Die Hütte am Torfmoor – Teil 8 (Ende)

Wenige Minuten später räumten etliche Hände die Trümmerteile von Felix’ reglosem Körper, ab und zu schrie er mit schmerzverzerrtem Gesicht auf.
Mario kam nicht an ihn heran, die Helfer schoben ihn beiseite. Machtlos sah er zu, wie Felix’ Körper allmählich sichtbar wurde.
»Halt durch, gleich bist du weg hier.«
Währenddessen zog beißender Rauch über die Unglücksstelle, zu der allgemeinen Hitze kamen jetzt noch die Flammen. Sie fraßen sich in ungeheuerer Geschwindigkeit durch das trockene Gebälk und wenig später brannte der ganze Schutthaufen lichterloh.
»Er ist frei. Los, bringen wir ihn weg hier« rief jemand nach schier unendlichen Minuten. Auf Kommando hoben vier Männer Felix’ Körper hoch und trugen ihn in die Heide hinein.
Mario hielt seine Hand und fuhr ihm durch die Haare. »Es ist gut, Kleiner, alles wird gut.«
Als er zurücksah stand die Stelle, an der Felix noch vor wenigen Sekunden gelegen hatte, in Flammen.
Vorsichtig legten die Männer den verletzten Jungen auf den Boden.
»Rocky?« fragte Felix nochmals.
Mario sah lange zu dem Flammenmeer hinüber und schüttelte den Kopf. Felix verstand diese Geste.
Endlich flog der Rettungshubschrauber über das Gelände und fast gleichzeitig fuhr die Feuerwehr in die Grube hinunter.
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Unruhig lief Mario im Krankenhaus vor dem OP auf und ab. Die Leute, das grelle Licht, die hallenden Worte und Schritte machten ihn nervös. Immer wieder sah er auf die Uhr, dann zu Felix’ Vater hinüber. Nach Reden war Mario nicht zumute, nur bei einem der Ärzte würde er jetzt eine Ausnahme machen. Wie lange lag Felix schon da drin? Eine, zwei, fünf Stunden? Mario verlor das Gefühl für Zeit.
Seine Tante schwirrte nach wie vor als böser Geist durch seinen Kopf. Sie hatte ihm noch am Ort des Geschehens gesagt, er solle sich bei ihr nicht mehr blicken lassen und seine Sachen würde sie den Eltern mitgeben. Felix’ Vater bot ihm daraufhin an, bei ihnen zu wohnen, bis die Ferien vorüber waren. Mario schwankte, ob er überhaupt nach Hause zurückfahren sollte. In jeder Stunde bedeutete ihm Felix mehr und er konnte sich nicht vorstellen, sich einfach von ihm zu trennen.
Nach ewiger Zeit öffnete sich endlich die Tür zum OP. Der Arzt trocknete sich die Hände ab und sah in den Gang. Mario stand sofort vor ihm.
»Und, wie geht es ihm?« fragte er ungeduldig.
Der Arzt sah ihn nachdenklich an, während sich Bernd Heiser dazugesellte.
»Nun, wir haben einen Oberarmbruch und eine Platzwunde am Kopf behandelt, seine Nase ist gebrochen. Das allerdings kann nicht von dem Sturz herrühren… Aber das ist alles keine große Sache und in sechs Wochen ist das sicher wieder in Ordnung. Aber…«
Mario spürte, wie sich sein Hals zuzog.
»…zwei Nackenwirbel sind stark geprellt worden.«
Mario hatte es befürchtet, aber dauernd verdrängt. Obwohl er sich dagegen wehrte, sah er Felix im Rollstuhl vor sich.
»Jedoch, das kriegen wir hin. Die Nervenstränge sind soweit in Ordnung, er wird erst einmal absolut still liegen müssen. Wie lange, kann ich nicht sagen, aber in einer Woche, denke ich, sehen wir weiter.«
Trotz dieser wenig erfreulichen Prognose atmete Mario auf. »Kann er denn je wieder ganz normal…«
»Klar, es ist wie gesagt nicht dramatisch. Wir müssen das alles einfach abwarten.«
»Kann ich zu ihm?«
Der Arzt sah Mario intensiv an, dann wanderte sein Blick zu Felix’ Vater. Der nickte ganz leicht.
»Schön, aber nur ein paar Minuten, er schläft noch.«
Mario lächelte und bedankte sich.
Der Arzt trat neben Bernd Heiser. »Und, wie geht es dir sonst?« fragte er.
»Man kann es lassen. Aber, Oliver, wie geht es meinem Sohn wirklich?«
»So wie ich es sagte. Wir haben große Hoffnung, ehrlich. Er hat trotz Allem unwahrscheinliches Glück gehabt. Aber sag mal, wer ist der Junge, der jetzt zu ihm wollte?«
»Sein Freund Mario. Sprichwörtlich. Ich habe dir von Felix erzählt…«
Der Arzt packte Heiser freundschaftlich am Arm.
»Lass gut sein. Ich kann Felix jetzt niemand besseren wünschen, als einen Menschen, dem er vertraut und der ihm über diese Zeit hilft. Mario kann sooft kommen, wie er möchte, das kannst du ihm sagen.«
Heiser drückte den Arm. »Es ist schön, einen alten Schulkameraden und Freund um sich zu haben. Besonders jetzt.«
»Schon gut, das ist mein Job.«
Langsam öffnete Mario die Tür und sein Blick fiel auf das einzelne Bett. Felix lag da, die Augen geschlossen. Trotz des offenen Fensters war es sehr warm in dem Zimmer und Felix war nur mit einem dünnen Laken bedeckt.
Mario fuhr es durch sämtliche Eingeweide, als er den Schlauch sah, der in der Mitte des Bettes aus der Bettdecke heraus zu einer Flasche am Boden führte. Mario kannte das, sein Vater bekam auch einmal einen solchen Katheder, als er am Becken operiert wurde. Und er sagte damals, nichts war so schlimm wie dieser Schlauch durch seinen Penis.
Tränen rührten Mario, als er langsam auf seinen Freund zuging. Zum Glück keine Geräte, keine Apparate, die sein Leben erhalten mussten. Dennoch wurden seine Schritte immer kürzer, bis er am Bett angelangt war. Felix schien fest zu schlafen, um seinen Brustkorb lag wohl so eine Art Korsett. Überall im Gesicht hatte er Blutergüsse in allen Farben und um seine Nase war ein Verband. Daneben war sein Gesicht rot, verbrannt von der Sonne.
Langsam setzte sich Mario auf den Bettrand, ließ seinen Freund keinen Moment aus den Augen.
»Hallo Felix?« fragte er leise.
Er zeigte keine Regung. Mario wagte es zunächst nicht, ihn zu berühren, obwohl er sich nichts sehnlicher gewünscht hätte. Wie sehr er ihn entbehrte merkte er erst jetzt. Keinen Meter würde er hier weichen, bis Felix wieder auf den Beinen war.
Ganz langsam kamen all die Erinnerungen wieder hoch. Angefangen von ihrem ersten Blick auf der Party bis hin zum Feuerschein der Hütte. Rocky. Dabei dachte er noch, dieser Junge wäre vielleicht gar nicht so übel. Es mag eine Art Vorahnung gewesen sein, dass sie ihn nicht auf den See mitnahmen an jenem Abend. Was hätte alles passieren können?
Bleierne Müdigkeit machte sich in Mario breit. Die letzten Tage verlangten alles von ihm und er spürte, dass er kraftlos geworden war.
Ihm war danach, sich einfach neben seinen Freund zu legen, was natürlich nicht möglich war. Oder doch? Mehr als verbieten konnte man es ihm nicht.
Er zog seine Schuhe aus und vorsichtig rückte er an Felix heran, legte sich auf den schmalen Platz, der ihm neben Felix blieb. Er hob seine Beine hoch und rückte so eng es ging an seinen Freund heran, achtete aber darauf, den Arm in Gips nicht zu berühren. Zudecken musste er sich nicht und so blieb er einfach liegen und schloss die Augen.
Trotz der bekannten Gerüche, die in einem Krankenzimmer herrschen, schnappte er Felix’ Duft auf. Aufregend, aber an bestimmte Sachen dachte er nun nicht. Die Nähe zu seinem Freund, die war ihm jetzt wichtig.
Minuten später fielen ihm die Augen zu.
Bernd Heiser trat in das Zimmer. Er blieb unter der Tür stehen und sah die beiden dort auf dem Bett so liegen. Kurz darauf stand Doktor Mettmann hinter ihm.
»Die beiden scheinen ja wirklich ein Herz und eine Seele zu sein« flüsterte er.
»Ja, sind sie. Du glaubst nicht wie Mario um Felix’ Leben gekämpft hat. Er ging sozusagen regelrecht zwischen die Fronten. Es ist Liebe, dafür gibt’s kein anderes Wort.«
»Gut. Ich könnte mir nun denken, dass Mario sich hier nicht so einfach entfernen lässt..«
Mettmann grinste.
»Aber das muss er auch nicht. Dann lass ich ein zweites Bett hier reinstellen… Ich bin einfach der Meinung, Felix braucht jemanden um sich herum. Wird zwar ein Akt, aber ich krieg das hin.«
»Oliver… das würdest du… tun?«
»Klar. Es gibt da noch immer eine Rechnung zu begleichen..«
»Das ist nicht dein Ernst, oder? Dass du durch mich deine Beatrice kennengelernt hast – das willst du immer noch gut machen?«
Dr. Mettmann grinste erneut. »Doch, das will ich. Ich hab nie Gelegenheit dazu gehabt und jetzt ist sie da. Komm, lassen wir die beiden alleine.«
Mario wachte auf, spürte einen Schmerz in seiner Schulter und sah sich ungläubig um. Er lag auf dem Boden, direkt neben dem Bett; irgendwann musste er herausgefallen sein. Es war dunkel geworden, nur eine Laterne im Krankenhauspark leuchtete schwach in das Zimmer.
Er rappelte sich auf und knipste die Nachttischlampe an. Felix lag noch genauso da, wie in der ersten Minute.
»Felix, hörst du mich?«
Keine Reaktion. Er beugte sich zu seinem Freund und wollte ihm einen Kuss geben, aber der Verband um die Nase hielt ihn davon ab. Wahrscheinlich würde Felix das wehtun. Er streichelte stattdessen über seine Brust.
»Mario?«
Felix’ Stimme klang heiser, fast nicht hörbar.
»Hi mein Freund« strahlte Mario überglücklich und strich durch Felix’ wirres Haar. Eine Träne konnte er nicht verhindern.
Eine Hand packte die seine und drückte fest zu.
»Wo bin ich?«
»Im Krankenhaus. Aber keine Sorge, es ist nicht schlimm..«
Mario durfte jetzt nichts sagen, was Felix hätte aufregen können. Die Wahrheit hatte Zeit.
»Was… was ist passiert?«
Felix’ Augen waren noch immer geschlossen.
»Ruhe, Kleiner, Ruhe. Reg dich nicht auf. Hast du Schmerzen? Brauchst du was?«
Felix wollte wohl den Kopf schütteln, was in dem Korsett aber nicht möglich war.
»Mein Kopf… und ich hab Durst.«
»Warte, ich hol dir was…«
Mario war sich nicht sicher, was er machen sollte. Einfach Wasser geben? Und wenn das nicht gut war?
Er ging durch das Zimmer und hielt verdutzt inne, als er das zweite Bett stehen sah. Wo kam das plötzlich her? Ein zweiter Patient, schoss es ihm durch den Kopf. Im ersten Moment wurde er traurig, nicht mehr allein mit Felix sein zu können.
Er ging hinaus auf den Flur und blieb wie angewurzelt stehen, als er Bernd Heiser in einer Sitzecke in einem der Sessel sitzen sah. Tief und fest schien er zu schlafen.
Mario ging an ihm vorbei, in Richtung Schwesternzimmer. Die Gänge waren fast dunkel in der Nacht, nur die Notbeleuchtung ließ ihn den Weg dorthin finden.
Die Nachtschwester sah ihn kommen.
»Hallo junger Mann, kann ich helfen?«
»Ja, mein Freund… Felix Heiser, er hat Kopfschmerzen und Durst. Und ich weiß nicht, was er trinken darf.«
Die Schwester lächelte ihn lieb an.
»Ich bringe ihm Tee« sagte sie ohne Umschweife.
Wieso gab es kein Theater? Offenbar war ihr sein Aufenthalt bekannt.
Mario ging zurück und blieb noch einmal bei Heiser stehen. Wieso kam ihm der Gedanke, dass er hier seinen künftigen Schwiegervater liegen sah? Solche Gedanken waren doch abstrus. Oder eher nicht? Mario fühlte sich noch immer wie durch den Wolf gedreht und führte seine Gedanken darauf zurück.
Im Augenblick als er das Zimmer betrat, stand auch die Nachtschwester neben ihm.
»Hier, nimm. Aber kleine Schlückchen geben, ja? Und die Tablette hier.«
Mario nickte verdutzt, als ihm die Schwester die kleine Kanne Tee auf dem Tablett in die Hand drückte.
»Und er darf sich nicht bewegen, hörst du?«
»Ja, ich weiß…«
»Übrigens, das ist dein Bett. Felix sollte sich seins jetzt nicht mit jemanden teilen müssen. Er braucht Ruhe« sagte sie mit einem Lächeln.
Mario klappte die Kinnlade herunter. »Mein Bett?«
»Ja, sagte ich doch. Du darfst hier bei ihm bleiben, Doktor Mettmann hat das sogar angeordnet. Jetzt geh schlafen und gute Nacht.«
Schon stand er wieder alleine in dem Zimmer.
Die Worte der Schwester klingelten in seinen Ohren. Er durfte hier ins Zimmer, obwohl er gar nicht krank war? Irgendwie verstand er es nicht. Er ging zum Bett seines Freundes.
»Felix ?«
Sein Freund hatte die Augen geöffnet und ließ sie kreisen.
»Bleib ja ruhig liegen« mahnte Mario und fuhr ihm durch die Haare.
Vorsichtig legte er die Tablette auf die Zunge und hielt die Schnabeltasse mit dem Tee an seinen Mund.
»So, jetzt schön langsam. Du musst ruhig liegen…«
Felix saugte heftig an der Tasse, trank sie mit fast einem Zug leer.
»Warum?« fragte er dann erneut.
»Du erinnerst dich an gar nichts?«
»Nein, also, nicht direkt« flüsterte Felix.
»Das kommt wieder, braucht seine Zeit. Ich kann dir nur versichern, dass es nichts Schlimmes ist.«
»Und warum darf ich mich dann nicht bewegen?«
Mario holte tief Luft. »Du hast dich bei einem Sturz am Halswirbel verletzt. Aber keine Bange, das kriegen die wieder hin.«
»Wo bin ich gestürzt? Und warum?«
Mario versuchte zu lächeln, Felix kam ihm vor wie ein kleiner Junge. Sollte er es ihm jetzt sagen, was wirklich passiert war, oder würde es ihn zu sehr aufregen?
»Rocky? Kannst du dich erinnern?«
Felix schloss die Augen. »Ja, da war was…«
Plötzlich rollte ihm eine Träne die Wange herunter und Mario wischte sie sofort mit seinem Handrücken fort.
»Er ist tot, nicht wahr?«
Mario nickte. »Ja, aber er war selbst Schuld. Du musst dir nichts vorwerfen.«
Ohne auf weitere Fragen zu warten, schilderte Mario noch einmal die ganze Geschichte.
»Mario, wie schlimm steht es um mich? Sag mir bitte die Wahrheit.«
»Der Arzt meint, du musst eine Weile bleiben, aber du kommst hier raus – und wirst wieder gesund.«
»Ehrlich?«
»Versprochen. Und jetzt schlaf schön, es ist schon spät.«
»Und… du gehst jetzt?«
»Ja.«
»Wann kommst du wieder?«
»Gar nicht.«
»Was?«
»Ich geh nur in das Bett neben dir.«
Ein Lächeln zog sich über Felix’ Gesicht. Er suchte Marios Hand und drückte sie.
»Schön.«
Mario küsste ihn auf die Stirn.
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Er half Felix die folgenden Tage beim Essen und Trinken, beteiligte sich auch am Wechsel der Bettwäsche. Mario sorgte sich so um ihn, dass Dr. Mettmann auf einen Pfleger in dem Zimmer verzichten konnte.
»Er isst hier, schläft hier… Wer bezahlt das alles?« wollte Bernd Heiser wissen, als er an einem der Tage auf Dr. Mettmann stieß.
»Ich denke, das musst du nicht fragen und nicht wissen.«
»Aber…«
»Kein aber. Ich habe vor vielen Jahren ein Versprechen gegeben und es bis heute nicht einlösen können. Jetzt ist der Zeitpunkt da. Ich hab nie vergessen, wie du Beatrice damals auf der Abifeier gesagt hast, sie solle nach mir sehen, weil es mir so schlecht war. Ich hatte sie nie beachtet, bis zu dieser Minute. Es war Liebe auf den zweiten Blick und ohne dich hätte ich nie die liebste, schönste Frau und Mutter kennen gelernt.«
Heiser lächelte. »Dann sind wir jetzt quitt?«
»Naja, aber wer weiß, ob ich dich noch einmal brauche…«
Sie umarmten sich.
»Du bist der beste Freund, den ich habe.«
»Weiß ich, geht mir genauso. Auch nach so vielen Jahren..«
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Eine Woche später spürte Mario eine Wandlung in sich. Er wollte immer Bankkaufmann werden, um jeden Preis. Aber das, was er hier erlebte, änderte seine Meinung.
Er war auch oft auf den Gängen bei anderen Patienten, in anderen Zimmern, half wo es grade nötig war. Wenn Felix schlief ging er auch öfter in den Park und unterhielt sich mit den Leuten. Mit jungen und mit alten und es begann ihm Spaß zu machen. Er lernte die Organisation kennen, die hinter einem solchen Krankenhaus steckte. Was alles zusammenspielte und zusammenpassen musste. Doris und Klaus, zwei aus seiner Klasse, traten dieser Tage ihre Lehre in einem Krankenhaus in München an. Und sie schwärmten schon lange vorher, wie abwechslungsreich der Beruf sein würde. Mario hatte nur ein Kopfschütteln für sie übrig. Die Schicht, das wenige Geld, der Stress mit den Patienten. Aber so langsam begann er, sie zu verstehen.
»Nun, wie geht es dem Patienten?« fragte Dr. Mettmann, als die Visite den Raum betrat. Junge Ärzte, Studenten und Studentinnen im Schlepptau.
»Jeden Tag besser« antwortete Mario und kam Felix damit zuvor.
Mettmann trat an Felix’ Bett und sah sich das Krankenblatt an.
»So, junger Mann, jetzt steh mal langsam auf« sagte er.
Mario fuhr mit seinem Arm hinter Felix’ Rücken und half ihm, sich aufzusetzen.
»Tut das weh?« fragte Dr. Mettmann.
»Nein, eigentlich nicht.«
»Sehr schön. Das letzte Röntgenbild sieht gut aus. Ich denke, wir können das Korsett abnehmen.«
Er sprach zu einem der jungen Ärzte, worauf dieser nickte.
»Aber herumturnen ist natürlich noch nicht« grinste er.
Nachdem der Trupp das Zimmer verlassen hatte, setzte sich Mario auf Felix’ Bett.
»Siehst du, es wird alles wie es war.«
»Aber… du wirst doch dann gehen. Nach Hause, meine ich.«
»Lass mal, wir finden eine Lösung.«
Wenig später kam der junge Arzt mit zwei Helfern zurück und sie nahmen Felix’ Korsett ab.
»Aber keine Mätzchen. Alles schön langsam, okay? Mario, du musst jetzt das Zimmer verlassen. Wir müssen den Katheder entfernen.«
Da war es wieder, dieses Zusammenziehen sämtlicher Nerven in seinem Körper. Er wusste nicht, wie schmerzhaft das war, aber er ahnte es. Ein Blick zu Felix – und schnell ging er aus dem Zimmer, lief den Gang hinunter und traf auf erneut auf die Visite, die grade ein Zimmer verließ.
»Ah Mario. Nun, ich habe das Gefühl, du hast reichlich Talent mit Patienten umzugehen. Hättest du nicht Interesse, das zu deinem Beruf zu machen?« fragte Dr. Mettmann unvermittelt. Dabei sah er in die Runde seiner Begleiter.
Mario schluckte. Wenn der Doktor diese Frage stellte, dann war es mit Sicherheit möglich, hier zu bleiben. Zum Einen das zu lernen was ihm Freude machte, zum Anderen bei Felix bleiben zu können.
»Äh, nun ja, ich meine – warum nicht?«
Dr. Oliver Mettmann lächelte, fast nicht sichtbar. »Gut. Wir sollten wir uns mal darüber unterhalten. Morgen. Ich lasse dir Bescheid geben.«
Mario nickte verhalten. Er nahm sich vor, Felix vorläufig davon nichts zu sagen.
Er sah den Arzt und die Pfleger aus ihrem Zimmer kommen. Sie unterhielten sich über Fußball und lachten. Also konnte Felix nichts Großes passiert sein.
»Kannst wieder rein, es geht ihm gut« hörte er den Arzt sagen.
Felix lag in seinem Bett, irgendwie sah er gequält aus.
»Und, war’s schlimm?«
»Oh Mann, ich dachte, die reißen mir alles aus dem Unterleib. Aber es geht schon wieder.«
»Nana, alles rausreißen« lächelte Mario, »das geht doch nicht. Wird doch alles noch gebraucht..«
Er half Felix auf und obwohl verboten, rauchten sie eine Zigarette auf dem schmalen Balkon.
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Die kommende Nacht veränderte sein Leben, er grübelte über seine Zukunft. Das Bankgeschäft war sicher lukrativ, Geld brauchten die Leute immer. Aber brauchten die Patienten hier nicht auch Menschen wie ihn? Felix ging es besser, aber eben noch nicht gut und er fühlte sich für ihn verantwortlich. Sie küssten und berührten sich, zu mehr war eben noch nicht die Zeit. Aber es war einfach schön zu sehen, wie es jemand immer besser ging. Egal wer das nun war, er hatte das Gefühl, dieser Beruf würde ihn ausfüllen, mit allen Konsequenzen die es da noch gab. Vor zwei Tagen war im selben Stockwerk ein älterer Mann gestorben, aber auch das gehörte dazu. Er würde es schaffen; er wollte es.
Am anderen Morgen, Mario war gerade dabei, das Frühstück für sie zu holen, lief ihm Dr. Mettmann über den Weg.
»Und, hast du es dir überlegt?«
»Ja, eigentlich schon…«
»Gut, dann komm mal kurz mit.«
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Grade als sie mit dem Frühstück fertig waren, klopfte es.
Die beiden Freunde sahen sich an, dann rief Felix „herein“.
»So eine Überraschung« rief Mario.
Gerda und Hans traten lächelnd in das Zimmer.
»Na ihr beiden?« rief Gerda und kam mit einem riesigen Blumenstrauß ans Bett.
»Wie geht’s dir, Felix?«
Er grinste Mario an.
»Wie soll es mir schon gehen, bei dem Krankenpfleger?«.
»Wir wünschen euch beiden alles Gute. Ich hab nen Job auf dem Hof von Hans, mein Zimmer bei deiner Tante ist schon geräumt.«
»Du hast gekündigt?«
»Als sie mich wegen dem vertrauten DU angefahren hat stand fest, dass ich keinen Tag länger bleiben wollte. Als ihr alle von der Hütte im Torfmoor zurückgekommen seid, lag die Kündigung schon auf dem Tisch.«
»Und, was hat sie gesagt?« wollte Felix wissen.
»Zuerst hat sie mich nur mit ihrem Blick angegiftet. Aber eines musste ich ihr dann doch noch sagen…«
»Was denn?« hakte Mario nach.
»Frau Bruhns, ich bin schwanger.«
Mario und Felix sahen sich entgeistert an.
»Du bist was?« fragte Mario nach, als hätte er es nicht verstanden.
Gerda und Hans nahmen sich in die Arme und gaben sich einen Kuss.
»Ja, ist das nicht toll?« lachte Gerda.
»Dann aber mal Gratulation« rief Mario, stand auf und fiel den beiden um den Hals.
Sie gingen zu dritt ans Bett, damit ihnen auch Felix gratulieren konnte.
»So, nun macht’s gut, ihr beiden. Die Zukunft werdet ihr ja sicher meistern.«
Mario grinste, ohne dass es Felix mitbekam.
Als sie gegangen waren, setzte sich Mario zu Felix ans Bett. Er hatte diese Tage einen schweren inneren Kampf geführt und war sicher, ihn zu gewinnen. Doch jetzt, nach all diesen Veränderungen, spürte er, dass die Zeit gekommen war.
»Du, ich muss dir etwas sagen.«
Felix suchte Marios Hand und drückte sie, seine Augen richteten sich auf das Fenster.
»Nein, sag nichts. Ich weiß auch so, dass wir nicht mehr viel Zeit füreinander haben. Aber wir dürfen nicht nachlassen.«
»Nein, Felix, das meinte ich nicht.«
Jetzt sah ihn Felix mit großen Augen an.
»Was denn?«
Mario schluckte. Ob es richtig oder falsch war, das wurde zur Nebensache. Er musste es tun.
»Felix, ich möchte dass du es von mir erfährst, ich kann es nicht länger für mich behalten.«
Zart strich er über Felix’ Haare und küsste ihn auf die Schläfe.
»Was soll ich erfahren?«
»Ich mach es kurz: Wir sind Cousins.«
Felix starrte Mario an wie einen Ölgötzen.
»Wir sind was??«
Mario legte seinen Arm hinter Felix’ Kopf und begann zu erzählen. Keine Kleinigkeit ließ er aus, versuchte dabei gefasst zu bleiben, was ihm an manchen Stellen schwer fiel. Aber er beruhigte Felix auch gleichzeitig.
»Es bedeutet nichts für unsere Liebe, gar nichts. Und wenn du kannst, schweig darüber einfach.«
Felix blies hörbar die Luft aus seinen Lungen.
»Das ist ja n Ding. Diese Hexe ist meine Mutter?«
»Ja, so ist es wohl.«
»Das würde ja bedeuten, dass ich auch ihr Erbe bin.«
»Wenn es rauskommt ja, ansonsten wird sie es leugnen. So wie sie dich 18 Jahre lang verleugnet hat. Niemand kann es ihr nachweisen. Es sind alles nur Spekulationen, Indizien wenn du so willst. Keine Beweise. Nur dein Vater wär in der Lage, die Geschichte aufzudecken. Aber ob er das möchte…«
»Ich verzichte liebend gern auf das Erbe. Es würde mich ewig an sie erinnern und das will ich nicht.«
Mario beugte sich hinüber und küsste Felix zum ersten Mal seit Langem zärtlich auf den Mund.
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Am Tag, an dem Mario abreisen musste, wurde Felix aus dem Krankenhaus entlassen. Bernd Heiser holte sie mit dem Wagen ab.
»Na, ihr beiden Hübschen, jetzt wird es ernst« lächelte er in den Rückspiegel.
»Papa, ich hab noch Schonzeit« grummelte Felix.
»Und meine Lehre beginnt erst in einer Woche« legte Mario nach und nahm Felix in den Arm.
An diesem Abend saßen sie zusammen am Tisch. Bernd Heiser hatte gekocht und nicht mal schlecht, wie Mario befand. Und es war eine ganz besondere Atmosphäre in dem Raum. So ganz anders als bei Marios Tante, wo das strenge Reglement immer irgendwie in der Luft lag.
»Also abgemacht. Immer wenn ich an einem Freitag oder Montag frei machen kann, komme ich dich besuchen – und umgekehrt. Und im Urlaub sowieso« sagte Mario, nachdem sie gegessen und sich ins Wohnzimmer gesetzt hatten.
Felix nickte, wenn auch nicht sonderlich begeistert.
»Okay, irgendwann können wir ja sicher für ganz zusammenbleiben.«
Bernd Heiser verdeckte sein Gesicht mit den Händen, und Mario wusste, warum.
Sie tranken noch einige Gläser Sekt, was den Abschied etwas erleichterte.
Bernd Heiser schlug sich auf die Schenkel. »So, Mario, um deinen Nachtzug noch zu kriegen, sollten wir jetzt fahren.«
Schweigend brachten sie Marios Gepäck in den Wagen und fuhren los.
Arm in Arm saßen die beiden Jungen im Fond und hingen ihren Gedanken nach. Viel war passiert in diesen Ferien, aber es gab auch jede Menge Erfahrungen, die beide nicht missen mochten. Zu Teilen ja, aber sie hatten sich gefunden und das war wichtiger als alles andere.
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Der Zug fuhr ein, ein letzter Blick in die Augenpaare. Mario zog Felix zu sich und gab ihm, ungeachtet der anderen Mitreisenden, einen Kuss auf die Lippen.
»Ciao mein Freund. Und schone dich noch, damit du wieder ganz fit wirst.«
Felix stiegen die Tränen in die Augen.
»Ich muss nächste Woche noch mal für drei Tage in die Klinik, sie wollen ganz sicher gehen, dass alles in Ordnung kommt.«
»Ja, aber das geht vorbei.«
Mario zog einen dicken Filzstift aus seiner Tasche und nahm Felix’ Gipsarm in die Hand. Er malte ein Herz darauf und schrieb: „Es gibt nichts schöneres als dich zu lieben. Dein Mario“
Felix rannen nun endgültig die Tränen über die Wangen, Mario riss sich zusammen.
Mario stieg in den Zug, winkte noch ein Mal verhalten, dann schloss sich die Tür und der Zug fuhr in die Nacht.
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»Sieht sehr gut aus, Felix. Deine Knochen sind wieder in der Reihe, bis auf den Arm. Aber da gibt’s auch keine Probleme, dauert halt ein bisschen.«
Dr. Mettmann stand an Felix’ Bett, wie gewohnt umringt von jungen Ärzten und Studenten.
»Dann darf ich nach Hause?«
»Eine Nacht noch. Morgen sind auch alle Blutwerte da und wenn nichts auffällig ist, kannst du packen.«
Felix lehnte sich ins Bett zurück, sein Blick fiel hinaus in die grünen Bäume. Endlich wieder gesund, raus hier aus dem Gefängnis. Dabei war es ihm nie so vorgekommen, als Mario bei ihm war. Mario. Wie viele SMS und Emails hatten sie sich geschrieben in den paar Tagen? Er konnte es nicht zählen und die Zeit schien trotz allem dahinzuschleichen. Zum Glück hatte ihm Mario schnell eine CD mit den Fotos geschickt, die sie gemacht hatten – auch die unanständigen, aber sie gehörten dazu.
Nach dem Abendessen schaltete Felix den Fernseher ein, wobei ihn kein Programm so richtig ablenken konnte. Immer wieder dachte er an die Zeit zurück, die er mit Mario verbracht hatte. Auch Rocky gehörte dazu, was immer ihn auch zu dieser Handlung getrieben hatte.
Seine Augen wurden schwer, er schaltete das Gerät ab und vergrub sich in sein Kissen. Irgendwann, so redete er sich ein, würde die Sehnsucht nachlassen.
Zaghaft klopfte es an der Tür und Felix rief wie immer, wenn die Nachtschwester kam, „Herein“.
Er hob seinen Kopf nicht, er war nur noch müde.
»Na, junger Mann, alles in Ordnung?«
Felix reagierte zunächst nicht, wunderte sich im ersten Augenblick nur, dass es eine männliche Stimme war.
Die Person trat an sein Bett, setzte sich frech auf die Kante und fuhr ihm durch die Haare. Felix öffnete die Augen, etwas stimmte plötzlich nicht.
Erschrocken fuhr er hoch und seine Augen weiteten sich.
»Mario?«
»Hallo Hase.«
»Was für ein schöner und dummer Traum« flüsterte Felix.
»Nein, mein Freund, kein Traum. Und dumm schon gar nicht.«
Hastig schaltete Felix seine Lampe über dem Bett an.
»Mein Gott… Wo kommst du denn her? Und dann diese weißen Klamotten..«
»Von zu Hause.«
»Aber… aber ich verstehe nicht…«
Mario nahm Felix’ Kopf in seine Hände.
»Musst du nicht, noch nicht. Sicher ist – ich bin hier und ich bleibe hier.«
Felix richtete sich auf, sah Mario immer noch ungläubig in die Augen.
»Ich werde Krankenpfleger. Nichts mit Bank und Kohle. Und ich bin bei dir…«
Felix begriff noch immer nicht, versuchte all das auf einen Nenner zu bringen.
»Und… du… ich glaubs nicht.«
»Doch, tu es ruhig. Dein Vater meinte, ich kann bei euch wohnen. bis ich 18 bin. Dr. Mettmann hat das alles für mich organisiert.«
»Mario..«
Erst jetzt begriff Felix den Umfang dieses Ereignisses und legte seinen Arm um Marios Körper, drückte seinen Kopf auf seine Brust.
»Du hast das alles schon viel eher gewusst… und mir nichts gesagt.«
»Ich hoffe, diese Überraschung ist mir gelungen« grinste Mario.
»Ist sie, Himmel ja, das ist sie.«
Er zog Mario zu sich und sie versanken in einem unendlich langen und innigen Kuss.

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