Margie 05 – Der Konkurrent

»Es war im Winter, vor drei Jahren. Er und seine Eltern waren unterwegs von einem der Konzerte, wo ich als damals Jüngstes Orchestermitglied spielte. Die Straße war glatt, sie kamen mit ihrem Auto von der Straße ab..«

Er musste nicht deutlicher werden, diese knappe Schilderung reichte auch so um zu wissen, was dann passiert sein musste. Aber er war noch nicht fertig. »Sein Vater starb noch an der Unfallstelle, mein Freund und seine Mutter dann einige Tage später im Krankenhaus.«

»Oh.. das ist.. schlimm..« Dumm irgendwie, aber es kam aus mir raus ohne großes Nachdenken.

»Ja. Ich bin eigentlich nicht mehr nach Hause, fast ständig im Krankenhaus gewesen. Aber sie ließen mich nicht zu ihm, ich war ja kein Verwandter. Das war das Schlimmste an der Sache überhaupt.«

Sollte ich darauf etwas sagen? Ich konnte ihn mit jeder meiner Haarspitzen nachfühlen. Da liegt ein Mensch den man liebt im Sterben und darf sich nicht von ihm verabschieden. Das war etwas, wogegen sich alle meine vernünftigen Sinne sträubten.

»Sie kamen dann irgendwann auf den Gang und sagten mir, dass er gestorben sei.«

Das klang unwahrscheinlich traurig und ich spürte wie es ihm zu schaffen machte, darüber zu reden. Irgendwie versuchte ich, dass er sich nicht in Einzelheiten verlor. »Und danach hast du keinen Freund.. mehr gehabt?«

»Nein. Ich hab mich in die Musik gestürzt, wie ein Bekloppter. Vielleicht war es aber auch gerade das, was mich zum Teil so weit gebracht hat. Ich mein, es nutzt nicht allzu viel wenn man Bekannte im großen Geschäft hat, so wie die Leute vorhin. Vitamin B, wenn du verstehst. Ein bisschen was können muss man schon.«

»Hast du ihm eigentlich, irgendwie ein Musikstück gewidmet? Also, das ist mir jetzt grad so eingefallen. Weil ich denke, ich hätte das wahrscheinlich gemacht.«

»Nein, das nicht. Ich möchte keine Dinge tun, die mich ständig an ihn erinnern. Es gibt auch keine Fotos von ihm. Die habe ich alle weg, ein paar Monate nach seinem Tod. Er lebt in meinem Herzen, da wird er auch bleiben.«

Auch ohne dass er es gesagt hatte, verstand ich ihn, es musste tatsächlich die große Liebe gewesen sein. Und er trauerte immer noch, zu diesem Schluss kam ich sehr schnell. Er hatte seinen Freund noch nicht vergessen, auch wenn er alles dafür tat.
Nun war mir auch klar, warum in dem Album keine Bilder von einem Freund zu sehen waren. Sicher wäre der Abend dann anders abgelaufen. Eine Taktik, die wahrscheinlich den wenigsten gelingen würde. Ich fragte nicht, ob er die Fotos nur weggepackt oder vernichtet hatte. Jeder ging mit so etwas sicher anders um.
Ganz bestimmt würde er keine Details dieser Freundschaft preisgeben. Ob sie Sex hatten und solche Sachen, aber das ging mich ja auch überhaupt nichts an. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich an die Stelle seiner Liebe treten, den Platz dieses Jungen einnehmen musste. Es würde an mir liegen, ob er je wieder so lieben könnte und das stürzte mich in einen Konflikt.
»So, ich werde mir jetzt erst mal etwas Bequemes anziehen«, unterbrach er unser Gespräch und war auch schon verschwunden. Mir fielen seine Klamotten wieder ein, die ich anhatte. Komisch, dass ich nicht dauernd daran denken musste. Dabei müsste es doch so.. aufregend sein irgendwie. Aber es drang nicht zu mir durch, das passte jetzt einfach nicht in das Stimmungsbild.
Mit einem Seufzer lehnte ich mich vorsichtig zurück. Hoffentlich zog er jetzt nichts an, was meine Sinne benebeln könnte. Ich konnte mir seinen Hang zu saloppen, gut passenden Sachen schon vorstellen.

Es ging erstaunlich schnell, bis er wieder auf die Terrasse kam. Und wie ich befürchtet hatte, trug er ein Tanktop, eine nicht zu weite Short. Sonst nichts. Barfuss.. er hatte so knufflige Zehen, dachte ich fast Sehnsüchtig. Warum hatte ich die in unserer Nacht nicht bemerkt?

„Du hattest keine Zeit dazu.“

Ja, okay, das stimmte. Aber nun machte mich der Anblick wieder nervös. Zudem verbarg die Hose nicht allzu viel und ich konnte mir ja bestätigen, dass das, was sich da so geheimnisvoll abbildete – das war alles echt.
Das Top war ziemlich knapp in der Länge und ließ einen kleinen Spalt frei, durch den man seinen reizenden, flachen Bauch lugen sah. Ja, Angelo machte mich an, daran gab’s eben nichts zu deuteln und ich fragte mich, ob das seine Absicht war.
Er schenkte sich irgendwas zu trinken ein und was passierte dann? Auf dem Weg zu seinem Platz an mir vorbei streichelte er einen Augenblick meine Schulter. Das war eigentlich der absolute Hammer, ein unbeschreibliche Gefühl.
Das tat so gut. Angelo setzte sich wieder mir gegenüber. »Und du? Hast du einen Freund?«, wollte er dann wissen.

Zum Glück musste ich weder darüber nachdenken noch ihn anlügen. »Ja, ich denke ich hab einen Freund.«

»Du denkst? Entweder so was weiß man oder eben nicht«, folgerte er.

»Stimmt, normalerweise schon.«

»Du sprichst irgendwie in Rätseln«, bemerkte er und nippte an seinem Glas.

Ich nahm ebenfalls einen ordentlichen Schluck meiner Mixtur. »Ja, Angelo, ich denke es ist tatsächlich ein Rätsel. Noch.«

Er blinzelte mich an, ganz logisch erwartete er jetzt eine Lösung oder zumindest eine Aufklärung über den Inhalt meiner Aussage.

»Das Dumme an der Sache ist, dass ich nicht weiß ob er auch mein Freund ist.«

Jetzt zog er die Mundwinkel nach oben und prompt kamen seine Grübchen zur Geltung. Allein dafür liebte ich ihn. »Dann habt ihr darüber noch nicht gesprochen?«

»So ist es. Aber so wie die Dinge liegen, habe ich das Gefühl, dass das nicht mehr lange dauert.«

Er sah wieder an mir vorbei und das war wie ein Signal für mich. Er wusste ganz genau, dass ich ihn damit meinte und nun stand er vor der Entscheidung. In mir begann es zu brodeln. Ich war zum Konkurrenten seines gestorbenen Freundes geworden und ich würde alles in meiner Macht stehende tun müssen, um ihn zu besiegen.
Kein Wort über ihn, ich wollte noch nicht einmal den Namen wissen. Je weniger ich den Jungen kennen würde, desto weniger müsste ich nach Punkten suchen die ich besser zu machen hatte. „Reiß dich zusammen, auch wenn’s schwer fällt: Diesmal musst du Kompromisse eingehen. Oder er ist weg.“
Wie sollten die aussehen? Gut, ich kannte Angelo wirklich nicht, ein Bruchteil nur von dem, was da noch in ihm steckte. Mir war nach Themenwechsel, aber jetzt standen wir mitten drin in der Sache und noch einmal anfangen an dieser Stelle wollte ich nicht.

»Also, ich glaube ich werde heute nicht sehr alt«, sagte er plötzlich und sah auf seine Uhr.

In diesem Moment wusste ich, wo ich bei ihm stand. Ich hatte mir nichts eingebildet, er war einfach noch nicht soweit. Lieber brach er hier ab, als sich auf eine spontane Reaktion einzulassen. Drängen wollte ich ihn auf keinen Fall, das war Gift. „Er braucht Zeit. Die musst du ihm lassen und vor allem: lass ihn genau das spüren. Wenn er sich bedrängt fühlt, flüchtet er bestimmt zurück. Und dann bist du aus dem Rennen.“
Ich dachte an unsere Nacht da hinten, in seinem Zimmer. Das war ohne Zweifel der erste Schritt, aber dem mussten noch sehr viele folgen und die waren weiß Gott nicht auf den Sex beschränkt.
Wir hatten das beide gewollt und unterm Strich auch gebraucht, aber das war eben nicht alles. Zum ersten Mal in meinem Leben drang das Wort Freundschaft so richtig in mein Bewusstsein.
Von Minute zu Minute gewann es an Gewicht. Ich war bereit, bereit für diesen Kampf gegen einen unbekannten Jungen, den nicht kannte, der nicht mehr lebte und dennoch hier war. Hier zwischen uns beiden.
Und ich durfte das nicht unterschätzen. Ich konnte mir sehr gut vorstellen wie sehr man an jemanden hängen konnte, auch wenn er nicht mehr hier war.

»Und sonst hast du keine Freunde?«, fragte er nun doch noch. Geschickt umschiffte er die Klippe, auf der das Wort Freundschaft zu mir stand.

»Ja, ein paar gibt’s schon.«

Ich erzählte ihm von Felix, von Jo und Alex, von deren Freundinnen. Geduldig hörte er zu und wenn ich mich getäuscht hatte, grübelte er schwer darüber nach. Offenbar war in seiner Jugendzeit so etwas kaum machbar.
Immer im Schatten berühmter Eltern zu stehen, wo sicher auch ein gewisser Leistungsdruck eine Rolle spielte. Da ich fürchtete, so etwas wie Neid in ihm zu schüren, ging ich nicht in Details.
Ich schilderte eher grob was da so ablief. Komischerweise hatte ich dabei nie den Eindruck, ihn damit zu langweilen.
Irgendwann kam ich dann zu dem Punkt, wo ich die allerletzte Sicherheit haben musste.

»Wissen deine Eltern eigentlich dass du schwul bist?«

Er hatte seine Arme auf den Lehnen des Stuhls gestützt und tippte mit den Fingern an seinen Lippen.

»Offiziell gesagt habe ich es ihnen nicht. Vielleicht ahnen sie es, aber so ins Gesicht sagen – nee, das bring ich nicht hin. Es wäre mit Sicherheit ein Zusammenbruch ihrer heilen Welt, ein Verlust ohne Ende. Vergiss nicht, dass sie nie mit Enkeln und so rechnen können und immerhin beende ich an dieser Stelle den Stammbaum. Etwas, worauf sie immer Stolz waren. Die Fortführung des Geschlechts derer von Kassini. Ich mach darunter einfach einen Punkt..«

Er schloss die Augen und ich konnte spüren wie im das zu schaffen machte. Er hatte es in der Tat nicht einfach.

»Haben sie denn nichts gemerkt, damals, mit deinem Freund?«

Ich musste wohl oder Übel wieder auf ihn zu sprechen kommen.

»Nein. Für sie waren wir sehr gute Freunde, sonst nichts. Wir haben es gut verbergen können.«

Weiter ging ich nicht. Fest stand jetzt nur – sollten wir beide zusammenkommen, wäre es wohl ein ewiges Versteckspiel und das würde enorme Kräfte kosten. Der „Rote Teppich.. Die ganze Welt..“
Meine Worte drehten sich im Kreis. Keine Möglichkeit, es in die Welt hinauszuschreien; zu rufen: »Wir sind verliebt, wir sind ein Paar.«
Wollte ich das? Konnte ich das? Immer nur hinter dem Vorhang stehen, heimliche Küsse in dunklen Ecken, die Nächte auf Zehenspitzen, verborgener Sex in fremden Betten? War das diese Art von Kompromiss, an den ich vorhin dachte?
Einer von vielen vielleicht? Ich fürchtete, genau das waren sie. Das wäre der Preis, den ich und auch er zu zahlen hatten. Ein sehr hoher Preis.
Ich betrachtete Angelo, hinter dem gerade die Sonne in die Felder abzutauchen schien. Das weiche, orangefarbene Licht tauchte sein Gesicht in Pastelltöne, die kein Maler je zustande gebracht hätte. Der Junge verzauberte mich und ich konnte nicht widerstehen.
Ich beschloss, den Preis zu zahlen, wenn es darum ging mit ihm zusammensein zu dürfen. Das alles stand noch offen und ich wusste in dem Augenblick noch nicht, wie ich auf ein Angebot von ihm reagieren würde. Nämlich dem, diese Nacht hier zubleiben.
»Wo ist eigentlich euer Diener?
Ich hab ihn seit meiner Ankunft nicht mehr gesehen.«

»Paul hat heute Abend frei, es ist ja nichts los. Er hat mir nur beim Kalten Büffet geholfen. Er kommt erst morgen Früh wieder.«

Damit stand fest, dass wir beide ganz alleine waren. Das erzeugte trotz allem ein Kribbeln in meinem Körper. Zugegeben, ich fürchtete mich da ein bisschen, ihm näher zu kommen. Ich hatte seine Vergangenheit aufgewühlt, Dinge an die Oberfläche befördert, an die sich zu erinnern ihm so etwas wie Schmerz erzeugt hatte.
Vielleicht würde er ja auch nur meine Nähe suchen, nicht allein sein wollen. Das musste zwangsläufig nichts mit Sex zu tun haben. Ich hatte das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen. Einfach zeigen, dass die Vergangenheit zu bewältigen war. Es lag nicht nur an mir, diese Hürde zu überwinden.
Er musste mithelfen. Wenn es mir gelänge, ihn da herauszuholen, dann wäre das zumindest ein Schritt vorwärts.
Irgendwie schien mir dann auch klar zu sein, warum er gerade bei den Konzerten so verträumt aussah. Ich fürchtete, er würde doch nur für ihn spielen. Und Margie war vielleicht so etwas wie Ersatz für seinen Freund geworden.

»Nun hat der Geigenbauer doch nicht angerufen«, fiel mir so nebenbei ein.

Angelo sah auf seine Uhr und seufzte.

»Ja, schon komisch. Aber wer weiß, vielleicht dauert es ja länger bis er sagen kann, ob Margie noch zu retten ist. Er ist ein sehr genauer und gewissenhafter Mensch. Und bevor er eine ungenaue Prognose abgibt, schaut er lieber dreimal hin.«

»War Margie… schon mal kaputt?«

Angelo lachte.

»Mindestens drei Mal. Allerdings nie so wie jetzt. Es kommt immer mal vor dass ein Instrument Schaden nimmt, das ist im Grunde nichts Besonderes. Aber diesmal…«

Nun kam so eine seltsame Stimmung zwischen uns auf. Ob er sie auch spürte wusste ich nicht, ich für meinen Teil konnte sie fast greifen. Es war diese Situation, in der er nach meinem Befinden den Ablauf des restlichen Abends überdachte.

Lud er mich ein hier zu bleiben, könnte das bis dahin unabsehbare Folgen haben; bat er mich zu gehen, könnte ich das vielleicht falsch deuten. Ich beschloss, nichts dergleichen anzusprechen. Er musste entscheiden.
Ich stand auf und mixte mir noch einen Drink. Insgesamt war unser Gespräch doch ziemlich anstrengend für uns beide und der Alkohol dämpfte mein aufgewühltes Inneres. Dann fiel mir mit Schrecken ein, dass ich gar nicht zurück konnte.
Mein Drahtesel war hin und zu Fuß war es einfach zu weit. Außerdem war ich nicht lustig, durch die kommende Nacht laufen zu müssen. Und Angelo wusste das ja auch. Ich setzte mich an den Tisch zurück und wartete.

»Tja«, begann er dann auch schon, »dein Gefährt ist ja wohl hin..«

Vielleicht konnte er ja Gedanken lesen.

»Ich hab’s grade gedacht. Was machen wir nun?«

Obwohl ich immer noch nicht wusste was besser für uns war hoffte ich, er würde mich nicht nach Hause fahren. Ich wollte bei ihm bleiben, wenigstens diese Nacht.

»Also wir haben zwei Möglichkeiten«, setzte er dann fort und ich drückte einen Daumen unter dem Tisch.

»Und die wären?«

»Nun, zum einen kann ich dich nach Hause fahren wenn du das möchtest, zum anderen.. du kannst auch gerne hier bleiben.«

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