Das Boycamp III – Teil 4

Auf der Suche nach dem verschwundenen Antoine geraten Nico und Peter in eine brenzlige Situation, wobei es zur Bekanntschaft mit dem zuständigen Polizisten aus der Ortschaft und dem Förster aus der Gegend kommt. Unter dessen Leitung setzt sich die Suche nach dem Jungen auf dem Gelände des alten Steinbruchs fort und Nico erhält ein Telefonat, mit dem er nicht gerechnet hat.

»Vielleicht sollten wir dem Wildwechsel da drüben folgen«, sagte Peter und deutete in eine Art kleinen Tunnel, der sich durch das dichte Gestrüpp in den Buchenwald hineinschlängelte. »Das ist doch in etwa die Richtung, oder?«

»Antoine ist da aber nicht langgegangen, das hätte Rick schon herausgefunden,« antwortete Nico.

»Ja, das schon, aber vielleicht ist er ja nur weiter oben am Bach nach links. Dann könnten wir hier abkürzen.«

Es blieb aber nur eine Lösung, die für Stein in Frage kam: »Okay, wir teilen uns. Ich gehe mit Rick weiter den Bach hoch, ihr beide nehmt den Wildwechsel. Wir treffen uns am Bahnhof. Nico, du hast dein Handy dabei?«

»Ja, bloß, der Empfang..«

Stein grinste. »Keine Bange, im Ort gab es einige Beschwerden, weil man in vielen Ecken dieser Gegend keinen Empfang hatte. Ein Netzbetreiber hat inzwischen einen Sender auf dem alten Steinbruch angebracht. Es gibt hier praktisch keine Funklöcher mehr.«

»Oh, sowas nenn ich einen glatten Fortschritt. Okay, Peter, komm.«

Der Wildwechsel schien rege genutzt, es gab kaum Hindernisse am Boden; nur mussten sich die beiden oft ducken, da das Gestrüpp nur knapp über ihnen völlig verfilzt war.

Nico schlich hinter Peter her. »Denk dran, immer links halten.«

»Hihi, mal sehen wann die erste Kreuzung kommt.« Wenigstens hatte Peter Humor, auch wenn es kaum einen Grund dazu gab.

»Du weißt also gar nichts über Antoine?«

»Nein, absolut nicht. Schweigsam wie ein Grab. Ich wollte zwar nicht zu ihm ins Zelt, aber wir sind bei der Einteilung übrig geblieben. Na ja, ich dachte, auch recht, dann hab ich meine Ruhe.«

Dabei kam es Nico nicht so vor, als wäre Peter der typische ruhesuchende Mensch. »Warum wolltest du nicht zu ihm? Ich meine, du kanntest ihn ja eigentlich nicht, oder?«

»Weiß nicht. War so ein Gefühl.«

»Was hat dich denn hierher gebracht?«, fragte Nico etwas später, während sie in halbgebückter Haltung dem Wildwechsel folgten und immer wieder mit ihren Armen das Gestrüpp von den Gesichtern freihielten.

»Hab ne alte Frau beklaut.«

Eine ziemlich knappe Antwort, wie Nico fand. »Und?«

»Die war mir im Supermarkt aufgefallen, mit den ganzen Scheinen in der Geldbörse. Da hab ich ihr draußen aufgelauert. Hab ihr die Tasche abgenommen, wobei das Dumme war, das sie dabei gestürzt ist und sich den Oberschenkelhals gebrochen hat. Bin in voller Panik losgerannt, weil die Alte einen mächtigen Lärm geschlagen hat und da haben zwei Typen meine Fährte aufgenommen. Nach fünf Minuten hatten die mich. Na ja, nichts zu machen. Oberpech halt.«

»Wieso hast du sie überhaupt überfallen? Es gab doch sicher nen Grund dafür.«

»Na ja, wenn man’s richtig nimmt, nicht. Ich wollte mir ein Mofa kaufen, aber wovon? Alle Kumpels fuhren mit solchen Dingern rum, nur ich nicht. Und die Aussichten, bald an sowas zu kommen standen ziemlich schlecht. Im Grunde war’s ne Spontanreaktion. Keine Planung bis zu der Sekunde. Nachher hat sich eh herausgestellt, dass ich mir von dem Geld grade mal nen Sturzhelm hätte kaufen können. Ich war halt blöd, irgendwie.«

»Und sonst nichts, ich meine, sicher bist du doch schon vorher aufgefallen? Wegen einem einzigen Vorfall kommt man schließlich nicht hier her.«

»Nee, aber da gab’s mal ne Schlägerei. Hab einen arg vermöbelt.«

»Warum?«

»Der war aus so ner Gang und hat mit den anderen einen alten Mann angefallen. Da bin ich zwischengegangen.«

»Und das hat man dir angekreidet?«

»Nicht direkt. Nur dass ich auf dem Typen noch rumgetreten hab, obwohl der schon ziemlich futsch am Boden lag.«

»Aha.«

»Dann war’s eben um die Bewährung mit dem Überfall geschehen. Aber ehrlich.. mir tut der Arsch heute noch nicht leid, auch wenn er zwei Operationen hinter sich hat bringen müssen damit seine Zähne und die Nase wieder ansehnlich wurden. Ich war so dermaßen wütend – du musst wissen, dass ich eigentlich keiner Fliege etwas zu leide tun kann. Gab halt nen Prozess wegen Schmerzensgeld und all dem Kram, aber bei uns ist nichts zu holen. Darum hat mich der Richter hier her geschickt.«

Solchen Aussagen zu glauben, war nach so kurzer Zeit schwierig. »Und die anderen? Ich mein, die aus der Gang?«

»Hasenfüße. Ich glaub, als sie dem seinen Kiefer knacken hörten, ist ihnen die Klammer gegangen.«

»Kanntest du den alten Mann?«

Peter blieb stehen. »Sie können ja von mir denken was Sie wollen, aber als ich gesehen habe wie die auf den losgegangen sind, war mir egal ob ich ihn kenne oder nicht.«

Da war es. Nico wusste, dass es soweit kommen würde, irgendwann. Dieses Sie machte ihn völlig konfus und in dieser Umgebung störte es ihn gewaltig. »Du kannst Nico zu mir sagen, so lange wir unter uns sind«, sagte er, ohne dass er sich das genau überlegt hatte.

»Oh, alles klar.«

Nicos Gedanken drehten sich dann fast nur noch um Peters Worte. Auch wenn er diesen offenbar brutalen Ausrutscher nicht unbedingt gutheißen konnte, wünschte er sich viele solcher Peters, die nicht lange fackelten. In diesen Minuten wurde ihm der Junge automatisch höchst sympathisch.

Mittlerweile war aus dem von Rehen und wahrscheinlich sogar Hirschen getrampelte Pfad immer schmaler geworden. Linker Hand schimmerte eine Wiese durch die Büsche und deshalb würden die Tiere an diesen Stellen den Wald verlassen.

»Wie weit wird das noch sein?«, fragte Peter, »das hier dürfte ja wohl gleich nicht mehr weitergehen.« Damit zeigte er auf den Pfad, der nun kaum noch als solcher auszumachen war.

»Keine Ahnung. Ich kenne zwar den Bahnhof und das nähere Gelände drum herum, aber im Moment weiß ich echt nicht, wo wir sind.«

Peter blieb stehen. »Ich muss mal pinkeln.«

»Okay, ich warte hier.«

Der Junge ging weiter auf dem Pfad, wenige Schritte weiter verschluckte ihn bereits das Geäst der Büsche.
Plötzlich zerriss ein eigenartig metallenes Geräusch die Stille. Entfernt klang es wie das zuschlagen einer Eisentür und das rasseln einer Kette. Gleichzeitig ertönte ein Schrei und dann folgte das dumpfe aufschlagen eines Körpers.

Das Ganze kam so plötzlich, dass Nico zunächst gar nicht reagierte. »Peter?«

»Hier… aahhh.«

Erst jetzt wurde Nico klar, dass etwas passiert sein musste. »Peter, was ist los?«

»Ah..«

Beherzt stürzte sich Nico in das Gebüsch, wo er nach wenigen Metern auf den Jungen stieß. Er lag mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden und hielt sich mit beiden Händen seinen Fuß. »Da… ah das tut so verdammt weh.«

Nico kniete sich hin und betrachtete sich die Ursache. »Lass, nichts machen, beweg dich nicht.«

»Du hast gut reden.. «, stöhnte Peter und krampfte seine Hände um den Fuß.

Langsam quoll Blut aus der Wunde, das die Bügelschenkel eines Fangeisens in Peters Unterschenkel geschlagen hatte.
Nico versuchte, nicht in Panik zu geraten und nach wenigen Sekunden überlegen blieb ihm nur handeln. Beherzt packte er die beiden Bügel der Wolfsangel, dann zog er sie unter Einsatz seiner ganzen Kraft auseinander. »Wenn sie aufgeht, zieh das Bein sofort raus, hörst du?«, stöhnte er und Peter nickte mit zusammengebissenen Zähnen.
Auf Nicos Stirn bildeten sich große Schweißtropfen, die einmal von der Aufregung, dann von der Anstrengung und schließlich von der Hitze kamen, liefen ihm in die Augen und tropften auf seine Hände.
Millimeterweise öffneten sich die Schenkel. »Zieh! Zieh das Bein raus.«
Peter packte sein Bein unterhalb der Knie mit beiden Händen und zog es langsam aus dem Eisen. Viel zu langsam.

»Schneller, ich… ich kann sie nicht lange halten.«

Von Schmerzen gepeinigt nahm Peter alle Kraft zusammen, um seinen Körper mit den Ellenbogen auf dem Boden entlang wegzuschieben.

Nico begann am ganzen Körper zu zittern, während er die Schenkel der Wolfsangel auseinander bog. Er spürte, dass seine Kräfte schwanden, dazu kam ein Krampf in seinem Fuß. »Zieh, Herrgott noch mal..«, schrie er, wobei es ihm gelang das Eisen noch ein paar Millimeter zu öffnen.

Peter zog das Bein heraus, doch in dem Augenblick wo sein Schuh in Höhe des Schlagbereichs war, verließen Nico die Kräfte. Um sich nicht die Finger einzuklemmen, musste er das Eisen loslassen, aber es fehlte ihm der Schlagweg und so klemmte nur der Fuß im Schuh fest, ohne Peter dadurch zu verletzen.

Nico sackte in sich zusammen und jappte nach Luft. »Geht’s, oder..?«

Peter hielt sich noch immer das Bein und nickte, ohne einen Ton sagen zu können. Das Eisen saß zu fest, er konnte nicht aus seinem Schuh heraus.

»Peter, ich muss es noch einmal versuchen. Wenn ich’s sage, zieh den Fuß raus, okay?«

Erneut packte Nico die beiden Schenkel, biss sich auf die Zähne und holte tief Luft. »Jetzt!«, schrie er. Peter zog den Schuh heraus und Sekunden später entglitt Nico das Eisen, woraufhin die Schenkel zusammenknallten. Polternd fiel das Fangeisen zu Boden.

»Uff. Geschafft«, stöhnte Nico und ließ sich neben Peter auf den Boden fallen. Die Verletzung an Peters Bein sah nicht gut aus, zudem musste man damit rechnen, dass der Knochen gebrochen war. Hastig fummelte Nico sein Handy aus der Tasche. »Falk, Nico hier. Peter ist in eine Schlagfalle getreten.. und ich weiß verflucht nicht, wo wir sind. So eine verdammte Scheiße.«

»Ruhig, Nico. Blutet die Wunde stark?«

»Nein, eigentlich nicht, aber das rohe Fleisch.. was soll ich machen?« Nur langsam bekam Nico seine Fassung zurück.

»Okay, ich komme so schnell es geht. Rick wird euch finden. Ruf sofort die Rettung und tu nichts, was es schlimmer machen könnte. Keine Panik jetzt und Peter soll sich nicht bewegen, hörst du?«

»Ja, okay.«

»Gut.« Damit trennte Stein die Verbindung.

»Peter, ganz ruhig, ich hol Hilfe«, versuchte Nico den Jungen zu beruhigen, während er den Notruf wählte. Seine Panik bestand in der Hauptsache darin, dass er nicht sagen konnte, wo sie waren. So ruhig wie möglich gab er seinen Namen und die Sachlage durch. »Ich weiß aber überhaupt nicht, wo wir sind. Nur, dass in der Nähe der alte Verladebahnhof am Schiefersteinbruch ist.«

»Okay, bitte lassen Sie Ihr Handy an. Wir rufen Sie zurück. Bleiben Sie bitte ruhig.«

Nico setzte sich völlig fertig neben Peter und legte dessen Kopf auf seinen Schoß. Erst jetzt wurde ihm das alles richtig bewusst. Er hätte heulen können, obwohl an all dem niemand eine Schuld traf. Jeder wäre in diese gemeine Falle getreten, die, so wie es Nico jetzt sah, in eine kleine Vertiefung eingelassen und mit Gräsern getarnt gewesen war. Damit jedoch bestätigte sich offenbar der Verdacht auf Wilderei in der Gegend. Nur war das jetzt kein Kavaliersdelikt mehr.

»Geht’s?«, fragte er leise und wischte Peters Tränen von der Wange.

Der Junge nickte, ganz langsam. Wenigstens bestand keine Lebensgefahr, aber schon vermehrten sich die Fliegen um sie herum, angelockt vom Geruch des Blutes und Nico begann sich vor ihnen zu ekeln wie noch nie in seinem Leben. Er suchte ein Taschentuch in seiner Hose und legte es vorsichtig auf die Wunde. Nach wenigen Minuten ging sein Handy.

»Wir haben Sie geortet. Gibt es dort, wo Sie sich befinden, eine freie Stelle?«, wollte der Mann aus der Zentrale wissen.

»Ich glaub, ja, es gibt eine Wiese.«

»Gut. Gehen Sie schnellstens dorthin, so dass man Sie gut sehen kann. Der Hubschrauber ist bereits unterwegs.«

Egal wie es war, ohne die Technik wüsste er jetzt nicht, was er hätte machen sollen. »Peter, ich muss dich alleine lassen. Der Hubschrauber kommt gleich, ich muss ihnen den Weg zeigen. Bleib bitte ganz ruhig liegen, okay? Und pass auf.. wegen der Fliegen.«

Peter nickte und Nico stand auf. Die Wiese war irgendwo links gewesen und rasch eilte er den schmalen Pfad zurück bis er den gelblichen Schimmer des dörren Grases durch die Büsche sehen konnte. Er zerkratzte sich Arme und Gesicht, aber er musste den direkten Weg nach draußen.
Klatschnass geschwitzt trat er schließlich aus dem Wald. Gott sei Dank war die Wiese groß genug für einen Hubschrauber und Nico rannte so schnell es ging hinaus. Nach etwa fünfzig Metern ließ er sich einfach fallen.
Durst quälte ihn jetzt, seine Zunge klebte im völlig trockenen Mund und fühlte sich an wie ein Fremdkörper. Der Schweiß brannte in den Kratzern und noch immer zitterte sein Körper durch die Entkräftung. Er wusste nicht wo der Helikopter gestartet war und wie lange er brauchen würde, aber sie würden ihn finden, irgendwie.

Angestrengt lauschte er, aber sein Blut pochte und rauschte in den Ohren.
Ein Blick auf die Uhr, es war mittlerweile halb Fünf. Wie lange Stein für die Strecke brauchte vermochte er nicht zu sagen, sicher war nur, dass er nicht gemütlich wandern würde.

Wenig später hörte er bereits das untrügliche Geräusch der Rotorblätter, stand auf und suchte den Himmel ab. Rasch näherte sich der Helikopter, nur die Richtung, aus der er kam, konnte Nico noch nicht feststellen, zu sehr täuschten ihn die Echos aus dem umliegenden Wald.
Doch dann tauchte die Maschine auf, direkt über dem Wald gegenüber und mit Kurs auf die Wiese. Nico streckte beide Arme aus und winkte wie ein Wilder. Zum Zeichen dass man ihn gesehen hatte, schaltete die Besatzung kurzzeitig die Suchscheinwerfer ein.
Nico rannte noch ein Stück weit zum Waldrand, die Sanitäter sollten so wenig wie möglich laufen müssen.
Dann schwebte der Hubschrauber in die Wiese ein wie eine große, orangefarbige Libelle, dann wurde Nico vom Abwind der Rotorblätter getroffen und machte ihm ein stehen bleiben fast unmöglich. Sehr dicht flog der Pilot an den Waldrand, was bei dem windstillen Wetter kein Problem war.
Mit ohrenbetäubendem Lärm setzte der Helikopter auf der Wiese auf, wobei sich Nico mit seinen Armen über dem Gesicht vor den aufgewirbelten, trockenen Grashalmen schützen musste. Noch während sich der Rotor drehte, öffnete sich die Seitentür und zwei Männer mit Taschen rannten zu Nico hin.
Der Lärm war noch zu groß um zu reden, deshalb rannte Nico einfach in den Wald voraus, wobei ihm die beiden Männer folgten. Nico rannte, als ginge es um sein Leben, achtete nicht auf die Zweige die erneut sein Gesicht peitschten, nicht auf die Wurzeln, die ihn das eine und andere Mal beinahe stürzen ließen.
Schließlich kam er bei Peter an, der sich halb aufgerichtet hatte und dem man seine Erleichterung ansah.

Ohne Worte knieten sich die beiden Männer zu ihm hin und betrachteten sich die Wunde. Die beiden redeten kurz miteinander, einer öffnete seine Tasche und zog eine Spritze auf.
Nachdem Peter notdürftig verarztet war, wandte sich einer der Männer an Nico. »Gerald Heinze, ich bin Arzt. Was ist denn genau passiert?«, wollte der Doktor wissen, während der andere Sanitäter zum Hubschrauber zurücklief.

Nico schilderte ihm den Hergang, worauf der Arzt nur nickte. »Okay, wir bringen ihn ins Krankenhaus.«

Nico war sich nicht sicher, was er machen sollte. »Soll ich mit?«

»Nein, das geht leider nicht. Wir verständigen zudem Försterei und Polizei, dazu müssten Sie schon hier bleiben. Aber..« Jetzt nahm der Arzt ohne Vorwarnung Nicos Kinn zwischen die Finger und betrachtete sich fachmännisch die Schrammen in seinem Gesicht. »Ich mach Ihnen da was drauf, nicht dass sich das entzündet.«

Wenig später kam der andere Mann, der wohl Sanitäter war, mit einem zweiten Besatzungsmitglied und einer Trage zurück.

»Ist es schlimm mit dem Bein?«, wollte Nico dann noch von dem Arzt wissen.

»So wie es aussieht hat er viel Glück gehabt, ob der Knochen heil geblieben ist muss man beim röntgen sehen.«

Rasch hatten die beiden Sanitäter Peter dann auf die Trage verfrachtet und brachten ihn aus dem Wald.

Der Arzt wandte sich an Nico. »Dann kommen Sie bitte, wir lotsen die Polizei über Funk auf die Wiese, auf der anderen Seite ist ein Feldweg. Dort können Sie auf die Beamten warten.«

Nico folgte dem Trupp und sah zu, wie Peter in den Bauch der Maschine geschoben wurde. Rasch kletterte er hinterher und drückte noch einmal Peters Hand. »Viel Glück und hey, das wird wieder.« Dabei blinzelte er und Peter nickte erschöpft.
Kurz darauf sprang Nico wieder heraus und wartete, bis der Helikopter abhob und im Tiefflug über dem Wald verschwand.

Kaum hatte er sich völlig erschöpft auf die Wiese gesetzt, hechelte Rick um ihn herum. »Ah, mein Freund. Dann ist dein Herrchen auch nicht weit.«

In dem Moment sah Nico Blaulicht auf der anderen Seite im Wald und hinter ihm trat Stein aus dem Wald.

»Tja, ein Fall von Wilderei. Ich glaub, da ist was ganz Großes am laufen.« Hubert Angelmann betrachtete sich die Falle, die inzwischen im Kofferraum des Polizeiwagens lag. Der große, hagere Endfünfziger wirkte mit seinen weißen Haaren und dem Vollbart wie ein uriger Einwohner einsamer Alpendörfer. Nachdenklich kratzte er sich am grauen Filzhut. »So eine Sauerei. Das Maß ist voll.«

»Ja, kann man wohl sagen.« Falk Stein saß auf dem Rand des Kofferraums und beobachtete, wie Rick und der graubraune Griffon-Rüde des Försters miteinander spielten.

»Vor allem, man muss jetzt sehr vorsichtig sein, Falk. Achte drauf, dass deine Jungs die Wege nicht verlassen. Du siehst was passieren kann.«

Stein nickte. »Dabei hätte ein Problem heute gereicht. Peter wäre nie in die Falle getappt, wenn wir nicht einen der Jungs vermissen würden.«

Angelmann horchte auf. »Du vermisst einen Schützling?«

»Ja, seit heute Mittag. Spurlos verschwunden.«

»Falk, das ist keine gute Nachricht, nachdem was da passiert ist.«

»Ich weiß. Aber ich habe keine Ahnung, wo wir noch suchen sollen. Rick hat seine Spur verloren, der Junge ist allem Anschein nach im Bach entlang.«

»Ihr müsst ihn finden. Wenn er auch in eine solche Falle läuft.. Weiß es die Polizei?«

»Ich habe es ihnen vorhin gesagt, aber die wissen natürlich auch nicht wie man ihn finden soll, wenn Rick schon mal nicht weiter weiß.. zumal es nicht der erste war, der ausgebüxt ist.«

»Warst du am Bahnhof oben?«

»Ja, aber da ist nichts.«

»Es wird bald dunkel.«

»Hubert, ich weiß das alles, aber wo sollen wir denn suchen?«

»Wo habt ihr seine Spur verloren?«, wollte der Förster wissen.

»Gleich nach dem Camp. Er kann überall sein, vor allem nach der Zeit jetzt.«

Vorsichtshalber rief Stein bei Rainer Bode an und fragte nach, ob Antoine bereits wieder aufgetaucht sei. Aber die Antwort war negativ.

»Hubert, bei Nacht brauchen wir gar nicht erst anfangen, das weißt du. Er wird Wasser haben und die Nächte sind warm. Der kann kilometerweit kommen.«

»Ist mir klar, aber trotzdem, ich hab ein sehr schlechtes Gefühl dabei.«

»Was für Kleidung trägt der Junge?«, wollte der Förster wissen.

Stein überlegte, warum sich der Mann so große Sorgen machte, aber schließlich ahnte er es, nach Angelmanns Frage.

Nico überlegte kurz. »Das Hemd hat er wohl gewechselt, aber ich hab ihn in einer kurzen, grünen Khakihose in Erinnerung.«

»Hubert.. du meinst doch nicht.?« Stein fühlte sich plötzlich wie gelähmt.

»Falk, ich weiß, es ist nicht sehr wahrscheinlich, aber man kann’s nicht ausschließen.«

Nico blickte die beiden abwechselnd an. »Was meint ihr denn damit?«

Aber weder Stein noch der Förster wollten mit einer Antwort herausrücken.

»Kommt mit, wir müssen etwas unternehmen«, sagte Angelmann und lief zu seinem Range – Rover. Mit großen Sätzen sprangen die beiden Hunde auf die Ladefläche, während Stein und Nico in den Wagen stiegen.

»Sagt mir bitte einer, warum ihr jetzt so hektisch seid?« Nico wurde nervös, weil ihn ein dummes Gefühl beschlich. Jenes von der Sorte, das er gar nicht schätzte, weil es sich meist irgendwie bestätigte.

»Später, Nico«, beschwichtigte Stein und der Förster jagte seinen Wagen mit beängstigender Geschwindigkeit über Wiesen- und Waldwege.

Nico unterließ zunächst weitere Fragen, irgendwann würde er es eh erfahren.

Es begann bereits zu dämmern, als Angelmann in einen schmalen, durch einen dichten Tannenwald steil ansteigenden Waldweg einbog. Ständig musste sich Nico in dem schaukelnden Gefährt festhalten.
Stellenweise dachte er, das hoch achsige Fahrzeug würde entweder zur Seite kippen oder in den tiefen, ausgetrockneten Wasserlöchern stecken bleiben. »Wohin um Gottes Willen fahren wir?«

Stein nahm statt einer Antwort nur sein Handy. »Rainer? Wir fahren zu Hubert. Hast du von Antoine schon etwas gehört?.. Aha.. hm.. okay, ich melde mich wieder.«

Damit wusste Nico zumindest, was ihr Fahrziel sein würde. Und auch, dass der Junge noch immer nicht aufgetaucht war.

»Das Krankhaus hat angerufen. Peters Bein ist angebrochen und die Fleischwunde ziemlich tief, aber nichts, worüber man sich ernsthafte Sorgen machen müsste. Er bleibt zwei Tage dort, dann kann er entlassen werden. Allerdings ist mit laufen erst mal nichts. Der Arzt meinte, durch den Schlag würde das ganze Bein auch erst mal blau anlaufen.«

»Gott sei Dank, das sah ja echt schlimm aus. Kommt er zurück ins Camp?«

»Das glaube ich nicht, macht auch nicht viel Sinn.« Stein drehte sich zu Nico nach hinten. »Hast du gut gemacht.«

»Falk, ich hatte ne Scheißangst.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Aber gerade deswegen.«

Nico wollte kein Lob hören. Jeder andere hätte es nicht anders gemacht.

Nach weiteren zehn Minuten war die Achterbahnfahrt vorbei. Der Weg wurde besser, außerdem schienen sie auf dem Gipfel des Bergs zu sein, es ging nicht weiter nach oben. Erneut bog der Förster in einen Waldweg, der so eng war, dass die Äste der Bäume und Büsche an dem Lack des Wagens kratzten. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, die Scheinwerfer des Rovers fuchtelten nervös über den Weg und über die Blätter der Bäume und Büsche rechts und links.
Schließlich tauchte auf der rechten Seite eine Hütte auf. Davor war Platz genug, um das Fahrzeug abzustellen, sonst dominierten auch hier Buchen und höheres Gebüsch diese Ecke.
Angelmann parkte den Rover, wonach die beiden Hunde sofort von der Ladefläche sprangen.

Nico stieg aus und streckte seine Knochen. »Ich hab schon gedacht, die Hunde wären runtergeflogen.«

Stein lachte. »Vorher wärst du aus dem Fenster raus.«

Angelmann ging um den Wagen zu der Hütte. Eigentlich, so dachte Nico, genau das, was man sich als Jagdhütte vorzustellen hatte. Eine kleine, überdachte Veranda, zu der drei Stufen hinaufführten, zwei kleine Blumenkästen mit irgendwelchen undefinierbaren Pflanzen. Rechts und links der Eingangstür je ein Fenster, dessen Läden geschlossen waren. Es roch nach behandeltem Holz und Nico vermutete, dass die Imprägnierung noch nicht lange zurücklag. Dabei schien die Hütte schon ewig hier zu stehen, ringsum wucherte Grünzeug, der Laie würde es als Unkraut bezeichnen.

Der Förster schloss die Tür auf und sofort schlug ihnen der leichte Geruch nach Feuchtigkeit und Harz entgegen.
In dieser Tiefe des Waldes wurde es sehr viel früher dunkel als draußen, wo kein hohes, dichtes Blattwerk das Licht dämpfen konnte. »Moment, ich mache Licht«, sagte Angelmann aus diesem Grund und verschwand in der Dunkelheit der Hütte. Kurz darauf schwangen die Fensterläden auf und die beiden traten ein.
Angelmann zündete ein Streichholz an und hielt es an eine unter der Decke hängenden Lampe. Nico kannte diese Art von Licht nicht und sah verwundert, wie es langsam richtig hell wurde.

»Propangas«, sagte Stein, der Nicos fragendes Gesicht bemerkte.

Nun war nichts zu hören als das Fauchen des Gases in dem Glühstrumpf. Nico sah sich um. Einfach eingerichtet, aber zum abschalten oder auch mal abhauen genau das Richtige. Eine Eckbank nahm die linke Seite ein, davor ein rustikaler Holztisch. Gegenüber des Eingangs der große, alte Herd in der Kochnische, die man durch einen Vorhang abtrennen konnte, rechts ein Schrank mit einigen Gläsern und einem abschließbaren Teil, in dem sich wahrscheinlich die Waffen des Försters befanden; daneben eine Tür, die wohl zu der Schlafkammer führte. »Gemütlich«, sagte Nico nur.

Angelmann nickte. »Aber setzt euch, ich hol mal eben die Karte.«

Kurz darauf saßen die drei an dem Tisch, jeder eine Flasche Bier vor sich und sie brüteten über der Karte aus der Gegend.

»Hubert, ich weiß nicht was wir damit sollen. Der Junge kann doch wirklich überall sein.«

Der Förster wirkte sichtlich aufgeregt, so, als wüsste er eine Lösung. »Weiß ich ja auch. Mir geht es erst Mal um etwas ganz anderes. Seht mal, ich habe die Stellen eingezeichnet, an denen.. hier der Hase.. hier das Wildschwein.. hier nun das Reh und da… das Fangeisen gefunden wurden. Wie ihr unschwer erkennen könnt, liegen die Fundstellen alle zwischen dem Camp und dem Verladebahnhof.«

Stein grübelte und nahm einen Schluck Bier. »Das sieht aus, als wäre der Bereich relativ eng begrenzt.«

»So ist es. Das heißt, wenn der Junge nach hier oben, südöstlich des Bahnhofs.. sagen wir mal.. geflüchtet ist, dann sollte ihm dort eigentlich nichts passieren.«

Nico wurde stutzig. »Was heißt, nichts passieren?«

Stein holte Luft. »Nun, wir wissen es nicht, aber sollten der oder die Wilderer gestört werden, kann man nicht wissen wie sie reagieren. Außerdem besteht die Gefahr, dass sie den Jungen im Unterholz.. ich meine, wenn man nicht genau hinsieht, jemand grüne Sachen anhat, es Nacht ist und man sowieso im Stress ist.«

».. dass man vielleicht auf ihn schießt.« Das war es, was sie Nico die ganze Zeit verheimlichten. Er lehnte sich zurück. »Und jetzt?«

»Diese Nacht können wir nur für Unruhe sorgen, mehr nicht.«

»Unruhe?«

»Ja, ich hab da allerdings auch schon eine Idee.«

Nico hätte sich diesen Plan gerne angehört, doch völlig unerwartet brummte sein Handy. Ohne nachzusehen wer es war, verließ er mit einer Entschuldigung den Raum und trat hinaus auf die Veranda.

»Ja?«

»Hallo Nico, ich bin’s.«

Einen Moment lang lauschte Nico, dann war ihm klar dass es kein Irrtum sein konnte. Zu gut kannte er diese Stimme, allzu genau wusste er, dass es keine gab auf dieser Welt, die ähnlich klang wie sie. »Hallo Stefan.« Umständlich nestelte er seine Zigarettenpackung aus der Brusttasche, fischte sich eine Zigarette heraus und zündete sie an.

»Ich wollte mal fragen wie es dir geht. Hab deine Mail gelesen. Stör ich dich grade?«

»Nein, Stefan, du störst nicht. Und mir.. ja, mir geht’s gut.«

Klang Stefans Stimme gerade klar und rein, nicht bedrückt oder niedergeschlagen? Zu genau kannte Nico die Stimmungslagen, er kannte sie alle. Die freudigen, die traurigen, die wütenden und die weinenden. Aber die hier war neutral und darüber freute er sich, irgendwie.

»Wie geht es dir?«

»Prima. Ich war ein paar Wochen in Schottland. Einfach traumhaft sage ich dir, da müssten wir mal zusammen.. oh, entschuldige.«

»Ist doch okay. Wo bist du denn jetzt?« Nico gelang es in wenigen Sekunden, sich ihn und Stefan dort zusammen zu sehen, aber er ging nicht näher darauf ein.

»Grade heimgekommen. Aber sag mal, bist du wirklich im Camp?«

»Ja, seit gestern.«

»Und, wie isses?« Stefans Stimme klang sehr neugierig.

Was sollte Nico darauf antworten? Dass es wohl doch an seiner Anwesenheit lag, warum es schon bei seiner Ankunft drunter und drüber ging? Dass sie heute Nacht einen davongelaufenen Jungen suchen mussten? Wollte Stefan hören, dass Manuels Kreuz geschändet worden oder einer der Jungs in das Fangeisen eines Wilderers geraten war? Mithin grade das Chaos herrschte? Es war schwer einfach zu sagen, dass es wunderbar wäre und ganz toll obendrein. Er hatte alles gekonnt so lange sie zusammen waren, aber Stefan anlügen – das konnte er noch nie.

»Ganz schön turbulent.«

»Oh, was ist denn los?«

»Stefan, ich würde es dir gerne erzählen, aber im Moment ist es ungünstig. Bist du ab jetzt zu Hause?«

»Ja, schon. Aber sag mal, das klingt nich gut. Ist mit dir wirklich alles in Ordnung?«

»Ja, mit mir schon, nur ein paar Kratzer.« Er hatte das nicht sagen wollen, aber mit jeder Minute die verstrich, spürte er wie ihm jemand fehlte. Jemand, mit dem er sich austauschen konnte, einfach reden. Mit den Betreuern war das etwas anderes als mit jemanden, den man gut, sehr gut kannte. Und den man trotz allem noch lieb hatte.

»Kratzer? Nico, was ist passiert?« Stefans Stimme klang mit einem Mal besorgt.

»Stefan, ich schreib dir ne Mail, so schnell es geht, okay?«

Eine Pause am anderen Ende. »Ja, okay. Aber bald hörst du?« Stefans Stimme hatte sich schlagartig geändert.

»Ja, Stefan, ich verspreche es. Bis bald.«

»Ciao.. Nico.«

Stefan hatte nicht gern aufgelegt, das spürte Nico. Er würde sich Sorgen machen, trotz ihres gespannten Verhältnisses. Es herrschte eben eine unsichtbare Bande zwischen ihnen, jene, die auch schon eine endgültige Trennung unmöglich gemacht hatte.
Nico rauchte langsam zu Ende, selbst auf die Gefahr hin von dem Förster deswegen angemacht zu werden. Das Gespräch mit Stefan hatte ihn merkwürdig aufgewühlt, ließ ihn einen Moment lang die Dinge um sich herum vergessen.
Beinahe wäre er über Rick und Hasso, dem Griffton-Rüden, gefallen, als er in die Hütte zurückwollte. »Habt euch ja nen schönen Platz ausgesucht«, sagte er und bahnte sich seinen Weg zwischen den beiden Hunden hindurch.

Drinnen stand die Luft trotz offener Fenster und Tür. Sicher würde es hier im Winter ein romantischer Ort zum verweilen sein, sinnierte Nico und in seinem Geist stellte er sich vor, an dieser Stelle einige Wochen im Schnee zu verbringen, wobei es ihm nicht gelang, Stefan aus dieser Fantasie herauszuhalten.
»Und, was wollt ihr tun?«, fragte er, nachdem er sich auf seinen Platz gesetzt hatte.

»Ich habe Horst Walther von der örtlichen Polizei gebeten, nach dem Jungen zu suchen. Er wird mit seinem Kollegen hier«, dabei fuhr er mit dem Zeigefinger ein paar Wege in der Karte ab, »entlangfahren. Mit Fern- und Blaulicht, denn das dürfte zumindest in einigem Umkreis für Abschreckung sorgen. Wir fahren hoch zum Bahnhof, ich bin immer noch der Meinung, dass sich der Junge dort versteckt hält.«

Nico hatte keine weiteren Fragen, nur eines war natürlich sicher: Diese Nacht war gelaufen, es sei denn, sie würden Antoine finden, was er aber für sehr unwahrscheinlich hielt. Ihn selbst, so dachte er einen Moment lang, würden sie unter diesen Umständen jedenfalls nicht finden.

Eine gute halbe Stunde später stellte Angelmann seinen Rover vor der Lagerhalle des Bahnhofs ab. Es war bei Nacht fast gespenstisch, nachteilig auch, dass Neumond herrschte.

»Wir müssen uns auf Rick verlassen«, hatte Stein während der Fahrt gesagt und das war die einzige Möglichkeit überhaupt, Antoine aufzuspüren.

Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hielt Stein Antoines Hemd erneut vor Ricks Nase, worauf der Husky auf dem Boden schnüffelnd und im Zickzack über das Gelände lief.

»Wir können nur warten«, sagte Stein, »wenn er die Spur finden sollte wird er sich bemerkbar machen.«

Angelmann lehnte an der Motorhaube seines Rovers und zündete sich eine Pfeife an. Der aromatische Duft nach Vanille waberte in kleinen Wölkchen und die zeigten an, dass es absolut windstill war hier oben. »Kann es sein, dass sich der Junge.. etwas antun will?«, fragte der Förster nachdenklich.

»Keine Ahnung. Ich habe dafür jedenfalls keine Hinweise in seinem Bericht gefunden. Ich denke eher, er kommt mit der Sache an sich nicht zurecht. Gelegentlich gibt’s Einzelgänger, die haben richtig massive Probleme in einer Gemeinschaft.«

»Wollen wir es hoffen«, sagte Angelmann leise und blies kleine Wölkchen aus dem Mundwinkel.

Nico ging einige Schritte auf die alte Lagerhalle zu, wobei die Erinnerungen wieder zurückkehrten. Am meisten hängen geblieben war das Bild, als die Jungs mit Tobias aus dem Nebel auftauchten. Nichts was damals bis dahin passierte, war für die Katz; ein schöner, rührender Erfolg. Sein Blick ging hinüber zum Steinbruch, den man nur vage als drohende, noch schwärzere Wand ausmachen konnte. Den Sendemast der Mobilfunkantenne, die auf dem Gipfel montiert worden war, konnte man nicht erkennen, dafür markant und weithin sichtbar jedoch das einsame, rote Licht auf der Mastspitze.

»Gleich Elf Uhr.« Steins Gesicht wirkte besorgt. Es war klar, dass die ganze Verantwortung auf ihm lag, egal was passieren würde. Dann wandte er sich an Nico. »Du musst über alles hier einen Bericht schreiben, oder?«

»Ja, haarklein. Aber keine Bange, das bin ich schon gewohnt.«

Plötzlich hörten sie Ricks Gebell. Es klang fast schaurig durch das Echo des Steinbruchs und schien weiter entfernt zu sein.

Der Förster nahm seine starke Stablampe sowie einen Verbandskasten und ohne Worte liefen die drei los.
»Aufpassen, die Schienen und Schwellen«, rief Angelmann, als die den Gleiskörper erreichten.

Nico musste kurz grinsen. Zwar kannte er nicht jeden Meter hier, aber die Tücken des Bahngeländes waren ihm sehr wohl ein Begriff geworden.

Rick bellte in Abständen, so dass sie sich immer an der Richtung orientieren konnten. Nico lief der Schweiß über die Stirn, denn mit Stein mitzuhalten erforderte bekanntermaßen eine gewisse Kondition. Dennoch fielen er und Angelmann nicht weit hinter ihm zurück. Der Schein der Taschenlampe hatte eine ungewöhnlich große Reichweite, so dass er allen dreien ohne Schwierigkeiten den Weg leuchten konnte. Jeder mochte jetzt wohl sein eigenes Szenario im Kopf haben von dem Bild, das sich ihnen gleich bieten würde.
Ricks Gebell wurde langsam lauter, was darauf schließen ließ, dass der Husky an Ort und Stelle geblieben war.

Sie verließen das Bahngelände und näherten sich dem Steinbruch. Hier kamen sie mühsamer voran, größeres Geröll lag wahllos im Weg und die feinen Splitter des Schiefers erzeugten knirschende Geräusche unter den Schuhen.

Plötzlich leuchteten zwei eisblaue Punkte in einiger Entfernung im Lichtkegel der Taschenlampe auf. Rick schien genau zu wissen, dass seine Augen auch den schwächsten Lichterschein wie ein Reflektor zurück warf.
Die letzten Meter setzte Stein zum Sprint an, während der Lichtkegel eine leblose Gestalt am Boden erfasste.

Rasch waren die drei bei dem Körper, der direkt am Fuß des Steinbruchs lag. Angelmann leuchtete nur kurz in das Gesicht des Jungen, der die Augen geschlossen hatte und sich nicht rührte.

»Antoine, hörst du mich?«, rief Stein, nachdem er sich neben ihn gekniet und seinen Kopf in die Hände genommen hatte. Antoine rührte sich nicht. »Wir müssen Hilfe holen.. irgendwie.«

Im Lichtschein, den der Förster jetzt auf den Körper richtete, waren auf den ersten Blick keine Verletzungen zu erkennen. Auch war die Kleidung nicht schmutzig oder zerrissen. Irgendwie sah es aus, als würde der Junge nur tief und fest schlafen.
Stein war vorsichtig, man konnte nicht wissen was Antoine fehlte. Vor allem musste man auch mit inneren Verletzungen rechnen, wobei ein unbedachter Transport gefährlich werden konnte.

Sekunden später hatte Angelmann sein Handy am Ohr und Nico war unendlich dankbar, dass es jetzt ein Funknetz hier oben gab.

Stein strich mit seinen Fingern über Antoines Gesicht. »Hörst du mich?«, fragte er erneut. Nichts, keine Reaktion. »Sein Herzschlag ist schwach«, sagte Stein besorgt, nachdem er seine Hand auf die Brust des Jungen gelegt hatte.

»Sie schicken einen Krankenwagen, aber das kann eine Weile dauern. Wir sollen ihn ruhig lagern und nichts machen«, sagte Angelmann und kniete sich ebenfalls nieder. »Was kann ihm fehlen?«

Stein zog die Schultern hoch. »Keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass er verletzt ist. Er hat kaum eine Schramme. Nur an den Beinen und Füßen.« Zumindest schloss das aus, dass Antoine abgestürzt sein könnte.

»Hat er.. vielleicht was genommen?«, fragte Nico mehr sich selbst. Auch wenn es in dem Moment nicht so aussah, ganz abwegig war es nicht. Zudem könnte es sich mit seinen Beobachtungen decken; Nico wusste viel über Drogen und natürlich auch über deren Wirkungen.

»Alkohol ist’s nicht«, stellte Stein fest, nachdem er seine Nase in Antoines Atem gehalten hatte.

»Vielleicht der Kreislauf ? Wenn er wie ein Depp gelaufen ist, bei der Hitze.« Angelmanns Vermutung konnte ebenfalls durchaus hinkommen. Immerhin durfte man auch davon ausgehen, dass der Junge einen weiten Umweg hierher gemacht hatte.

»Er hat keine Schuhe an«, stellte der Förster dann fest. »Wieso rennt jemand barfüßig durch den Wald? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«

»Wir haben uns das ja auch schon gefragt. Ich hab keine Ahnung. Wir werden es wissen, wenn wir ihn fragen können.«

Nico lief in etwas weiterem Umkreis, als ihm etwas auffiel. »Herr Angelmann, leuchten Sie mal hier, bitte?«

Der Förster ging die paar Meter zu Nico hin und leuchtete auf den Boden.

»Was ist das?« fragte Nico nachdenklich.

Angelmann ging in die Knie. »Das ist.. Erbrochenes.« Hastig suchte er den Boden weiter ab, schließlich geriet Antoines Feldflasche in den Lichtkegel und direkt daneben lagen zwei weiße Röhrchen.
In der selben Sekunde, als Nico die Röhrchen sah, schreckte er auf. Er nahm eines auf und schon der Name des Medikaments kam ihm durch sein Studium bekannt vor. »Schlafmittel«, flüsterte er. »Eins von der ganz üblen Sorte.« Er rannte zurück zu Stein. »Falk, ich glaube, Antoine wollte sich umbringen«, wobei er Stein das Röhrchen vors Gesicht hielt.

»Scheiße. Hubert, ruf die Rettung noch mal an, die müssen sich beeilen!«

Hubert Angelmann telefonierte erneut, wobei er den Sachverhalt durchgab, was es dem Arzt später leichter machen würde.

Die zwanzig Minuten, bis sich endlich die Leuchtfinger der Scheinwerfer durch das Dunkel der Nacht zu ihnen vorarbeiteten, kamen ihnen vor wie zwanzig Stunden.

»Das sind zwei Fahrzeuge«, stellte Nico fest.

»Oh, das ist sicher Horst mit dem Streifenwagen, den hab ich glatt vergessen. Die haben bestimmt den Funkspruch gehört.« Angelmann stand auf und winkte mit seiner Stablampe. Der Rettungswagen gab kurz Lichthupe, dann fuhr er an den Gleisen entlang. »Die müssen einen Umweg fahren, direkt über das Gelände können sie nicht.«

Damit verschwanden die Autos auch zunächst im Wald auf der anderen Seite, um etwas später rechts des Steinruchs wieder aufzutauchen.

»Tja, sein Kreislauf ist sehr schwach, ich hoffe dass er nicht versagt. Vielleicht war es ein Glück, dass er sich erbrochen hat. Aber das muss man sehen«, erstattete der Notarzt wenig später Bericht. »Seine Lage ist stabil soweit, wir bringen ihn ins Marienkrankenhaus.« Damit stieg der Arzt in den Wagen, der sich dann rasch in Bewegung setzte.

»Horst, vielen Dank für eure Hilfe«, bedankte sich Angelmann bei dem Polizisten.

»Hubert, ist doch keine Frage, Hauptsache der Junge ist nicht in Lebensgefahr. Übrigens, wir haben Rückmeldung wegen der Schlagfalle.«

Die drei horchten auf.

Walther wandte sich an Nico. »Sie hatten die Falle aufgemacht?«

»Ja, warum?«

»Kommen Sie bitte morgen früh ins Revier, wir brauchen Ihre Fingerabdrücke. Wenn wir Glück haben, gibt’s außer den Ihren und denen des Jungen noch andere.«

»Sicher, kein Problem.«

»Ja, und die Falle selbst ist neueren Datums. Auch lag sie dort noch nicht, seit es das letzte Mal geregnet hat. Wir haben die Registrierungsnummer und das könnte uns weiterhelfen. Allerdings gehen wir natürlich davon aus, dass das Fangeisen gestohlen wurde, aber dem müssen wir nun erst mal nachgehen.«

Es war bereits nach Mitternacht, als Angelmann Stein, Nico und Rick am Hauptgebäude absetzte.
Unter der Tür standen Bode und Korn, die offenbar nach Steins kurzer Rückmeldung auf sie gewartet hatten. Die beiden machten besorgte Gesichter.

»Alles in Ordnung mit euch?«, wollte Bode wissen und legte seine Hand freundschaftlich auf Nicos Schulter.

»Ja, nur völlig kaputt«, antwortete Stein. »Wie ist es hier gelaufen? Alles ruhig da drüben?« Die Frage ging an Michael Korn, der diese Nacht Bereitschaft hatte.

»Na ja, du weißt wie das ist wenn einer ausfällt, und dann noch so mysteriös. Richtig bei der Sache war da keiner. Im Camp herrscht Ruhe, zumindest vor ner halben Stunde noch.«

»Kommt, ich denk wir können jetzt nen Schluck vertragen.«

Die Betreuer versammelten sich in Steins Büro, er und Nico berichteten noch einmal kurz was vorgefallen war. Nico holte Antoines Unterlagen und Falk Stein übernahm die nicht beneidenswerte Aufgabe, die Eltern des Jungen anzurufen. Trotz der späten Stunde war er dazu verpflichtet, zumal es Antoine nicht gut ging.
Die Eltern teilten dann mit, dass sie noch in derselben Stunde aufbrechen und ins Krankenhaus fahren würden. Eine Erklärung, warum sich ihr Sohn das Leben nehmen wollte, hatten auch sie nicht.

»Tja, Nico, du hattest wohl Recht. Antoine wollte sich offenbar auch vom Steinbruch stürzen, was er aber zum Glück nicht mehr geschafft hat.«

Viel redeten die Betreuer dann nicht mehr, bevor sie sich müde und erschöpft trennten.

Nico lag noch lange wach in dieser Nacht, wobei sich die meisten seiner Gedanken um Antoine drehten. Was war da wirklich passiert? Warum wirft ein junger Mensch sein Leben einfach weg?

Von seinem Bett aus konnte Nico ein Stückchen des Himmels zwischen den Bäumen sehen und als er die Augen aufschlug, fiel ein erster Blick auf die dunkelblauen Flecken zwischen den Buchenblättern.
Erneut ein Tag, an dem die Sonne und die Hitze dominieren würden.
Als er sich in üblicher Weise streckte, spürte er jeden einzelnen Knochen. Der vergangene Tag und vor allem die Nacht riefen sich somit noch einmal mehr oder weniger schmerzhaft in Erinnerung.
Die erste Frage, die er sich stellte, galt Antoines Befinden. Hatte er diese Nacht überlebt? Die Vorstellung, es wäre nicht so, lähmten Nicos Lebensgeister.
Er setzte sich aufs Bett, es war kurz nach sechs. Früh genug, um duschen gehen zu können. Er rieb sich die Augen, stand auf und trat ans Fenster. Noch war die Luft kühl und würzig, aber das würde sich ändern, sobald die Sonne höher gestiegen war.
Noch war er nicht dazu bereit gewesen, die unanständige Angewohnheit der ersten Zigarette vor einem Frühstück abzulegen. Irgendwann sicher, aber während der Zeit hier sicher nicht.
Nackt setzte er sich auf die Fensterbank und warf einen Blick in sein Dienstbuch.
Verpasst hatte er am Nachmittag des letzten Tages zum Glück nichts, da die Jungs nur ihre Lebensläufe verfassen sollten. An diesem Morgen war Frühsport um halb Acht, Frühstück und anschließend Ergotherapie.
Bastelstunden, dieses Wort hatte er irgendwo einmal aufgeschnappt. Nach dem Mittagessen Aufarbeitung der ersten Lebensläufe und schon war der Tag gelaufen. Am Vormittag würde er sich Zeit nehmen, die Unterlagen zu studieren, die immer noch unangetastet auf seinem Schreibtisch lagen.
Er drückte die Zigarette aus, band sich sein Handtuch um die Hüfte, schnappte den Kulturbeutel und in dem Augenblick wo er das Zimmer verlassen wollte, entdeckte er einen Zettel, der offenbar unter seiner Tür hindurchgeschoben worden war. Rasch stieg sein Puls an, denn so etwas war schließlich nicht gewöhnlich.

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