Teufel – Teil 1

Nur mit Mühe schaffte ich es, die vielen kleinen, grell blitzenden Sterne wegzublinzeln, die vor meinen Augen tanzten und mir nahezu jede Sicht nahmen. Benommen, mit einem dumpf pochenden Gefühl im Kopf registrierte ich, dass ich auf dem Boden inmitten einer nassen Lache lag. Langsam, während mein Magen vor stechenden Schmerzen rebellierte, versuchte ich mich aufzurichten und stützte meine Unterarme auf dem Laminat ab. Dabei schnitten mir spitze Scherben, die wie bösartige Dornen einer Rose überall verstreut waren, ins Fleisch. An Stacheldraht erinnernd wurde es durch die Bewegung tief aufgerissen und ließ mich spüren, wie warmes Blut auf meiner kalten Haut hinab rann. Trotz der peinigenden Impulse, die durch meine Arme in mein eh schon stark überreiztes Gehirn gesandt wurden, sog ich jede auch noch so kleine Empfindung gleich einem ausgetrockneten Schwamm in mir auf. War dies doch ein Beweis dafür, dass ich noch lebte.

Hallo Ihr Lieben! Bevor Ihr anfangt zu lesen wollte ich mich nur fix bei meinen Korrekturlesern bedanken. Ich weiß ihr hattet (und hab noch immer) es nicht leicht mit mir. Einer meinte wirklich, man sollte den Dativ vor mir retten… Was ist ein Dativ??? 😉 Bei der ersten Szene haben zwei Freunde von mir mitgewirkt, also nicht wundern, wenn es etwas düster anfängt. Es wird noch freundlicher (vielleicht *murharhar*) Aber seht selbst. 😉 Über Feedback freu ich mich natürlich immer gern, egal welcher Art. Dazu hier meine Mail-Addi: hyen@hyen.de
Und nun viel Spaß beim Lesen.
LG hyen

Wie ein Element aus einer anderen Dimension lief ein einzelner, rubinroter Tropfen an meiner Stirn entlang und fiel vor meinen Augen Richtung Boden. Als würde die Zeit sich weigern normal zu laufen, verfolgte ich seinen Weg, wie er um ein vielfaches langsamer auf dem Laminat aufschlug. Ebenso der Lautstärke eines Kometen, der auf die Erde prallt, explodierte dies in meinen Ohren. Dann brach rasend schnell die Zeit über mich herein.

Ich begann am ganzen Körper zu zittern, hob meinen Kopf und blickte in vor Schrecken geweitete Augen. Weniger als einen Meter vor mir lag eine kleine starre Gestalt, an Händen und Füßen gefesselt. Dessen Oberkörper war frei, sodass ich seine frisch geschundene, mit blutigen Striemen übersäte Haut sehen konnte. Mit aufglimmender, verzweifelter Wut biss ich die Zähne fest aufeinander und stemmte meine Hände auf den Boden, ungeachtet der gläsernen Dornen, die dämonisch im Licht glitzerten. Unter meinen Fingern knirschte es geräuschvoll und schickte mir gleich eines Sturmschlages erneut eine Welle von Schmerzen durch meinen Leib. Ich verfolgte innerlich die Pein, wie sie sich brennend heiß wie kaltes Eisen durch meine Nervenbahnen wand, und jede Pore meines Körpers durchdrang. Dadurch nur noch mehr angestachelt, stand ich blind vor Hass auf.

Doch in der Sekunde, in der ich mich mehr schlecht als recht aufrecht befand, wurde ich mit voller Gewalt an der Schulter herum gerissen und am Hals gepackt. Verzweifelt versuchte ich mit beiden Händen den Schraubstock um meiner Kehle zu lockern, wenn nicht gar zu lösen. Gurgelnd nach Luft bettelnd blickte ich verängstigt in die dunkel funkelnden Augen meines Gegenübers, jemand, dem ich einmal sehr vertraut hatte und auch glaubte zu mögen. Jetzt war sein ehemals so schönes Gesicht zu einer mordlustigen, hässlich grinsenden Grimasse verzogen.

Einst hatte ich jede Sekunde genossen, die ich dort hineinschauen durfte. Ich glaubte durch diese Blicke Kraft und Mut zu gewinnen um alles zu schaffen, was immer ich mir auch vornahm. Selbst als sich meine Gefühle dieser Person gegenüber veränderten und ich ihm dies offenbarte, blieb er an meiner Seite und gab mir noch viel mehr als vorher das Gefühl, jederzeit willkommen zu sein. Doch nun stahl er mir mit einer unerwarteten Kraft den Atem. Seine Finger schlossen sich unerbittlich um meinen Hals und ließen der Lebensspendenden Luft nicht den Hauch einer Chance, meine inzwischen dumpf pochenden Lungen zu erreichen. Kaum zu glauben, dass die selbigen mir noch vor wenigen Minuten liebevoll über die Wange gestreichelt hatten.

Ich verlor den Halt unter den Füßen. Kraftlos und ihrer Energie beraubt sanken meine Arme nieder. Zu schwach mich auch nur eine Sekunde länger wehren zu können, schloss ich resigniert meine Augen. Das Geräusch meines Widersachers, der seinen Atem stoßweise aus sich hinaus presste, schien mir von Sekunde zu Sekunde aus immer weiterer Entfernung zu kommen. Ich haderte nicht weiter mit meinem Schicksal, denn wenn es nicht anders sein sollte, musste ich es wohl akzeptieren. Mein bestmöglichstes hatte ich dagegen getan. Bilder tauchten blitzartig vor mir auf und verschwanden genauso schnell, wie sie gekommen waren. Die kurze Zeit, dich ich hier verbringen durfte, war nervenaufreibend, aufregend und schön zugleich. In dem Bruchteil einer Sekunde sah ich den Weg an mir vorbei rauschen, der mich her geführt hatte und die Ereignisse, die geschehen waren, als ich ihm folgte.

***

Es war so gegen dreiundzwanzig Uhr, als ich die Klingel betätigte und darauf wartete, dass meine Mutter mir die Wohnungstür öffnete. Warum ich nicht einfach meinen Schlüssel benutzte? Na weil die beiden Herren in Grün neben mir damit ein Problem gehabt hätten.

Nach einigen Minuten des Wartens und erneutem Betätigen der Klingel erschien eine total verschlafene Frau – wieder mal leider nur in ein knappes Nachthemd gehüllt – in der Tür.

„Tomas, weißt du eigentlich wie spät es ist? Außerdem gibt es doch einen Schlüssel, oder hast du deinen verloren?“, murmelte meine Mutter im Halbschlaf. Ihr Blick wanderte langsam nach oben und sie wurde von Sekunde zu Sekunde wacher als sie sah, wen ich im Schlepptau hatte.

„Frau Schneider?“, wandte sich einer der Herren an meine Mutter.

„Ja?“

„Schönen guten Abend. Ich bin Kriminalobermeister Richter und das ist Kriminalmeister Winter.“, stellte er seinen Kollegen und sich vor und beide Männer zeigten ihre Ausweise. „Entschuldigen Sie die späte Störung, aber es geht um Ihren Sohn. Dürfen wir kurz reinkommen?“

Noch bevor ich oder die Polizisten erklären konnten, worum es überhaupt ging, schlug meine Mutter zu. Im Gegensatz zu mir war sie von kräftig gebauter Natur, weswegen meine Wange dank der unerwartet heftigen Ohrfeige tierisch anfing zu brennen.

„Frau Schneider ich bitte sie. So schlimm ist das Ganze nun auch wieder nicht.“, versuchte einer der Polizisten meine Mutter zu beruhigen, während beide ihr in die Wohnung folgten.

„Natürlich ist das schlimm! Schließlich ist das nicht das erste Mal! Erst vor kurzem hat er sich mit ein paar Klassenkameraden dermaßen geprügelt, dass einer von ihnen ins Krankenhaus musste. Und wie oft sie ihn schon nach hause brachten, weil er unbefugt auf Baustellen oder anderen Häusern herum geklettert war, getrau ich mir gar nicht nachzuzählen.“, schluchzte sie los.

Gott, wie ich dieses scheinheilige Rumgeheul von ihr hasste. Die Nummer von der armen, Not leidenden Mutter zog sie doch nur ab, um ein Stück Mitleid zu erhaschen. Eigentlich interessierte sie sich überhaupt nicht für das, was ich machte bzw. warum ich das tat. Aus welchem Grund hatte ich mich denn mit den Typen aus meiner Schule geprügelt?

Ich war ein Außenseiter, da ich es hasste mit der Menge mit zuschwimmen. Während die anderen Baggys anzogen, sich ihre Haare verfilzen ließen und nur noch Graffiti im Kopf hatten, oder wieder andere versuchten, den Backstreet Boys Konkurrenz zu machen, färbte ich meine etwas längeren Haare schwarz, rasierte die Seiten ab und ließ die oberen, übrigen Haare zur Seite herabfallen, sodass sie mir bis zu den Ohrenspitzen reichten. Halt sowas wie ein Pilzschnitt, nur ohne Pony und dass die unteren Haare eben wegrasiert waren. Rangers, schwarze Armeehosen und meist locker sitzende, schwarze T-Shirts komplettierten mein Aussehen.

So dunkel wie mein Klamottengeschmack war auch meine Musik. Ich hörte lieber Schandmaul, Wumpscut, Atreyu und alles, was so in die Crossover-, Metal-, Rock- und Darkwaverichtung ging. Nicht wie meine Klassenkameraden, die sich solchen Blödsinn wie Eminem, Britney Spears oder 50 Cent rein zogen. Lieber blieb ich bei ehrlicher Musik, die mein Innerstes für die Dauer eines Liedes heraus kehren konnte. Was mich vielleicht auch noch zum Unikat machte war, dass sich meine Nase ständig in irgendeinem Buch befand. Alles was mit den Genres Fantasy und Horror zu tun hat – insbesondere Vampirstories – verschlang ich geradezu. Tja, Bücherwürmer waren bisher noch nie beliebt. Zu meinem ‚Leidwesen‘ hatte ich noch relativ gute Noten. Das Abi fiel mir recht leicht, keine Ahnung wieso. Ich saß nicht den ganzen Tag zu Hause und lernte oder kroch den Lehrern in den Allerwertesten. Es war halt so.

Hm, wo war ich stehen geblieben? Ha ja, die Schlägerei.

An dem besagten Tag bekamen wir unsere Hausarbeiten wieder. Unser Chemielehrer betonte dabei, dass meine Arbeit die absolut beste gewesen sei und dass sich andere Schüler (dabei blickte er zwei, drei Leute ganz intensiv an, damit sie ja auch genau wussten, dass sie gemeint waren) eine Scheibe von mir abschneiden könnten. In solchen Momenten frage ich mich immer, ob die Lehrer wirklich nicht wussten, was sie einem Schüler mit so nem Spruch antaten, oder ob sie das Gerangel ihrer ‚Schützlinge’ um Anerkennung und Macht antörnte.

Wie ihr sicher gerade mitbekommen habt, hörte ich das nicht zum ersten Mal. Sollte mich das stolz machen? Weniger. Da ich dadurch nur den ‚Zorn’ meiner Mitschüler auf mich zog.

Es war gerade Schulschluss, als ich nur fix die Toilette aufsuchen und mich dann schnellstmöglich aus diesem Gebäude entfernen wollte. Mir war bis dato nur bekannt, dass Mädchen unbedingt zusammen aufs Klo gehen mussten, aber dort hatten sich fünf Jungs versammelt. Sie standen vor den Becken und alberten herum. Zwei von ihnen hatten eine Kippe im Mundwinkel hängen. Ich musste natürlich wieder mal so viel ‚Glück’ haben, dass drei von denen aus meinem Chemie-Kurs waren. Zum wieder hinausgehen war es allerdings zu spät.

Kaum dass sie mich entdeckt hatten, wurde ich von zwei der Deppen ohne lange Vorreden gepackt, während der Dritte mir seine Fäuste ins Gesicht und in den Magen schlug. Übelkeit und Wut stieg in mir auf. Aber erst als mir einer der Typen seine Zigarette entgegenschnipste und diese zischend an meinem Hals, kurz unter dem Ohrläppchen landete, fing ich an auszuticken.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass ich seit meinem achten Lebensjahr in einem Sportverein Selbstverteidigung trainierte. An dem Tag in der Schule war ich siebzehn. Warum ich mich nicht eher wehrte? Weil ich ein friedliebender Mensch bin und es wirklich einiges braucht, bis ich abdrehe. Wieso sollte ich außerdem gleich jedem zeigen, wer ich bin und was ich kann?!

Das Ende vom Lied an diesem Tag war, dass alle fünf Jungs stöhnend auf dem Boden lagen. Hier ne geprellte Rippe, dort ein wunderschönes Veilchen. Nur einer von ihnen gab komische Geräusche von sich, als wenn er keine Luft mehr bekommen würde. Woher sollte ich auch damals wissen, dass der Junge Asthmatiker war, soviel wie der ständig qualmte.

‚Nett‘ wie ich war, lief ich zum nächsten Lehrer, der wiederum den Notarzt rief. Die Idioten waren sich natürlich einig, dass ich sie provoziert und angegriffen hatte. Fünf Stimmen gegen eine… Und da wir schließlich in einer Demokratie leben, hatte die Mehrheit immer Recht. Die Schule legte meiner Mutter nahe, dass ein anderes Gymnasium für mich günstiger wäre und der Asthmatiker erhob Anklage. Ich bekam Sozialstunden aufgebrummt, die ich demnächst noch abarbeiten musste. Von der Schule wurde ich freigestellt.

Meine Mutter fragte wie immer gar nicht erst, wie das Ganze zu Stande gekommen war, sondern verpasste mir gleich eine Tracht Prügel. Mich gegen sie wehren? Das ist meine Mutter! Solange sie keine gefährlichen Gegenstände in die Hand nahm, würde ich mich auch nicht rühren. Ich hasste sie zwar die meiste Zeit über wegen dem, was sie tat, aber sie blieb trotzdem meine Mutter und ich liebte sie, auch wenn sich das für euch jetzt total bescheuert anhört.

Das zu dem Thema Schlägerei. Was hatte es nun mit den Baustellen oder Häusern auf sich, wo ich mich des Nachts aufhielt? Wo sonst, verdammt noch mal, hatte ich meine Ruhe? Ich lebte in einer Stadt, da sind noch nicht mal die Friedhöfe abends erholsam still. Außerdem hat man auf den größeren Häusern einen absolut geilen Ausblick. Ich liebte es einfach, mit einem guten Buch und meinem mp3-Player voller Musik an so einem Ort des Friedens zu sitzen und mir den Wind um die Nase wehen zu lassen.

Zu Hause konnte ich sowas nicht. Meine Mutter hatte keine Arbeit und war dadurch ständig daheim. Wenn sie dann noch zur Flasche griff oder von einer ihrer Kneipentouren nach Hause kam – was leider fast jeden Tag geschah – war sie unausstehlich. Wehe dem die Wohnung war dann mal nicht so, wie sie es sich wünschte, oder ich irgendwas vergessen hatte, wie Müll runter bringen, Kartoffeln kaufen, oder einfach nur die Kissen nicht so lagen, wie sie es wollte. Da kam es schon vor, dass sie mich mitten in der Nacht aus dem Bett holte und mir sehr deutlich machte, wie vergesslich, dumm, untalentiert, hässlich und ich doch der mieseste und nichtsnutzigste Sohn, den die Welt je gesehen hatte, war.

Es war also besser, wenn ich mich so wenig wie möglich zu Hause aufhielt. Hier und da hatte ich einige Male einen versteckten Alarm ausgelöst, wenn ich das Schloss der Tür knackte, die zum Dach hinaus führte. Oder Leute hatten mich irgendwo rumklettern gesehen, wo eigentlich keiner sein dürfte und hatte gleich die Polizei gerufen. Meine Güte, ich wollte doch bloß meine Ruhe! Weder demolierte ich was, noch beschmutze ich fremdes Eigentum. Ich hatte damals das Gefühl, dass kein Mensch mir irgendwas gönnte. Größtenteils verliefen meine Ausflüge auch recht ruhig, denn in den ganzen Jahren wurde ich nur sechs Mal aufgelesen. An diesem Tag war es das siebente Mal.

Bisher gab es nur Verwarnungen, weil ich ja nichts weiter beschädigt hatte. Doch dieses Mal würde das anders laufen. Durch die Schlägerei hatte ich eine Bewährungsauflage, die damit verletzt wurde. Ich ‚freute’ mich schon jetzt auf das Gespräch mit meiner Sozialpädagogin, die bestätigte, wie hinüber ich doch war. Immer, wenn mit ihr ein Termin anstand, saß ich nur da und machte meinen Mund nicht auf. Ich hatte keine Lust auf so eine Tante, die sich in mein Leben einmischen wollte.

Zurück zu dem Abend. Nach ein paar Minuten verschwanden die Polizisten und ich verzog mich in mein Zimmer. Meine Mutter hörte ich draußen noch leise schluchzen. Ihre plumpe Masche kannte ich schon zur Genüge. Sie wusste genau, dass ich sie hören konnte und wartete eigentlich darauf, dass ich reumütig aus meinem Zimmer gekrochen kam und sie auf Knien um Verzeihung bat. Als sie aber merkte, dass nichts dergleichen geschah, hörte ich sie tief durchatmen und dann, wie sie in ihr Schlafzimmer tapste. Erleichtert, dass zumindest diesen Abend nichts weiter passieren würde, zog ich mich aus und ging ins Bett. Tief in Kopfkissen und Decke eingekuschelt beruhigten sich langsam meine Gedanken. Kurz dachte ich wieder an die Freiheit, die ich bei meinem letzten Ausflug oben auf dem Gebäude genossen hatte. Mein Herz zog sich gequält zusammen, als würde es von einer eiskalten Klaue um griffen, die unerbittlich zudrückte. Am liebsten wäre ich wieder aufgestanden und weggerannt, hinaus in die für mich grenzenlos wirkende Welt, um nie wieder zurückzuschauen. Aber solange ich noch nicht selbst Geld verdiente, war dies unmöglich. Irgendwann schlief ich endlich ein.

Die nächsten zwei Wochen bedachte mich meine Mutter mit einem hoffnungslosen Blick, ihre Lippen fest aufeinander gepresst und redete kaum ein Wort mit mir. Schnell kam ein Brief ins Haus geflattert in dem ich darauf hingewiesen wurde, dass ich gegen meine Bewährungsauflage verstoßen hatte. In dem ‚Gespräch’ mit meiner Sozi-Tante wurde mir eröffnet, dass sich die Sozialstunden um eine Woche erhöht hatten und ich deshalb ganze drei Wochen in einem Kinderheim schuften durfte. Genialerweise lag dieses Heim gute drei Stunden außerhalb meiner Stadt, sodass es sich nicht lohnte, jeden Abend nach Hause zu fahren. So blieb ich wenigstens von meiner Mutter eine Weile verschont.

***

Nun stand ich also mit meiner Reisetasche auf der Schulter auf dem Mini-Bahnhof, den Zettel mit der Adresse meiner Arbeit in der Hand, und wusste nicht weiter. Angeblich sollte das Heim nur zehn Minuten entfernt sein, deshalb gab es keinen Grund, mir jemanden zu schicken, der mich abholen würde. Missmutig stiefelte ich Richtung Ausgang und fragte ein paar Leute nach dem Weg. Zwanzig Minuten später war ich am Ziel.

Mit großen Augen passierte ich eine mit hellen Kieselsteinen ausgestreute Einfahrt und ging auf das große Haus zu. Obwohl ‚Haus’ bei weitem untertrieben war. Es war eher ein kleines Schloss oder besser gesagt glich es einem Internat, wie man es aus den deutschen Komödien kennt. Das Gemäuer war in einem alten Stil gehalten, aber man sah genau, dass das Haus komplett saniert worden war, gerade an den Fenstern. Ein paar Kids spielten auf der Wiese davor und beäugten mich neugierig, als ich die Treppe zum Eingang hinauf stieg.

Drinnen stand ich in einem kreisrunden, saalähnlichen Raum, der durch große Fenster hell und einladend wirkte. Links und Rechts ging jeweils ein lang gestreckter Gang ab. Geradeaus führten zwei gegenüberliegende, halbrunde Treppen ins obere Stockwerk. Hier und da wuselten Kinder umher und überall konnte man ihr fröhliches Kichern und Schwatzen hören. Unter den Treppen vor mir verlief ein sehr breiter Flur, an dessen Ende ich Licht erkennen konnte. Vermutlich war das ein zweiter Ausgang, aber ich kam vorerst nicht dazu, mich zu vergewissern, da lautes Gezanke am Rande der linken Treppe meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Ein Junge, vielleicht um die zehn Jahre, prügelte sich mit zwei Gleichaltrigen. Obwohl der Kleine auf den ersten Blick schmächtiger als seine Gegner wirkte, schaffte er es trotzdem, dass die beiden nach wenigen Minuten heulend davonliefen.

„Genau. Verpisst euch bloß. Und wehe, ihr klaut meiner Schwester noch einmal ihre Gummitiere!“, schrie ihnen der Junge hinterher, richtete seine Sachen und blickte dann mit gerunzelter Stirn zu mir rüber. „Bist wohl neu hier, was?!“, sprach er mich an, deutete auf meine Reisetasche und begann, mich neugierig zu mustern.

„Nö. Ich wohn hier schon seit Ewigkeiten. Die Tasche schlepp ich immer mit mir rum.“, meinte ich nur und grinste den Kleinen an. Irgendwie war er mir auf Anhieb sympathisch.

„Du bist lustig. Ich bin Josch.“, lächelte er mich breit an.

„Tomas, hey. Scheint ja ganz schön was los zu sein hier.“, erwiderte ich und blickte in die Richtung, in der die zwei Jungs verschwunden waren.

„Na ja, kommt immer drauf an was es als Nachtisch beim Mittagessen gab. Hast Sozialstunden bekommen? Ich geb dir nen Tipp, weil du ja neu bist: Halte dich so gut es geht von unserem Hausdrachen fern.“

„Hausdrachen?“

„Jupp. Unsere Direktorin. Die ist echt heftig drauf. Außerdem scheint die für Kleinkriminelle wie dich was übrig zu haben. Versuch am besten immer dort zu sein, wo die nicht ist.“, erklärte mir Josch mit einer Kennermiene.

„Kleinkrimineller? Ich bin kein Klein…“, wollte ich gerade richtig stellen, doch der Junge fiel mir ins Wort.

„Tja, Tomas. War echt schön dich kennen zu lernen, aber ich muss dann mal wieder. Hausaufgaben und so. Also dann, viel Spaß dir noch. Tschau.“, quasselte er gehetzt, während sein Blick zwischen dem Gang in der Mitte und mir ängstlich hin und her huschte. Josch drehte sich um und wollten gerade die ersten Stufen der Treppe nehmen, als ihn eine laute Stimme davon abhielt.

„Joschua Joel Ronaldi!“

Eine große, schlanke Frau trat neben die Treppe und stemmte ihre Hände in die Hüfte. Ich glaubte, die reinste Reinkarnation einer Anstandsdame aus meinen schlimmsten, dunkelsten Alpträumen vor mir zu sehen. Tiefschwarze Haare, streng zu einem Dutt nach hinten gebunden, schmales Gesicht in dessen Mitte auf der Nase eine kleine Lesebrille thronte, eine langärmelige weiße Bluse und ein typischer, bis zu den Knien reichender brauner Rock komplettierten das biedere Bild des Schreckens, so dass es mich eiskalt fröstelte.

Die beiden Jungs von vorhin standen hinter ihr und grinsten Josch triumphierend an, als sich dieser zögernd umdrehte und vor die Frau trat.

„Ich dachte, ich hatte mich vor zwei Tagen deutlich genug ausgedrückt. Mit Worten kommt man bei dir wohl nicht weiter. Zwei Wochen Küchendienst ab heute! Jetzt gib den beiden zurück was ihnen gehört und entschuldige dich anständig!“, schimpfte sie, trat ein Schritt beiseite und deutete auf die zwei Jungs, welche, kaum dass sie im Blickfeld der Frau waren, einen schüchternen und ängstlichen Gesichtsausdruck annahmen.

„Aber die Gummitiere gehören meiner Schwester. Das ist nicht fair!“, widersprach Josch, wurde aber gleich wieder ganz leise, als die Frau ihn ärgerlich anblitzte.

„Hast du dafür irgendwelche Zeugen oder Beweise?“, fragte sie ruhig mit einer Luft zerschneidenden Stimme.

„Ich habe gesehen, wie die zwei Jungs auf Josch losgegangen sind.“, mischte ich mich ein.

Ich konnte den Kleinen doch jetzt nicht hängen lassen. Dieser schaute mich aus großen Augen überrascht an, während die Frau nur eine Augenbraue hoch zog, mich musterte und dann ihre aristokratische Nase rümpfte.

„So, so, haben Sie das? Wie auch immer. Egal wem diese Süßigkeiten gehören. Sie sind kein Grund sich deswegen zu schlagen. Da jetzt zwei Stimmen gegen zwei stehen, werde ich die Tüte behalten. Sebastian, René. Passt das nächste Mal besser auf euer Eigentum auf. Ihr dürft gehen. Und du, Joschua, wirst dich trotzdem in der Küche melden, da, egal wie man die Situation dreht, du der Auslöser für den Tumult warst. Mach dies aber erst morgen, denn den Rest des heutigen Tages wirst du auf deinem Zimmer verbringen, wo du über das Geschehene nachdenken kannst und dir hoffentlich endlich klar wirst, wie man sich benimmt!“

Josch atmete tief ein, überreichte der Frau die kleine Tüte mit fest aufeinander gepressten Lippen, drehte sich dann ruckartig um und rannte die Treppen hinauf. Fast glaubte ich, Tränen in seinen Augen glitzern zu sehen.

„Ich will mich ja nicht all zu sehr einmischen, aber…“, wandte ich mich ein wenig verwirrt an die Person vor mir, wurde von ihr jedoch barsch unterbrochen.

„Zu spät junger Mann. Eine kleine Regel vorab. Ich bin die Direktorin und meinen Entscheidungen wird Folge geleistet. Sie sind Gesetz und werden nicht angezweifelt oder gebrochen.“

Ohne auch nur ein Nicken von mir abzuwarten, drehte sie sich um und forderte mich knapp auf, ihr unverzüglich zu folgen. Der Gang in der Mitte führte nach draußen auf einen freien Platz, wo sich eine ganze Menge Kids, trotz des kalten Frühlingswetters, tummelten. In einem riesigen Sandkasten waren ein Klettergerüst, eine Rutsche, Schaukeln und noch andere Kleinigkeiten aufgebaut. Außerhalb, in einer anderen Ecke des Platzes, standen Basketballkörbe und Tischtennistische. Eine Gruppe von Bänken und Tischen aus Holz luden ein, gerade im Sommer die Hausaufgaben oder andere Dinge im Freien zu erledigen. Das Gebäude war wie ein großes U angeordnet, in dessen Mitte sich genau dieser Platz befand. Erst hier draußen merkte ich, wie riesig es wirklich war.

Als wir den Innenhof überquerten, hatte ich irgendwie das Gefühl, als ob jeder vor uns flüchten würde. Selbst die Betreuer versuchten krampfhaft, nicht in das Blickfeld der Frau vor mir zu geraten. Das erinnerte mich seltsamerweise an eine Stelle aus der Bibel, wo sich das Meer teilt. Wir betraten das Gebäude auf der anderen Seite und folgten dem Gang nach links bis ans Ende.

„Hier liegt die Turnhalle, direkt darüber Ihre Unterkunft für die nächsten Wochen. Unser Sportlehrer und Betreuer dieses Abschnittes, Herr Wittig, wird in dieser Zeit ein Auge auf Sie haben und Sie zum Schluss beurteilen. Er wird Ihnen später das Grundstück zeigen, Sie in Ihre Arbeit einweisen und – was am wichtigsten ist – Ihnen die Regeln dieses Hauses mitteilen. Ein Fehltritt und ich zeige Ihnen, wie man fliegt!“, erklärte mir die Frau Direktorin, leitete mich an zwei großen Türen vorbei, die wohl zur Turnhalle führten, zu einer schmalen Treppe.

Ein fensterloser, langer Gang ging im oberen Stockwerk nach links weg und verlief anscheinend von einem Ende des Hauses bis zum anderen. Die Direktorin schloss eine Tür schräg gegenüber der Treppe auf und reichte mir dann den Schlüssel.

„Ich werde Herrn Wittig melden, dass sie da sind. Sie dürfen solange in Ihrem Zimmer auf ihn warten.“

Ohne überhaupt nach meinem Namen gefragt oder ihren eigenen genannt zu haben, drehte sie sich um und stieg wieder die Treppe hinab. Verwirrt schaute ich ihr hinterher, schüttelte dann meinen Kopf und ging in das Zimmer.

Drinnen stand die Luft und es war recht dunkel, da das Rollo unten war. Nur vereinzelte Lichtstrahlen stahlen sich durch dessen schmale Ritzen und ließen einige Staubpartikel im schwachen Schein tanzen. Die Tür ging nach innen auf. Knapp drei Schritte von ihr entfernt stand links an der Wand ein Bett. Ich ging darauf zu und stellte meine Tasche daneben ab. Kopfkissen und Decke lagen ordentlich da, nur ein Bettlaken und Bezug fehlte. Gegenüber, an der rechten Wand des Zimmers stand noch ein Bett. Allerdings schien dies in Benutzung zu stehen, da die Decke nur einfach zurückgeschlagen worden war und das Laken etwas zerknittert aussah. Neben den Betten standen jeweils am Kopfende ein kleines altes Nachtschränkchen und genau in deren Mitte – was auch die Mitte des rechteckigen Raumes war – befand sich das Fenster.

Ich ging darauf zu, zog das Rollo nach oben und öffnete es. Kühle Frühlingsluft drang in das stickige Zimmer und ließ mich ein wenig frösteln. Seltsamerweise fühlte ich mich frei und gefangen zugleich. Ich hatte von dort oben den Blick auf ein Stück Wiese, die von einem schmalen Bach quer geteilt wurde. Dahinter standen einige Bäume und Büsche, die einen lichten Wald bildeten. Das beklemmende an dieser friedlich wirkenden Idylle war nur, dass man hinter den Bäumen an einigen Stellen den eisenbeschlagenen Zaun sehen konnte, der das ganze Grundstück umschloss. Dieser gab einem das Gefühl, in einem Gefängnis zu sitzen.

Seufzend schloss ich wieder das Fenster, drehte die Heizung auf Stufe drei, zog meinen langen Stoffmantel aus und legte ihn auf das Bett an der Tür. Neben dem Eingang, gegenüber dem Fenster stand ein großer, alter Schrank an der Wand. Eine Seite von ihm war schon fast komplett mit Sachen voll gestopft.

‚Hm, mein Zimmergenosse scheint keinen schlechten Geschmack zu haben.’, dachte ich, als ich ein paar interessante Shirts entdeckte, die mir beim Öffnen des Schrankes entgegen gefallen waren und anfing, die andere Seite mit meinen Klamotten zu füllen. Langsam wurde mir warm, weswegen ich meinen Pullover auszog und ihn neben das Handtuch, welches ich zur Seite aufs Bett gelegt hatte, schmiss. Die nun leere Reisetasche stopfte ich in eine noch freie Nische. Meinen Mantel konnte ich mit einem Bügel an der rechten Seite des Schrankes aufhängen. Einzig eine volle 1,5 Liter Coke-Flasche stand vor mir, die ich als Proviant für die Fahrt hierher mit eingepackt hatte.

Ich nahm mir die Flasche und ging auf das Fenster zu, um dieses Gefühl der Beklommenheit etwas von mir abzuschütteln. Doch auf halbem Wege, als ich den Verschluss meiner Coke aufdrehte, fing die Flasche an, laut zu zischen und ein guter Anteil des süßen Getränks spritze in mein Gesicht, aufs Shirt und auf den Boden.

„Scheiße. Verdammt noch mal!“ Fluchend schüttelte ich ein wenig meine Hände und ging auf mein Bett zu, um mir mein Handtuch zu holen.

‚Shit, wenn ich jetzt das Handtuch benutze, ist es versaut und ich weiß noch nicht, ob ich hier die Waschmaschine benutzen darf.’, dachte ich genervt und blickte Hilfe suchend durchs Zimmer.

Am Fußende des Bettes meines Mitbewohners entdeckte ich mit einem Mal eine Tür. Ich wunderte mich, warum ich die nicht vorher bemerkt hatte, schickte aber gleichzeitig ein Stoßgebet an wen auch immer, ging auf diese zu und öffnete sie. Anscheinend wurde mein Hilferuf von jemandem erhört, denn ich stand in einem Bad. Nach dem ich den Lichtschalter gesucht und gefunden hatte, blickte ich mich neugierig um. Es war nicht besonders groß oder luxuriös, noch nicht mal ein Fenster war vorhanden, aber es sah sauber aus. Es schien frisch saniert worden zu sein, denn die Armaturen glänzten noch neu und auch der Rest sah zwar schlicht, aber modern aus. Die Dusche nahm fast die Hälfte des Raumes ein und erweckte den Eindruck, als könnten dort drei Leute bequem gleichzeitig duschen.

Eine leichte Gänsehaut kroch über meine Arme, da es im Bad fast frostig war. Ich nahm mir vor, später hier die Heizung noch aufzudrehen, zog mir aber erstmal mein Shirt aus und schmiss es auf den Klodeckel. Neben dem WC stand gleich das Waschbecken, wo ich mir das klebrige Zeug vom Körper waschen konnte. Überall standen Sachen von meinem Zimmergenossen herum. Hier ne Zahnbürste, dort ein Deo. Langsam wurde ich wirklich neugierig auf den Jungen, mit dem ich hier die Tage verbringen musste.

Ein letztes Mal spritzte ich mir warmes Wasser ins Gesicht, drehte den Hahn zu, fuhr mir durchs Haar und tapste wieder zurück ins Zimmer, um mir was zum abtrocknen zu holen. Mitten im Türrahmen aber blieb ich erschrocken stehen. Vor meinem Bett stand ein Typ, der mich erst verblüfft anschaute und dann aufmerksam zu mustern begann.

‚Täusche ich mich, oder versucht er ein Grinsen zu unterdrücken?!’

Meine Wangen begannen warm zu kribbeln, was eindeutig ein Zeichen dafür war, dass ich rot anlief. Jetzt fing der Typ aber wirklich an zu lächeln, drehte sich zu meinem Bett um, griff sich das Handtuch und warf es mir entgegen.

„Eigentlich wurde mir gesagt, dass ich einen Neuen abholen soll, aber hätte ich gewusst was mich hier erwartet, hätte ich doch ne Flasche Wein mitgebracht.“, meinte er und beobachte unverhohlen jede meiner Bewegungen.

„Hm?“, fragte ich mit gerunzelter Stirn, denn mein Hirn war in dem Moment äußerst langsam.

Viel zu spät schnallte ich, dass mein Gegenüber gerade mit mir flirtete. Benommen fischte ich mir ein Shirt aus dem Schrank und zog es über. Der Typ vor mir sah einfach übel gut aus. Ich meine, ich wusste schon seit längerem, dass ich eher Jungs bevorzugte und hatte es nach einer ganzen Weile auch für mich akzeptiert. Aber dass ein Kerl so auf mich wirken könnte, hätte ich nun nicht erwartet. Na ja, ich war mit meinen 1,78 Meter schon recht groß, aber er überragte mich um einen halben Kopf. Er erinnerte mich ein wenig an Johnny Depp, als er in Sleepy Hollow mitgespielt hatte, nur dass der Typ vor mir etwas jünger (höchstens Mitte zwanzig) und ein Stück kräftiger wirkte. Und er sah auch nicht so blass aus, aber trotzdem noch äußerst… lecker.

„Hallo, ich bin übrigens Marco Wittig. Und wenn du der Herr Schneider bist, bin ich wohl dein Betreuer für die nächste Zeit.“, holte mich der Typ aus meinen Gedanken und reichte mir seine Hand zur Begrüßung.

„Tomas, hi.“, erwiderte ich immer noch verwirrt und schüttelte seine Hand.

„Tomas also.“, grinste mich mein Gegenüber breit an.

Er hielt noch immer meine Hand fest und sah mir mit seinen rehbraunen Augen so tief in meine, dass ich das Gefühl hatte, sie würden mich verschlingen. Wir standen gut eine halbe Minute so da, bis er von mir abließ.

„Zieh dir nen Pullover drüber und komm mit. Ich zeig dir erstmal das Grundstück.“, sagte er fröhlich, schlug freundschaftlich seinen linken Handrücken auf meine Brust und verließ gemächlich das Zimmer.

Das erste was ich tat, als ich mich allein im Raum befand, war tief durchzuatmen um mein armes Herz zu beruhigen, welches heftig gegen meine Rippen donnerte.

„Tom, kommst du?“, rief mein Betreuer von draußen, worauf ich logischerweise mit nem ‚Ja’ (wenn auch zögerlich) antwortete, mir einen Pullover aus dem Schrank schnappte und noch während ich den anzog aus dem Zimmer trat.

„Also gut.“, empfing mich Marco. „Das wichtigste zuerst. Am anderen Ende des Ganges, die letzte Tür auf der rechten Seite, dort liegt mein kleines Reich. Also wenn nach Dienstschluss was sein sollte, findest du mich dort am ehesten. Besser ist, wenn du die Tür zu deinem Zimmer abschließt wenn du nicht drin bist. Manche Kids hier haben leider dumme Angewohnheiten.“

Ich verschloss daraufhin das Zimmer, während mir Marco die Hausordnung kurz erklärte. Nach 22 Uhr zum Beispiel wurde das ganze Gelände abgeriegelt. Die älteren Kids durften am Wochenende nur mit einer Extragenehmigung länger raus. Mein Betreuer zeigte mir die Aufenthaltsräume der Kinder und Lehrer, die Mensa samt Küche, den Wäscheraum und die Schulzimmer.

Die Leute hier schienen Marco recht gern zu haben. Von den Erwachsenen wurde er freundlich gegrüßt und die Kids – besonders die Mädchen – freuten sich jedes Mal, wenn sie ihn sahen. Es machte total viel Spaß, mit ihm unterwegs zu sein. Zwar war er immer ein wenig dominant – klar, musste er ja auch, denn schließlich war er so was wie mein Vorgesetzter – aber nicht überheblich oder herablassend. Er witzelte ständig herum und wenn er sich durch seine längeren, dunkelbraunen Haare fuhr und mich von der Seite anlächelte, lief ich regelmäßig rot an und grinste verlegen zurück. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mein Betreuer genau wusste, wie er auf mich wirkte.

Zum Schluss der Führung musste ich noch in die Höhle des Löwen. Ich sollte unterschreiben, dass ich belehrt worden war und die Regeln des Hauses akzeptierte. Nur musste ich dazu leider in das Büro der Direktorin. Marco und ich standen im Sekretariat und als ich nach einer kurzen Wartezeit allein ins Zimmer des Drachen gerufen wurde, schenkten er und die Sekretärin mir einen mitleidigen Blick.

„Schließen Sie bitte die Tür hinter sich und kommen Sie näher.“, forderte mich die Direktorin sofort auf.

Ich tat wie geheißen und trat vor ihren, aus schwerem Holz bestehenden Schreibtisch. Das ganze Zimmer war rustikal aber trotzdem modern eingerichtet. An der Wand hinter der Direktorin waren zwei große Fenster auf Hüfthöhe eingelassen, wodurch man einen freien Blick auf den Hinterhof des Heimes hatte. Es würde fast freundlich wirken, wenn nicht diese Zicke im Raum wäre. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, kniff sie ihre tiefgrünen Augen zusammen und durchbohrte mich mit einem abschätzenden Blick. Die Frau wurde mir von Minute zu Minute unheimlicher.

„Hier.“, sagte sie nach ein paar nicht enden wollenden Sekunden und reichte mir ein Blatt und einen Stift. „Unterschreiben und einhalten! Wenn Sie sich wenigstens ein bisschen zusammenreißen und versuchen könnten, sich unterzuordnen, könnte aus Ihnen vielleicht doch noch ein normaler und ordentlich lebender Mensch werden.“

Irgendwie schaffte ich es, darauf nichts zu erwidern. Mit aufeinander gepressten Zähnen unterschrieb ich das Schriftstück und musste mich echt zusammenreißen, dass ich, nachdem ich gehen durfte, die Tür nicht mit voller Wucht zuschlug.

*

Marco und ich standen hinter der Turnhalle, genossen die frische Luft und rauchten genüsslich eine Zigarette. Eigentlich hielt ich nicht besonders viel von diesen Glimmstängeln, aber ich war noch dermaßen sauer, dass ich irgendwas zur Beruhigung brauchte. Ich lehnte an der Mauer, blickte Gedankenversunken auf den Fluss und versuchte, das lästige Kratzen im Hals zu ignorieren, das die Zigarette verursachte.

„Ärgere dich nicht über unseren Drachen. Das macht nur depressiv und davon bekommt man Falten.“, versuchte mich mein Betreuer aufzumuntern, leider mit wenig Erfolg.

Wieso müssen mich auch Menschen immer so vorschnell verurteilen? Wieso fragt nie einer ‚warum’ oder erkundigt sich nach meinen Gründen oder Gefühlen? Langsam hatte ich echt die Nase voll von dieser arroganten Welt voller Ignoranten. Marco musste wohl mitbekommen haben, dass es mir nicht gerade gut ging, denn er legte seinen rechten Arm um meine Schulter und drücke ein wenig zu.

„Hey, Kopf hoch Tomas. Okay, pass auf. Eigentlich hättest du heute frei, damit du dich in Ruhe hier eingewöhnen kannst. Aber wenn du nichts dagegen hast, könntest du mir gleich bei der Arbeit helfen. In gut zwanzig Minuten gebe ich für die sechste Klasse Sportunterricht. Magst du mir nicht dabei helfen? Ist auf jeden Fall besser, als die ganze Zeit allein auf dem Zimmer abzuhängen und Trübsal zu blasen. Also?“

Erwartungsvoll blickte er mich an und schenkte mir ein verführerisches Lächeln, das keinen Widerspruch duldete. Kurze Zeit später befand ich mich in meinen Sportsachen in der Turnhalle und half Marco ein paar Bänke zurechtzurücken. Der Unterricht mit den Kids machte richtig Spaß. Zunächst wurden die Jungs in Gruppen eingeteilt und ein kleines Wettrennen veranstaltet, indem sie über die Bänke seitlich hüpfen, drüber balancieren oder drunter durchkriechen mussten. Alle feuerten sich gegenseitig an und hatten Spaß, auch wenn sie hinterher total ausgepowert waren. Danach wurden die Kinder die Kletterstange hochgejagt, mussten Liegestütze machen und durften sich am Ende ein Spiel raussuchen. Zum Schluss musste Marco einige Kids fast aus der Halle jagen, weil sie am liebsten noch länger Basketball gespielt hätten.

Ich merkte richtig, wie viel Respekt die Jungs ihrem Lehrer entgegen brachten, denn keiner maulte rum, und wenn er etwas sagte, wurde dies auch sofort gemacht. Okay, manche beobachteten ihn auch recht scheu, wenn nicht ein wenig ängstlich. Aber wenn man Marco so in Aktion erlebte, war das irgendwie wieder verständlich. Er war halt die Autorität in Person. Ich hatte gerade die letzte Bank an ihren alten Platz zurück gestellt, mich darauf gesetzt und mit ausgestreckten Beinen an die Wand gelehnt, um zufrieden die nun ruhig daliegende Sporthalle zu genießen, als sich mein Betreuer zu mir gesellte.

„Und, ging’s, oder haben dich die Kids zu sehr genervt?“, fragte er und lächelte auf mich hinab.

„Nö, eigentlich gar nicht. Es war sogar richtig lustig. Von mir aus könnte jetzt noch ne Klasse kommen.“

„Hört, hört. Bist wohl nicht genug ausgelastet?!“

„Nicht wirklich.“

„Na wenn das so ist hast du bestimmt nichts dagegen, mit mir noch ein paar Körbe zu werfen.“ Auffordernd warf Marco mir den Basketball zu, den er die ganze Zeit in seinen Händen gedreht hatte.

„Ich kenn die Regeln aber nicht.“

„Dann bring ich sie dir bei.“

„Können wir nicht ohne spielen?“

„Ohne Regeln?“ Fragend blickte mich mein Betreuer an.

„Ja. Alles ist erlaubt, außer kratzen, beißen, schlagen. Man braucht aber weder zu dribbeln oder so. Einfach nur den Korb treffen, egal wie.“

„Das ist ja zu einfach.“, maulte Marco, machte aber große Augen, als ich aufstand und den Korb von der Seite aus ein paar Meter Entfernung traf.

„Ich denke eher, du hast Schiss gegen mich zu verlieren, wenn man auf keine Regel acht geben muss.“, versuchte ich ihn ein wenig zu provozieren – mit Erfolg, wie ich merkte.

„So sicher ist sich also der Herr Schneider. Gut, wetten wir, wer zuerst zwanzig Körbe geworfen hat. Der Verlierer muss dem Gewinner nen Bier ausgeben.“

„Alk ist auf dem Gelände verboten, schon vergessen, Herr Lehrer?!“

„Wer sagt denn, dass wir das Date hier auf dem Grundstück haben werden?“ Marco hatte den Basketball aufgehoben und war, während er mit mir redete, so nah an mich heran getreten, dass ich seinen warmen Atem auf meinen Wangen spüren konnte.

Mein Herz fing wild an zu pochen und pumpte Blut rasend schnell durch meine Adern, was ich in meiner unteren Hüftgegend und vor allem in meinem Gesicht spürte, wo es leicht zu prickeln begann. Mein Betreuer merkte zumindest letzteres, denn ein wissendes Grinsen bildete sich auf seinen verführerischen Lippen. Er kam mit seinem Kopf noch ein bisschen näher, sodass unsere Nasenspitzen nur Millimeter voneinander entfernt waren.

„Na, wer hat jetzt wohl Angst?“ Marcos braune Augen bohrten sich regelrecht in die meinen. Ich musste dringend was unternehmen, damit er mir nicht noch mehr ansah, wie geil ich in dem Moment auf ihn war.

„Ich jedenfalls nicht.“, sagte ich deshalb mit einer, wie ich hoffte, ruhigen Stimme, riss ihm den Ball aus der Hand, drehte mich etwas und warf einen Korb. „Das war mein erster.“, grinste ich triumphierend.

„Und gleichzeitig dein letzter.“

Mit diesen Worten stürmte Marco an mir vorbei auf den Basketball zu. Es entstand eine wilde Rangelei um das runde Leder und jeder Korb wurde hart erkämpft. Keine Ahnung wie lange wir spielten, aber zum Schluss lagen wir nebeneinander, schweißüberströmt, schwer schniefend und total ausgepowert auf dem Boden der Turnhalle. Ich hatte meine Augen geschlossen und lauschte den schnellen Atemzügen meines Gegenspielers. Es war zwar verdammt knapp gewesen, aber am Ende hatte ich gewonnen.

„Du bist ein Betrüger.“, presste Marco nach ner Weile heraus.

„Hm? Wieso das denn?“, fragte ich schwach zurück.

„Du hast mir verschwiegen, dass du gut Basketball spielen kannst.“

„Ich hab nie behauptet, es nicht zu können. Ich kenne nur die Regeln nicht.“

„Na toll. Ich wurde reingelegt von nem Halbstarken.“

„Zss, halbstark. So, so. Wer hat denn hier gewonnen, hä? Opa.“

„Den letzten Korb konntest du nur werfen, weil ich mit meinen Fuß leicht umgeknickt bin. Und was heißt hier außerdem Opa?!“ Lachend setzte sich mein Betreuer auf.

„Ich kann nichts dafür, wenn du nicht richtig laufen kannst.“

„Für dein Alter hast du nen ganz schön großen Mund.“

„Du für deins auch.“ Ich atmete noch einmal tief durch, um meine Gedanken zu ordnen und richtete mich dann auf.

Das Spiel war einfach klasse, aber auch verwirrend gewesen. Wenn man Basketball ohne Regeln spielte, bedeutete das, ständigen Körperkontakt mit dem Gegner zu haben. Nachdem ich anfangs Marco noch einige Male austricksen und veralbern konnte, bereitete es mir mit jeder Sekunde mehr Mühe, überhaupt an den Ball ran zu kommen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er es regelrecht darauf anlegte, damit ich ihm näher kommen musste, um mich berühren zu können. Es fiel mir immer schwieriger, mich auf das Spiel zu konzentrieren. Zum Glück hatte es trotzdem zum Sieg gereicht.

Nun saßen wir nebeneinander auf dem Boden und sahen uns weiß ich wie lange schweigend in die Augen. Marco fing an zu grinsen und stand auf. In diesem Moment öffnete sich die schwere Tür der Turnhalle und die rothaarige Sekretärin der Direktorin trat ein.

„Marco, kommst du bitte? Der Einsatzplan für die nächsten Wochen musste geändert werden und wird gleich durchgesprochen.“, forderte sie meinen Betreuer auf und verschwand wieder, als sie ein ‚Okay’ von ihm gehört hatte. Er atmete tief durch und reichte mir dann seine Hand, um mir aufzuhelfen. Ich ergriff sie und ließ mich hoch ziehen. Nur hatte ich so viel Schwung drauf (oder er zu viel Kraft?), dass ich leicht gegen ihn prallte.

„Nicht so stürmisch.“, sagte er mit einem süffisanten Lächeln und hielt mich weiterhin bei sich in den Armen. Es dauerte zwar zwei Sekunden, aber dann begriff auch ich.

„Das war Absicht.“, warf ich Marco leise vor und blickte ihn mit gerunzelter Stirn an.

„Vielleicht.“ Er schaute mir noch einen Atemzug in die Augen, bevor er sich – wie mir schien widerwillig – von mir abwandte. Nach zwei drei Schritten drehte er sich wieder zu mir um und warf mir einen kleinen Schlüsselbund zu. „Tust du mir den Gefallen, bringst den Ball dort in den Geräteraum und schließt ihn dann ab?“

„Klar, mach ich. Viel Spaß dir beim Drachen.“

„Den werd ich haben.“, meinte Marco genervt, schaute mich aber noch mal mit einem Lächeln an. „Bis nachher.“

Ich nickte nur, drehte mich um und hob den Basketball auf. Erst als ich die Tür laut ins Schloss fallen hörte, sah ich Marco hinterher. Logischerweise war nichts mehr von ihm zu sehen. Ich schüttelte meinen Kopf, stellte mich in Position und versuchte den Ball im Korb zu versenken. Dieser prallte aber nur am äußeren Ring ab, schlug laut auf dem Boden auf und kullerte durch die Halle. „Scheiße.“, war das einzige, was ich dazu zu sagen hatte.

*

Ich saß frisch geduscht auf meinem Bett, Limp Bizkit dröhnte mir durch meinen mp3-Player in die Ohren und ich las gerade den neusten Boys-Love-Manga von Hinako Takanaga, den ich mir auf dem Bahnhof meiner Stadt vor der Abreise gekauft hatte. Eigentlich mochte ich mehr die von Yuki Shimizu, aber bei denen wartete man immer ewig auf die Fortsetzung. Ich musste gerade schmunzeln, da es im Manga lustig her ging, als sich die Zimmertür öffnete.

Mein ebenso frisch geduschter Betreuer gesellte sich zu mir und beugte sich nach vorn, umsehen zu können, was genau ich in der Hand hielt. Er sagte was und schaute mich mit gerunzelter Stirn an, nur verstand ich kein Wort. Marco musterte mich prüfend und schien dann was zu suchen. Er fand es, nahm meinen mp3-Player in die Hand, der links neben mir lag und schaltete ihn aus.

„Man sollte die nicht so laut einstellen. Ist schlecht für die Ohren.“, ermahnte er mich und warf mir den Player wieder zu. Irgendwie schaltete sich mein Gehirn erst zwei Sekunden später ein. „Komm schon Tom. Ich zeig dir deine Schützlinge für die nächsten Wochen.“

„Hä?“

„Zieh Schuhe an, ich erklär es dir unterwegs.“ Zögernd kam ich der Aufforderung nach und folgte Marco die Treppen hinab. „Also, pass auf. Jeder Erzieher hier betreut extra eine Gruppe von fünfzehn bis zwanzig Kindern – sowas wie ein Klassenlehrer. Unter meiner Obhut stehen zurzeit sechzehn Jungs. Ich helfe ihnen bei den Hausaufgaben, organisiere Ausflüge oder lese ihnen abends ne Gute-Nacht-Geschichte vor. Letzteres klingt zwar bei den älteren komisch, aber das ist hier halt so ne Tradition. Die Art der Geschichten wird auch von Jahr zu Jahr anders.

Es ist gleich 21 Uhr durch und da meine Jungs zwischen neun und zehn Jahren sind, bedeutet das in der Woche Schlafenszeit. Wir müssen durch vier Zimmer und die Kids ruhig stellen. Zum Schluss darfst du dir dann ein Zimmer raussuchen, welches du die drei Wochen, in denen du hier bist betreust. Sei vorsichtig mit deiner Wahl, denn für die vier Jungs bist du dann die ganze Zeit der Tauschpapa – den ganzen Tag.“

„Wa… warte mal. Hab ich das jetzt richtig verstanden: Ich soll Betreuer von vier Kindern werden? Ich?“

„Jupp. Der Hauptbetreuer bleibe natürlich ich, aber du kannst und wirst mir die gröbste Arbeit abnehmen.“ Marco blieb vor einem Zimmer stehen und schaute mich fragend an, ob ich auch alles verstanden hatte. Durch die Tür konnte ich ein paar Jungs lachen im Raum herumtoben hören. „Sieh mich nicht wie ein verängstigtes Kaninchen an, welches vor dem Fuchs sitzt. Das bekommst du schon gebacken. Außerdem ist immer ein Betreuer in der Nähe. Okay?“

Mein Gegenüber kam mir wieder ein Stück näher, hob sacht mein Kinn, damit ich ihm in seine rehbraunen Augen blicken musste und schaute mich nach einer Bestätigung suchend an.

„Okay.“, seufzte ich. Was anderes blieb mir unter diesen Umständen eh nicht übrig.

„Gut.“, meinte Marco sanft und setzte an, noch etwas zu sagen, wurde jedoch durch die Tür vor der wir standen unterbrochen, an der es laut zu rütteln begann. „Ich glaube, ich muss meinen Schützlingen mal wieder Manieren beibringen.“ Verärgert betrachtete mein Betreuer die Tür, dann atmete er hörbar aus, ließ mich los und legte eine Hand auf die Klinke. „Wollen wir?“

Ich nickte nur abwesend und betrat hinter Marco das Zimmer, nachdem er kurz angeklopft hatte. Es sah ein wenig chaotisch aus, da Kuscheltiere und Kopfkissen verteilt auf dem Boden lagen.

„Nabend Mädels.“

„Guten Abend Herr Wittig.“ Vier Jungs fingen an, ihr Zeug rasch zu sortieren und verkrochen sich dann in den Betten. „Was hatte ich das letzte Mal über Kissenschlachten gesagt?“ Der Erzieher stand mit vor der Brust verschränkten Armen in der Mitte des Raumes und blickte intensiv jedes Kind an, bis einer sagte:

„Wir sollen keine Stofftiere oder Kissen durch die Gegend werfen.“

„Aha. Oder?“ Wieder schaute er fragend alle an.

„Oder wir sollen uns nicht erwischen lassen.“

„Genau. Da ihr aber leider ertappt wurdet, gibt es eine Strafe. Alle noch mal aus den Betten, auf den Boden und schön laut mitzählen. Eins, zwei…“

Es war schon beeindruckend, wie gut Marco die Kids im Griff hatte. Jeder von denen machte ohne zu murren Liegestütze. Im Gegenteil, es schien ihnen sogar Spaß zu machen. Sie kannten diese Strafe bestimmt schon zur Genüge, denn sie grinsten sich immer gegenseitig an.

„Zehn. Okay, das reicht. Ab in die Federn. Ich will euch noch jemanden vorstellen. Das ist Tomas. Er wird für ne Weile hier bleiben und ein Auge auf euch haben. Ihr helft ihm hier klar zu kommen und er hilft euch im Gegenzug bei den Hausaufgaben. Alles klar?“ Von jedem Kind war ein lautes ‚Ja’ zu hören und ich nickte leicht in die Runde. „Okay, wo waren wir letztens stehen geblieben?“, fragte Marco die Jungs und ging auf ein kleines Bücherregal zu.

„Den zweiten Band von Harry Potter hatten wir fertig. Jetzt sind wir beim dritten Teil.“

„Danke Basti. Also gut. Sind alle in Schlafposition?“

Prüfend schaute sich der Erzieher um. Jedes Kind rückte sich noch mal zurecht, Kuscheltiere wurden an den Körper gedrückt und die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Marco schaltete eine kleine Tischlampe an und stellte einen Stuhl in die Mitte. Nachdem ich das große Licht gelöscht hatte, fing er an zu lesen. Fließend zitierte er fast jede Passage des Buches und nicht nur die Jungs hingen an seinen Lippen. Seine Stimme war sanft und beruhigend. Ich hatte meine Augen geschlossen und lauschte seinen Worten, die mich sachte einlullten.

„Hey Tom. Nicht einschlafen.“ Verwirrt schreckte ich auf und blickte in glitzerndes Braun. Marco grinste mich schief an, seine Hand lag noch immer auf meiner Schulter, wo er mich leicht wachgerüttelt hatte. „Komm du Schlafmütze. Wir haben noch drei Zimmer vor uns.“

Im Raum war es dunkel und man konnte die regelmäßigen Atemzüge der Kinder hören. Leise schlichen wir nach draußen und betraten ohne weitere Verzögerungen das nächste Zimmer. Dort und in dem Zimmer darauf passierte mir das gleiche wie eben. Jedes Mal musste mich mein Betreuer zum Schluss wecken. Im letzten und vierten Raum lief es allerdings etwas anders.

Erstens entdeckte ich einen alten Freund, der sich aber so sehr in seiner Decke eingewickelt hatte, als wolle er sich verstecken, dass ich erst auf den zweiten Blick erkannte, dass es Josch war. Zweitens unterbrach uns einer der anderen Erzieher und beorderte Marco zu ein paar älteren Kids, die wohl Ärger machten. Worauf ich dann drittens alleine mit den Jungs im Zimmer war und ihnen den ersten Teil von Eragon vorlas. Mit den Kindern hatte ich mich schnell angefreundet und obwohl ich fand, dass Eragon ein bisschen zu schwerer Stoff für sie war, lauschten sie bald meiner Stimme, bis einer nach dem anderen einschlief. Nur Josch und ich waren noch munter.

„Na, kannst wohl nicht schlafen?“, flüsterte ich ihm zu.

„Das kann ich nie. Ich will nämlich immer wissen, was als nächstes passiert.“, antwortete er leise.

„Soll ich noch ein wenig weiter lesen?“

„Das darfst du nicht. Die Erzieher dürfen nur höchstens eine viertel Stunde lesen. Sonst würden die ja nie fertig werden.“

„Da ist was dran. Sag mal, ist das da am Auge ein Veilchen?“ In dem schwachen Lichtschein war es kaum zu sehen, aber wenn man genau drauf achtete sah man, dass die Umrisse des einen Auges dunkler waren.

„Ist nicht schlimm.“, nuschelte Josch und drehte sich um.

Nachdenklich starrte ich auf seinen Rücken und überlegte, ob ich was Falsches gesagt hatte. Er hatte doch die beiden Jungs besiegt. Wieso prahlte er nicht damit? Ich wollte gerade das Buch zuschlagen und aufstehen, als ich an Joschs Nacken einen dunklen Fleck entdeckte.

„Mann, ich hab gar nicht mitbekommen, dass die zwei dir dermaßen zugesetzt haben.“, flüsterte ich, kniete mich vor das Bett und wollte den Kragen von Joschs’ Schlafanzug etwas zur Seite schieben, damit ich es mir besser anschauen konnte. Aber der Kleine rutschte von mir weg und meinte, ich solle das lassen. Daraufhin griff ich nach seiner Schulter, um ihn auf den Rücken zu drehen, weil ich ihm in die Augen schauen wollte. Doch kaum hatte ich ihn dort berührt, zuckte er heftig zusammen und jammerte ein ‚Aua’. Erschrocken zog ich meine Hand zurück. ‚Irgendwas stimmt hier doch nicht.’

„Zeig mir deinen Rücken Josch.“

„Du hast davon eh keine Ahnung.“, nuschelte der Junge in sein Kissen.

„Machst du Witze? Es gibt keinen Tag, wo ich nicht mit blauen Flecken durch die Gegend laufe.“

„Zeig sie mir.“

„Aber nur, wenn ich mir danach deine anschauen darf.“

Josch drehte sich zu mir um und blickte mich skeptisch an. Dann flüsterte er ein ‚Okay’. Ich hob mein Shirt hoch und präsentierte ihm meine Errungenschaften vom letzten Training. „An den Beinen hab ich auch noch ein paar. Magst du sie sehen?“ Der Kleine schüttelte mit dem Kopf, worauf ich dann mit einem Nicken auf ihn deutete. „Ich hab meinen Teil erfüllt.“ Josch sah scheu zu mir auf und drehte sich nach einem kurzen Zögern auf den Bauch. Ich legte seine Decke ein Stück beiseite und schob danach sein Shirt sachte nach oben. Sein Rücken war überzogen von unterschiedlich großen Hämatomen in verschiedenen Stadien. Aber was mich am meisten schockte waren die länglich roten Striemen, die ich dort vorfand.

„Magst du drüber reden?“, fragte ich den Kleinen vorsichtig und versuchte, so ruhig zu bleiben wie nur möglich.

„Nein, bitte erzähl es keinem weiter. Die schicken mich sonst weg. Dann wäre meine Schwester hier ganz alleine und das will ich nicht.“ Josch setzte sich im Bett auf und blickte mich mit feuchten Augen bettelnd an. „Bitte versprich, oder besser schwör es mir. Ich muss für meine kleine Schwester stark sein und sie beschützen. Ich will sie hier nicht noch mal zurück lassen.“ Der Junge sah mehr als nur übel verzweifelt aus.

„Passiert sowas öfters?“, fragte ich und deutete auf sein Veilchen. Langsam schüttelte er seinen Kopf. „Also gut, ich schwör’s hoch und heilig. Solange ich sehe, dass sich nichts verschlimmert, halte ich meinen Mund.“ Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend registrierte ich, wie der Kleine hörbar erleichtert ausatmete. „Wart mal kurz, ich bin gleich wieder da.“

Ohne eine Antwort des Jungen abzuwarten stand ich auf und ging nach draußen. Ich lief hoch in mein Zimmer, wühlte kurz in meinen Sachen, bis ich fand was ich suchte und war drei Minuten später wieder bei Josch.

„Dreh dich bitte noch mal auf den Bauch. Ich hab hier eine Salbe, die wahre Wunder bei sowas vollbringt. Ich benutze die immer, wenn mal ein Training besonders hart gewesen ist.“, erklärte ich Josch und hielt ihm die Tube unter die Nase. Ein paar Minuten später hatte ich seinen Rücken komplett einbalsamiert. „Hier, behalt die mal. Tu sie irgendwo hin, wo sie keiner findet. Und ich creme dich ab jetzt jeden Abend nach der Gute-Nacht-Geschichte ein. Okay?“

„Dann bist du ab heute unser Tauschpapa?“, fragte der Junge mich freudig.

„Klar, wieso nicht. Das Zimmer hier gefällt mir.“ Beide grinsten wir uns an. „So. Jetzt ist aber Schlafenszeit. Wir sehen uns dann morgen. Gute Nacht.“, sagte ich und schaltete die kleine Lampe aus.

„Gute Nacht, Tomas.“, wünschte mir Josch, gähnte herzhaft und kuschelte sich tief in seine Decke ein.

Leise schloss ich hinter mir die Tür und ging total aufgewühlt in mein Zimmer. Auf dem Bett lag der kleine Schlüsselbund, welchen mir Marco in der Turnhalle zugeworfen hatte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es kurz vor halb elf war. Ich wusste nicht, ob mein Betreuer morgen die Schlüssel brauchte, also schnappte ich sie mir und klopfte eine halbe Minute später an seine Tür. Zuerst rührte sich gar nichts. Gerade als ich wieder gehen wollte hörte ich, wie ein Schloss entriegelte und mir geöffnet wurde.

„Ah, du bist es. Das trifft sich gut. Komm rein.“ Ich kam nur zögernd der Aufforderung nach, da mich sein niedliches Lächeln in Sekunden in Trance versetzt hatte. Außerdem war er barfuss, nur mit Shorts und einem locker sitzenden T-Shirt bekleidet. „Setz dich aufs Sofa. Ich hol uns was zu trinken.“

Unsicher ging ich darauf zu und schaute mich um. Ich war in keinem Zimmer, sondern in einer Wohnung gelandet. In der Mitte des Raumes stand die Couch und dahinter an der Wand ein großer Fernseher. Links, etwa fünf Meter von mir entfernt führte eine Tür in ein anderes Zimmer, rechts verschmolz eine in blau- und Schwarztönen gehaltene Einbauküche mit der Wand. Marco stand hinter dem Tresen und suchte etwas aus dem Kühlschrank.

„Wow. Ist nicht schlecht dein ‚Zimmer’.“, meinte ich und setzte mich aufs Sofa. Im Hintergrund hörte ich My Chemical Romance laufen.

„Der Besitzer hat sie mir günstig angeboten, als ich vor ein paar Jahren hier anfing.“ Mein Betreuer stellte zwei Bier auf den Couchtisch und setzte sich neben mich.

„Ich dachte, Alkohol wäre verboten?“, fragte ich und deutete auf die Flaschen.

„Der Drache ist am frühen Abend abgereist und kommt erst morgen Nachmittag wieder. Außerdem ist das meine Wohnung und da gelten nur meine Regeln.“

„Ach so.“, lachte ich, griff nach meinem Bier und stieß mit ihm an.

„Du, ich hab deinen Arbeitsplan bekommen. Die erste Woche bist du in der Küche eingeteilt worden, die zweite in der Wäscherei und die dritte werden individuell gestaltet. Sei morgen um sieben fertig. Ich hol dich ab und stell dir unten die anderen Leute vor. Meist frühstücken wir alle zusammen und fangen danach gegen halb acht an, die Kids zu wecken. Du bist für deine vier verantwortlich. Schmeiß sie aus den Betten und sorg dafür, dass sie fünfzehn Minuten später in der Mensa sind. Viertel neun fängt der Unterricht an.

Du hilfst in der Küche beim Mittagessen. Gegen fünfzehn Uhr hast du dort Feierabend. Dein nächster Gang wird dich ins Sekretariat führen, wo du im Klassenbuch nachlesen kannst, was in Sachen Hausaufgaben ansteht. Sorg dafür, dass deine Schützlinge diese selbständig und ordentlich machen. Ansonsten hast du bis zum Abend frei. Halte dich am besten bis dahin an einem Ort auf, wo die Jungs dich immer schnell finden. Es ist nicht geplant, dass sie dich ständig auf dem Zimmer besuchen.

Wenn du das Grundstück verlässt und zum Beispiel im Markt um die Ecke einkaufen gehst, musst du dich im Sekretariat abmelden. Meist wird dann eh ne Sammelbestellung aufgegeben, was du den anderen Lehrern mitbringen sollst. Soweit alles klar?“

„Bisschen viel für den Anfang, aber noch blick ich durch.“, meinte ich und hasste jetzt schon meinen Wecker, wenn der am nächsten Morgen so früh klingeln würde. „Sag mal, wer ist eigentlich mein Zimmergenosse?“, fragte ich nach einer kurzen Zeit der Stille, in der mein Gegenüber mich unverhohlen musterte.

„Er heißt Rey. Müsste so in deinem Alter sein. Er kommt morgen im Laufe des Tages wieder.“

„Warum ist er hier? Ich meine, was hat er angestellt?“

„Tom, sowas fragen wir hier prinzipiell niemanden. Vorurteile sind nicht gut für die Rehabilitation. Wieso bist du eigentlich hergekommen? Haben die Jungs im letzten Zimmer was angestellt?“

„Nein, nein. Im Gegenteil. Ich würde gerne auf die Kids dort aufpassen in der nächsten Zeit. Und ich habe deine Schlüssel noch.“, sagte ich rasch und reiche sie ihm.

„Schade.“, meinte Marco und nahm den Bund aus meiner Hand. Nur wie er das tat jagte mir kleine Stromstöße durch den Körper. Er streichelte meine Finger und spielte mit ihnen. „Ich hatte gehofft, dass du deinen Gewinn einforderst.“, säuselte er, legte die Schlüssel auf den Tisch und seine Hand in meinen Nacken. Sein Kopf kam langsam auf mich zu und er zog mich gleichzeitig zu ihm hin. Die rehbraunen Augen brannten sich regelrecht in meine und er lächelte verschmitzt. Mein Herz pochte wild gegen meine Brust, als wolle es ausbrechen. Ich sah seine Lippen immer näher kommen und selbst wenn ich zu einer kontrollierten Bewegung fähig gewesen wäre, hätte ich mich dagegen nicht gewehrt.

Doch noch bevor sich unsere Lippen trafen, klopfte es laut an der Tür. Ich zuckte erschrocken zusammen und mein Gegenüber hielt inne.

„Marco? Ich bin’s, Dani. Komm beweg dich. Wir haben Nachtdienst und es ist Zeit für unsere Runde.“, hörten wir den Störenfried von draußen rufen.

„Es sollte mit uns wohl nicht sein.“, seufzte mein Betreuer, sah mich noch einmal bedauernd an bevor er aufstand und seine Tür öffnete. Die Sekretärin betrat, bewaffnet mit einer Taschenlampe das Zimmer und musterte mit gerunzelter Stirn erst mich und dann ihren Kollegen.

„Wir sind den Plan für die Woche durchgegangen und er wollte sich sein Bettzeug bei mir abholen.“, versuchte Marco zu erklären und drückte mir ein Stapel Wäsche in die Hand, als ich aufstand und mich der Tür zuwandte.

„Ja klar.“, sagte Dani recht überzeugt und schaute meinen Betreuer genervt an. „Zieh dir endlich was drüber. Ich will einmal vor 24 Uhr im Bett sein. Und du, Kleiner, siehst auch zu, dass du in die Heia kommst.“

‚Bilde ich mir das nur ein, oder zickt die Frau mich gerade an?’ Verwirrt von dem Durcheinander, welches gerade in meinem Kopf wütete, murmelte ich ein ‚Gute Nacht’ und tapste in mein Zimmer. Geistesabwesend bezog ich mein Bett, warf meine Klamotten in die Ecke, stellte noch fix meinen Wecker und kuschelte mich unter die Decke. Ich wusste nicht, ob ich nach so einem chaotischen, total verrückten Tag überhaupt schlafen konnte, aber Wundersamerweise driftete ich kurze Zeit später ab in die Welt der Träume.

*

Der nächste Morgen begann mit einem hässlichen Geklingel meines Handyweckers und leicht pochenden Kopfschmerzen. Stöhnend drehte ich mich zu dem Krachmacher und tastete blind über den Nachtschrank, um ihn auszuschalten. Als endlich wieder Ruhe herrschte, vergrub ich meinen Kopf im Kissen und zog die Decke drüber. ‚Nur noch fünf Minuten.’, dachte ich mir und wäre auch fast wieder eingenickt, wenn nicht irgendein Vollidiot laut an meine Zimmertür gepocht hätte.

„Komm Tomas, aufstehen. Ich habe deinen Wecker gehört, also raus aus den Federn, sonst verpasst du noch das Frühstück.“, hörte ich meinen Betreuer von draußen rufen. Nur war ich noch nicht richtig wach, weswegen ich anfing rumzugrummeln. Marco musste das wohl gehört haben. „Wenn du nicht in zehn Minuten unten in der Mensa bist, komm ich noch mal hoch und schleif dich unter die kalte Dusche.“

Erst jetzt registrierte ich, wer da überhaupt vor der Tür stand und saß mit einem Mal im Bett. Im Bruchteil einer Sekunde rasten die Bilder des gestrigen Abends durch meinen Kopf. Wie er mit meinen Fingern spielte, wie seine rehbraunen Augen mich zu durchbohren versuchten, wie seine Lippen den meinen immer näher kamen…

„Tomas?“ Marco hatte den Kopf in das Zimmer gesteckt und blickte mich mit gerunzelter Stirn an.

„Ich… ich bin munter.“, stotterte ich, nachdem ich aus meiner Starre erwacht war.

„Hm, wird’s also nichts mit zusammen duschen. Schade.“, meinte mein Betreuer bedauernd und ich merkte, wie ich rot anlief und sich auch in anderen Gegenden was regte. Zu meinem Glück war es im Raum noch recht dunkel, somit hoffte ich, dass dies alles vor Marco verborgen blieb. Obwohl ich hätte schwören können, dass er genau wusste, mit welchen Worten er was bei mir hervorrief. „Beeil dich, sonst ist das Frühstück vorbei.“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu und verschwand aus meinem Zimmer.

Ich blieb verdattert auf meinem Bett sitzen und blickte wie hypnotisiert die Tür an. Nachdem ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, tapste ich ins Bad und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, um klar im Kopf zu werden. Dummerweise hatte ich am Vortag vergessen, dort die Heizung anzumachen. Die Fliesen unter meinen nackten Füßen waren dadurch eisig, ich dafür aber hinterher umso wacher. Schnell hatte ich mir meine Zähne geputzt und die vereinzelten Stoppeln aus meinem Gesicht rasiert. Das mit Coke verklebte Shirt von gestern warf ich einen Beutel, den mir meine Mutter für die dreckigen Sachen mitgegeben hatte.

In frischen Klamotten betrat ich einige Minuten später die Mensa und gesellte mich mit einem ‚Guten Morgen’ zu den anderen Lehrern. Marco lächelte mich wieder verführerisch an und stellte mich jedem vor. Ich konnte nur dumm-dämlich zurückgrinsen und versuchen, nicht allzu rot anzulaufen. Nachdem die Begrüßungszeremonie vorbei war, schnappte ich mir einen Cappu und griff mir eins von den Brötchen, die extra für die Erzieher auf dem Tisch standen. Während des Frühstücks lauschte ich den Gesprächen der anderen und ließ mir gute Tipps geben, wie ich mit meinen Schützlingen umgehen könnte. Die ganze Stimmung war locker und entspannt und die meisten sprühten regelrecht vor Tatendrang. Jeder lächelte einem aufmunternd zu. Das Ganze war verdammt ansteckend.

Nach einer Weile kamen die ersten Kids aus den älteren Gruppen gähnend in die Mensa geschlurft und wir räumten unser Geschirr zusammen, um dann anschließend die Kinder aus dem Bett zu holen, die sich wie ich nach dem Weckerklingeln nochmals unter die Decke verkrochen hatten. Ich ging mit Marco zu unseren Schützlingen und er erklärte mir, worauf ich achten musste. Wie immer hing ich an seinen Lippen und er schien es zu genießen.

Vor den Zimmern der Jungs trennten wir uns und ich schmiss mit einem lauten ‚Guten Morgen’ die Kids aus ihren Federn. Josch war allerdings nicht so leicht aus dem Bett zu kriegen, weswegen ich ihm seine Decke klaute. Er fand das natürlich überhaupt nicht lustig und warf mir sein Kissen an den Kopf. Sowas konnte ich wiederum nicht auf mir sitzen lassen, worauf mit meinen vier Jungs eine wilde Kissenschlacht entstand. Nach einer Weile saß ich nach Luft jappsend auf einem Stuhl und beobachtete grinsend meine Kids. Ich staunte wie viel Energie die am frühen Morgen schon aufbringen konnten. Ein Blick auf die Uhr zwang mich jedoch wieder aufzustehen und den Kampf um den Herrn der Kissen zu beenden.

„So, genug fürs Erste. In zehn Minuten steht ihr vor dem Zimmer und zwar frisch gewaschen, die Zähne geputzt und ordentlich angezogen. Ansonsten spielen wir das nächste Mal nicht mit Kissen, sondern mit kalten, nassen Waschlappen.“, rief ich auffordernd. Die Jungs sprangen quiekend aus ihren Betten, schnappten sich ihre Waschtaschen und machten sich auf den Weg in den Waschraum.

Ich räumte derweil die Kissen wieder an ihren Platz und schlug die Decken zum Lüften zurück. Danach ging ich aus dem Zimmer und gesellte mich zu Marco, der bei den Fenstern stand und hinaus schaute. Ein Lichtstrahl verfing sich in seinem dunkelbraunen Haar, als er sich zu mir wandte. Wieder verschlug es mir einfach die Sprache. Er trug zwar nur seine legeren Sportsachen, sah aber trotzdem übel sexy aus, wie er sich locker an die Wand lehnte, seine Unterarme auf das Fensterbrett gestützt.

„Scheinst ja die Rasselbande super im Griff zu haben, so quietsch vergnügt wie die aus ihrem Zimmer gehüpft kamen. Sonst muss man sie halb ins Bad schleifen.“, lachte Marco mich an, worauf ich mit nem Schulterzucken und einem unschuldigen Grinsen antwortete. „Sobald die Kids marschbereit angetreten und sich zum Frühstück abgemeldet haben, meldest du dich unten in der Küche. Die Jungs sitzen bis 16 Uhr in den Aufenthaltsräumen, zwecks lernen, Hausaufgaben oder sie spielen wenn sie mit allem fertig sind. Schau einfach nach ihnen wie gestern besprochen. Apropos gestern.“, meinte mein Betreuer, schaute sich nach links und rechts um und griff sanft nach meinem Kinn, als er niemanden sah. „Wir waren da wo stehen geblieben…“, hauchte er und beugte sich leicht zu mir runter.

Nur hörte ich, wie meine Schützlinge laut lachend wieder aus dem Waschraum gestürmt kamen und auf uns zusteuerten. Erschrocken riss ich mich von Marco los und drehte mich zu den Kindern. Die schienen jedoch nichts mitbekommen zu haben – zum Glück.

„Ihr habt noch fünf Minuten um euch anzuziehen, Haare zu kämmen und wieder hier zu erscheinen. Marsch, marsch.“, rief ich ihnen zu, worauf sie mit einem ‚Alles klaro’ im Zimmer verschwanden.

„Es sollte wohl wirklich mit uns nicht sein.“, seufzte mein Betreuer und stieß sich von dem Fensterbrett ab, als die ersten Kids wieder auf den Flur traten und sich der Größe nach geordnet vor ihren Räumen postierten.

Als alle sechzehn Jungs bereit standen, trat eines der Kinder vor und meldete, dass sie vollzählig angetreten und bereit zum Frühstück waren. Marco musterte jeden Einzelnen von ihnen, nickte dann und sagte: „Zum Frühstück weggetreten.“, worauf die Meute wild durcheinander schwatzend zur Treppe lief. Josch schenkte mir noch ein strahlendes Lachen, bevor er mit den anderen verschwand.

„Recht militärisch hier.“, sagte ich, während ich Josch nachblickte.

„Das ist der einzige Weg, damit die Prozedur jeden Morgen reibungslos klappt. Von den Jungs ist jeder einmal eine Woche lang Gruppensprecher. Falls ich mal nicht da sein sollte, wird das Ganze dann von ihm übernommen. Die nächste Zeit werden entweder er oder du und dein Zimmergenosse das übernehmen müssen. Zumindest in der Woche. Am Wochenende dürfen die Kids so lange schlafen, wie sie möchten.“, erklärte mir mein Betreuer.

„Fährst du etwa weg, oder wieso muss das von jemand anderem übernommen werden?“ Fragend schaute ich mit gerunzelter Stirn mein Gegenüber an.

„Von wegfahren, geschweige denn Urlaub kann zurzeit keine Rede sein. Ein Lehrer ist krank geworden. Er wird für eine ganze Weile ausfallen und ich habe den Großteil seiner Aufgaben aufgebrummt bekommen. Das bedeutet, dass ich ab jetzt Gemeinschaftskunde mit unterrichte und auch seine zwanzig Jungs betreuen muss. Ich werde kaum Zeit für irgendwas oder jemand demnächst haben, selbst am Wochenende nicht. Wir müssen wohl unser Date auf viel später verschieben.“ Seufzend blieb Marco vor der Turnhalle stehen und musterte mich mit seinen rehbraunen Augen.

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich ihm die ganze Zeit gefolgt war, denn eigentlich hätte ich unten an den Treppen nach links und nicht nach rechts gemusst. Es war niemand weit und breit zu sehen, da wohl alle Kids noch beim Frühstück saßen. Mein Betreuer schien das auch gemerkt zu haben und lächelte mich verführerisch an.

„Sag mal Tom, ist die Küche nicht am anderen Ende des Ganges?“, fragte er leise.

„Ähm ja, ich… ähm… bin schon unterwegs.“, stotterte ich und wollte davon stürmen.

Doch Marco packte mich am Handgelenk, zog mich zu sich und hob meinen Kopf leicht an. Dann presste er sanft seine Lippen auf meine.

*

Ich trottete geistesabwesend in die Großküche des Heimes und hörte auch nur mit einem Ohr hin, als ich zum Gemüseputzen in einem kleineren Raum hinter der eigentlichen Küche eingeteilt wurde. Erst ein fröhliches ‚Moin’ holte mich in die Wirklichkeit zurück. Verwirrt blickte ich auf und schaute in die wachen Augen eines Mädchens mit brünetten Haaren, welche sie zu einem Zopf nach hinten gebunden hatte. Nur zwei Strähnen ihres Ponys fielen ihr links und rechts ins Gesicht.

„Oh, ein Neuling. Hey, ich bin Cat.“, begrüßte sie mich während sie ihre Schürze hinterm Nacken festband.

„Tomas, hallo.“

„Na, du sprühst ja nicht gerade vor Freude. Soweit ich den Gerüchten trauen darf, kommt unser Hausdrache doch erst am Nachmittag wieder. Wie auch immer. Ich sorg erstmal für nen bisschen Musik zum wach werden. Sonst bekommt man hier hinten noch Dauerdepri.“, quasselte Cat weiter und gab mir gar nicht erst die Möglichkeit, was darauf zu erwidern.

Sie lief in eine andere Ecke des Raumes und ich hörte, wie sie eine CD-Hülle öffnete und auf einem Player herumdrückte. Wenige Sekunden später dröhnte Oomph! in Diskolautstärke an meine Ohren. Cat fluchte kurz und regelte das Volumen runter.

„Sorry. Ich mach das abends beim Aufräumen wenn ich allein bin immer etwas lauter. Da putzt es sich einfach besser.“, entschuldigte sie sich, wippte mit dem Kopf im Takt der Musik und sang leise ein paar Passagen des Liedes mit. Verdattert beobachtete ich, wie sie ein Messer aus einer Schublade holte, es hoch warf, am Griff auffing, sich mir gegenüber setzte und nach ein paar Kartoffeln griff.

„Hab ich irgendwas im Gesicht, oder wieso guckst du so komisch?“, fragte Cat mich lachend.

„Ehm, nein. Tschuldige. Bin wohl etwas durcheinander.“, versuchte ich mich zu erklären, doch das Mädchen winkte nur ab.

„Bisher war das jeder Neuling. Das liegt an der Umgebung und an den Leuten. Um hier normal arbeiten zu können, muss man ein Stück seltsam oder kaputt sein. Hast du bestimmt auch schon mitbekommen, oder?“ Fröhlich wippend schaute sie mich neugierig an.

Ich blickte nur auf den Tisch und dachte an Marco, wie sich unsere Lippen getroffen hatten, wie er sich mit einem gesäuselten ‚Bis später’ bei mir verabschiedete, in die Turnhalle ging und mich total benommen, mit wild klopfendem Herzen zurückließ.

„Ahh, Volltreffer.“, grinste Cat triumphierend, worauf ich komplett rot anlief. „Keine Angst. Ich will gar nicht wissen, wer es ist. Früher oder später finde ich das eh ohne großes Zutun raus. So, da ich in der Küche deine Vorgesetzte bin, befehle ich dir, schneller die Kartoffeln für den Eintopf zu schälen. Sonst kommt noch die olle Meckertante von vorne und plustert sich unnütz auf.“

Mit geschickten Händen hatte die Kleine schon mehrere Knollen sauber geschält und warf sie in eine Schüssel, die sie links neben sich gestellt hatte. Obwohl mir das Mädchen für meinen Geschmack zu hibbelig und hyperaktiv schien, fand ich sie doch sympathisch. Ein wenig musste ich über sie schmunzeln, wie sie wackelnd auf der anderen Seite der Theke saß und ohne sich zu schneiden ihre Arbeit erledigte. Plötzlich jedoch hielt sie inne, schaute auf und sah mich grinsend an.

„Hey, du kannst ja lächeln. Solltest du öfters machen. Sieht nämlich richtig niedlich aus.“, zwinkerte Cat mir zu und ließ mich stottern. „Keine Angst“, unterbrach sie mich lachend, „das war nur die Wahrheit, keine Anmache. Du schaust zwar recht süß aus, sweety, bist aber für meinen Geschmack viel zu jung.“

„Wie alt bist du denn?“, fragte ich sie mit gerunzelter Stirn.

„22. Ich geh straff auf ein viertel Jahrhundert zu. Meine Knochen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.“, meinte sie, verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse und reckte sich, sodass man es einige Male laut knacken hörte.

„Ich hätte dich höchstens auf 18 geschätzt.“, sagte ich und schüttelte amüsiert den Kopf.

„Ich seh das jetzt einfach mal als Kompliment an. In zwanzig Jahren freu ich mich drüber.“

„Dann sitzt du hier auch nicht deine Sozialstunden ab?“

„Nö. Bisher war ich immer brav oder wurde nicht erwischt. Ich arbeite neben meinem Studium hier.“

„Ach so.“

Beide grinsten wir uns breit an und verfielen in kleinere Diskussionen über Musik, Essen, Hobbies und putzten nebenher das Gemüse. Ich erfuhr, dass sie ganz in der Nähe über nem Club wohnte und meist bis zur letzten Minute schlief, was erklärte, warum sie nicht beim Frühstück gewesen war.

„So früh am Morgen bekomm ich eh nichts runter. Meine normale Aufstehzeit liegt zwischen zehn und elf Uhr. Weil wir gerade bei meinem Lieblingsthema sind.“, sagte Cat, legte ihr Werkzeug beiseite und ging zu ihrer Tasche, die sie in einer Ecke neben dem Eingang abgelegt hatte.

Nach kurzer Suche fand sie das Gewünschte und setzte sich freudestrahlend wieder an den Tresen. In die Mitte des Tisches stellte sie eine große Packung Prinzenrolle, griff sich ein Keks und biss genüsslich hinein. Zufrieden lehnte Cat sich an der kleinen Lehne des Barhockers zurück und ließ das Gebäck genießerisch auf ihrer Zunge zergehen. Man konnte ihr richtig ansehen, dass sie sich gerade in ihrem Element befand. Obwohl man nicht mal im Entferntesten vermutete, dass Essen ihr Hobby war, so schlank wie sie ausschaute.

Ihre Augen leuchteten regelrecht, als sie ein zweites Mal abbiss und mir dann auffordernd zunickte, dass ich mir auch einen nehmen sollte. Ich tat wie geheißen und langte nach einem runden Keks. Doch gerade als ich in ihn reinbeißen wollte, flog die Tür, die zur Großküche führte auf und prallte scheppernd gegen den dahinter stehenden, eisernen Schrank. Erschrocken schmiss ich meinen Keks in die Luft, konnte ihn aber gerade noch mit wild rudernden Armen auffangen. In dem kleinen Raum stand ein Typ so in meinem Alter, vielleicht auch etwas jünger und blickte verärgert zu Cat hinüber.

„Oh. Hey. Moin.“, begrüßte sie ihn, stopfte sich den Rest des Gebäcks zwischen die Zähne und quasselte fröhlich mit vollem Mund weiter. „Na, alles klar bei di…“

„Ja sicher.“, unterbrach der Kerl sie barsch. „Wie weit seid ihr mit dem Gemüse? Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Hör auf rumzufuttern und mach hinne. Ich hab keine Lust, den ganzen Nachmittag hier wegen dir abzuhängen.“ Ohne auch nur die geringste Notiz von mir zu nehmen, drehte er sich um, ging aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

„Danke der Nachfrage. Mir geht es auch echt super. Mein Wochenende war recht entspannt und im Club war einiges los. Und ja, du hast richtig mitbekommen, wir haben einen Neuen in unseren Reihen. Tomas das ist die olle Meckertante, Meckertante das ist Tomas.“, stelle Cat mich bissig der Tür vor und warf wütend eine extra große Kartoffelschale nach ihr.

„Was war denn das?“, fragte ich verwirrt und starrte noch immer auf die Stelle, wo der Typ vor wenigen Sekunden noch rumgemotzt hatte.

„Das war der Vollidiot des Tages, der gestern seinen Urlaub gestrichen bekommen hat und deswegen total sauer zu sein scheint. Mir geht’s doch auch nicht viel besser, aber renne ich rumkeifend durch die Gegend?“ Cat grummelte noch eine ganze Weile vor sich hin und schälte energisch die Kartoffeln.

Mit mühsam erarbeitetem Erfolg munterte ich sie Stück für Stück wieder auf, bis die Kleine wieder freudig mit ihrem Körper im Takt der Musik mitwippte. Zirka eine halbe Stunde später stand der Typ mit den kurzen, hellbraunen Haaren wieder im Raum und fixierte Cat genervt, als sie ihm halb tanzend die große Schüssel mit den fertigen Kartoffeln reichte. So verlief eigentlich der Tag bis zum Mittag. Gemüse musste geputzt und klein geschnitten werden, welches dann vorne weiterverarbeitet wurde. Die Kids kamen dann um zwölf Uhr und Cat und ich halfen mit bei der Essensausgabe. Über eine Stunde später war auch das letzte hungrige Maul gestopft und wir konnten endlich selbst Pause machen.

Ein Teil der Küchenmannschaft saß mit uns in der Mensa am Tisch und es wurde der neueste Tratsch ausgetauscht. Cat war, ich glaube nach der zweiten Portion, vorerst mit Essen fertig und vertiefte sich gerade in ein kleines Buch. Bei genauerer Betrachtung erkannte ich, was sie da gerade las.

„Ich weiß wie der Manga ausgeht.“, flüsterte ich grinsend zu ihr und betrachtete die Bilder um zu schauen, wo sie im Moment war.

„Ein Wort und du bist tot.“, antwortete sie leise, ohne auch nur von den Zeichnungen aufzusehen.

Als ich schon dachte, sie würde nichts weiter dazu sagen, runzelte sie die Stirn und blickte mich aus zusammen­gekniffenen Augen an. „Du liest also solche Mangas?“, fragte Cat.

„Überwiegend welche in dieser Richtung, ja.“, meinte ich locker und tat so, als ob ich in ihrem Buch schmökern würde. In Wirklichkeit fing aber mein Herz an, schneller zu pochen und ich bekam schweißnasse Hände.

„Aha.“, war das Einzige, was sie sagte und wandte sich grinsend wieder ihrem Manga zu.

Sie war die erste Frau, der ich mich – wenn auch indirekt – geoutet hatte und ich fühlte mich einfach riesig. Cat war weder auch nur einen Millimeter von mir weggerückt, noch schreiend und schimpfend davongerannt. Sie blieb genauso sitzen wie zuvor, hielt mir sogar das Buch etwas näher, damit wir gemeinsam gemütlich drin lesen konnten.

Nach unserer Pause war Abwaschen angesagt. Also im Großen und Ganzen bedeutete das, dass wir die Teller und das Besteck in den riesigen Geschirrspüler stapelten und wenn der fertig war, wir das saubere Zeug an seinen Platz zurückstellten. Zwischen den Waschgängen hatten Cat und ich immer etwas Zeit, in der wir rumblödelten und laut lachten. Der ‚Meckertante’ schien das alles überhaupt nicht zu passen und beauftragte uns kurzerhand, die Mensa zu fegen und zu wischen. Gegen vierzehn Uhr gesellte sich Josch zu uns, um seine Strafe abzusitzen. Cat schien ihn sehr gut zu kennen, denn sie wuschelte ihm oft freundschaftlich durchs Haar und der Kleine wusste auch genau, wo das Geschirr hingehörte.

Kurz vor fünfzehn Uhr wurde ich ‚entlassen’ und zu meinen Schützlingen in den Aufenthaltsraum geschickt. Die Jungs waren soweit mit allem fertig, weswegen ich über die Matheaufgaben nur drüber schauen brauchte und bei Englisch hier und da ein Wort korrigierte. Schnell waren die Schulbücher beiseite geräumt und kurze Zeit später befand ich mich mit meinen Kids in einer wilden Schlacht um die Herrschaft über das Spielbrett bei Mensch-Ärgere-Dich-Nicht. Mittendrin erfanden die Jungs immer neue Regeln, wodurch prinzipiell nur meine Figuren im Nachteil waren und rausflogen. Sechzehn Uhr kam Josch angetrottet und machte widerwillig seine Hausaufgaben. Irgendwas war mit ihm los, denn er zog ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter und reagierte gereizt, wenn man ihn ansprach.

Als er mit seiner Arbeit fertig war, verabschiedete ich mich vorerst und ging auf mein Zimmer um zu duschen. Ich wollte einfach den Geruch der Küche und des Essens loswerden. ‚Wieso war Josch so seltsam gewesen? Als er vom Unterricht in die Küche kam, war er noch voll fröhlich drauf. Vielleicht hatte dieser seltsame Kerl was damit zu tun. Wenn der meinen Schützlingen nur einmal dumm kommt, setzt’s was.’ Das Gesicht des Typen erschien vor meinem inneren Auge und ich musste zu meinem Leidwesen zugeben, dass er gar nicht mal so übel ausschaute. Kurzgeschnittene, hellbraune Haare, die im Licht fast blond schimmerten, dunkelblaue, unerforschbare Augen, schmale Lippen, Stupsnase, schlanke, aber in keinem Fall dünne Statur und er schien ein kleines Stück kleiner als ich zu sein.

‚Stimmt, er sieht äußerst lecker aus, hat aber bis jetzt nen miesen Charakter an den Tag gelegt.’ Mit diesem Gedanken wusch ich mir das Shampoo aus den Haaren, drehte dann das Wasser ab und stieg aus der Dusche. Schnell hatte ich mich abgetrocknet, mir die frische Boxer drüber gezogen und tapste mit dem Handtuch auf dem Kopf, Haare trocken rubbelnd aus dem Bad. Im Zimmer angekommen traf mich fast der Schlag, oder besser gesagt der Kälteschock. Irgendein Vollidiot hatte das Fenster sperrangelweit aufgerissen und lehnte sich mit dem Oberkörper leicht nach draußen. Eisig wehte der Wind ins Zimmer und ließ mich bis ins Mark zittern.

„Wäää. Könntest du mir den Gefallen tun und das Fenster zumachen. Ich frier mir gerade nen Ast ab.“ Mein Gegenüber zuckte erschrocken zusammen und drehte sich zu mir um. Mit großen Augen starrte ich in das blasse Gesicht des Typen aus der Küche. „Was machst du denn hier?“, fragte ich überrascht und eine Gänsehaut überzog meinen ganzen Körper.

„In meinem Zimmer kann ich tun und lassen, was ich will.“, antwortete er trotzig, bewegte sich dennoch kein Stück. Ich im Gegenzug wurde langsam sauer.

„Hallo! Das Fenster!?“, blaffte ich etwas rum.

„Zieh dir doch was drüber, wenn du frierst wie nen Mädchen!“ Wütend blitzte Rey mich an und stürmte dann an mir vorbei, nicht ohne mich ‚unabsichtlich’ anzurempeln.

„Was war DAS denn???“ Verärgert blickte ich meinen Zimmergenossen hinterher. Dann wandte ich mich dem Fenster zu und schloss es endlich. Meine Hand strich beiläufig über das Fensterbrett und berührte etwas Feuchtes. Verwundert hielt ich inne und betrachtete meine Finger, dann den Sims. Vereinzelt erkannte ich ein paar Tropfen, die darauf verteilt waren. Ich schaute nach draußen, aber es war kein Regen oder Schnee zu sehen. Einer Vorahnung folgend kostete ich vorsichtig meine Fingerspitzen. Es schmeckte salzig. ‚Jetzt versteh ich gar nichts mehr.’

Rasch zog ich mich an, griff nach einem Buch und wollte mich auf dem Weg in den Aufenthaltsraum meiner Schützlinge machen, um mich von ihnen etwas ablenken zu lassen. Die Vorstellung, dass ich mit so nem verwirrenden Idioten drei Wochen lang das Zimmer teilen musste, war zum Kotzen und irritierend zugleich. Unterwegs kam ich an der Turnhalle vorbei, wo, soweit ich das durch die in die schwere Tür eingelassenen kleinen Fenster sehen konnte, ein reges Treiben herrschte.

„Ah, gut dass ich Sie hier antreffe, Tomas. Wären Sie so freundlich und würden uns ein wenig zur Hand gehen?“ Sophia Müller kam voll gepackt mit Kartons und Tüten auf mich zu, gefolgt von vier Schülern, die nicht viel weniger trugen.

Sie war die Deutschlehrerin des Heimes, zirka Ende dreißig und huschte trotz ihres korpulenten Körperbaus wie ein Wirbelwind durch die Gegend. Ich mochte sie, da die kleine Frau noch übel fesch drauf und die Fröhlichkeit in Person war.

„Klar.“, meinte ich und öffnete ihr die Tür.

„Wissen sie, wir führen immer zu Beginn jeder Jahreszeit ein Theaterstück auf. Eine kleine Bühne haben wir auch. Könnten sie uns vielleicht helfen, die schweren Teile aus dem Abstellraum hinter dem Gerätezimmer vor zu holen und aufzubauen? Das wäre wirklich sehr hilfreich.“, bat Sophia mich und ich konnte ihren Wunsch unmöglich abschlagen.

„Gerne. Ist doch kein Problem. Wo soll das Ganze denn hin?“

„Zuerst kommt das Fußballtor hinten weg, dort muss dann die Bühne stehen.“, wurde mir erklärt, bevor Frau Müller ihre Schüler zu sich rief. „Alle mal bitte herhören. Legt die Utensilien bitte hinten am Tor ab. Wir gehen erstmal zurück in den Klassenraum und besprechen dort das Stück und die Besetzung.“

Die Kids taten wie geheißen und verschwanden nach und nach aus der Sporthalle. Sophia bedankte sich bei mir für die Hilfe und meinte, dass sie einen kräftigen Mann eingespannt hätte, der schon im Abstellraum seiner Arbeit nachkam und mir zur Hand gehen würde. Nachdem auch sie weg war, flog ich regelrecht auf die Gerätekammer zu, in der Hoffnung, dass ich Marco dort antreffen würde. Mein Herz fing vor Freude an, heftiger zu pochen und ich betrat mit einem breiten Grinsen den Raum. Doch anstatt in rehbraune Augen zu blicken, traf mich tiefes Blau. Rey stand keinen Meter von mir entfernt und musterte mich, als wenn ich vom Mars kommen würde.

„Was is‘n so lustig?“, fragte er mich patzig. Wie versteinert stand ich da und mir entglitten jegliche Gesichtszüge. „Darf ich mal?!“ Mit diesen Worten drängelte er sich grob an mir vorbei. Ich stolperte zur Seite und verlor mit jeder Sekunde mehr die Lust, am Bühnenaufbau zu helfen. Die Nase gestrichen voll stapfte ich aus der Gerätekammer auf den Ausgang der Sporthalle zu. Dort ging gerade die Tür auf und Sophia trat lächelnd ein.

„Da hab ich doch wirklich meine Tasche hier vergessen.“, plapperte sie, nahm das Gesuchte und wandte sich anschließend wieder an mich. „Wirklich schön, dass Sie mir helfen. Zu zweit geht sowas eh immer am besten. Wenn ich es schaffe, komm ich heute Abend noch mal vorbei und schau, wie weit Sie es geschafft haben. Bis dann also.“

Mit einem gequälten Lächeln nickte ich ihr zu und drehte mich angepisst zu meinem Kollegen, als sie weg war. Widerwillig trottete ich zu ihm, wo er dabei war, einige Holzstücke zu sortieren.

„Ist noch mehr davon hinten?“, versuchte ich möglichst neutral zu fragen.

„Ich schaff das schon allein.“, zickte Rey mich an.

„Der Meinung bin ich eigentlich auch, aber ich hab Sophia zugesagt, ihr zu helfen. Also was ist nun?“

„Alles was dort steht gehört zu der Bühne. Tu dir aber keinen Zwang an.“

„Bestimmt nicht.“

Missmutig holte ich die restlichen Holzteile aus der Kammer, während mein Mitbewohner sie inspizierte und in etwa an den richtigen Platz legte. Zwei große Platten mussten wir allerdings zusammen raus schleppen, was seltsamerweise recht gut funktionierte. Der Kleine konnte ganz gut anpacken und so hatten wir den Großteil der Bühne in einer passablen Zeit aufgebaut. Die Hälfte davon funktionierte wie ein Stecksystem, der Rest musste mit Nägeln fixiert werden.

Rey war recht ruhig und hatte damit aufgehört, dummes Zeug von sich zu geben. Er war voll in seine Arbeit vertieft und wechselte wenn überhaupt nur ein, zwei Wörter mit mir. Ich fing an, ihn heimlich zu beobachten. Er hatte seinen Pullover ausgezogen und präsentierte sich in einem engen, dunklen Muskelshirt. An seinen Oberarmen war ein sanftes Spiel der Muskeln zu sehen und seine schlanken Finger lenkten geschickt jedes Holzteil zu seinem angestammten Platz. Positiv überrascht nahm ich ein leichtes Zucken seiner Mundwinkel wahr, als er das halbfertige Werk betrachtete.

„Wir müssen nur noch die Nägel reinhauen, dann steht das Grundgerüst. Was die Theatergruppe an Extradeko braucht, wird sie bestimmt später noch sagen.“, meinte er ruhig, schaute mich aber weiterhin nicht an, sondern drehte sich um und steuerte auf die Gerätekammer zu.

Neugierig folgte ich ihm und betrachtete seinen Rücken und besonders seinen Po, der absolut lecker unter seiner Stoffhose verborgen hin und her wippte. Als ich begriff, was ich gerade tat, blieb ich vor Schreck stehen. ‚Nein, der nicht. Vom Aussehen her würde er zwar voll in mein Beuteschema passen, aber nicht mit diesem miesen Charakter. Obwohl… Irgendwie interessieren tat er mich schon. Was zum Beispiel war oben am Fenster passiert?’

Ich hatte diesen Gedanken noch nicht mal ganz zu Ende geführt, als ich mit dem Kopf gegen die Tür der Gerätekammer donnerte. Da die Türen, die zur Sporthalle führten, sich von alleine schlossen und ich wieder mal voll am Träumen war, war das eigentlich kein verwunderliches Resultat. Doch war ich trotzdem auf Rey sauer, weil er mir echt die Tür hätte aufhalten können.

‚Ne, der nicht.’, dachte ich grimmig und folgte meinem Mitbewohner, den ich gerade in einem anderen Raum verschwinden sah. Vor mich hingrummelnd betrat ich die kleine, stickige Kammer und fand Rey am anderen Ende, wie er vor einem Regal kniete und was suchte. Sein Shirt war ein Stück hoch gerutscht, was mir einen Freiblick auf ein bisschen nackte Haut gewährte. Ich schüttelte enttäuscht über mich selbst meinen Kopf und rieb meine schmerzende Stirn. Wie konnte so wenig Rücken schon so viel seltsame Gedanken und leichtes Herzklopfen bei mir verursachen? Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich einen lauten Knall hörte und Rey sich ruckartig zu mir umdrehte.

„Ne, das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“ Ungläubig stand mein Zimmergenosse langsam auf und betrachtete die Tür. „Du Vollidiot!“ Wütend lief er zum Ausgang, rüttelte und trat dagegen. Langsam schnallte ich, was gerade passiert war.

„Warte mal. Du hast doch bestimmt die Schlüssel einstecken, oder wie bist du hier rein gekommen?“ Erwartungsvoll blickte ich ihn an.

„Die stecken draußen im Schloss. Außerdem hatte ich ja extra einen eigentlich unübersehbaren Holzklotz als Türstopper benutzt. Wie kann man nur so blöd sein und den beiseite latschen?!“

„Oh, Entschuldigung. Ich hatte aber noch mit der Beule an meiner Stirn zu tun, die du mir verpasst hast, als du die erste Tür gegen meinen Kopf donnern hast lassen.“

„Anscheinend sind dir dabei deine letzten aktiven Gehirnzellen durchgebrannt. Mann. Wie kann man nur so blöd sein?!“

„Moment. Nur weil du zu faul warst, ein paar beschissene Schlüssel aus dem Schloss zu ziehen, soll ich jetzt an dem ganzen Desaster hier schuld sein? Außerdem sagtest du letzteres schon.“

„Das kann man nicht oft genug wiederholen, bei jemandem wie dir. Echt klasse. Ich sitze hier in nem verfuckten Raum fest, der nur von außen zu öffnen ist. Kein Schwein ist in der Nähe und frühestens in einer Stunde kommt vielleicht jemand vorbei, der mich von dem Schwachmaten befreit, mit dem ich hier meine Luft teilen muss.“

„Hey, ich habe ne super Idee, wie wir uns bis dahin die Zeit vertreiben können.“, meinte ich lächelnd zu ihm, während er mich ansah, als hätte ich wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Wir setzen uns gegenüber und erzählen uns wie in ner Selbsthilfegruppe, wie groß unser Ego ist. Da das bei dir eh länger dauern wird, darfst du auch gleich anfangen. Hallo Rey.“ Sarkastisch grinste ich ihn an, setzte mich auf den Boden und klopfte auffordernd auf dem Platz vor mir.

„Halts Maul.“, war das einzige, was mein Leidensgenosse darauf erwiderte.

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