Margie 02 – Höllenfeuer

Rasch suchte ich meine Siebensachen zusammen. Mit dem Rad würde ich etwa zwanzig Minuten brauchen, vielleicht ein paar mehr bei der Hitze.
Gerade als ich zur Tür rauswollte, schepperte mein Handy. Hastig zog ich es aus der Tasche.

„Alex“. Die schon wieder.

„Wir fahren jetzt zum Leinesee, wenn du kommen willst… Gruß Wir.“

Leinesee. Lag nicht sehr weit und das Baden und Campen war dort verboten. Aber das scherte uns seit Jahren nicht, noch nie war der Besitzer da aufgetaucht. Allerdings war das Angebot, dahin zu kommen, verlockend.
Ich zögerte. Zum einen, vielleicht war Angelo ja ein Langschläfer, hatte die ganze Nacht da unten gehockt in seinem Keller und geübt, zum anderen, er hätte sich ja auch melden können. Würde es nicht reichen, ihn vom See aus mal anzurufen?
Ich kehrte um und packte meine Badesachen. Es war so Heiß dass alles andere wirklich viel zu anstrengend gewesen wäre.

Nach einer Viertelstunde war ich da. Wir hatten einen Stammplatz am Ufer des Sees, unter einer riesigen Silberpappel, nur einen Katzensprung bis zu der kaputten Stelle im Zaun. Der war zwar eh schon an allen Ecken und Enden verrostet, aber das war das gefährliche an dem.
Vor zwei Jahren hatte sich einer aus dem Dorf an dem Zaun verletzt und ne bitterböse Blutvergiftung eingehandelt. Das wollten wir uns natürlich nicht antun und benutzten immer diese eine Stelle. Zwar musste man die Räder draußen lassen, aber man konnte sie von unserem Platz aus gut kontrollieren.
Da lagen sie auch schon. Jochen und Viola, Felix und Iris, Alex war scheinbar solo heute. Im Übrigen störte es mich nicht wenn die Weiber mit dabei waren. Im Großen und Ganzen kam ich mit denen klar, das waren nämlich Dorfmädels und keine Diskohühner.
Kurze Begrüßung und erst mal ab, ins Wasser. Das war hier wunderbar klar und kühl, fiel am Ufer allerdings sofort steil ab und war so für Kids unbrauchbar. Das wussten alle Eltern im Umkreis und von daher – einzigartige Stille.
Ein paar Angler saßen weitab an der rechten Seite und auf der linken, ziemlich weit an den Büschen dort, schienen ein paar ausgeflippte Typen Party zu feiern. Aber wirklich stören tat das nicht wenn ich an das Getümmel im Freibad dachte.
Nachdem ich mich mit den anderen richtig ausgetobt hatte legte ich mich in den Schatten der Pappel.

»Was ist denn mit dir los? Ne Laus über die Leber gelaufen?«

Felix setzte sich neben mich und sein Blick war echt besorgt. Wir kannten uns halt eben, so gut wie nie konnte einer von uns dem anderen seine Sorgen verheimlichen. Aber jene Sorgen waren alle ganz anderen Art wie die, die mich an diesem Tage plagten. Und über die konnte ich mit denen schließlich nicht gut reden.
Zwar hatte ich immer schon mal den Ansatz gemacht, mir fest vorgenommen mich bei ihnen zu outen, aber jedes Mal zog ich dieses Vorhaben wieder zurück. Diese Freundschaften waren mir einfach viel zu wichtig.
Bis zu diesem Tag. Eigentlich musste ich erst dort zugeben, dass ich geflüchtet war. Von wegen Verantwortung – gedrückt hatte ich mich vor ihr, wie schon so oft. „Du verpisst dich immer wenn’s eng wird, das muss dir ja keiner sagen.“

Nein, das musste man wirklich nicht. Verdammt, wieso lag ich hier und nicht bei Angelo? Gut, stehen wäre auch nicht schlecht.

„Bleib ernst.“

Okay, was sollte ich machen? Mich in meiner Verzweiflung bei meinen besten Freunden outen?

„Har. Jetzt könntest du mal sehen ob es wirklich deine besten Freunde sind.“

Ich schluckte, wollte diese blöde Stimme ignorieren, aber das bohrte in meinem Kopf.

„Wenn das mit dir und Angelo was wird, wie willst du’s denen dann erklären? Sollte es nicht die ganze Welt wissen, wenn du mit ihm um die selbige ziehst?“

Diese vermaledeite Stimme merkte sich auch alles.

„Dummschwätzer. Wer sagt denn, dass es soweit kommt?“

Auch wahr. Aber dabei es war doch so einfach: Es MUSSTE wahr werden.
Ich setzte mich auf und blinzelte Felix gegen Sonne an. Mein Herz klopfte plötzlich drauflos. Nie, niemals wollte ich es soweit kommen lassen, aber ich hatte fast keine andere Wahl. Besser sie erfuhren es von mir als von fremden Leuten.
Sekundenlang dachte ich an unsere Zeiten zurück. An all diese Erlebnisse, die ganze Bücher füllen würden. Nun gut, vorbei, ade Jugend, war schön mit dir. Jetzt kommen andere Dinge. Es war das erste Mal, wo ich so dachte.
War das jetzt wirklich vorbei? Ganz klar, das war es. Ich hatte plötzlich Angst. Alex, Jo, Felix.. wir wollten niemals erwachsen werden. Das Wort Alt benutzten wir gar nicht. Es gab keine Zukunft in unseren Gesprächen, höchstens ein Morgen.
Und jetzt? Gut, wenn ich mir die Mädchen ansah, wie sie da drüben auf ihren Badetüchern saßen und in der Bravo blätterten, als sie zu uns kamen war das ja auch schon ein riesiger Schritt in das Erwachsenwerden.
Aber ich, ich war da nicht mitgegangen. Wollte das gar nicht. Später dachte ich ein paar Mal daran wie es wäre, wenn ich heiraten würde. Einen Mann versteht sich. Absurd zunächst. Aber da, am Baggersee, da war das auf einmal nicht mehr so furchtbar Abwegig.

»Willst nicht sagen was los ist?«, drängelte Felix weiter.

Ich stand auf. Felix ist ein bisschen kleiner als ich, hat dichte, dunkelbraune Haare und na ja, eigentlich ganz passabel. Nur, anfangen konnte ich damit nichts. Da fehlte das gewisse Etwas. Dennoch war Felix jener, dem ich irgendwie am nächsten stand.
Egal, ich stand also vor ihm und grübelte, wie es am schnellsten und schmerzlosesten hinter mich bringen konnte. Beides schien mir dann unmöglich. Es würde eben nicht schnell gehen und schmerzlos schon mal gar nicht. Sicher war ich mir nur, dass ich mich bei ihnen zu Hause nicht mehr blicken lassen konnte.
Die würden das Feuer schüren und nur darauf warten bis sie mich persönlich ins Fegefeuer schicken könnten. Schade eigentlich, ich hatte die Familien eigentlich ganz gern gehabt.

»Felix, ja, du hast recht, ich hab ein Problem.«

Er sah mich nur mit leicht geneigtem Kopf an. Logischerweise müssen, laut unserer Präambel, Hühner die gackern, auch legen.

»Ich weiß nur nicht wie ich’s euch sagen soll. Es ist… diesmal wirklich nicht einfach.«

»Na und? Was soll das heißen? Musst du sterben? Oder ziehst auf den Mond?«

Das meinte der auch noch genau so wie er es sagte, ich kannte ihn. Mann, mir tat das vielmehr weh als denen, da war ich sehr sicher. Aber um Angelos Willen musste ich es tun, es war fast meine verdammte Pflicht. Bisher hatte meine Geheimhaltung niemand geschadet, ich hatte ja nur nichts gesagt und demnach auch nicht gelogen.
Nur, ich musste von ganz unten kommen. Keine Türen einrennen. „Ich bin schwul“ war der sicherlich doofste Spruch an der Stelle. Mag woanders hinhauen, mir käme das vor wie mit dem Vorschlaghammer auf die Eier.

»Es ist.. na ja, euch ist sicher schon aufgefallen dass ich.. keine Freundin hab.«

Das fand ich dann schon mal ganz gut, als Einstieg mein ich. Und es klappte, das sah ich Felix ganz deutlich an. Ratter, ratter, ratter. Tausend Rädchen hatte ich in Bewegung gebracht und ich konnte sie fast hören.
Er kniff ein Auge etwas weiter zu und legte den Kopf schief. Ich hörte wie der Groschen fiel. Jetzt würde sich Felix sein Kommentar dazu erst mal zurechtbasteln. Auch etwas, das ich gut an ihm kannte. Schade, Jammerschade wenn ich das nicht weiterhin erleben dürfte.
Also, wieso müssen wir uns eigentlich outen? Heten tun das doch auch nicht.

„Tschuldige, aber ich bin leider ein Hetero.. das tut mir so schrecklich leid und blabla.“ So ein Schwachsinn.
„Bleib bei der Sache.“ Ach meine Güte, mein böses Stimmchen wieder. Lauschte permanent, ob’s nicht was gab, wo es dazwischenfunken konnte.

„Tu ich ja.“

Ich drehte den Spieß um. »Und, was sagt dir dein helles Köpfchen dazu?«

Er blinzelte mich jetzt an, seine Mundwinkel zuckten als wenn sie nicht wüssten, ob sie sich nach oben oder unten bewegen sollten. »Hm. Also, wenn ich’s jetzt nicht besser wüsste.. aber wer sagt eigentlich, dass ich’s besser weiß?«

»Eben. Wer sagt das schon?«

Mit solchen Wortspielchen vertrieben wir uns manche langweilige Stunde, ich fand sie immer noch süß.

»Also gut. Ich komme im Augenblick auf keine vernünftige Antwort..«
»Und was wäre die Unvernünftige?«

Er kam mit seinem Kopf ganz nah an meinen. »Ein Kerl?«, flüsterte er, und das klang sehr, sehr neugierig.

Noch war nichts gesagt, das lag jetzt allein an mir, aber mir fiel ein Stein vom Herzen. Noch konnte ich die Folgen nicht absehen, aber ich konnte nicht mehr zurück. Ich nickte nur einmal, ganz kurz.

Sein Abstand verringerte sich nicht und er reagierte auch sonst in keinster Weise. Er hauchte nur: »Echt?«

Ich nickte wieder.

»Ist ja n Hammer«, folgte flüsternd und höchst geheimnisvoll. Er blieb immer noch genauso stehen, als hätte ich ihm eben die Höchsttemperatur des Tages verkündet. Jetzt kam er noch ein Stückchen näher, also Tuchfühlung. »Wer ist es denn?«

»Kennt ihr nicht.«

Endlich rückte er ein bisschen ab. »Schad.«

»Aber das kann ja noch kommen, ich mein, wenn ihr mich nicht teert und federt und da innen See reinschmeißt..«

Felix grinste und das tat meiner Seele unheimlich gut. Ich durfte annehmen, dass Jo und Alex ähnlich reagierten. Was mit den Weibern passieren würde war mir schnurz, von denen hatte ich eh nichts. Nur zog ich jetzt den Rückzug vor. »Sagst du es den anderen, bitte? Ich hab jetzt nicht den Nerv..«

Felix blinzelte. »Lass mich mal machen. Willst zu deinem Goldstück, stimmt’s?«

Ich nickte und hatte das erste Mal in meinem Leben das Bedürfnis, Felix einen Kuss zu geben. Er würde das mit den anderen regeln und dann war abzuwarten was kommt.
Eilig packte ich meine Sachen und ehe die anderen fragen konnten was los war, saß ich schon auf dem Rad. Ich musste zu Angelo.

Kaum war ich auf den Feldweg abgebogen, auf dem ich am schnellsten zu ihm gelangen konnte, gab es ein Geräusch das ich sehr gut kenne. Ich hörte es nicht allzu oft in meinem Leben, aber wenn, dann war es meist schon zu spät. Es knirschte, ich spürte wie meine Füße so quasi ins Leere traten und kling, krach, schepper.
Ein paar hastige Lenkerbewegungen noch, dann stand ich. Ich starrte geradeaus, zunächst wollte ich es nämlich gar nicht glauben. Aber es war unumstößliche Tatsache und jede in dieser Sekunde ablaufende Suche einer Lösung verlief. Wie Eis in der Sonne. Und die verfluchte ich als erstes, denn ich ahnte was mir bevorstand.
Langsam stieg ich von meinem Drahtesel und klappte den Ständer raus. Jetzt war Zeit genug, sich das Elend anzusehen. „Das hast du in deinem Urlaub reparieren wollen. Selber Schuld.“
Da hing die Kette, noch so halb um die Nabe vom Hinterrad gewickelt. Fast wie ihm Hohn schien mich das eine und das andere Ende der gerissenen Kette anzugrinsen. Werkzeug hatte ich natürlich keins dabei, wäre auch Zwecklos gewesen.
„Verdammte Scheiße.“ Ich sah mich um. Kilometerweit nichts als Felder, blauer Himmel und mein einziger Begleiter war die Sonne. Die würde mich aber eher umbringen.. Nichts zu trinken dabei und ich waren auf halber Strecke zwischen Angelo und dem Baggersee. Es war also völlig egal. Geschätzte Zeit für die Strecke:
Ein einhalb bis zwei Stunden. Ich würde nicht umkommen dabei, aber.. Nun hieß es eben schieben, eine andere Wahl hatte ich nicht.
Meine Idee, Angelo anzurufen war ja nicht schlecht, aber noch immer ertönte das Freizeichen. Zu meiner Wut und dem Zorn kam die Sorge.
Was zum Teufel war mit ihm los? Vorsichtshalber schickte ich ihm noch eine SMS, falls er doch irgendwann ans Handy ging und dann marschierte ich los. Es ist grauenvoll wenn man so weit gucken kann. Irgendwie hat man ständig den Eindruck, auf der Stelle zu treten. Ich unterließ es dann auch, mir irgendwelche markanten Punkte zu merken um zu sehen, wie weit ich kam.
Es dauerte auch nicht lange bis Hemd und Hose an mir klebten wie Fliegenleim und die Zunge am Gaumen hängen blieb. Ich hatte noch nie in meinem Leben so oft geflucht wie an diesem Tag.
Natürlich musste ein Schuldiger für dieses Dilemma her. Zuerst waren es die Jungs am See, warum waren die nicht zu Hause geblieben. Dann war’s die Hitze, die seit Tagen wie ein Höllenfeuer über der Landschaft brütete und natürlich auch Angelo, der sich ja mal hätte melden können.
Erst zum Schluss musste ich zugeben, dass niemand eine Schuld hatte, höchstens ich selbst. Hätte die marode Kette ja längst auswechseln können.
Wie befürchtet zog sich die Strecke unendlich dahin. Längst war ich pitschnass und folglich geriet ich in leichte Panik. Konnte ich so bei Angelo auftauchen? Egal, mir wann dann wirklich alles egal. Denn nach Hause hätte ich noch länger zu laufen gehabt.

Die Hitze erzeugte über einigen Äckern flimmernde Luft und ich dachte mir kurz das Grüne um mich weg. Viel schlimmer konnte es in der Wüste auch nicht sein. Fata Morgana.. war das eine oder kam ganz verschwommen das Gehöft in Sichtweite? Sicher war ich mir erst mal nicht, aber dann, wieder unendliche Zeiten später wurde es deutlich.
Ich hatte eh schon dauernd Pausen gemacht, aber nun ließ ich das Rad einfach fallen und setzte mich ins Gras am Feldrand. Das würde ich auch noch schaffen. Mein Blick auf die Uhr, es war mittlerweile Spätnachmittag geworden. Zwar knallte die Sonne immer noch, aber das Gröbste schien ich hinter mir zu haben.

Letzte Etappe – ich wollte nun keine Pausen mehr machen. Noch zehn, höchstens fünfzehn Minuten, dann war ich da. Mit jedem Meter, den ich Angelos Zuhause näher kam, wurde es deutlicher: Irgendwas war dort Zugange, ich konnte es nur nicht erkennen. Erstens flimmerte die Luft immer noch und dann rann mir ständig der Schweiß von der Stirn in die Augen. Was war da bloß los?

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