Zauberwald – Teil 1

Der 18jährige Stefan Schilling ist auf einem landwirtschaftlichen Betrieb geboren und aufgewachsen. David aus seiner Klasse war der erste Junge in seinem Leben, mit dem er mehr oder weniger ersten Kontakt zur schwulen Welt erhält, die fortan auch seine war.
Während seines Studiums macht er ein Praktikum auf dem elterlichen Betrieb und ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt möchte Marcus Holzmann ein Schülerpraktikum auf dem Hof absolvieren. Stefans Gefühle für den 16jährigen schlagen Wellen, obwohl er sehr schnell erkennen muss, dass Marcus offenbar nicht schwul ist. Nach der Praktika kehrt Stefan nach Hamburg zum Campus zurück und freundet sich mit dem windigen Florian an. Doch Probleme auf dem Hof zwingen Stefan dorthin zurück. Er trennt sich von Florian und hängt sich an Michael Weber, der das Amt des Revierförsters in der Gegend übernimmt. Doch Michael ist verheiratet, Davids späterer Unfall, die Trennung von Florian und Marcus’ merkwürdiges Verhalten – all das stürzt Stefan in eine tiefe Krise. Immer weniger findet er Ausgleich in einem Wald auf seiner Gemarkung, den er als Junge „Zauberwald“ taufte und der sein geheimer Zufluchtsort ist.
Auf der Suche nach sich selbst lässt Stefan keine Gelegenheit aus um sich zu beweisen, dennoch lassen ihn die kurzzeitigen Abenteuer nur ratlos zurück.
Doch eines Tages wir ihm die Entscheidung abgenommen…

Die Sonne knallte an dem Junimorgen vom Himmel und die Luft flimmerte. Schwalben tanzten über das Feld und Mauersegler kreischten unter dem blauen Himmel. Ein Tag wie im Bilderbuch, dachte ich. Wenn da nicht die Arbeit wäre..
Ich hielt den Mähdrescher an und sah hinüber zu dem kleinen Waldstück, das unmittelbar an das Getreidefeld angrenzte. Wie oft hatte ich als kleiner Junge dort drüben an dem kleinen Bach gespielt, während meine Eltern die Ernte einbrachten? Ich wusste es nicht mehr. Nur, dass es meine kleine Welt war. Verschlossen, weitab von Lärm und Menschen. Ich nannte ihn irgendwann einmal Zauberwald, weil er so viele Geheimnisse barg die ich lösen wollte. Aber als Sohn einer Bauernfamilie dauern solche Träumereien nicht lange. Schon in jungen Jahren musste ich mit anpacken, was bei meiner schmächtigen Statur nicht so einfach war. Aber in den Jahren machte sich die körperliche Arbeit an meiner Figur bemerkbar.
Nun gut, mit 18 fand ich mich nun noch nicht wie ein durchtrainierter Boxer, aber zufrieden konnte ich dennoch sein. Dunkelbraune Haare, durch Vererbung leicht lockig, blaue Augen. Eher spärlich behaart ansonsten. Und unterm Strich nix besonderes. Keiner, dem man nachsieht.
Nun stand ich da, auf dem zu mähenden Gerstenfeld und zog mein weißes Schildkäppi tief in die Stirn. Schön war die Zeit da drüben, aber eben vorbei. Ein für alle mal.
Ich schwang mich wieder hoch auf den Mähdrescher, legte die Hebel um und setzte meine Arbeit fort. Ich hoffte darauf, dass der Revierförster an diesem Morgen das Feld abgelaufen war, damit keine Rehkitze unter den Mäher kamen. Ich dachte immer, wenn ich so ein kleines Tierchen totfahren würde – dann wäre das dass Ende meiner Laufbahn. Zwar machte mir das Studium in Biochemie in Hamburg schon viel Spaß, aber anschließend wollte ich zu Landwirtschaft und Forsten wechseln, damit ich den Hof meiner Eltern übernehmen konnte.
Während ich so vor mich hinträumte erkannte ich plötzlich in einer Stelle im Feld, wo der Wind das Getreide niedergedrückt hatte, den kleinen, braunen Fleck. Sofort stoppte ich den Mähdrescher, der zwar Tonnen wog, wegen dem langsamen Tempo dennoch fast auf der Stelle zum stehen kam.
Ich sprang aus dem Führerhaus und lief auf das Bündel zu – es war ein Rehkitz. Fest auf den Boden geduckt rührte es sich nicht, sah mich aber mit diesen unbeschreiblichen Augen an. Ich würde Hofmann zur Schnecke machen. Das hätte der Revierförster nicht übersehen dürfen. Hier konnte ich nun nicht weitermachen, denn das Kitz durfte ich nicht berühren, dann war es verloren.
Ich setzte den Mäher rückwärts aus dem Feld und begab mich auf den Heimweg. Die anderen Felder waren schon abgemäht, aber es wartete auch noch andere Arbeit auf dem Hof.
»Du musst Hofmann in den Arsch treten«, waren die ersten Worte an meinen Vater, als ich die Stube betrat. Es roch nach Sauerbraten.
Vater sah von der Sonntagszeitung hoch und paffte den Rauch seiner Pfeife an die Decke.
»Hat der wieder nicht aufgepasst?«
Ich nickte. »Zum zweiten Mal jetzt. Wenn mir so ein Kitz unter die Räder kommt.. kann ich nicht garantieren was ich mit ihm anstell.«
Meine Mutter war in die Stube gekommen. »Nun sei mal nicht gleich so böse. Vielleicht war es vorher ja gar nicht da.«
Sie mochte Recht haben, aber ich sah es nicht ein.
»Übrigens«, warf mein Vater ein, »morgen bekommst du etwas Hilfe.«
»Hilfe?« Ich verstand nicht.
»Gerhard hat angerufen.«
»Holzmann?« Der war unser Bürgermeister im Ort.
»Ja, sein Bruder aus Bremen will uns seinen Sohn schicken, ein Praktikum machen.«
Ich ging ins Bad und machte mich frisch. Ein Praktikant? fragte ich mein Spiegelbild. Ich betrachtete meinen nackten Oberkörper. Naja, und der Rest? Mein Gesicht, sonnengebräunt, die Haare wirr auf dem Kopf.
Tief atmete ich durch. Aufgewachsen in dem Nest Langenrehm, weit entfernt vom nächsten Dorf, das eine Kneipe hat, eine Kirche, einen Friedhof und ein Gemeindehaus. Sonst nichts. Zur Schule musste ich damals nach Buchholz, was mit dem Bus, der zweimal am Tag im Ort und auch vor unserem Hof hielt, bewerkstelligt wurde.
Nun machte ich den praktischen Teil des Studiums auf unserem Hof. Zwei Monate sollte es dauern und ich war eigentlich ganz froh drum.
Ein Praktikant? Wieder lenkten sich meine Gedanken weg, hin zu etwas ganz anderem. Vor vier Jahren etwa spürte ich, dass etwas anders war als es sein musste. Hier im Ort gab es nur noch zwei Jungen die mit mir auf dieselbe Schule gingen, David und Peer. Wir drei waren dann auch immer zusammengehangen, wann immer es möglich war. Auch die beiden wohnten auf umliegenden Höfen und wollten Landwirt werden. Naja, David nicht so arg, der wäre lieber nach Hamburg, Banksachen oder so machen. Als seine Mutter starb entschloss er sich aber, seinem Vater zu helfen und den Hof aufrecht halten.
Dann, eines Tages, ich war bei David zu Besuch und wir waren alleine, seine Eltern holten die Ernte ein und wir machten Schulaufgaben. Ich weiß nicht mehr wie es dazu kam, jedenfalls balgten wir uns und auf einmal und flogen wir lachend auf den Boden. David lag auf mir und sah mich plötzlich so komisch an. Sein Gesicht wurde ernst und mit einem Mal gab er mir einen Kuss – mitten auf den Mund. Ich konnte gar nicht reagieren, nicht mal was sagen. Er stand auf, rückte seine Klamotten zurecht und sagte nur, dass er das nicht gewollt hätte. Seine Eltern kamen dann, ich packte meine Sachen und lief nach Hause. Auf dem Weg blieb ich ein paar Mal stehen. Wieso gab mir David einen Kuss? Ich leckte meine Lippen ab und komischerweise hatte mich das nicht mal geschockt. David- sein Gesicht tauchte vor meinen Augen auf. Er war etwas kleiner als ich, auch etwas schmaler, aber er hatte ein liebes Gesicht. Das wurde mir plötzlich klar an jenem Abend. David war hübsch irgendwie.
Ich vergaß das Ganze eine Zeitlang, auch David verhielt sich völlig normal.
Dann kam der Tag, der mein Leben verändern sollte.
Es war in der Schule, David saß auf dem Schulhof auf einer kleinen Mauer und aß sein Pausenbrot. Ich stand etwas abseits und unterhielt mich mit Gerlinde, die auch aus unsrem Dorf stammte und die mir schon eine Weile – so kam es mir vor – schöne Augen machte.
Ich sah wie David aufstand und auf Andreas zuging. Der saß neben mir in der Klasse und war eigentlich ein cooler Typ. Die beiden lachten sich an und plötzlich – gaben sie sich einen Kuss. Sehen konnte das an der Stelle außer mir keiner, aber als sie sich so anhimmelten geschah etwas in mir, das mir zunächst nicht erklären konnte.
Ich wandte mich, ab, versuchte mein Gespräch mit Gerlinde fortzusetzen, aber es gelang mir einfach nicht. Ich drehte mich noch einmal zu den beiden um und sah, wie sie sich in die Augen blickten.
»Stefan, das Essen ist fertig«, rief meine Mutter. Ich schüttelte mich, um aus den Gedanken in die Wirklichkeit zurückzukehren.
»Wer ist dieser Praktikant?«, fragte ich und schaufelte Fleisch und Knödel auf den Teller.
»Ich mein er heißt Marcus oder so und ist 16, glaub ich.. Mein Gedächtnis.. Auf dem Schreibtisch liegt die Bewerbung.«
Ich verbrannte meine Lippen an dem Fleisch. »So jung?«. Ich wollte die Bewerbung nicht sehen. Warum auch?
»Das sind sie meistens wenn die aus der Schule geschickt werden.«
Am Abend lag ich auf meinem Bett und grübelte. Seit dem Vorfall an der Schule wusste ich, dass ich dieselben Gefühle hatte wie David.
Andreas hab ich nicht erzählt was ich gesehen hatte, aber ich betrachtete ihn von da an mit anderen Augen. Und ich bekam sehr langsam das Bedürfnis nach einem Freund. Gerlinde, nun ja, sie war eben das übliche Mädchen aus so einem Dorf. Zöpfe, Kleider. So ein bisschen Richtung Heidi. Aber das war noch nie mein Fall, so wie ich bis dato eh nicht wusste was mein Fall sein sollte.
»Stefan, die Kühe«, schallte es von unten.
Ja, klar, ich wär auch so gleich aufgestanden, 15 Kühe wollten gemolken werden. Mein Papa machte schon viel, aber seit er Arthrose hatte ging das alles nicht mehr so einfach.
Ich stieg in meine Arbeitsklamotten und ging hinüber in den Stall. Unterwegs auf dem Hof wollten Sammy, unser Hofhund, Karoline und Frederik, unsere Katzen und Jockel, der Haushahn, ihre Streicheleinheiten. Der Hahn.. ich hatte ihn sozusagen aufgezogen und jetzt benahm er sich wie ein Haustier. Schlachten kam daher nicht mehr in Frage, und ich glaube, er wusste das auch.
Paula, meine Lieblingskuh. Sie war schwanger und würde wohl im Laufe der nächsten Woche ihr erstes Kälbchen zur Welt bringen. Ich tätschelte ihren Kopf und gab ihr einen Kuss auf die Schnauze. Ich hatte sie aufwachsen sehen, unzählige Male gemolken. Jetzt war sie mir so ins Herz gewachsen, dass für sie der Schlachthof niemals in Frage käme. Neben Jockel sollte sie lieber ihr Gnadenbrot von mir bekommen.
»Du liebst sie, nicht wahr?«
Papa stand auf einmal hinter mir.
»Ja, und wir werden zusammen bleiben.«
Er grinste und wuschelte mir die Haare. »Du wirst dich an noch so manches hier gewöhnen müssen.«
»Sieh lieber zu, dass Hofmann eine Ohrfeige kriegt.«
»Ich hab ihn schon angerufen. Er meinte, da war kein Kitz an dem Morgen.«
»Das hat er schon einmal gesagt.«

Die Nacht wurde unruhig. Wer war dieser Marcus? Was sollte ich drei Wochen mit dem anstellen? Nun gut, Arbeit gab es genug, um diese Jahreszeit sowieso. Er konnte den Stall ausmisten, die Eier einsammeln. Aber sonst? Naja, da waren ja auch Robert, Elke und Viola, unsre drei Schweine. Da gab’s auch immer was zu tun. Hoffentlich war er sich nicht zu fein dafür, sowas war ja auch möglich. Dann wäre er nach drei Tagen eh wieder weg.
Ich machte mich am Morgen gerade auf den Weg zum Mähdrescher, als ein Landrover den Hof einfuhr. Ich beachtete ihn kaum.
Ich startete den Motor und fuhr das Ungetüm an Mähdrescher aus der Scheune. Was ein Glück dass es da ein Radio gab und das Wetter war zum ernten richtig ideal. Langsam fuhr ich über den Hof, sah noch mal zu dem Landrover hin und steuerte dann zum Tor.
Plötzlich stand Papa mit den Fäusten in den Hüften vor dem Mähdrescher. Abrupt bremste ich ab und bog meinen Körper aus der Kabine. »Bist du Lebensmüde?«, rief ich.
»Nee, aber du bist reichlich unhöflich. Vielleicht machst du den Motor aus und begrüßt unsren Praktikanten?«
Langsam stieg ich vom Mähdrescher herunter.
Und dann kam der junge Kerl auf mich zu. Stolzer Gang, traumhafte Figur, so groß wie ich, vom Aussehen ganz zu schweigen. Nein, der durfte, der würde und konnte keine drei Wochen hier bleiben. Nicht in meiner Nähe. Aber so wie ich die Lage beurteilen konnte war das kein Typ für die Landwirtschaft. Der würde vielleicht wirklich nur drei Tage bleiben, länger nicht.
Er lächelte, hielt mir seine Hand hin. »Marcus Holzmann.«
Ich nahm seine Hand. So weich und zart. Nee, das ist hier nix für dich, dachte ich in dem Augenblick. Wenngleich der Blick in seine Augen einen Schauer durch meinen Körper jagte.
»Stefan Schilling.«
Was war auf einmal los? Wir sahen uns an, ohne ein Wort. Kein Mensch für den Job auf einem Bauernhof. Immerhin, zum Eier einsammeln im Hühnerstall würde es reichen.
»Schön, ich muss jetzt weiter, wir sehen uns später. Tschüs.«
Damit hüpfte ich wieder in die Fahrerkanzel und ließ den Motor an. Minuten später tuckerte ich mit meiner Maschine die Landstraße hinauf, Richtung Feld. Marcus stand aber immer noch vor mir. Ich sah dieses Lächeln..
Die Ernte verlief diesmal ohne Zwischenfall, scheinbar hatte es sich Hofmann zu Herzen genommen. Trotzdem, beim nächsten Landwirts-Treffen, bei dem auch die Jäger und Förster anwesend waren, würde ich ihn zur Sau machen. Er vernachlässigte sein Revier auch sonst, es wurde Zeit dass da ein anderer die Aufsicht übernimmt. Und mit 18 konnte ich im Gremium immerhin schon mitentscheiden wer sich hier um Wald und Feld zu kümmern hatte.
Zwei Traktoren mit je zwei Anhängern, gesteuert von meinen Eltern, waren ständig am Pendeln, um die Ernte heimzufahren. Es war ein gutes Jahr und wir waren nach einigen Missernten der letzten Jahre froh um jedes Korn.
Ich fuhr den Mäher am Abend in die Scheune, was bei der Dunkelheit gar nicht so einfach war. Ich machte den Motor aus und lehnte mich schnaufend zurück. Die plötzliche Stille beruhigte mich, denn trotz allem war es sauanstrengend. Ich schob mein Käppi nach hinten und schloss die Augen. Eine paar Minuten ausruhen, dann die Kühe, die Schweine. Was Essen, duschen und ab in die Falle. Manchmal dachte ich, dass es zuviel werden würde. Kein Urlaub, kaum Freizeit, nicht mal die Möglichkeit jemanden kennen zu lernen. Marcus..
»Hallo.«

Als hätte ich es geahnt. Oder gehofft?
Marcus stand unten vor der Maschine und sah zu mir hoch. Er hatte einen Arbeitsanzug an und einen Rechen in der Hand. Süß, wie er so dastand. »Hallo«, rief ich müde zurück.
»Wie war Ihr Tag?«
Ich kletterte aus der Kabine, zu ihm hinunter. Das schwache Licht der Deckenbeleuchtung verlieh der Szene in eine beruhigende Atmosphäre. Ich betrachtete mir den Jungen genauer, dazu hatte ich schließlich das Recht.
»Anstrengend, wie meistens. Und deiner?«
»Hab bei den Hühnern aufgeräumt.«
Ich musste lachen. Klar, bei den Hühnern. »Kommst du mit in den Stall? Die Kühe müssen gemolken werden.«
»Ja, sicher«, sagte er, wobei das nicht sehr freudig klang. Er sah mich etwas komisch an, vielleicht dachte er ja auch, es wäre Feierabend.
Er beobachtete mich, wie ich die Melkmaschine bediente. Die Zitzen der Kühe einsalbte und dann die Sauger ansetzte.
»Tut denen das nicht weh?«
Lustig wie er das fragte. »Du hast mit Landwirtschaft noch nicht viel am Hut, wie?«
Er sah zu Boden. »Nö, nicht wirklich.«
»Macht es dir wenigstens Spaß?«
»Weiß noch nicht. Es riecht hier so komisch.. und die vielen Fliegen..«
Klar, das übliche. Ich nahm es ihm aber nicht übel. »Warum bist du eigentlich hier?«
»Mein Vater meinte, ich soll mir das mal ansehen. Es gäbe soviel zu sehen aufm Bauernhof. Und ein bisschen hinlangen würde mir auch nicht schaden.«
»Also bist du nicht unbedingt freiwillig hier?«
»Eigentlich nicht.«
»Naja, du kannst ja jederzeit zurück wenn es dir nicht gefällt.«
Er sah mich an mit seinen großen, grünen Augen. Und er begann, mich zu interessieren. Warum wusste ich nicht, aber da war plötzlich etwas.
»Willst es mal versuchen?«, fragte ich ihn und hielt im vier Sauger hin. »Kühe beißen nicht.« Er kniete sich neben mich.
»Du musst die Zitzen erst eincremen, sonst können die schnell wund werden. Hier, nimm die Salbe.«
Marcus nahm die Dose und begann die Zitzen einzureiben. Johanna, die Kuh die grade an der Reihe war, muhte ausgiebig, sie wusste was nun kommen würde.
»Du musst nicht so vorsichtig sein, die vertragen schon was«, sagte ich und Marcus schmierte die Salbe etwas kräftiger auf.
Dann fiel ich ins Stroh vor lachen. Johanna war schon fast berühmt dafür, auch diesmal landete ihr wedelnder Schwanz direkt in Marcus’ Gesicht, mit voller Wucht.
»Bäh«, schrie er und fiel vom Schemel.
»Tja, das solltest du künftig einkalkulieren«, prustete ich.
Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, stand auf und rannte aus dem Stall.
Es dauerte eine Weile bis meine Lachtränen versiegten. Nachdem ich später auch im Schweinestall für Ordnung gesorgt hatte betrat sich die Stube.
Mama häkelte und Paps saß vor dem Fernseher.
»Wo ist unser Praktikant?«, wollte ich wissen.
»Oben, in seinem Zimmer. Ich glaub, der ist erst Mal erledigt.«
»Kein Wunder. Ist halt was anderes als Disco oder Mofa fahren.«
»Sei nicht zynisch, Stefan. Er kommt aus der Großstadt, das ist etwas ganz anderes.«
Ich kannte die Großstadt. Frankfurt, Marburg, war auch schon in Kiel und Bremen. Aber gefallen hat es mir nirgends. Hamburg, naja, da ich musste ja hin.
Nach dem Essen und Duschen ging ich in mein Zimmer. Marcus schlief nebenan und das machte mich an jenem Abend irgendwie nervös. Schade, wenn er bald wieder ginge. Er sorgte hier für ein bisschen Abwechslung. Und außerdem.. Ich richtete mich auf und sah zu der Wand, hinter der dieser Junge schlief. Er war 16, okay, aber trotzdem..

»Breitsteiners Rudolf hat gefragt, ob er den Mäher heute haben kann, das Leasing mit den Kochs hat nicht geklappt und morgen solls schlechtes Wetter geben. Kannst du ihm die Kiste rüberfahren?« begrüßte mich Papa am Morgen.

Marcus saß am Tisch und ich glaubte seinem Gesichtsausdruck nach, er würde seinen letzten Tag hier zu erleben. Wahrscheinlich hatte er schon seinen Koffer gepackt.
Ich setzte mich neben ihn. »Na, fünf Uhr früh ist wohl nicht so deine Zeit?« Am liebsten hätte ich ihm die Haare gewuschelt, er sah süß aus, wie er so verpennt da saß.
»Nicht wirklich«, grummelte er in sein Müsli.
»Was ist, hast du Lust mit dem Mäher nach Emsen zu fahren?«
Müde sah er mich an. »Naja, warum nicht. Und wie kommen wir wieder zurück?«
»Mein Vater kommt uns holen.«
Marcus nickte. Meine Güte, war er wirklich erst 16? Ich konnte es nicht glauben. Ich hätte ihn auf mein Alter geschätzt.
Kurz darauf fuhren wir los. Der Sommer würde nicht lange bleiben, aber noch schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Die ersten Kilometer sagten wir nichts. Marcus sah mal nach Rechts, mal nach Links. Im Radio lief aktuelle Popmusik und auch ohne den Jungen daneben wäre es mir jetzt richtig gut gegangen.
Dann lief ein Lied, und Marcus fragte:
»Kannst das mal lauter machen?«
Ich drehte den Lautsprecher voll auf und plötzlich schien Marcus aufzutauen. Er rutschte im Takt auf dem schmalen Sitz hin und her und schnippte mit den Fingern. Ich musste grinsen als ich das sah. Und ein paar Mal sah er mich an, dass es mir durch Mark und Knochen ging. Ich hoffte, dass er bleiben würde, ohne einen genauen Grund zu kennen.
Wir lieferten den Mähdrescher beim Breitsteiner ab und ich rief Papa übers Handy an, dass er uns holen könnte. Aber eine halbe Stunde würde er brauchen.
Breitsteiners Hof liegt sehr idyllisch, mitten in der Natur, auch mit viel Wald.
»Sollen wir am Waldrand dort warten?«, fragte ich Marcus.
»Ja, klar«, sagte er knapp. Ich ahnte, dass er seine Reisepläne schmiedete. Also blieben mir insgesamt vielleicht noch ein paar Stunden, mit ihm zu reden. Und das wollte ich. Wir setzten uns an den Waldrand, an dem auch die Straße vorbeiführte. So konnten wir meinen Papa nicht verpassen. Mehr als 10 Autos kamen hier am Tag nicht entlang.
»Sag mal, was machst du denn so?«, wollte ich von Marcus wissen.
Er spielte mit seinen Händen. »Geh noch auf die Schule, wie Sie sich denken können.«
»Das Sie lass aber jetzt bitte sein, zwischen uns liegen nicht mal zwei Jahre.«
Er nickte nur.
»Ich frag mich immer noch, warum du hier bist.«
»Hab ich doch schon gesagt.«
»Ja, aber du hättest doch wissen müssen dass es nichts für dich ist.«
»Hab ich auch, aber meine Eltern haben darauf bestanden. Was hätte ich denn machen sollen?«
»Und nun? Du wirst abreisen nehm ich an.«

Er sah mich an, ganz komisch. Mir wurde mulmig, weil ich solche Blicke kenne und sah weg. »Ich werde wohl noch ein, zwei Tage bleiben, dann geh ich, ja.«
»Schade eigentlich. Ich dachte, wir könnten morgen früh raus ins Biebertal fahren.«
»Was gibt’s da?«
»Viel zu sehen. Natur eben. Freilich nur, wenn es dich interessiert.«
Er nahm einen kleinen Stein und drehte ihn in seiner Hand. »Ja, klar, warum nicht?«

Wieder lag ich wach. Marcus hatte sich an dem Abend beim Kühe melken echt gut angestellt und ich war drauf und dran, ihn zum hier bleiben zu überreden.
Aber beim Abendessen war er wieder so merkwürdig schweigsam und das beschäftigte mich. Es war ohne Zweifel, irgend etwas wurmte ihn. Und das lag nicht an seinem Praktikum.
Ich leugnete nicht mehr, etwas für diesen Jungen zu empfinden. Hier draußen gab es keine Abwechslung, ich war eigentlich alleine. David war irgendwie zugeknöpft in letzter Zeit und Peer in Vorbereitung auf seine Hochzeit. Dieses Alleinsein ging mir zunehmend auf die Nerven, aber was sollte ich machen? Mein Arbeitstag begann um Fünf und endete mit viel Glück um Abends um Neun. Keine Chance auf Disco und Co.
Darum war ich froh dass Marcus hier war. Aber bieten konnte ich ihm nichts. Er würde gehen, und das war’s dann.
Wir saßen am anderen Tag an meinem kleinen Bach. Ich war nicht mit Marcus ins Biebertal gefahren, sondern in meinen Zauberwald. Da, wo ich schon als Kind meinen Träumereien nachhing. Das klare Wasser gluckste um unsre nackten Füße.
»Das ist aber kalt«, kicherte Marcus.
»Soll es ja auch sein bei der Hitze.«
»Du, Stefan.«
»Ja?«
»Hast du eigentlich keine Freundin? Ich hab jedenfalls keine gesehen auf dem Hof.«
Diese schlimme Frage. »Nein, hab ich nicht.«
»Warum eigentlich nicht?«
»Ich hab dafür keine Zeit. Und dann – im Dorf wäre keine die.. Können wir das Thema wechseln?«
»Warum? Keine Zeit kann doch keine Ausrede sein.«
»Hey, Kleiner, das ist keine Ausrede, das ist Tatsache.«
»Kann sein, sicher, aber so kannst du doch nicht leben. Und warum sagst du Kleiner zu mir?.«
»Oh, man kann vieles, wenn man will. Ich hab Kleiner nur so gesagt, hat keine Bedeutung. Wenn du es nicht magst sag ich es auch nicht mehr. «
»Macht mir nichts aus.«
Er sah mich wieder an und ich spürte dass er noch etwas sagen wollte. »Komm, wir müssen zurück.«
»Wegen den Kühen?«, fragte er mit diesen schönen, großen Augen.
»Auch.«

Am anderen Tag musste ich den Mäher wieder abholen und Marcus blieb auf dem Hof.
»Sag mal, Marcus ist ein seltsamer Junge. Er redet kaum, ist wie verschlossen. Der passt so gar nicht in diese Familie«, sagte Paps auf der Fahrt nach Emsen.
»Ich weiß auch nicht was er hat. So ist er ganz in Ordnung glaub ich. Sicher passt ihm das alles hier nicht. Ist wohl nicht das Richtige für ihn.«
»Tja, ich denke er wird nicht mehr lange hier sein«, antwortete Papa.
»Ich auch nicht.«
Es schüttete wie aus Eimern als ich den Mäher zurückfuhr, zeitweise konnte ich fast die Straße nicht sehen. Und kalt wurde es außerdem. Aber mit Heizung und Radio in der Kabine ließ es sich aushalten. Dennoch, mir ging Marcus nicht mehr aus dem Kopf. Sein Lächeln, seine ungeschickten Bewegungen, aber auch sein trauriges Gesicht. Was war er wirklich für ein Mensch? Was steckte hinter dieser schönen Fassade?
An jenem Abend klopfte es an meiner Tür. Marcus hatte sich den ganzen Abend nicht blicken lassen, er sagte es gehe ihm nicht gut und bestand keinen Grund, ihm das nicht zu glauben.
»Ja?«
Marcus stand unter der Tür, er sah aus wie ein Häufchen Elend.
»Ist was passiert?«, fragte ich, nicht ohne Sorge.
»Nein, alles ok.«
»Komm rein, setz dich«, sagte ich und klopfte auf meine Matratze.
Scheu kam er zu mir, vermied es mich anzusehen. Er trug einen Pyjama und sah so richtig knuddelig darin aus. Vorsichtig setzte er sich auf das Bett und sah auf seine Finger mit denen er spielte.
»Macht es dir viel aus, wenn ich morgen zurückfahre?«
Ich schluckte. Er durfte nicht fahren, er musste bleiben. Aus vielen Gründen. »Ja, das täte mir sehr leid«, sagte ich deswegen.
»Wirklich?«
»Du hast es gerade gehört.«
»Aber ich tauge hier doch überhaupt nichts.«
»Wer hat das gesagt?« Ich wurde lauter.
»Ich.«
»Aha. Interessant. Du bist zwei Tage hier und kommst zu so einer Aussage? Hör mal zu.«
»Ja?«
Ich legte meinen Arm um seine Schulter. »Ich möchte dass du dableibst. Ich brauche dich. Morgen muss ich die Sprenger beim Mais aufstellen. Es hat zwar geregnet, aber das wird nicht reichen. Und ich brauche dich dafür.«
»Du brauchst mich?«
»Ich bin nicht der Ansicht, dass du Schwerhörig bist.«
Er sah mich wieder an und plötzlich spürte ich diesen Blick. Er war nicht einfach nur da. Und dann spürte ich seine Körperwärme, durch meinen Arm den ich um ihn gelegt hatte. Ich war Marcus plötzlich so nah, sein Gesicht war eine Handspanne entfernt.. Diese strubbeligen, dunkelblonden Haare, die vollen Lippen. Die Stupsnase, die grünen Augen..
Ich nahm meinen Arm herunter. »Morgen früh um sechs fahren wir los, ok?«
Er sah mich lange an und ich ertrug es fast nicht. »Ja, gut.

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