Das Boycamp II – Teil 8

»Das alles ist kein Vorwurf. Ich möchte euch nur auf eure Schwachstellen aufmerksam machen, sonst nichts. Nehmt das mit, als Teil der Therapie hier. Überlegt euch in Zukunft genau was ihr plant und auch das, was nicht geplant ist. Es gibt Tausend Unabwägbarkeiten im Laufe eures Lebens, und genau die sollt ihr im Auge behalten. Ein Plan ist schnell gemacht, aber ihn umzusetzen ist meist wesentlich komplizierter. Meist hab ich gesagt, nicht immer.«

Stefan drückte Nicos Hand unter seinem Hemd. »Stein ist ein teuflischer Fuchs…«, flüsterte er.

»Jepp, und wie. Ich glaub die wussten nichts von unserem Vorhaben heute Nacht. Die hätten es bloß genauso gemacht, das ist der ganze Zauber.«

»Ja, das kommt hin. Die hören uns zu, beobachten ein bisschen und Schlussfolgern dann ganz einfach. Nico, ich glaub, sie schlüpfen einfach in unsere Rollen…«

»Genau, und das müssen sie. Nur wenn sie wissen wie wir denken können sie ihren Job machen, sonst taugen die zu nichts.«

»Und das heißt, sie werden sehr genau wissen, dass wir nicht aufgeben, nur weil das heute nicht geklappt hat.«

Nico setzte sich auf und sah Stefan in die Augen, die den Feuerschein der Flammen so unwirklich und geheimnisvoll widerspiegelten. »Ja, das wissen sie. Und ich kann mir nicht denken, dass sie uns ab heute auch nur einen Moment lang aus den Augen lassen.«

»Und jetzt?«

»Erkan, der muss wissen was hier gespielt wird.«

»Meinst du, es ist wirklich so? Sie belauern uns?«

»Wissen… keine Ahnung, aber wir müssen das in Betracht ziehen.«

»Und wenn wir noch mal mit Stein reden? Vielleicht hat er ja irgendwann mal ein Einsehen.«

»Hm, Stefan, ich glaub eher nicht, sonst wäre er schon auf uns zugekommen. Nein, wir sagen dazu nichts mehr. Nur Erkan, der muss von unserem Verdacht wissen.« Damit stand Nico auf und streckte sich. Langsam umrundete er das Lagerfeuer und zog sich eine weitere Flasche Bier aus dem Wagen. »Schmeckt gut, Alex, das hiesige Bier«, sagte er und bekam, was er wollte – Erkan sah zu ihm herüber und verstand die winzige Handbewegung, mit der er ihn weglocken wollte. Es war besser, Erkan erfuhr sofort von seinen und Stefans Verdächtigungen.

Kurz darauf verschwanden die beiden auf dem Weg zum Waldrand in der Dunkelheit.

»Mann was ´ne müde Party«, mokierte sich Stefan, als sie gegen Mitternacht in ihr Zelt schlüpften.
So wirklich in die Gänge kam der Abend dann doch nicht mehr, trotz einiger sehr interessanter Gespräche, die Stein und Bode mit den Jungs führten. Insgeheim dürfte die geplante und dann geplatzte Aktion dieser Nacht an der Stimmung Schuld gehabt haben. Kein Wort fiel über Tobias, nichts mehr über die Webcam und die anderen Dinge.
Erkan hatte Nicos Erkenntnis eher gelassen aufgenommen. »So hab ich mir das in etwa auch gedacht«, antwortete er nur am Waldrand und versprach, sich um eine Neuauflage seiner Pläne zu kümmern. Nico spürte dabei eine immer größer werdende Unruhe. Erstens, was war mit Tobias im Moment los und zweitens, wenn es nichts Neues gab, lebte er noch? Wenn ja, wo hielt man ihn versteckt? »Erkan, uns läuft die Zeit davon«, hatte er ihm deswegen zugeflüstert. Selbst als sie da am Waldrand standen, weit ab vom Feuer und der Gruppe, wagten sie nicht, laut zu sprechen. »Nico, ich weiß das, aber grade jetzt dürfen wir nicht überstürzt handeln. Stein nagelt uns fest oder wirft uns raus, eins von beiden«. Nico musste sich damit zufrieden geben, auch wenn es ihm heftig unter den Nägeln brannte.

»Nee, der Knaller war das wirklich nicht. Kam mir vor wie auf ´ner Beerdigung. Wenigstens das Bier war gut«, antwortete Nico und rülpste leise.

»Ja, das wohl. Aber trotzdem, wenn man überlegt was wir heute Nacht…«

Nico hielt ihm seinen Zeigefinger auf den Mund. »Psst. Man kann nicht wissen…«

Stefan nickte, zog sich bis auf T-Shirt und Boxershort aus und ließ sich auf den Schlafsack fallen. »Ich möchte jetzt von dir in den Arm genommen und in den Schlaf gestreichelt werden«, säuselte er und wartete, bis sich Nico neben ihn gelegt und den anderen Schlafsack über sie gezogen hatte.

»Ja, aber nur streicheln… zu müde…«

Während sie langsam ihren Träumen entgegenschlummerten, drang plötzlich ein Geräusch an ihr Ohr. Nico öffnete die Augen und lauschte. Stefan hatte sich bereits aufgesetzt. »Hast du das auch gehört?«

»Ja, aber was war das?«

Sie lauschten eine Weile, aber es blieb ruhig. Nach allem was sie schon erlebt hatten wurden sie neugierig.

»Sollen wir mal nachsehen? Ich weiß ja nicht genau was das war.«

Angestrengt dachte Nico nach. »Ich auch nicht. Bin nur wach geworden… Okay, komm, lass uns lieber rausfinden was da schon wieder los ist.«

Rasch schlüpften sie in ihre Hosen, wobei Nicos Handy wieder als Lampe herhalten musste.

»Leise jetzt«, flüsterte Stefan, nachdem er im Zeitlupentempo den Reißverschluss geöffnet hatte. Silbrig färbte das Mondlicht die Blätter in den Bäumen über ihnen, Sterne blinkten vom wolkenlosen Nachthimmel.

Plötzlich hörten sie es wieder. Schauerliches Geheul drang mal lang gezogen, mal abgesetzt durch den nächtlichen Wald.

»Mein Gott, Nico…. hier, fühl mal.« Stefan nahm die Hand seines Freundes und legte sie auf seinen Unterarm, damit er die Gänsehaut spüren konnte. »Das… das ist Rick da draußen, nicht wahr?«

»Würde ich auch sagen. Wird wohl einsam sein, trotz uns hier. Und außerdem – es ist Vollmondzeit.«

»So was hab ich in echt noch nie gehört«, flüsterte Nico. »Wehe wenn da einer Angst hat…«

Sie hörten dem Heulen noch eine Weile zu, wobei sie sich wegen der Kälte fest umarmt hatten. »Komm, mir wird kalt«, flüsterte Nico dann und rasch verkrochen sie sich in ihrem Zelt. Dicht lagen sie aneinandergekuschelt, während das Heulen draußen langsam schwächer wurde und dann ganz aufhörte.

»Nico, ich weiß nicht…«

»Was ist?«

»Das ist sicher reiner Schwachsinn.« Stefan sprach leise in Nicos Ohr direkt neben seinen Lippen.

»Nun sag schon. Was ist Schwachsinn?«

»Hast du ungefähr rausgehört wo Rick eben gewesen sein könnte?«

Nico breitete das Gelände geistig vor sich aus und überlegte eine Weile. Dann schluckte er und starrte an die Zeltdecke, während er seinem Freund durch die Haare streichelte. »Ja, ich glaub ich weiß was du meinst.«

»Er könnte in der Nähe des…. Wagens gewesen sein, oder?«

»Möglich, ja, vielleicht von dort, aber es ist schwer…«

Eine Weile schwiegen sie, dann rückte Stefan noch enger an Nicos warmen Körper. »Jetzt muss ich wieder an Manuel denken…«

Nico sagte nichts, legte seinen Arm um Stefans Oberkörper und irgendwann schliefen sie ein.

Der Donnerstag begann wie üblich mit wecken, waschen, ein bisschen Frühsport und als Therapieeinheit die Gruppenstunde, die in Wirklichkeit den ganzen Vormittag dauerte. Niemand der Jungs war richtig bei der Sache, nachdem ihnen Erkan nach dem aufstehen angekündigt hatte, die Aktion in der kommenden Nacht zu starten. Observieren, wie er sich fachmännisch ausdrückte. Die Lage sondieren, Indizien sammeln. Der türkische Sherlock Holmes, wie ihn Mirko trefflich genannt hatte, war anscheinend den Rest der Nacht über diesen Plänen gehockt.
Zwischenzeitig war auch Ricks nächtliche Einlage ein Thema, keiner der Jungen hatte das Geheul überhört.
Der Vormittag zog sich unendlich lang dahin, unterstützt wurde die Lustlosigkeit der Gruppe durch den strahlenden Sonnenschein, der nun wieder zurückgekehrt war und begann, die nun kräftige Einfärbung des Herbstes hier oben zu einem bunten Feuerwerk anzuzünden.
Rasch stürmte die Gruppe nach dem Mittagessen deshalb vor das Gebäude und ließ sich einfach auf dem Boden nieder, blinzelte rauchend in die Sonne und – schwieg. So nah am Haus wagte keiner eine Frage an Erkan zu stellen, das alles musste bis nach dem Abendessen warten.

Der Nachmittag stand ganz im Zeichen des Sports. Zum Glück gab es keinen Ablaufplan, sie konnten Fußball oder Handball spielen, Nico und Stefan spannten ein Seil zwischen zwei Baumstämmen und vertrieben sich die Zeit mit Badminton. Da das Gelände vor dem Hauptgebäude etwas weitläufiger war, unterhielten sich die Jungen auch gelegentlich, ohne jedoch ein Wort über die bevorstehende Nacht zu verlieren. Bislang wurden aber keine Rückzugsgedanken laut, Erkan konnte somit davon ausgehen, dass er auf jeden Jungen zählen konnte.

»Was macht eigentlich dein Zeckenbiss«, wollte Nico später unter Dusche wissen.

»Lass mich ja in Ruhe, ich hab schon Albträume wegen dem Scheißvieh.«

»Och«, bemitleidete Nico seinen Freund übertrieben künstlich und rieb den Bauch an genau der Stelle, die nur noch ein bisschen rot war.

»Nico… lass das jetzt…«, stöhnte Stefan auf, wobei er seine sofort eingeleitete Erektion nicht ganz verbergen konnte.

»Aha, mich dünkt…«, rief Nico entzückt und setzte seinen Dackelblick auf.

»NICO«, ermahnte ihn Stefan erneut laut und deutlich.

»Oh, man ist heut wieder ziemlich zickig, wie ich feststelle.«

»Ja, ist man. Du solltest deine überschüssige Kraft lieber auf andere Dinge lenken….«, sagte Stefan wieder leiser und versuchte dabei, nicht zu grinsen.

»Okay, hab verstanden. Leihamt ist nicht besetzt«, lästerte Nico und grinste zurück.

»Jep, Betriebsausflug. Bis morgen ist keiner da.«

»Schad«, antwortete Nico und zog einen Schmollmund.

»Sollte Alexander etwas davon wissen?«, fragte Nico als sie sich später im Umkleideraum anzogen. »Vielleicht kriegt er ja mit wenn sich hier drin was tut.«

Erkan hielt kurz inne, bevor er sich sein T-Shirt vollständig überzog. »Hm, eigentlich wäre mir lieber… je weniger davon wissen umso besser. Aber ich glaub trotzdem das ist ´ne gute Idee. Ich werd ihn mir gleich mal vornehmen.«

»Übrigens, hab ´ne Vollzugsmeldung, Erkan.«

»Oh, was ist mir entgangen?«, fragte er neugierig.

»Wenn es dir entgangen ist… Sämtliche Handys sind geladen.«

Erkan grinste über das ganze Gesicht. »Echt? Nicht mal ich hab’s bemerkt… Respekt.«

»Wie hättest du auch. Einer hat ja genügt… und nicht jeder wie du gemeint hast.«

»Oh ja, klar. Hätte ich selber draufkommen können. Meins ist ja geladen, drum hab ich das auch aus den Augen verloren.«

Nico grinste und wedelte mit dem Zeigefinger vor Erkans Gesicht. »Du, du. Noch mehr Fehler dürfen dir aber nicht passieren.«

Erkan schnappte den Finger und drückte ihn sanft in seiner Hand. »Weißt du, wenn der Stefan nicht wäre, dann…«

Nico näherte sich seinem Gesicht so nahe, dass sich fast ihre Nasenspitzen berührten. »Was dann, Türke?«

»Ich sag’s lieber nicht, du weißt selber…«

»Darf man fragen, was das für ein Film ist der da läuft?«, wollte Stefan unvermittelt wissen. Er hatte die beiden schon eine Weile beobachtet, aber nach diesem Berührungsakt mischte er sich ein.

»Nichts, Steffchen, kein Film. Wir proben nur grad ´ne Szene…«

»Nico? Erkan? Auseinander, sofort!« Dabei versuchte er sich im Befehlston, wobei er ein Grinsen nicht unterdrücken konnte.

Erkan sprang sofort einen Schritt nach hinten, knallte seine nackten Füße zusammen und hob die Handfläche an die Stirn. »Yes, Sir, sofort, Sir, jawohl, Sir.«

Alexander in allen Einzelheiten einzuweihen schien Erkan nicht nötig, noch nicht. Er wartete während dem Abendessen einen günstigen Moment ab, in dem sie ungestört sein konnten und zog Alexander in den Putzraum. »Alex, frag jetzt bitte nicht warum und wieso, hier, ein Zettel mit unseren Handynummern. Wir werden heute Nacht mal eben was ausprobieren. Wo bist du gewöhnlich abends und nachts?«

Alexander sah ihn mit großen Augen an. »Ähm…. gut, ja… also ich hab hier hinten mein Zimmer, da bin ich meistens. Also, wenn ich nicht grad unterwegs bin.«

»Dann kriegst du ja mit wenn hier jemand ein- und ausgeht, oder?«

»Gewöhnlich… schon. Kommt drauf an ob ich meine Kopfhöher aufhab, wegen Musik und so.«

»Dann tu uns heute Abend ausnahmsweise den Gefallen und lass die Dinger unten, einverstanden? Einfach nur mal ein Auge und Ohr offen haben. Wenn was Verdächtiges passiert, einfach eine der Nummern anrufen, die Namen stehen dahinter. Wir werden es dir erklären… nur jetzt ist dafür keine Zeit. Würdest du das machen?«

Alexander lächelte. »Ist doch keine Frage.«

»Ach, Alex, noch was… Gibt’s hier irgendwo Batterien? Für ´ne Taschenlampe?«

Alexander grinste mehr als breit, langte an Erkan vorbei und wedelte dann mit der Hand vor seinem Gesicht. »Ums Haar wärst du drübergefallen. Die lagern nämlich hier. Rein zufällig natürlich.«

Erkan klopfte ihm auf die Schulter und ehe sich Alexander versah, bekam er einen Kuss auf die Stirn. Sofort wurde er feuerrot, dann lächelte er leicht betreten zu Boden.

Erkan sah sich in dem kleinen Raum noch kurz um und plötzlich wurde ihm Siedendheiß. »Schei…«, flüsterte er.
Ohne Kommentar schob er Alexander aus dem Raum und begann, jeden Zentimeter des Raums zu untersuchen. Stein hatte gesagt, hier drin hätten sie eine Kamera installiert um den Spanner Dingfest zu machen. Und die lief vierundzwanzig Stunden… Nach zehn Minuten atmete er auf, nichts war zu finden. Einerseits beruhigte es ihn, andererseits geriet er ins Grübeln. Wo war diese Kamera? Hier nicht und nichts deutete darauf hin, dass sich je eine in diesem Raum befunden hatte. Hatte Stein doch gelogen? Hatte er nie die Absicht, sich darum zu kümmern wie er es dauernd versicherte? Noch einmal suchte Erkan in allen möglichen Ecken, aber er blieb Erfolglos. Stein jetzt darauf anzusprechen schien ihm kein guter Zeitpunkt. Es durfte nichts mehr passieren, was ihre Aktion gefährden könnte.
Zurück an seinem Platz im Speiseraum flüsterte er Nico seine Entdeckung kurz zu.

»Es wird immer merkwürdiger. Zeit, dass was passiert«, hörte er nur als Antwort und nickte.

Die Betreuer unterhielten sich ausnahmsweise und diese Beobachtung schmeckte Nico gar nicht, denn Geheimes schien nicht abzulaufen. Wortfetzen, die aus „die haben doch keine Ahnung von Fußball“ und „wird wohl langsam Winter jetzt“ bestanden, klangen an den Tisch der Jungen herüber. Wenn da etwas im Busch gewesen wäre, dann müsste da etwas anderes ablaufen. Aber die Aktion deswegen erneut zu verschieben kam kaum in Frage. Letztlich ging es ja nur um Spurensuche, Indizien sammeln so es welche gab.

Der Abend stand ihnen zur freien Verfügung, die Gruppe bekam die Möglichkeit fernzusehen. Es war nicht einfach, die Betreuer davon zu überzeugen dass sie dafür keine Lust hätten und lieber Karten spielen wollten. Dass sie bei den niederen Temperaturen das Camp dafür vorzogen, dürfte die Betreuer mehr als gewundert haben, aber schließlich gaben die Jungen an, völlig unter sich bleiben zu wollen. Eine ziemlich schwammige Ausrede, aber sie mussten jede noch so kleine Möglichkeit nutzen.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit scharten sich die Jungen im Camp um Erkan. Der ließ seine Augen sprechen, es war einfach zu gefährlich nahe der Zelte offen zu reden. Zwar hatte er ständig den Pfad zum Camp im Auge, aber schließlich konnte sich im umgebenden Gebüsch ein Pferd verstecken ohne gesehen zu werden. Wortlos marschierte die Gruppe hinter Erkan her, den kleinen Weg zum Bach hinunter. Im Gänsemarsch liefen sie ein Stück am Wasserlauf entlang, bis sie eine kleine Tannenschonung erreichten. Erkan schien diese Stelle bereits ausgesucht zu haben, denn er bückte sich und schlüpfte zwischen zwei niedrigen Tannen hinein in die Schonung. Äste schlugen ihnen um das Gesicht, immer wieder stolperten sie über kleine Wurzeln und die kühle, feuchte Luft roch nach Tannenharz und Pilzen. Wahrscheinlich war außer ihnen nie jemand hier gewesen. Erkan richtete sich aus der gebückten Haltung auf, mitten in der Schonung hatten sie einen kleinen, mit dichtem Gras bewachsenen Platz erreicht.
»So, willkommen in unserem kleinen Forum. Ich denke, solange die Aktion läuft sollten wir uns hier besprechen. Ist nicht weit und so wie das aussieht kennt diese Stelle niemand – außer uns. Vorteilhaft ist im Übrigen, dass hier jede Menge trockenes Reisig herumliegt. Ziemlich schwierig sich hier anzupirschen ohne gehört zu werden.«

Klaus lächelte an Erkan vorbei. »Nun, für alle trifft das aber nicht zu«, und zeigte in die Schonung. »Es kommt immer drauf an wie man das anstellt und der da weiß es genau.«

Erkan fuhr herum, dann schnaufte er hörbar aus. »Rick, du alter Racker…«

Mirko ging in die Knie, betastete das Gras und setzte sich. Rick schmiegte sich an ihn und nahm neben ihm Platz. Es schien ihm zu gefallen wie er von Mirko gekrault wurde.

Erkan nahm die Tagesordnung wieder auf. »Wir gehen nur noch mal rasch den Plan durch.«

Nachdem sie alle Einzelheiten besprochen hatten forderte er die Jungen auf, ihre Handys auf Vibrationsalarm zu stellen.

»Also wird das heute Nacht nichts mit Schlaf.«

»Zumindest wird er sehr knapp ausfallen«, antwortete Nico und zog seinen Arm fester um Stefans Hüfte. Der Mond stand noch nicht so hoch, dennoch reichte schon jetzt sein Licht, ihren Weg durch das Gelände ohne Probleme auszuleuchten. Sie kannten diesen Weg bereits, zum einen von ihrem Orientierungsmarsch und dann vom Joggen. Atemhauch zeigte sich bereits vor ihren Mündern und Nico nahm an, dass es die erste Nacht mit leichtem Frost hier oben geben könnte.

»Glaubst du dass wir etwas finden da oben?«

»Weiß nicht, Stefan, aber wie Erkan schon sagte, wir müssen es versuchen. Wenn wir nichts finden brauchen wir uns wenigstens nicht vorzuwerfen, gar nichts getan zu haben.«

Ihr Ziel war der Verladebahnhof und dort die Grube, in der sie das Fahrrad gefunden hatten. Zu eilig hatten sie damals den Platz verlassen und nun galt es, irgendetwas dort zu finden, was sie in ihren Vermutungen weiterbringen konnte. Lutz und Erkan wollten zu jener Stelle, wo er die beiden Männer am Lagerfeuer beobachtet hatte, Mirko sollte das Hauptgebäude und Klaus das Camp im Auge behalten. Wonach sie suchen sollten stand völlig offen, aber jede Kleinigkeit zählte.

»Verdammt kalt. Was ein Glück dass ich alles doppelt angezogen hab.« Stefan fröstelte und schob seine Hand hinter Nicos Rücken unter den Hosenbund. »Ja, da ist’s schön kuschelig.«
Die warmen Lippen, die daraufhin seinen Hals trafen, ließen ihn lächeln. »Irgendwas haben solche Nachtwanderungen«, flüsterte er.

»Erkan, bist du sicher, dass das auch der Weg ist?«, fragte Lutz unsicher.

»Bis jetzt ja. Es gibt ein paar markante Stellen am Wegrand, die hab ich mir eingeprägt. Rick ist zwar schnell gelaufen, aber durch den Nebel achtet man irgendwie genauer auf die Dinge, die einem deutlich auffallen.«

»Aha. Und was waren das für Dinge, zum Beispiel?«

»Weiter vorne müsste ein Baum am Wegrand liegen. Er ist mir aufgefallen, weil er eine mit roter Farbe aufgemalte Nummer trägt. Scheinbar von Waldarbeitern angebracht. Und irgendwo kommt auch eine kleine Wetterschutzhütte. Wir werden die Stelle schon finden.«

»Und wonach sollen wir da suchen?«

»Wir werden sehen.«

Klaus zog den Kragen seines Parkas enger um den Hals. Sein Part, das Camp im Auge zu behalten war zum einen der bequemere, zum anderen mit der langweiligste. Langsam ließ er seinen Blick über das Camp schweifen. Zwar konnte er von dem Platz aus nicht alle Zelte einsehen, aber es war absolut still und jedes noch so kleine Geräusch hätte er gehört. Das leise Gurgeln des Baches war bereits Gewohnheit und nur wenn er sich genau darauf konzentrierte konnte er es vernehmen. Der Schrei eines Waldkauzes ließ Klaus kurz zusammenzucken, dann zog er die Knie weiter an seinen Bauch und steckte die Hände in die Kniekehlen. Ewig würde diese Nacht auch nicht dauern, dachte er. Genau wie den anderen der Gruppe war ihm das Wort Angst eher fremd, diese Gemeinsamkeit besaßen sie alle.

Im Licht des weiter aufgestiegenen Mondes lag das Hauptgebäude kalt und nackt vor ihm. Da sich Mirko am Waldrand in der Nähe des hinteren Gebäudes versteckt hielt, sah er das Licht in Steins Büro und Alexanders Zimmer. Durch die Vorhänge waren Einzelheiten in den Räumen nicht zu erkennen, auch fanden keine Bewegungen statt und so konnte durchaus der Eindruck entstehen, dass sich dort gar niemand befand. Die Luft war erfüllt vom Geruch verbrennenden Holzes und eine kleine, weiße Rauchfahne aus dem Kamin deutete, dass jemand ein Feuer angezündet hatte. Wehmütig blickte Mirko hinüber und sah vor seinem geistigen Auge die wärmenden Flammen. Es nutzte nichts, davon würde er heute bestimmt nichts haben. Einen Moment dachte er über die ganze Aktion nach, über deren Sinn oder Unsinn. Aber die Gedanken an Tobias und all die anderen Misslichkeiten stimmten ihn mit seiner Situation versöhnlich.

»Mit ein bisschen Glück sind wir um Mitternacht wieder zurück«, sagte Nico, als im Mondlicht die geduckt daliegenden Gebäude der Verladestation vor ihnen auftauchten. »Wir haben Zeit uns genau umzusehen. Komm, da drüben geht es zu der Grube.« Entschlossen steuerte er auf den Wald zu, dessen Bäume der Mondschein geheimnisvoll silbern schimmern ließ. Rasch liefen sie auf dem schmalen Pfad in den Wald hinein, wobei Nico jetzt seine Handylampe einschaltete. Er wollte nicht riskieren, dass sie über Wurzeln stolpern und sich dabei verletzen könnten.
Kurz darauf standen sie an der Stelle, die Grube war durch die Holzklappe verschlossen.

»War die nun zu oder auf?«

»Keine Ahnung, aber komm, hilf sie mir aufmachen««, bat Nico und suchte einen Ast, den sie durch die Metallöse ziehen konnten.
Wenig später lag das finstere Loch zu ihren Füßen. »Stefan, ich geh runter, bleib du hier.« Ohne zu Zögern stieg Nico die Stufen hinunter und leuchtete jeden Zentimeter vor sich auf dem Boden ab. Erst jetzt spürte er sein Herz in den Adern pulsieren, wie ihn die Anspannung auf jede winzige Kleinigkeit aufmerksam machte. Dort wuselte rasch eine schwarze Spinne in die finstere Sicherheit, da setzten Kellerasseln unbeirrt ihren Weg über den feucht- schmierigen Boden fort und ein großer, dunkler Käfer suchte Schutz unter Nicos Schuhen. Immer weiter kroch er in gebückter Haltung in das nach faulendem Laub und modriger Erde riechende Verlies, während im Schein seiner Lampe kleine Motten tanzten. Nun erkannte er deutlich Schürfspuren in dem Sandboden, hier musste das Fahrrad gelegen haben. Nicos Herz klopfte jetzt wild drauf los und er ging in die Knie, leuchtete den Boden ganz nah ab. Etwas weiter entfernt reflektierte das Licht etwas, was seinen Ursprung kaum hier unten haben konnte. Nico ging näher heran und im Licht tauchte ein kleiner, roter Gegenstand auf. Sekunden später erkannte Nico den Verursacher: Ein kleines Feuerwehrauto, nicht größer als eine Zigarettenschachtel, lag dort auf dem Boden. Wie gebannt starrte Nico auf das Spielzeug und erneut kochte seine Wut, stiegen Tränen hoch.

»Siehst du, da ist die Wetterhütte. Wir müssen jetzt einfach nur weitergehen, Rick ist nirgends abgebogen. Zumindest hatte ich nicht den Eindruck.«

Lutz blieb einen Moment stehen. »Du hattest nur nicht den Eindruck… aber ganz sicher bist du dir nicht, oder? Sagtest du nicht, es war so neblig dass man die Hand kaum vor Augen gesehen hat? Erkan, wenn wir uns hier verlaufen, dann…«

»Hey, bleib unten«, versuchte Erkan seinen Begleiter zu beruhigen. »Wenn hier links irgendwann ein Tannenwald kommt, an dessen Rand viel dichtes, niedriges Gras ist, dann sind wir fast am Ziel. Da hab ich nämlich ein Nickerchen gemacht.«

»Aha. Wie das klingt „irgendwann“«.

»Mann Lutz, ich hab keine Ahnung wie lange wir gelaufen sind und ich weiß auch nicht wie weit es noch ist, aber ein bisschen musst du mir schon vertrauen. Oder glaubst du ich hab Lust im Kreis zu laufen und am Ende nicht mehr zurückzufinden? Komm schon, es ist schließlich nicht am anderen Ende der Welt.«

Erkans Worte wirkten zwar nicht gerade beruhigend, aber Lutz blieb nichts anderes übrig als Einsicht. »Können wir etwas schneller gehen? Ich mein, mir wird jetzt richtig kalt.«

»Klar, kein Problem. Ich hab mich ja bis jetzt nur deinem Tempo angepasst.«

Mit dann größer werdenden Schritten marschierten sie, die hohen Bäume des Waldes ohne große Beachtung rechts und links liegen lassend, weiter.

»Sag mal… Nico und Stefan… die beiden haben sich wohl gesucht und gefunden. Ich meine, wenn man sie so sieht…«

Erkan lächelte. »Ja, war zwar etwas holprig in letzter Zeit, aber jetzt ist scheinbar wieder alles okay zwischen ihnen.«

»Hm, man könnte meinen, das haben sie dem Camp zu verdanken, oder?«

»Ja, im Grunde schon. Ich glaub auch nicht dass sie sich sonst je wieder über die Füße gelaufen wären.«

»Und du, was ist mit dir?«, fragte Lutz unvermittelt.

»Mit mir? Oh, ich bin Wanderer zwischen den Welten, wenn du verstehst was ich meine.«

Lutz schüttelte den Kopf. »Nee, kann dir nicht ganz folgen.«

Erkan überlegte sich seine Worte, immerhin schliefen sie zusammen in einem Zelt. Lutz war nicht gerade einer, den man ohne nachzudenken von der Bettkante stoßen würde, aber dass er nichts gegen Schwule hatte musste zwangsläufig nicht bedeuten, dass er ihre Nähe suchte. Dennoch glaubte er, Lutz gut genug zu kennen, dass es da keine Riesenprobleme gab. »Nun, ich gehöre zu jenen Spezies, die sowohl als auch… Jetzt kapiert?«

Sie gingen einige Schritte, ohne dass Lutz darauf zu reagieren schien.

»Ähm… hast du verstanden wie ich das meinte? Andererseits, wenn du Schwierigkeiten damit hast, dann…«

Lutz blieb stehen. »Ich hab keine Probleme, bestimmt nicht, es ist nur….« Sein Blick war auf Erkans Gesicht geheftet. Das fahle Mondlicht ließ ihn keine Einzelheiten darauf erkennen, dafür wurde die leicht kantige, ebenmäßige Form erst dadurch richtig zur Geltung gebracht. Das Glitzern und Funkeln in Erkans Augen nahm ihn beinahe gefangen. »Nein, es ist nichts«, sagte Lutz nach ein paar Sekunden und ging weiter.

»Du wolltest etwas sagen, weißt aber nicht wie. Stimmts?« Erkan hielt ihn am Ärmel fest und machte damit unmissverständlich klar, dass er eine Antwort erwartete.

»Erkan, es ist Blödsinn. Komm, lass uns weitergehen, wir haben schließlich noch etwas vor.«

Das kleine Auto lag wie eine bösartige Drohung und gleichzeitig wie ein kleiner, jämmerlicher Hilferuf im Schein der Handylampe. Nico traute sich nicht das Spielzeug anzufassen. Letztlich war es möglich, dass sich darauf Fingerspuren oder anderes befanden. Nervös leuchtete Nico weiter in die Ecken der Grube, aber er fand weiter nichts. Kein Unrat, kein Müll, nichts. Hier unten war wohl sonst keiner gewesen, außer diesen Typen. Langsam trat er den Rückzug an. Vielleicht war es falsch überhaupt hier heruntergekommen zu sein, denn in dem feuchten Boden hätte man mit Sicherheit Spuren der Schuhe gefunden. Aber dazu war es nun zu spät.
Auf den Treppen angekommen, streckte sich Nico und blies die Luft aus, mit der er vor lauter Aufregung eher sparsam umgegangen war.

»Und, was gefunden?«

»Ja. Ein kleines Feuerwehrauto. Und nicht mal versteckt, ich vermute es ist aus der Stofftasche gefallen. Fest steht aber jetzt, dass hier unten nach Rademann und möglicherweise diesem Schneider niemand mehr war. Erkan hat das Auto bestimmt übersehen.«

»Das heißt, Rademann hat geschwiegen. Wo er doch die Polizei herholen wollte.«

»Das ist es, Stefan. Für mich Beweis genug, dass er erstens einer der Täter und zweitens sehr unvorsichtig ist. Er hätte selbst drauf kommen können dass es noch Spuren gibt, aber der fühlt sich scheinbar verdammt sicher.«

»Was machen wir jetzt?«

»Eigentlich müsste man die Polizei aufscheuchen. Ich hab das Auto da unten gelassen, wer weiß ob es daran Spuren gibt.«

»Wird die uns glauben? Wir wissen schon zuviel und das könnte denen doch auch wieder verdächtig vorkommen.«

Nico rieb sich das Kinn, so ganz abwegig war das nicht und er fluchte über seine verdammte Ratlosigkeit. Es war wie ein böser Traum, in dem man nach Dingen greifen will und sie nicht fassen kann.

Das Licht im Büro ging aus und Mirko sah auf die Uhr. Es war kurz vor Zehn, viel zu früh für einen Mann wie Stein um ins Bett zu gehen. Sein Büro war auch gleichzeitig Wohnraum, zumindest für die meiste Zeit. Wahrscheinlich hatte er noch eine Wohnung im Ort, immerhin war er ja verheiratet. Seltsame Ehe, dachte der Junge und zog seine Arme und Beine noch näher an seinen Körper heran, denn allmählich begann ihm die Kälte ungemütlich zu werden.
In Alexanders Zimmer schien ein Fernseher zu flimmern. »Du sollst doch aufpassen«, flüsterte Mirko und schüttelte den Kopf. Erkan hatte sich diesen Beobachtungsposten hinter dem Gebäude ausgedacht, weil er sicher war dass auch von dieser Stelle aus Scheinwerfer vor dem Haus auffallen würden, zudem könnte man auch die Motorgeräusche hören. Mirko lauschte angestrengt. Wenn Stein wirklich das Haus verließ, dann müsste er in wenigen Minuten wegfahren – so er das überhaupt vorhatte. In dem Moment hörte er Türenschlagen und das starten eines Motors. Kurz darauf erhellten die Scheinwerfer den Vorplatz, was Mirko nur als diffuses Leuchten wahrnahm. Stein fuhr also weg. Rasch fummelte Mirko sein Handy aus der Tasche.

Es hatte ein paar Mal geknistert und geraschelt im Unterholz, aber Klaus vermutete Mäuse oder anderes Getier. Nichts deutete auf schwere oder schleichende Schritte hin. Er hatte sich an den Eingang seines Zeltes gesetzt, auch wenn diese Stelle nicht wärmer war als davor auf dem kleinen Platz. Müdigkeit übermannte ihn das eine ums andere mal, aber bevor er der Versuchung unterlag, sich einfach auf seinen Schlafsack zu legen, riss er sich zusammen. An ihm sollte die Aktion letztlich nicht scheitern müssen. Er beschäftigte sich zum Wachbleiben mit der Frage, was er mit einem überraschenden Besuch anfangen sollte. Erkan hatte sozusagen befohlen, sich unsichtbar zu machen. Auf keinen Fall zeigen und noch weniger auffallen. Was aber, wenn die Überraschung plötzlich vor ihm stehen würde? Nein, dazu muss er erst mal hierher und das hör ich, redete sich Klaus ein. Er zog seinen Schlafsack bei und legte ihn sich um die Schultern. Sofort stoppte er damit die Kältezufuhr und harrte nun geduldig der Dinge, die da kommen sollten oder eben nicht.

Als der Vibrationsalarm in Erkans Hosentasche losging, blieb er sofort stehen. »Ja?« Lutz lauschte ebenfalls angespannt und er beobachtete Erkans Miene. Der nickte nur und brummte ab zu. »Hm…. ja….aha….gut. Nein, wartet bis ich mich melde.« Er steckte sein Handy wieder weg, nur um es kurz darauf wieder herausziehen. »Ja?… aha…. hm…. ich melde mich. Ciao.«

»Und, gibt’s was Neues?«, wollte Lutz dann wissen.

»Ja und nein. Nico und Stefan haben ein Spielzeug in der Grube gefunden. Ich hab’s bestimmt übersehen… aber demnach war dort niemand mehr.«

»Also auch keine Polizei, die Rademann rufen wollte…«

»Nein. Demnach ist zumindest sicher dass er lügt und was zu verbergen hat. Klaus sagt, dass Stein weggefahren ist, er weiß aber freilich nicht wohin. Könnte ja nach Hause sein. Los komm, es wird sonst zu spät.«

»Sag mal, gab’s da oben jetzt ein Netz? Soviel ich weiß konnte man doch von dort nicht mit dem Handy telefonieren?«

Erkan rieb sich das Kinn. »Stimmt. Aber irgendwie scheint es doch zu funktionieren, jedenfalls sind die beiden noch da oben.«

Eine Weile liefen sie zunächst schweigend nebeneinander her, bevor Erkan dem ein Ende setzte. »Hast du dir überlegt, was du vorhin sagen wolltest?«

Lutz reagierte zuerst wieder nicht, schien nach Worten zu suchen. Erst Minuten später holte er Luft. »Ich weiß, das ist Blödsinn. Aber irgendwie… es ist seltsam. Seit dass war mit den Hunden da auf der Wiese ist was komisches passiert. In mir, verstehst du?« Dabei klopfte er mit der Faust auf seine Brust.

»Aha, und was?«

»Wenn ich es erklären könnte..«

»Es gefällt dir wie Nico und Stefan miteinander umgehen. Stimmts? Also nicht nur vom Bild her, sondern auch von den Gefühlen, die da wohl im Spiel sind.«

»Kann sein, ja. Aber frag mich nicht was das soll. Ich meine, ich bin ja nicht schwul und von daher…«

Er konnte das Lächeln, das Erkan kurzzeitig auflegte, in der Dunkelheit nicht sehen. »Mach dir nichts draus, Lutz. Soviel ich noch in Erinnerung hab, hast du keine Freundin… zurzeit?«

»Hab keine, ja.«

»Vielleicht ist es das. Ob sich da jetzt zwei Jungs. . ich mein, wenn hier auch Weiber wären würdest du das so mit Sicherheit gar nicht bemerken.«

Lutz hob seinen Blick nicht vom Weg, da es immer wieder unebene Stellen gab. »Möglich. Ja, du hast wahrscheinlich Recht.«

»Ah, siehst du hier?« Erkan zeigte neben sich an den Waldrand. »Hier hab ich ein Nickerchen gemacht. Es ist nicht mehr weit und wir sollten uns jetzt nur noch Zeichen geben.«

»Gott sei Dank, ich dachte wirklich schon wir tapsen am Ende im Kreis.«

Erkan legte seinen Arm freundschaftlich um Lutz’ Schulter. »Ich sagte doch, wir werden es finden. So, jetzt ruhig bleiben.«

»Was willst du denn hier noch? Wir sollten doch nur in der Grube nachsehen hat Erkan gesagt.« Stefan war etwas ungehalten über Nico, da er nicht wie geplant den Rückzug antrat, sondern zu dem alten Schuppen ging. Stefan äußerte nicht, dass ihm das Gelände des Verladebahnhofs eh schon Unbehagen bereitete und jetzt, im fahlen Schein des Mondlichts, sah das nur noch mehr bedrohlich aus.

»Komm, sei kein Hase…. ähm, doch ein Hase, aber kein Angsthase«, grinste Nico und zog seinen Freund am Ärmel mit zu der Halle, auf dessen Rampe sie ihr Mittagessen zubereitet hatten. Sofort als sie aus dem Wald gekommen waren hatte Nico seine Handylampe abgeschaltet, nun knipste er sie wieder an.
Seine Vermutung, dass es irgendwo auf dem Gelände doch ein Funksignal geben müsste, bestätigte sich. Sein Handy vor Augen haltend war er an der Rampe fündig geworden und lächelte, als das Betreiberlogo im Display sichtbar wurde. Ein Empfangsbalken nur, aber das genügte, um Erkan davon zu unterrichten was sie entdeckt hatten.

»Da waren wir doch auch schon mal«, bekundete Stefan seine Ungeduld.

»Ja, aber erinnerst du dich, dass jemand an den Schlössern gewesen sein muss?«

»Klar, aber trotzdem versteh ich nicht…«

Nico ließ sich nicht beirren. Die Totenstille um sie herum beruhigte ihn irgendwie, dennoch waren seine Sinne bis zum Anschlag geschärft. Er legte sein Ohr an das alte, verwitterte Holztor. Nichts regte sich dahinter und dabei musste er Stefan nicht einmal um Ruhe bitten. Der stand wie eine Statue neben ihm und schien den Atem angehalten zu haben.
Das ableuchten des Schlosses brachte Nico auch nicht weiter, dennoch ließ ihn das Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Vielleicht sollten sie sich das Ganze kommende Nacht noch einmal genauer betrachten. Oder womöglich durften sie ja noch einmal hier herausmarschieren, was eine sehr günstige Alternative zum Dienstplan dieses kommenden Tages wäre. Gruppentherapie, den ganzen Tag. Mit Rollenspielen und all dem sozialpädagogischen Unfug, über dessen therapeutischen Erfolg Nico jetzt lieber nicht nachdenken wollte.

Nun löschte auch Alexander das Licht in seinem Zimmer, jetzt lag das Gebäude völlig dunkel da. Umständlich versuchte Mirko, die Zeit auf seiner Armbanduhr abzulesen, was ihm erst gelang als er sie ins Licht des Mondes drehte. Gleich Elf… Das Ganze sollte um Mitternacht vorbei sein, hatte Erkan versichert. Allerdings wollte er die Handys anklingeln wenn er wieder am Sammelplatz angekommen war. Fest zog Mirko seine Knie an den Bauch, jetzt wurde es ihm unverschämt kalt. Stein war nach Hause gefahren, mit Sicherheit. Leo, Chip und Rainer wohnten eh im Ort, die fuhren meistens zusammen in Leos Auto und kamen am Morgen zusammen zurück. Sinnloses Getue, fluchte Mirko leise und ärgerte sich, dass er nun auch langsam kalte Füße bekam.

Deutlich sah er sie nicht, aber das war auch nicht notwendig. »Solang du nicht unsere Sachen anknabberst kannst bleiben«, flüsterte Klaus zu der kleinen Waldmaus, die auf seinem Schlafsack herumtanzte und überhaupt keine Angst zeigte. Wahrscheinlich war sie sich der latenten Gefahr, in der sie sich befand, nicht im Klaren. Klaus war inzwischen vollständig in den Schlafsack hineingeschlüpft und hatte sich so vor der Kälte gewappnet. So saß er im Grunde Handlungsunfähig vor dem Zelt, aber gegen was hätte er sich wehren sollen? Nichts war passiert, überhaupt nichts. Und dass sich da draußen nichts tat, davon zeugte sein schweigendes Handy. Erkan wollte jede Kleinigkeit mitteilen und das war nicht passiert. Im selben Augenblick seines Denkens brummte sein kleines Telefon.

»Hier unten war es, da haben sich Rademann und der andere getroffen.« Erkan hielt das Nachtglas vor die Augen und suchte die Gegend vor ihnen ab. Deutlich war dank des hellen Mondlichts die Feuerstelle und der Weg dahin zu erkennen. Angestrengt scannte er Meter für Meter, betrachtete sich einige Büsche genauer bis er sicher war, dass es auch nur Büsche waren. »Lass uns runter gehen«, sagte er nach einer Weile und ging ohne auf Lutz zu achten den flachen Hang hinunter. Vorsichtig näherte er sich der Stelle, an dem der Wagen gestanden hatte und nun begann er Stück für Stück abzusuchen. Die Taschenlampe benutzte er nicht, der Mond schien hell genug um auch Kleinigkeiten erkennen zu lassen. Immer wieder sah Erkan auf, horchte in die Nacht. Irgendwo schreckte ein Rehbock, die einem Hundegebell nicht unähnlichen Laute klangen im Echo des Waldes fast schaurig.
Lutz war ihm nicht gefolgt, was ihn zum einen etwas fuchste, zum anderen war von da oben mehr zu sehen.
Nachdem er das Gelände unter die Lupe genommen hatte, machte sich Enttäuschung in ihm breit. Wenn er auch nie wusste was er suchen oder finden sollte, so ganz und gar nichts war dann doch ziemlich dürftig. Er zog sein Handy und wählte Klaus’ Nummer. »Alles klar bei dir?«

»Ähm… ja. Nichts los, gar nichts. Und bei euch?«

»Auch Fehlanzeige. Wir kommen jetzt zurück. Warte bis wir da sind.«

»Mach ich.«

»Kalte Füße, das ist alles was hier los ist«, gab Mirko etwas bissig auf Erkans Frage nach Vorkommnissen als Antwort. »Stein ist immer noch weg und sicher nach Hause gefahren, Alexander dürfte jetzt in seinem kuscheligen Bettchen liegen und von sonst was Träumen, da ist nämlich nun auch das Licht aus.«

Erkan konnte sich ob der ironischen Bemerkungen ein Grinsen nicht verkneifen. »Okay, du kannst zurück zu Klaus ins Camp, wir gehen jetzt auch los.«

Mirko hatte nicht einmal gefragt ob es etwas zu berichten gab, aber Erkan konnte ihn verstehen. Sie waren immerhin in Bewegung und das ließ sie die Kälte nicht so spüren. Mit einem Seufzer und Schulterzucken einem letzten Blick auf den Platz machte sich Erkan zurück zu Lutz auf die kleine Anhöhe. Hatte er wirklich gehofft, etwas zu finden? Er konnte sich die Frage selbst nicht beantworten, aber nun die Flinte ins Korn zu werfen wäre Feigheit vor dem Feinde. Schließlich hatten Nico und Stefan einen gewissen Erfolg und deshalb wollte er nicht undankbar sein.

»Du wirst doch jetzt nicht jeden verdammten Bau hier inspizieren wollen? Wir müssen zurück, hier ist doch keine Menschenseele.«

»Stefan, hör ich da etwas Furcht heraus?«, fragte Nico eher beiläufig und beleuchtete das Schloss einer anderen Hütte.

»Quatsch. Gut, ich mag diese Gegend nicht, das geb ich zu. Aber ich hab keine Angst wenn du das meinst.«

»Meinte ich auch nicht«, seufzte Nico, nachdem er auch an dieser Stelle nichts Auffälliges gefunden hatte.

»Nico, du bist ja wie besessen. Mir wird außerdem schweinekalt. Komm endlich, da ist nichts.«

»Eine noch, Stefan, die da drüben«
Stefan hob resigniert die Schultern. Eigentlich war das recht ungewöhnlich, da Nico in der Regel derjenige war, der sehr schnell aufgab wenn eine Situation auch nur den Anflug von Aussichtslosigkeit zeigte. Die hier war es und trotzdem ließ er sich nicht abbringen. Stefan blieb nichts anderes übrig, als ihm über die Gleise zu der Hütte gegenüber zu folgen.
In dem Augenblick, als sie die Schienen überquerten, blieb Stefan schlagartig stehen. »Sag mal, ich geh doch recht in der Annahme, dass es heute Nacht kein Gewitter gibt, oder?«

Bei diesem Wort hielt auch Nico sofort inne. »Nein, sicher nicht.«

»Aber mir war, als wäre dahinten ein Blitz gewesen. Zumindest war’s kurz hell.«

Ohne zu fragen wo oder wie packte Nico Stefan am Arm und zerrte ihn über die Gleise bis zu der Hütte, wohinter sie sofort verschwanden.

»Ähm… was war das jetzt?«

»Nur Nummer sicher. Ich gehe nicht davon aus dass du träumst, auch wenn es schon spät ist. Psscht jetzt.«

Stefan traute sich nicht weiterzufragen, denn ohne etwas dagegen machen zu können bekam er plötzlich Angst.

»Wir werden es bis Mitternacht eh nicht schaffen«, stöhnte Lutz, da Erkan noch einen Tick schneller ging, »auch in dem Tempo nicht.«

»Ist schon klar, aber trödeln müssen wir deswegen auch nicht, oder?« Erkan reagierte schroff auf Lutz’ Bemerkung, er war sauer weil die Aktion nicht in seinem Sinne gelaufen war. »Entschuldige, aber irgendwie nervt mich, dass wir nichts gefunden haben.« Um sein Bedauern über die zickige Antwort zu unterstreichen legte er seinen Arm um Lutz’ Schulter. »Sei mir nicht böse, okay?«

Plötzlich blieb Lutz stehen. »Ich bin dir nicht böse, kann verstehen, dass dich das aufregt. Aber wenigstens haben wir es versucht und Nico war ja im Grunde erfolgreich. Nur mein ich persönlich, dass wir so nicht weiterkommen. Wir müssen handeln. Sollten die Polizei rufen und mächtig Wind machen. Die Sache mit dem kleinen Auto muss etwas bewirken.«

Erkan lächelte wieder. Zum einen fand er die Berührung mit Lutz trotz allem ziemlich erregend, zum anderen würde ihnen gar nichts anderes übrig bleiben. Was immer auch dabei herauskam, besser als im Nebel zu stochern war es allemal. Er drückte Lutz fester an sich und in dieser Haltung setzten sie ihren Weg fort. Obwohl sie nun in einem Zelt schliefen, war Erkan noch nicht der leise, betörende Duft aufgefallen, der von Lutz ausging. Er musste grinsen. Die Sache mit Nico lag eine Weile zurück und damit war er empfindlich geworden gegenüber bestimmten Reizen. Lutz’ Stimme hatte etwas Melodisches im Hintergrund, seine Augen glitzerten so geheimnisvoll und eine recht annehmbare Figur hatte er auch. Erkan schüttelte fast unmerklich den Kopf, als sich seine Gedanken nun in erotische Richtungen hineinbewegten. Rasch lenkte er sich durch reale Dinge wie die Kälte und den Weg, der noch vor ihnen lag, ab.

Trotz ihres heftigen Atmens hörten die beiden Jungen bald das Geräusch eines Automotors und der Lenker dieses Fahrzeuges hatte es offensichtlich eilig.
Vorsichtig lugte Nico um die Ecke der Hütte um sich einen Überblick zu verschaffen. Das Auto hielt vor dem Gebäude mit der Rampe, ein Fahrer stieg aus, ohne Licht und Motor auszumachen. Die Person war zwar nicht zu erkennen, aber den Gang kannte Nico bereits, daran bestand kein Zweifel. Derselbe Mann wie im Schlafraum und bei den Zelten.

»Kannst was erkennen?«, fragte Stefan leise, ohne einen Blick zu riskieren.

»Er geht in das Gebäude und dies deckt sich mit allen Erfahrungen. Das muss Schneider sein, er hat die Aufsicht oder gar den Besitz der Gegend hier. Und wie vermutet gehört das Gelände auch dazu, weshalb er wahrscheinlich überall Zutritt hat.«

»Du meinst, der hat die Schlüssel zu diesen Gebäuden?«

»Sieht so aus. Er ist jedenfalls dort rein, ich kann ihn nicht mehr sehen.«

»Was sucht der da? Es ist uns da ja nichts aufgefallen.«

»Keine Ahnung. Aber was soll so einer mitten in der Nacht hier wollen? Koscher ist das jedenfalls nicht.«

»Was willst du jetzt machen? Eigentlich sollten wir Erkan davon unterrichten.«

»Mach ich auch«, gab Nico zurück und zückte sein Handy. »Ach Mist… hier geht es nicht.«

»Und nun?« Stefans Stimme verriet seine Nervosität.

»Wir müssen warten. Was anderes bleibt uns nicht.«

»Scheißtechnik. Bald fliegen die auf den Mars, aber nicht mal in der Lage, überall für Funk…«

»Beruhige dich, Stefan, ganz ruhig.«

Klaus schreckte aus seinem Halbschlaf auf. Nachdem die Waldmaus verschwunden war und er keine Ablenkung mehr hatte, wurde er nur noch müde. Immer wieder fielen ihm die Augen zu, immer wieder zwang er sie auf. Er war nicht sicher ob er da gerade ein Geräusch wahrgenommen hatte, dennoch rief er sich zur Ordnung. Sicher gab es genug Getier was sich dort überall tummelte, aber er wollte seine Aufgabe richtig machen. Als sich das rascheln wiederholte, wurde er glockenwach. Das waren Schritte. Leichte, schleichende Schritte, wie sie keinem Tier entstammen konnten. Langsam öffnete er den Reißverschluss seines Schlafsacks, was zwar nicht ganz lautlos gelang, aber insgeheim hoffte der Junge damit, dieses Etwas damit abzuschrecken. Wenn es kein Mensch war, was dann? Ein Reh? Ein Fuchs? Dachs? Hase? Alle möglichen Tiere des Waldes schritten vor seinem geistigen Auge ab, aber es konnte wirklich vieles sein. Schlich vielleicht doch eine Person da drüben auf leisen Sohlen herum? Klaus fluchte, kein Licht zu haben und soviel Helligkeit gab der Mond im Dickicht nicht her. Seine Augen begannen zu brennen, die Konzentration forderte schon nach kurzer Zeit ihren Tribut. Ob er einfach mal rufen sollte? Aber ein Tier konnte ihm nicht antworten und wenn es wirklich ein Strauchdieb war würde der mit Sicherheit nicht reagieren. Wie eine Schlange aus ihrer Haut schlüpfte Klaus aus dem Schlafsack. Nichts konnte er im Augenblick tun als abzuwarten. Er stand auf und lauschte, suchte nach einem Schatten der sich bewegte. Um Angst zu haben bestand keinen Grund, sein Zelt lag nicht offen einsehbar zu der Stelle hin und er hoffte einfach, dass ihn sein Gegenüber ebenfalls nicht sehen konnte. So verharrte er auf der Stelle, auch als das seltsame Geräusch wieder zu ihm herüberklang und sich scheinbar auf ihn zu bewegte.

Erkan hatte seinen Arm nicht wieder von Lutz’ Schulter genommen. Ihm gefiel es und Lutz hatte offenbar auch nichts dagegen. Unter anderem schirmten sie sich so gegen die immer ungemütlicher werdende Kälte ab.

»Müssten bald da sein. Blöd dass man Nachts so große Probleme..« Erkan unterbrach sein Gespräch und zog das Handy aus der Tasche. »Ah Nico.«. Er hörte schweigend zu, blieb dann aber stehen. »Gut. Ich weiß nicht wie man von hier aus dahinkommt, am besten ihr verschwindet. Und bleibt um Himmels Willen in Deckung, er darf euch nicht sehen.« Er nickte noch ein paar Mal, dann beendete er das Gespräch. »Bis später.« Er blickte Lutz in die Augen. »So ganz erfolglos war die Nacht nun doch nicht. Anscheinend treibt sich dieser Schneider auf dem Verladebahnhof herum. Was immer der da macht, rein zum Spaß würde ich ihm nicht abkaufen. Ich weiß nicht wie wir hinkommen könnten, aber wir werden uns das trotzdem noch mal genauer ansehen.«

»Du meinst, nächste Nacht…?«

»Wenn es sein muss. Wir haben ´nen Anhaltspunkt. Und wenn wir dann nichts finden, rufen wir die Bullen, versprochen.«

Klaus’ Herz begann zu rasen, allmählich wurde ihm die Sache unheimlich. Erfasste ihn nun doch die pure Angst? Immerhin war er im Grunde wehrlos, vermochte er einem möglicherweise bewaffneten Angreifer nichts entgegenzusetzen. Zwar konnte er sich durchaus auf seine Kraft und Schnelligkeit verlassen, was er schon des Öfteren erfolgreich unter Beweis stellen konnte, aber da ging es Faust auf Faust, Auge um Auge. Jetzt war der Gegner zumindest im Augenblick unsichtbar und das war es, was Klaus sichtlich nervös machte. Um der Gefahr insofern aus dem Weg zu gehen, dass er von hinten ungedeckt war, ging er in die Knie und zog sich langsam in sein Zelt zurück. So oder so war die Situation gegen ihn, aber wenigstens hatte er sie auf diese Art besser im Blickfeld.
Augenblicke später war er sicher, dass es doch ein Mensch war der da herumschlich. Langsam und sehr vorsichtig kam er auf das Camp zu, und blieb alle paar Schritte stehen. Klaus kniff die Augen zusammen, aber das Mondlicht reichte einfach nicht für Einzelheiten. Was war aus dem Gang herauszulesen? Hatte derjenige eine Waffe in der Hand? Wohin steuerte er genau? Es war unmöglich, Erkan jetzt anzurufen und im Grunde hätte es ja auch nichts geholfen.
Ohne den Blick vom Camp zu nehmen tastete Klaus in seinen Sachen; rechts, links, hinter sich. Irgendetwas würde er darunter finden, wenigstens betete er darum. Mit einem fast unhörbaren Seufzer ertastete er schließlich einen Gegenstand und hektisch zog er ihn unter Erkans Sachen heraus. Die zerlegten Zeltstangen, eingepackt in den Köcher. Leichtes und doch hartes Metall, handlich und wirkungsvoll. Er packte den Köcher fest in seine Hände, als wolle ihn jemand wegnehmen. Wie auch immer, ganz wehrlos war er jetzt nicht mehr und er würde auch keine Sekunde zögern, wenn ihm der Fremde zu nahe kam.

»Da, er fährt wieder weg«, flüsterte Nico und beobachtete, wie sich der Fahrer in das Auto schwang und die Tür noch während des Losfahrens zuschlug. Der Motor heulte auf, Kies knirschte und wie vom Teufel geritten verschwand der Wagen auf dem Weg, den er gekommen war. Nicos Anspannung löste sich Augenblicklich, er sah auf Stefan neben sich. »Alles okay mit dir?«

»Ja, jetzt schon. Und nun?«

»Nichts, wir gehen zurück. Es wird wohl doch nicht Mitternacht wie geplant, aber dafür war es auch nicht umsonst.«

Es lag ein fast ironischer Unterton in Stefans Frage.»Und du willst jetzt nicht dort nachsehen? Zudem sollten wir unbedingt Erkan Bescheid geben. Der macht sich bestimmt Sorgen. Und außerdem: Was ist, wenn dort drüben doch Tobias steckt?«

Stefans Bemerkung fuhr ihm wie ein Stromschlag durch den Körper. An diese Möglichkeit hatte er eigentlich nicht gedacht und sie war noch nicht einmal unlogisch. Man konnte immerhin davon ausgehen, dass der Kleine gar nicht von Anfang an dort gefangen gehalten wurde, wenn überhaupt. Aber noch immer war gar nicht sicher, ob es nicht längst zur Freilassung gekommen war, dass das hier doch nichts weiter zu bedeuten hatte. Dennoch wagte Nico jetzt nicht, es auszuschließen. Selbst wenn Tobias wieder frei war, kurz nachsehen ob sie da drüben etwas übersehen hatten, konnte nichts schaden. Die Zeit war ihnen so oder so schon davongelaufen, auf ein paar Minuten mehr oder weniger kam es schließlich nicht an.

»Stimmt, Stefan. Wir sollten das einfach in Betracht ziehen. Außerdem kommen wir sowieso dort vorbei, nur von dort können wir Erkan anrufen. Komm, lass uns kurz nachsehen.«

Stefan wusste nicht ob er sich über seine unüberlegte Frage ohrfeigen sollte oder nicht. Er würde sich zwar weiterhin nicht in dieses Gelände verlieben, auch wenn sie ein paar Minuten länger blieben, aber zur reinen Flucht musste es jetzt auch nicht mehr kommen.
Langsam schlichen sie über die Gleise hinüber zu dem Gebäude, wobei Nico bereits klar war dass sie zumindest am Eingang nicht weiterkommen würden. Aber im Grunde fand er es eher unmöglich, dass es an dieser fast verfallenen Halle keinen anderen Zugang geben sollte. Mit einem Mal verspürte er wieder Neugier. Immerhin waren sie zu zweit und Stefan würde schon aus Furcht aufpassen wie ein Schießhund, während er sich das Gebäude näher betrachten könnte. Sein Plan stand fest, noch bevor sie ihr Ziel erreicht hatten.

»Ich kann gleich nicht mehr«, stöhnte Lutz und seine Schritte wurden dabei langsamer.

»Ein paar Minuten noch. Sieh, da vorne kommt die Abzweigung. Geradeaus geht’s zum Hauptquartier und rechts rein zum Camp. Das bisschen schaffen wir auch noch.«

Lutz nickte völlig erschöpft. Was aus diesem Tag noch werden sollte war ihm völlig unklar. Wahrscheinlich würde er sogar im Stehen schlafen, egal was da kam.

Auch Erkan spürte jetzt bereits alle seine Knochen, aber das Ziel war erreicht. Wenige Meter noch trennten sie von Schlafsack und ausruhen.
Augenblicke, nachdem sie den Weg zum Camp eingeschlagen hatten, hörten sie einen gurgelnden Laut, dann eine heisere, fast schrille Stimme und schließlich war Ruhe. Sofort waren die beiden stehen geblieben, einen Moment lang starr vor Schreck.

»Was ist da los?«, fragte Lutz fast ängstlich.

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