. An eine Zukunft dachte er in diesem Moment nicht. Nachdem Erkan sich nicht rührte, wiederholte Nico die Aktion. Diesmal dauerte der Kuss länger und jetzt stiegen Nico tatsächlich die Düfte in die Nase, die ihn auch bei Stefan jedes Mal fast zur Raserei gebracht hatten. Intensiv schmeckte er die vollen, weichen Lippen und er war versucht, seine Hände über den leicht behaarten Körper streichen zu lassen.
Erkan schlief, sonst hätte er längst reagiert. Etwas enttäuscht rückte Nico wieder von ihm ab und legte sich auf seinen Platz. Erst jetzt spürte er seinen Herzschlag, versuchte ihn seine Erregung zu überrennen. Wie automatisch fasste er sich an den Hosenbund seiner Boxer um dem allem gleich ein Ende zu bereiten. Fast schmerzhaft plagte ihn die Erektion und Zeit war es zudem auch mal wieder. Er richtete sich auf, um nervös und ungeduldig nach Taschentüchern zu suchen.
Dann streifte er seine Shorts bis zu den Knien, blickte noch einmal zu Erkan und nahm dann seinen steifen Schwanz in die Faust.

Plötzlich eine Regung aus Erkans Richtung. »Pst, Nico. Das ist Verschwendung«, rief er leise herüber, »und deine Küsse sind einfach wunderbar.« Dabei leckte er sich verführerisch die Lippen.

Erschrocken stoppte Nico in seiner dringend notwendigen Handlung. »Du Hund hast gar nicht geschlafen..« Einerseits fühlte er sich ertappt, andererseits stachelte ihn gerade das ungeheuer an. Zu allem Überfluss dann auch eine Regung in Lutz’ Schlafsack. Grummelnd drehte er sich um und lag nun so, dass er, wäre er wach geworden, die Szene hätte überblicken können.

Erkan setzte sich auf, deutete in Richtung des Waschraums und Nico war viel zu angestachelt um diese Einladung abschlagen zu können. Vielleicht war es ja auch nur ein Trumpf, den er Stefan gegenüber ausspielen wollte. Leise stand er auf, zog seine Short über seinen halbsteifen Penis und tippelte Richtung Waschraum, nach wenigen Augenblicken gefolgt von Erkan.

Kaum hatte Erkan die Tür hinter sich geschlossen, fiel ihm Nico um den Hals, steckte seine Zunge in die lüsterne Mundhöhle und zettelte eine unheimliche Zungenjagd an.
»Du bist und bleibst ein geiler Türke«, flüsterte er mit flatternder Stimme und zog Erkan den Slip auf die Oberschenkel. Erkan sagte nichts, schloss die Augen, sein Atem ging schnell und fast schon zu laut. Sie nahmen an, allein in dem Gebäude zu sein, zumindest in diesem Teil schien sich keiner ihrer Betreuer aufzuhalten. Wie im Taumel ging Nico vor Erkan in die Knie….

Nico öffnete die Tür einen Spalt, um trotz allem sicher zu sein dass sie keine Überraschung erlebten und spähte in den Schlafraum. In diesem Moment sah er eine Gestalt eilig zum Ausgang hin verschwinden. Das alles geschah so schnell dass es ihm wie eine Einbildung vorkam, aber das leise schließen der Tür war dann in der Stille doch gut zu hören.
»Da war grad jemand«, flüsterte er Erkan zu.

»Wer soll da gewesen sein, mitten der Nacht? Das hast du dir sicher eingebildet. Oder vielleicht ist einer von uns getürmt?!«

»Okay, komm jetzt, die Luft ist rein«, flüsterte Nico hektisch.

So leise wie sie sich davongeschlichen hatten, huschten sie auf ihre Plätze zurück und Wortlos ließ sich jeder auf seine Matte fallen. Ihr Atem ging noch schwer und sie befürchteten, man könnte in der Stille ihr jagendes Herzklopfen hören.
Ein prüfender Blick und es stand fest, dass zumindest keiner der anderen drei den Raum verlassen hatte. Es musste jemand fremdes hier gewesen sein, wobei am logischsten war, dass einer der Betreuer einen Kontrollgang gemacht hatte. Dann könnte es freilich Probleme geben. Die Frage war nur, warum suchte man sie nicht?

Nico lag auf seiner Matte und war zu aufgekratzt um schlafen zu können. Sachte fuhr er über die Stellen an seinem Körper, wo ihn Erkans Sperma getroffen hatte. Er war beim Anblick der Menge richtig in Fahrt gekommen und hatte daraufhin einen wahren Megaorgasmus erlebt.
Wieder fiel sein Blick in Richtung Stefan. Er und die anderen beiden hatten wohl nichts von der nächtlichen Einlage mitbekommen.
Um sich abzulenken, stöpselte Nico seinen Kopfhörer ins Handy und hörte Musik. Dass es bereits Mitternacht war bekam er kurz darauf durch die Nachrichten mit.

„…seit drei Tagen wird der fünfjährige Tobias Möller aus Lindenbruch vermisst. Er ist vom Spielen in der Nähe seines Elternhauses nicht zurückgekehrt. Tobias ist ein Meter fünfunddreißig groß, hat dunkelblonde, mittellange Haare und trägt ein hellblaues T-Shirt mit aufgedruckten Micky Maus Figuren, Jeans und blau-weiße Turnschuhe. Der Junge ist mit einem grünen Kinderfahrrad der Marke „Roki“ sowie einer beigen Stofftasche, in der er diverses Spielzeug mit sich führt, unterwegs. Hinweise aus der Bevölkerung bitte an die örtliche Polizeidienststelle oder……“
Nico stellte das Radio ab. Ohne den Jungen zu kennen, bildete er sich ihn in seinem Geist ab. Solche Vermisstenmeldungen gingen selten gut aus. Entweder es geschahen schreckliche Unfälle oder aber…. jemand hatte den kleinen Tobias…. Es machte Nico wütend, wenn er vom Missbrauch solch kleiner, hilfloser Wesen hörte. Wenn wieder so ein Wurm getötet worden war oder gelegentlich die Dunkelziffer genannt wurde, hinter der sich Vernachlässigung, Vergewaltigung, Mord und Totschlag versteckte, rastete er regelmäßig aus.
Unruhig schlief er schließlich ein.

Ein greller Piff um Sechs in der Früh ließ die Gruppe aufschrecken. Stein war bereits munter wie gewohnt und stand breitbeinig zwischen den verschlafenen Jungen.
»Aufstehen, waschen, Uniform anziehen, Frühstück. In der Reihenfolge und ihr habt für alles zusammen eine Stunde Zeit. Für eure Wasch- und Rasiersachen gibt’s für jeden ein Fach. Außerdem ist das gleichzeitig euer Safe, das heißt dazu steckt ein Schlüssel an der Klappe. Den nehmt ihr an euch.«

Erkan lugte müde unter seinem Schlafsack hervor, den er die Nacht über als Bettdecke benutzt hatte.
»Ich hab’s geahnt. Die Nächte in den nächsten drei Wochen werden verdammt kurz…« Dabei schielte er zu Nico, der sich ebenfalls allmählich ins Leben rief und die Augen rieb.

Mühsam suchten sie die Unterwäsche aus ihren Taschen, ebenso die Waschutensilien und Uniformteile.
Erst im Waschraum kam dann etwas Leben in die Gruppe. Stefan war als erster dort zugange und vermied es, die anderen anzusehen. Nico spürte, dass er sich richtig dazu zwang keinen Kontakt herzustellen. Wenn das so weiterging, würde Stefan in der ganzen Zeit tatsächlich kein Wort mit ihm reden. Er dachte über Steins Worte vom Abend nach. Vielleicht brauchte wirklich nur alles seine Zeit, irgendwie.

»Da wird wieder ein Junge vermisst…. fünf Jahre alt. Hoffentlich ist er nicht einem Sittenstrolch in die Hände gefallen. Wenn ich so einen Kerl mal erwischen würde….«, berichtete Nico beim rasieren und sah Erkan dabei durch den Spiegel an.

»Nee, besser ich erwisch ihn. An nen Baum binden, Pimmel ab, aber mit ner Laubsäge, und dann zugucken wie er langsam eingeht.«

Nico schluckte, als er sich das vorstellte. Und auch, weil Erkan anscheinend so Gewaltbereit war. Aber er hatte schließlich Recht und er mochte sich die möglichen Qualen dieser Opfer nicht vorstellen.

»Wo war das denn?« wollte Erkan dann wissen.

»Ich glaub Lindenheim oder Lindenbuche oder so… hab nicht genau aufgepasst.«

Erkan nickte nur kurz und spülte die Zahnpasta aus seinem Mund.

Alexander hatte die Tische schon gedeckt, laut Steins Information musste er in die Stadt fahren, um einiges einzukaufen.

»Auch schon früh auf den Socken, der Alex«, bemerkte Erkan daraufhin. Es waren so ziemlich die einzigen Worte die an diesem Morgen an dem Tisch fielen.

Die Zeiteinteilung der Gruppe klappte dann so, dass die Raucher noch zu ihrem Recht kamen. Und Raucher waren sie alle.
Draußen war es noch empfindlich kühl, hier spürte man die Höhe. Dafür war die Luft viel klarer und würziger als unten im Tal. So standen sie beisammen und klopften ihre Arme um den Körper.
»Verdammt schattig hier oben«, gab Lutz dann auch von sich und erntete allgemeines Kopfnicken.

»Guten Morgen Jungs«, rief ihnen Charles Rademann herüber, während er auf die Gruppe zukam. »Schön dass ihr zusammen seid, dann kann ich euch den Plan des heutigen Tages erklären ohne mich zu wiederholen. Ihr seid praktisch den ersten Tag hier, der ist dann sozusagen zum eingewöhnen. Was ab Morgen immer stattfinden wird ist ´ne kurze Morgengymnastik. Gut gegen verrostete Knochen und düstere Gedanken. Denn die wollen wir gar nicht erst aufkommen lassen, nicht wahr?«

Ein Seufzen ging durch die Gruppe. Man musste abchecken wie viel schlimmer es noch kommen konnte.

»Und dann baut ihr eure Zelte auf. Ihr wisst ja, der Komfortbau«, er zeigte mit dem Daumen hinter seinen Rücken auf das Gebäude, »war nur für die erste Nacht.«

»Und warum ausgerechnet Zelte?«, fragte Erkan etwas ungehalten. »Wir leben im 20. Jahrhundert… denk ich mal.«

»Tja, das ist eine gute Frage. Natürlich haben wir uns dabei etwas gedacht. Es ist ungleich schwieriger wenn man mehr oder weniger auf sich gestellt ist, als wenn da alles auf dem Tablett herangetragen wird. In der Regel sind Aggressionen an der Tagesordnung, teils bedingt durch euer bisheriges Umfeld, teils durch eure Eigenart. Das sind keine Vorwürfe, sondern einfach Erfahrungen. Wenn ihr aber nur zu zweit auf engem Raum zusammenleben und euch zudem um alles selbst kümmern müsst, lassen sich diese Eigenschaften günstig beeinflussen. Der Steuerzahler spart auch einiges, wenn nicht bei jeder Therapieeinheit wenigstens einmal das Möbel zerlegt wird.«

Nico erinnerte sich an „Freundschaft, Zusammenhalt“…. Nun kam auch noch sparen dazu.

»Ich find’s aber nicht logisch«, grummelte Raffael, beugte sich dann zu Lutz neben sich und flüsterte ihm zu: »Ich frag mich grad ob es im Knast nicht gemütlicher ist…«

»Wie dem auch sei, es wird Zeit dass ihr eure Behausung aufschlagt. Folgt mir.«

Ohne weiteren Kommentar schloss sich die Gruppe Rademann an und steuerte auf den dichten Laubwald zu.
Exakt zehn Minuten dauerte der Weg zum Camp, wie der künftige Zeltplatz von nun an genannt wurde, wenn man nicht einfach nur spazieren ging. Quasi im Zentrum gab es auch einen kleineren lichten Platz im Wald, wo einige abgelegte Baumstämme offenbar als Sitzplatz dienten. Unweit davon floss ein kleiner Bach den Berg hinunter, zusammen mit dem Gesang der Vögel und dem leisen plätschern ergab sich auch hier das Bild der vollkommenen Idylle. Die Jungen bezweifelten jedoch, dass dieses Wort mit ihrem Aufenthalt hier in unmittelbarer Symbiose stand.

Nico ahnte was gleich passieren würde. »Kannst du es noch, das Zelt aufschlagen?«, fragte er Erkan grinsend.

»Und ob. Es gibt wenige Dinge die ich verlernt hab im meinem Leben, das gehört bestimmt nicht dazu.«

»Wie ihr euch sicher schon gefragt habt: Ihr seid zu fünft, drei Zweimannzelte. Leider sind zwei Teilnehmer nicht erschienen, eine Aufteilung der Gruppen sechs zu vier macht keinen Sinn und deshalb jetzt dieses Problem. Zwei Mann in je ein Zelt, einer allein. Wer will oder kann alleine sein in den Nächten?« Er grinste dabei fast schon schelmisch.

Zum ersten Mal reagierte Stefan auf irgendetwas überhaupt hier spontan und hob sofort die Hand. »Ich, wenn es recht ist.«

Keiner hatte etwas einzuwenden. Für Nico war von vornherein klar, dass er sich mit Erkan zusammentun würde, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Lutz und Raffael schien es ziemlich Gleichgültig zu sein, es kam jedenfalls kein Veto gegen Stefans Wunsch.

»Gut, dann ist das geklärt«, sagte Rademann und wies den Paaren die Zeltplätze zu. Wie schon damals lagen die Zelte zusammengelegt in Paketen verstreut auf dem Platz, der frei vom Unterholz und ganz eben waren.

»Waschräume und Toiletten befinden sich im Hauptgebäude, dort nehmt ihr auch eure Mahlzeiten ein. Alles andere findet bei gutem Wetter im Freien statt. Frühstück um Sieben, Mittagessen um Zwölf, Abendessen um neunzehn Uhr.« Auf seine Frage, wer Hilfe beim Zeltbau brauchte, gingen Nico und Erkan nicht ein, sie begannen sofort.

»Und vergesst Stefan nicht«, sagte Rademann zu allen, bevor er Lutz und Raffael den Aufbau vorführte…

Nico sah auf und registrierte aufatmend ein Kopfnicken der anderen beiden. Somit stand fest, dass er und Erkan ihm nicht helfen mussten. Zum wiederholten Mal überkam ihn dabei ein schlechtes Gefühl. Stefan kapselte sich völlig ab, er hätte bestimmt versucht das Zelt alleine aufzubauen bevor er um Hilfe gebeten hätte.

Zwanzig Minuten später hatten sie ihre Zelte aufgebaut, wie erwartet und gehofft hatten Lutz und Raffael Stefan geholfen. Als sich Erkan an die Inneneinrichtung machte und vorwitzig aus dem Zelt lugte, rief er nach Nico.
»Hey, sieh mal an, wir haben einen Zuschauer.«

Nico folgte Erkans Blick und im Blätterwerk der Büsche konnte er gerade noch das wolfsfarbene Fell des Huskys ausmachen. Völlig ruhig saß er da und beobachtete die Szene. Nico ging langsam auf ihn zu. »Hallo Rick, willst uns helfen, wie?« Der Hund spitzte die Ohren und wedelte leicht mit dem Schwanz. »Mann, du bist ein richtig schöner Kerl, weißt du das? Sei froh dass ich keine Hündin bin….« Nico streckte seine Hand aus und fuhr dem Hund über den Kopf. »Erkan, hast du seine Augen gesehen? Gespenstisch fast, so unnatürlich. Man könnt ne Gänsehaut kriegen.«

Erkan war zu ihnen gekommen, ging vor Rick in die Hocke und kraulte ihm das Brustfell. »Ja, ein Bild von einem Hund. Wenn ich Zeit und Geld hätte….«

Der schon bekannte Pfiff hallte durch den Wald und Rick verschwand auf der Stelle.

»Irgendwie ist da der Wolf wirklich nicht weit weg, oder? Also ich mein vom Aussehen her. Dachte wirklich nicht dass es Huskys in so einer Farbe gibt«, sinnierte Nico ihm nach.

»Na ja, es ist ein Sibirian Husky, man kann schon die Ähnlichkeit erkennen.«

Nach dem Zeltbau wurden sie von Charles Rademann zum Gebäude geführt, die ersten Gruppenstunden standen an. Geleitet wurde die Vorstellung der einzelnen Teilnehmer von Falk Stein persönlich. Jeder musste sein bisheriges Leben vortragen und vor allem warum er hier gelandet war. Nico fand es unheimlich interessant, vor allem hörte er bei Stefan genau hin. Wenigstens erfuhr er, dass Stefan tatsächlich das Haschisch im Keller versteckte. Ein Olaf aus der Berufsschule hatte es ihm besorgt und ihn eigentlich eher als Depotverwalter benutzt und dafür durfte Stefan einen kleinen Teil selbst konsumieren. Von daher brauchte er kein Geld für den Stoff.
Jedoch ließ er ihre Freundschaft völlig außer Acht, kein Ton von den letzten zwei Jahren. Nico wusste in dem Moment, dass er die Freundschaft zu ihm nicht verheimlichen konnte. Wie sonst sollte er den Zusammenhang mit seinem Aufenthalt hier erklären? Stein wusste es eh, und die anderen waren ihm egal. Ein Lügengebilde konnte und wollte er nicht konstruieren. Was er weglassen wollte war lediglich, dass sie ein Paar gewesen waren. Raffael und Lutz sahen nicht so aus als würden sie diese Beichte freudestrahlend hinnehmen. Er konnte sich täuschen, aber herausfordern wollte er es nicht.
Als er an die Reihe kam, war er einigermaßen gut vorbereitet und erzählte seine Geschichte. Geschickt umschiffte er die intimen Seiten ihrer Freundschaft, niemand der davon nichts wusste dürfte etwas bemerkt haben. Er stockte an manchen Stellen, besonders wenn ihm die gemeinsamen Nächte in den Sinn kamen.

Auf Steins anschließende Frage, warum Stefan ihre Freundschaft außen vorließ, antwortete er nur, es sei ihm nicht wichtig gewesen das hier zu erwähnen. Obwohl er mit diesem Spruch mehr Fragen aufwarf als beantwortete, hakte Stein nicht weiter nach.

Raffael, der nach ihm dran war, hatte eine ziemlich miese Kindheit hinter sich; eigentlich der typisch ungeliebte Nachzügler unter vier Geschwistern. Irgendwie kein Wunder dass er auf die schiefe Bahn geriet. Vom Vater verprügelt, Lehre geschmissen, mit Achtzehn ausgezogen in eine zweifelhafte Wohngemeinschaft. Autodiebstähle und im Zusammenhang damit Freiheitsberaubung eines Fahrers, brachten ihn hierher. Was er durchblicken ließ war die Sehnsucht nach seiner Freundin, der einzige Mensch, der ihn seiner Meinung nach verstand. Er würde seinen neunzehnten Geburtstag hier verbringen, in acht Tagen.

Die Runde beendete Lutz mit seinem Statement. Er war gerade Achtzehn geworden und im Prinzip der mit den harmlosesten Gründen. Etliche Male wurde er beim Sprayen erwischt, bis man sich dazu entschied ihn hierher zu schicken. Mutter eine Trinkerin, Vater abgehauen als er fünf war. Im Grunde völlig auf sich alleine gestellt wuchs er in erbärmlichen Verhältnissen auf und Nico wunderte sich, dass es nur beim Sprayen blieb. Aber wer konnte wissen was da noch gelaufen war, auch wenn Lutz nichts davon erzählte. Eine Freundin hatte er nicht, was er so nebenbei erwähnte.

»Okay, das war’s dann erst Mal«, beendete Stein die Vorstellungsrunde und Erleichterung machte sich breit. Es war nicht einfach für die Jungs, aber dadurch waren sie etwas näher zusammengerückt.
Stein verteilte dann noch einige Papiere die unterschrieben werden mussten. »Im Übrigen werden die künftigen Gespräche draußen stattfinden. Den Platz habt ihr ja sicher schon gesehen.«

Als sie vor das Gebäude traten blendete sie das grelle Sonnenlicht. Ein fast unnatürlich blauer Himmel spannte sich über den Bergen und suggerierte eigentlich einen traumhaften Urlaub hier oben. Die Jungs wussten freilich, dass das alles andere als Ferien oder Urlaub war, dennoch tat das ihrer Stimmung gut. So kamen während der Zigarettenpause auch erste Gespräche untereinander auf. Stefan jedoch achtete nach wie vor auf räumlichem Abstand zu Nico, redete auch als einziger nicht mit ihm.

Alexander tauchte aus dem Gebäude auf. »Hi Jungs. Ich würde sagen ihr geht dann mal langsam los, es gibt gleich Essen.«

»Schön und gut, aber wie soll das denn vonstatten gehen?«, wollte Lutz wissen

»Ich bring euch euer Essen raus. Es sei denn Grillen ist angesagt, da müsst ihr euch selbst drum kümmern. Ich besorg dann nur das Fleisch und so weiter.«

»Und du machst das ganz alleine?«

»Tja, kein so großes Problem, ist machbar. Leo Meier hat’s im anderen Camp viel schwerer, weil der sich nebenbei auch noch um die Gruppe kümmern muss.«

»Na kommt, ich hab Hunger«, beendete Erkan das Gespräch zwischen den beiden und lief los. Ohne weitere Worte folgten ihm die Anderen auf dem Pfad in den Wald.

Am Nachmittag führte sie Charles Rademann durch das weitläufige Gelände, um sie mit der Umgebung vertraut zu machen. Dabei kamen sie bis zum zweiten Camp, wo sich die anderen fünf des Teams befanden. Fast über eine halbe Stunde anstrengende Wegzeit war es bis zu dieser Stelle, denn dieses Camp lag noch etwas höher als das ihre. Auch waren die Bäume nicht so dicht und viel bunter das Laub. Hier oben hatte der Herbst schon Einzug gehalten.

»Hm, ist das nicht zu teuer gewesen – alles zwei Mal….«, fragte Nico, nachdem sie vor dem völlig identischen Gebäude angekommen waren. »Und unterhalten muss das ja auch alles werden.«

»Es war ein Problem, klar «, antwortete Rademann, »aber der Erfolg hat es möglich gemacht. Die Herren da oben haben einfach mit dem spitzen Bleistift gerechnet. Es hat nur wenige Monate gedauert bis die Genehmigung durch war.«

»Und wer betreut die Jungs hier?«

»Leo Maier und Rainer Bode. Aber wir wechseln uns ab, beziehungsweise vertreten uns schon mal.«

Die Jungs der anderen Gruppe waren nirgends zu sehen, was Nico nicht unrecht war. Je seltener er Mirko sehen musste, desto besser.

»Okay, dann wisst ihr jetzt wo das zweite Camp ist. Wir machen eine kurze Pause und gehen dann zurück. Mehr steht nicht auf dem Programm heute.«

Rademanns Ansage sorgte für zufriedene Gesichter. Die Gruppe setzte sich auf die Bänke vor dem Gebäude und rauchte.

»Eigentlich ganz nett bis jetzt. Zu nett. Die wollen uns bestimmt erst mal friedlich stimmen bevor es richtig losgeht«, unterbrach Erkan die Stille.

Nico grinste. Er wusste sehr wohl was Programm war, aber darüber zu reden, dazu hatten sie noch Zeit genug. Er schubste Erkan an. »Schau mal wer da ist.«

Rick saß am Eingang zum Gebäude auf der Matte und ließ sich die Sonne auf den Pelz brennen. Man sah ihm aber deutlich an, dass er die Szene sehr wachsam beobachtete. Immer wieder spitzte er die Ohren.

»Ob das ein richtiger Wachhund ist? Ich meine, Huskys sind zum Schlitten ziehen und so.«

»Kein Ahnung. Können Stein ja mal fragen bei Gelegenheit.«

Am Abend waren sie zunächst mit sammeln von Holz beschäftigt, Alexander schlug bei dem milden Wetter einen Grillabend vor und lag damit genau richtig. Während das Fleisch auf dem Schwenkgrill langsam gar wurde, legte sich die Dämmerung über die Landschaft, wieder kam so etwas wie Romantik auf. Nicos Befürchtung, in diesem Umfeld sentimental zu werden, trat dann auch ein. Immer wieder sah er zu Stefan hinüber, dessen Stimme er schon fast vergessen hatte. Was er jetzt zu spüren glaubte, waren seine zärtlichen Berührungen, seine Küsse.
Ohne weitere Hintergedanken rückte er näher an Erkan heran, der direkt neben ihm auf dem Baumstamm saß.

Der bemerkte das sofort. »Nanu, kann es sein dass du grad irgendwie nicht hier bist?«, fragte er auch prompt.

»Woher kannst du Gedanken lesen?«

»Kann ich nicht. Das sieht doch jeder dass dich etwas bedrückt. Aber du musst dazu nichts sagen….«

»Jeder?«, fragte Nico leise und wies mit dem Kopf in Stefans Richtung.

»Jeder. Der auch.«, antwortete Erkan. »Geh hin endlich, red mit ihm. Egal was er dir angetan hat, du liebst ihn immer noch.«

»Nein, tu ich nicht. Eigentlich hasse ich ihn.«

»Eben. Du hasst ihn weil du dich nicht von ihm trennen kannst. Wenn ihr euch aussprecht, wenn du es ihm selbst gesagt hast, dann wird es dir leichter fallen.«

»Glaub ich nicht.«

»Nico, lüg nicht. Ich bin mir ziemlich sicher dass du ihm verzeihen kannst und auch willst. Der Schmerz sitzt tief, das weißt du ganz genau am besten. Aber du musst diesen Schmerz nicht aushalten. Er traut sich ja nicht, das ist Fakt. Redet nicht mit dir oder mir oder den anderen. Er wird sich selbst am meisten dafür hassen was er dir angetan hat.«

»Dazu hat er ja auch allen Grund.«

»Soll ich mal mit ihm reden?«

Nico schreckte hoch. »Wag es nicht. Ich möchte nichts mehr mit ihm zu tun haben.«

Erkan schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass du selbst nicht glaubst was du da sagst. Aber gut, ich halte mich raus. Nur schließe ich mich Steins Worten an, denn dieser Mann hat Ahnung, jede Menge. Man kann ihm vielleicht einiges absprechen, nur seine Menschenkenntnis nicht.«

Nico stand auf und fischte sich mit einer Grillgabel sein Steak auf den Teller. »Du auch?«, fragte er Erkan, der ihm daraufhin seinen Teller gab und nickte.

Raffael und Lutz verschwanden schon wenig später in ihre Zelte, offenbar hatte der Tag sie geschafft. Stefan blieb sitzen, auf der anderen Seite der Feuerstelle und starrte in die Flammen. Starr und regungslos heftete sein Blick auf einer Stelle. Nicos Müdigkeit verflog, ständig musste er an Erkans und Steins Worte denken. Eigentlich war der Moment gekommen, wo er eine endgültige Entscheidung treffen konnte. Treffen musste. Er wollte von Stefan keine Entschuldigung, denn nichts von dem was passiert war würde sie rückgängig machen können.
Sollte er jetzt rübergehen zu ihm, sagen dass er ihn hasste und er ihm lieber aus dem Weg gehen soll? Stefans Gesicht…. angeleuchtet vom Rot der Flammen…. diese weichen, zarten Konturen. Wie oft war ihnen Nico mit seinen Fingern gefolgt? Hatte er diese vollen, weichen Lippen mit seinen liebkost und sich in den leidenschaftlichen Küssen fallen lassen? Er schmeckte seine Lippen förmlich und selbst durch den Rauch der Feuerstelle glaubte er, Stefans unwiderstehlichen Duft zu riechen. Der Kampf in ihm wurde immer deutlicher. Ein Kampf, den er alleine ausfechten musste. Kein Erkan oder Stein konnte ihm dabei helfen. Wo war die innere Stimme, die ihm den richtigen Weg sagen sollte? Wo das Gefühl, von welchem er geleitet wurde? Nico fiel das Beispiel vom Teufelchen und Engelchen ein. Eins rechts auf der Schulter, das andere links. Beide flüstern ihr Für und Wider in seine Ohren, aber beide haben gleich starke Argumente. Stefan hatte ihn schmählich hintergangen, ihn verraten und verkauft. Aber er war trotzdem der liebste Mensch, dem er je begegnet war. Nur, die letzte Nacht mit Erkan – war das um einen Deut besser? Ein Rachefeldzug mit Sicherheit, auch wenn Nico zugeben musste dass ihm der hübsche Türke auch in Sachen Freundschaft durchaus gefährlich werden konnte. Jedoch, Erkan ist ein Bi, hatte er selbst gesagt und damit konnte Nico nicht viel anfangen. Höchstens, dass er ihn ständig im Auge behalten musste, sollte er es soweit bringen. Aber dennoch, zu dem Jungen hatte er längst nicht die Gefühle wie zu Stefan. Erkan war gut fürs Bett, für lange, ausgiebige Sexspielchen. Mehr nicht. Und Nico beschloss in dem Moment, es genauso stehen zu lassen. Immerhin war er nicht mit Stefan verheiratet, zudem musste man zwischen Sex und Drogen eine klare Linie ziehen.

»Ich geh in die Falle«, unterbrach Erkan seine Gedankengänge. »Bin saumüde. Die kurze Nacht, so früh raus, das Erzählen, der Marsch…«

»Ja, ich komm gleich nach«, fügte Nico hinzu und sah Erkan dabei fragend an. Er wartete auf ein Signal, und es kam.

»Geh hin, redet. Mehr sag ich dazu nicht mehr. Bis gleich.« Damit verschwand Erkan im Wald.

Aber es kam nicht dazu, Stefan war nicht mehr auf seinem Platz. Sicher war er klammheimlich auf- und davongeschlichen und sie hatten es nicht bemerkt.

»Dann halt nicht«, sagte Nico zu sich und warf zornig ein Stück Holz in die Glut. Kaum erinnerte er sich an eine ähnliche Situation vor zwei Jahren, streifte ihn Ricks Fell.
»Hallo Rick..« Nico drehte sich suchend um und in dem Augenblick trat Falk Stein in den schwachen Lichtschein der Glut.

»N´abend Nico.« Er setzte sich neben ihn und streckte die Hände Richtung Feuerstelle. »Wird wieder ziemlich kühl heut Nacht. Wie sind die Aussichten eigentlich?«

Nico grinste. »Kein Sturm, das ist sicher, das Hoch bleibt noch ne Weile. Könnte die nächsten Tage höchstens neblig werden, aber das muss man abwarten.«

»Ja, Nebel… den gab’s im letzten Herbst hier oben oft…«

»Na ja, so hoch oben ist es meist kein Nebel.« Nico freute sich dass er auf andere Gedanken kommen konnte.

»So? Nicht?«

»Nein, in der Regel, na ja, wie soll ich’s sagen, ragen die Berge in die Wolken hinein. Von daher ist der Ausdruck Nebel in dem Zusammenhang eigentlich falsch. Allerdings jetzt, bei der Wetterlage, da trifft´s dann schon den Punkt. Strahlungsnebel…. Aber das zu erklären, da wäre die Nacht zu kurz.«

»Hm«, sagte Stein und kraulte Ricks Fell, »ich sollte bei dir tatsächlich mal ´nen Lehrgang in Sachen Wetter machen.«

»Ähm, kein Problem. Kann ja als Berater hier anfangen….«

Stein lächelte und plötzlich wuschelte er Nicos braune, dichte Haare. »Du bist mir einer. Klar, das werd ich mal vorbringen….«

Nico war die Berührung nicht unangenehm. Es war gut dass Stein von seinem Schwulsein wusste und das während der Vorstellung am Morgen nicht zur Sprache brachte. Da war sehr viel Einfühlungsvermögen im Spiel.

»Hast du mit Stefan geredet?«

Nico wurde sofort wieder ernst. Auch wenn er das Thema für heute lieber abgeschlossen hätte, war es gut dass er außer mit Erkan offen mit jemandem darüber reden konnte. Allerdings hatte sich sein Entschluss nicht geändert. »Nein, ich denke ich werde es auch nicht tun. Ich kann da nicht über meinen Schatten springen.«

»Schade. Aber das musst du, das müsst ihr wissen. Das werden dann aber auch sehr anstrengende drei Wochen und das wisst ihr.«

»Ich schon. Ob er es weiß…. mir egal. Aber was anderes: Wie war das damals mit Manuel?«

Stein zündete sich eine Zigarette an. »Na ja, ich bin mit dem Staatsanwalt zu der Unglückstelle gefahren und habe ihm unterwegs alles erzählt. Meine eigene Sichtweise zu all dem. Der Gerichtsmediziner kam kurz darauf und hat nicht lange gebraucht um die Todesursache festzustellen. Die Spurensucher der Polizei haben dann auch Kratzer von den Schuhen am Dach des Sanitärwagens gefunden. Einwandfrei war Manuel da oben abgerutscht und….«

Nico winkte ab, die Erinnerung an die Sturmnacht tat ihm weh. »Schon gut. Und…. Ihnen hat man keinen Vorwurf gemacht?«

»Hm, schon. Letztlich aber konnte man von mir nicht verlangen, dass ich einem…. Sechzehnjährigen vorbehaltlos Glauben schenken musste. Darum passierte nichts und ich durfte wieder hier her. Aber das alles steht in den Berichten, und ich hab dich da auf keinen Fall denunziert.«

»Danke. Aber ich glaub ich geh jetzt auch ins Bett…. sozusagen.«

»Ja, mach mal. Gute Nacht.«

Nico winkte Stein noch einmal zu und machte sich auf den Weg zum Zelt. Er brauchte eine Weile bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und den Pfad einigermaßen sicher erkennen konnte. Nach einigen Metern blieb er stehen und öffnete seinen Hosenschlitz um sich zu erleichtern. Während er auf den Urinstrahl wartete, hörte er raschelnde Geräusche aus der Richtung, in der die Zelte standen. Gebannt hielt er den Druck aus und lauschte. Es war absolut windstill und Rick wusste er bei Stein. Es hörte sich an wie Schritte und erschwert wurde das Ganze durch das leise gurgeln des Baches. Die Schritte schienen sich zu entfernen, das knacken von dürren Ästen kam dazu. Dann erstarb das Geräusch.

Nico hatte keine Furcht im Wald, schnell kam er zum Ursprung seines Aufenthalts. Sein Urinstrahl plätscherte kraftvoll in die Blätter, wobei er sich an die Nacht mit Erkan erinnerte. Prompt schwoll sein Penis an und Nico wurde erst jetzt gewahr, dass er neben Erkan schlief. Jede Nacht, drei Wochen lang. Es war schon physikalisch gar nicht möglich dass da nichts passieren würde. Er hatte den Beweis in der Hand; schon der Gedanke an Erkan reizte ihn auf der Stelle. Nico wusste nicht ob er sich darauf freuen sollte oder nicht. Der Junge war eigentlich mega- und dauergeil, zweimal die Nacht traute er ihm ohne Zögern zu. Und Dummerweise war er ohne Zweifel ein Boy zum anbeißen.

Nico schüttelte seinen halbsteifen Penis ab und verpackte ihn mühselig in seinem Slip. Zwar war er Boxershorts-Fan, aber aus unerfindlichen Gründen hatte er am Morgen einem blauen Slip den Vorzug gegeben.
Einen Moment lang lauschte er noch, aber er hörte nichts Ungewöhnliches mehr. Immerhin war er im Wald und hier waren letztendlich ja auch Tiere zu Hause.

Inzwischen schien der fast runde Mond durch das Blätterdach und wies ihm den Rest des Wegs zu seinem Platz.
Fast gespenstisch lag dann das kleine, dunkelgrüne Zelt vor ihm. Erkan schnarchte zum Glück nicht, was eigentlich als Segen zu betrachten war. Stefan lag auch immer wie Tot in seinem Bett…. ihrem Bett.

Bevor er wieder an diese Zeit zurückdenken musste ging er auf die Knie und öffnete das Zelt. Es war absolut dunkel darin, weshalb er sein Feuerzeug aus der Tasche kramte und sich einen Überblick verschaffte. Erkan lag ganz an seiner Zeltwand und nicht wie befürchtet mitten drin. Da ohne Übung, zog sich Nico bis auf den Slip umständlich aus und kroch in den Schlafsack, denn allmählich war es kühl geworden. Wohlig winkelte er seine Knie an den Bauch und kuschelte sich in die wärmende Hülle.
Ein weiteres, unerwartetes Geräusch ließ ihn kurz darauf aufhorchen. Der Ruf eines Waldkauzes hallte durch die Nacht. Laut. Böse. Angst einflößend. Und doch, Nico spürte in dem Moment seine Verbundenheit zur Natur. Hier war sie noch in Ordnung und mit diesem Wissen schlief er rasch ein.

Schlagartig drang Helligkeit in das Zelt, begleitet von einer unverschämt freundlichen Begrüßung. Rademann hatte das Zelt geöffnet und »Guten Morgen« hineingerufen.

Nico rieb sich die Augen, Erkan rührte sich gar nicht. So schnell der Betreuer gekommen war verschwand er wieder um auch die anderen aufzuwecken. Unangenehme Kühle drang in das Zelt und Nico fühlte wie klamm sein Schlafsack geworden war. Ein Blick hinaus bestätigte seine Aussage vom Abend – dichter Nebel waberte zwischen den Bäumen, die kaum zu erkennen waren.

»Hey, aufstehen«, rief er, aber Erkan schien nichts zu hören. Oder zu hören wollen. Nico schüttelte ihn daraufhin kräftig durch. »Hallo, ich bin nackig und warte auf dich….«

Erkan lachte nicht laut, aber dem Beben des Schlafsacks nach war sehr wohl auszumachen, dass er in sich hineinkicherte.
»Mein lieber Nico, ich halt das zwar für ein Gerücht, aber ich komm ein andern Mal gern drauf zurück«, sagte er prustend und setzte sich auf. »Was´n hier los?«, fragte er, als sein Blick nach draußen fiel. »Winter? Kalt? Schnee???«

»Nein, nur neblig«, entgegnete Nico und krabbelte fröstelnd aus dem Schlafsack.

»Moin Jungs. Trainingsanzüge an, waschen gehen, Gymnastik, Frühstück. Jeden Morgen den gleichen Ablauf. Noch Fragen?«, erklärte Rademann kurz darauf.

Nico schüttelte den Kopf und Erkan reagierte überhaupt nicht. Erst als Rademann wieder verschwunden war machte er seinem Ärger Luft. »So ein Mist. Gymnastik…. als würde das was an unserer Lage ändern. Ich weiß nur, dass ich das nicht brauche.«

»Braucht keiner, wahrscheinlich. Ich für meinen Teil jedoch kann schon etwas Bewegung vertragen.« Dabei fuhr er mit der Hand über seinen Bauch.

Erkan glotzte ihn regelrecht an. »Haha, Späßchen am Morgen… Du hast doch ´nen Waschbrettbauch erster Klasse.«

»Ja, noch. Den möchte ich eben gern behalten.«

»Du spielst jetzt nicht auf meinen Bauch an, oder?«, fragte Erkan süffisant.

»Nein, nicht direkt….«

»Na warte….«

»Ja, tu ich, aber jetzt ist keine Zeit dafür. Los, wir müssen.«

Schnell hatten sie ihre Trainingsanzüge angezogen und übermütig joggte Nico den Pfad hinein in den nebligen Wald. Die Luft war frisch und roch nach feuchtem Laub und Harz. Nico mochte den Nebel, warum wusste er nicht. Vielleicht weil dadurch alles ruhiger und gedämpfter erschien.

Er kümmerte sich nicht darum ob ihm die anderen folgten, gleichmäßig joggte er den Pfad bis zum Waldrand hinaus. Erst hier blieb er stehen und sah zurück. Der Nebel schluckte alles Sichtbare innerhalb zehn Metern, genauso wie Geräusche. Schließlich tauchte eine Gestalt undeutlich auf, aber Nico wusste sofort wer es war. Lange genug konnte er den anmutigen, aufrechten Gang studieren. Graziös, ohne feminin zu wirken. Leicht wie eine Feder kam Stefan auf ihn zu, blieb aber sofort stehen als er ihn erkannte.

Zehn Meter trennten die ehemaligen Freunde, die sich jetzt gebannt ansahen. Wie hübsch er aussah mit dem engen Trainingsanzug, der seine enge Taille so sehr betonte. Dabei stachen bei ihm nicht wie manch anderen die Knochen aus der Haut. Die Haare, wie immer am Morgen wild durcheinander. Sicher hatte er diesen aufreizenden Bartschatten der Nacht und genauso sicher roch er wieder so aufreizend…. Nach Junge und nach Schlaf….
Nico spürte die Wand, die sich in der Zeit nach ihrer Trennung zwischen ihnen gebildet hatte. Eine hohe, dicke, schwere Wand. Panzerglas, das alles durchließ, nur keine Wärme und keine Worte. Nicos Herz klopfte nicht nur vom Joggen. War jetzt in diesem Moment der Zeitpunkt gekommen, für ein paar klärende Worte wenigstens? Zeit dafür hatten sie, Stein würde garantiert nichts sagen wenn sie sich deswegen verspäten würden….

Aber es ging nicht. Keiner von beiden wusste was er sagen sollte, vor allem wie. Wo beginnen? Entschuldigen, verzeihen? Oder mit ein paar bösen Worten die Mauer ein für alle mal festigen? Nico dachte einen Moment lang an ein Duell. Hier draußen, am frühen Morgen im Nebel. Alles was ihnen fehlte war eine Waffe. Er atmete auf, als Lutz, Raffael und dahinter Erkan aus dem Wald kamen. Sie waren nicht gejoggt, nur schnell gegangen. Und sie kamen im richtigen Augenblick, denn das was sich Nico und Stefan zu sagen gehabt hätten war nicht für andere Ohren bestimmt.
Nico drehte sich um und lief auf das Gebäude zu, von dem aus ihm Rick mit langen, eleganten Sätzen entgegen sprang.

»Hey, moin Rick. Auch schon munter?« Nico sah hoch, denn Stein konnte in dem Fall nicht weit sein. Und so war es auch. Allerdings konnte man schon auf einige Entfernung sehen, dass er an dem Morgen nicht gut gelaunt war.

»Nico, kommst du mal?«, rief Stein ihm dann zu als der an der Tür angekommen war. Stein ging ein Stück voraus und sie betraten das Büro.

»Ist was passiert?«, wollte Nico nervös wissen, da er keinen Schimmer hatte um was es hier gehen konnte.

»Das wird sich zeigen. Nimm bitte einen Moment Platz«, bat er und Nico folgte.

»Also, ich mache es kurz. Habt ihr, du und Stefan, schon miteinander gesprochen?«

Nico wusste nicht was diese Frage bedeutete und warum das so wichtig sein sollte. »Nein. Warum?«

»Ich muss direkt werden, Nico. Was hast du für Stefan noch übrig? Ich meine, wie ist deine ehrliche Beziehung zu ihm?«

Nico wurde schwummrig, in der Tat sehr direkte Fragen. »Ich hab nichts mehr für ihn übrig. Und wenn Sie die Frage darauf abzielen ob ich ihn noch liebe: Ich weiß es nicht. Im Moment jedenfalls….«

Stein unterbrach ihn. »Okay, soweit dazu. Warum ich dich so frage hat seinen Grund. Stefan wurde bestohlen. Er hat es vorhin Herrn Rademann gesagt. Muss wohl Gestern hier im Gebäude gewesen sein.«

Nicos Augen wurden groß. »Bestohlen? Was wurde ihm denn geklaut?«

»Nun ja, es geht nicht um Wertsachen, obwohl der Dieb Handy und Walkman hätte mitgehen lassen können.« Stein räusperte sich ein wenig. »Er hatte es auf Stefans…. Unterwäsche abgesehen.«

Nicos Gesicht wurde sofort knallrot. »Was war das?«

»Ja. Ein Slip, Short – und ein paar Socken.«

Nicos Mund wurden trocken, seine Zunge klebte am Gaumen fest und nun hatte er Mühe, sich dazu zu äußern. »Sie machen sich einen Spaß….«

Steins Gesichtsausdruck blieb ernst. »Bei dergleichen Dingen ist mit mir nicht zu spaßen, Nico.«

»Herr Stein, ich denk doch nicht im Traum dran Stefans Unterwäsche…. Nee, tut mir leid dass ich Sie enttäuschen muss. Ich bin kein Fetischist und außerdem…. habe ich zu Hause noch jede Menge…. wir haben die gleiche Größe, wissen Sie….« Zwar verheimlichte er, Stefans Unterwäsche weggeworfen zu haben nach ihrer Trennung, aber ganz gelogen war es nicht. Immerhin bescherte es ihm ziemlich geile Gefühle, wenn er Stefans Slips getragen hatte. Und umgekehrt war es seinem Wissen nach genauso. Trotzdem war er jetzt ziemlich von der Rolle und rutschte auf seinem Stuhl hin und her.

Stein nickte. »Nico, beruhige dich, ich hab dich ja nicht beschuldigt. Es klingt zudem ziemlich glaubwürdig was du da sagst. Aber…. hast du vielleicht einen Verdacht? Es muss jemand aus der Gruppe sein, denn Fremde kommen nicht unbemerkt auf das Gelände.« Dabei fiel sein Blick zu Rick, der vor ihm auf dem Boden lag.

»Hm, ja, da fällt mir ein…. Als ich vorgestern Nacht auf der Toilette war und zurückkam, sah ich jemanden schnell aus dem Schlafraum verschwinden. Es war zu dunkel um etwas zu erkennen, aber geträumt hab ich das nicht.« Er verschwieg, dass auch Erkan praktisch Zeuge war, um anderen, unseligen Fragen vorzeitig aus dem Weg zu gehen. »Und gestern Abend, auf dem Weg zum Zelt, habe ich Schritte im Wald gehört. Ich…. ich musste mal pinkeln und da ist mir das aufgefallen. Aber das können schließlich auch die Jungs oder Tiere gewesen sein.«

»Hm, danke für deine Hinweise, ich werde dann mal die anderen befragen. Aber sag mal vorerst zu niemandem etwas, okay?«

»Ehrensache«, antwortete Nico und stand erleichtert auf. »Aber eins wollte ich noch sagen: Ich persönlich denke, dass man diesen Übeltäter finden kann, sollte es einer aus der Gruppe sein. Wo soll er denn mit Stefans Sachen hin? Nur ins Zelt oder Wertfach? Im Wald vergraben….? Also ich würde das nicht tun.« Dabei wurde er wieder leicht rot.

Stein grinste. »Schon klar, wir kriegen den ja auch. Einfach mal die Augen offen halten.«

Auf dem Weg zum Waschraum dachte Nico über die Sache nach. Egal was zwischen ihm und Stefan war, man durfte jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Irgendwie tat ihm Stefan jetzt leid und er beschloss, wenn auch noch schweren Herzens, mit ihm zu reden.

»Nanu, was wollte denn Stein von dir?«, fragte ihn Erkan als er in den Waschraum kam. Lutz und Raffael standen unter der Dusche, Stefan war schon wieder draußen.

»Kann ich nichts dazu sagen, er wird selbst auf euch zukommen.«

»Hm, klingt aber ziemlich geheimnisvoll….«

»Ist es nicht und ich find’s auch gar nicht lustig. Ach und noch was: Sollte dir im Lauf des Gesprächs etwas einfallen, so von wegen Gespenster nachts im Schlafraum – vergiss es. Stein muss ja nicht wissen dass wir beide im Waschraum waren.«

Erkan hielt im rasieren inne. »Mann, jetzt red schon. Wir beide haben doch keine Geheimnisse und….« Erkans Blick ging durch den Waschraum, plötzlich hielt er inne.

Nico stutze. »Was ist?«

»Schau mal da oben«, flüsterte er fast und Nico folgte seinem Blick. Die Holzdecke war am oberen Rand über der Tür an einer Stelle etwa zwei Zentimeter im Quadrat ausgespart. Im Grunde völlig unauffällig, aber dennoch weckte die Stelle Erkans Aufmerksamkeit. Ohne Zögern packte er sich den Stuhl, der an der Wand gegenüber stand und stellte ihn unter den Türrahmen. Er stieg auf den Stuhl, fingerte in dem schmalen Spalt und nickte. Dabei schlug seine braune Gesichtsfarbe in Blässe um. »Ich glaub ich träume.« Er sprang vom Stuhl und zeigte nach oben. »Geh hoch und sieh dir das an.«

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