Den Mantel hatte ich schon wieder an, denn ich wollte wieder ins Krankenhaus, als das Telefon klingelte. Ich meldete mich mit dem obligatorischen Hello. Es war Barbara, meine Schwiegermutter. Sie war ebenso bestürzt wie ich, allerdings konnte ich sie vor lauter Schluchzen kaum verstehen, sowohl inhaltlich als besonders auch akustisch, die Verbindung war ziemlich mies.
Paul, ihr Gatte, übernahm anscheinend kurzerhand das Gespräch. Er wirkte wesentlich gefasster. Als ehemaliger Sheriff von Gaffney, seiner Heimatstadt im Cherokee County in South Carolina, an sich kein Wunder, auch wenn dort Gewaltverbrechen nicht so an der Tagesordnung waren.
Auf meine Frage, wieso sie noch nicht hier wären, meinte er, sie seien noch auf dem Schiff. Ich wusste wohl von dem Urlaub, das hatte mein Göttergatte mir vorher irgendwann ja erzählt, aber von einem Schiff war da nicht die Rede gewesen, nur von normalen Ferien. Des Rätsels Lösung war einfach, erst eine Woche Badeurlaub in Port St. Lucie und dann eine Kreuzfahrt, die sich Barbara schon lange gewünscht hatte, danach wollten die beiden eigentlich noch ein paar Tage in die Everglades.
Die Nachricht vom Überfall erreichte sie, als sie Donnerstagabend das Schiff in Saint Thomas auf Virgin Island wieder betreten hatten. Charles, Scotts Bruder, hätte sie angerufen. Sie würden am Sonntag den ersten Flieger von Miami nehmen und nach New York kommen. Das Schiff würde gegen acht im Hafen einlaufen. Ich konnte also mit ihnen am frühen Nachmittag rechnen.
„But why did you phone to Scott’s?“ Ich konnte mir einfach nicht erklären, weshalb sie hier angerufen hatten. Woher wussten meine Schwiegereltern, dass ich in der Stadt war? „Richard informed us that you are there. Take care, my son.“ Ich lauschte noch eine Weile dem Piepen in der Leitung, ehe ich den Hörer auf die Gabel legte.
Irgendwas war im Busch, soviel war klar, aber die Frage war, was los war! Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Richard und Scott? Nein, der Gedanke war zu abwegig. Sie waren Cousins, kannten sich mehr oder minder von Geburt an. Aber außer der Familie verband sie nur, dass sie beide auf Männer standen. Beide waren grundverschieden: Richard der Pedant und Scott der Lebenslustige.
Ich wusste nicht weiter. Ich ging erst einmal in die Küche und goss mir ein Glas Orangensaft ein. Mein Blick fiel auf den Küchenkalender, der über dem Kühlschrank hing. Da sah ich am Mittwoch den Eintrag Richard 8pm und stutzte. Die Heimspiele der Rangers im Madison Square Garden begannen in der Regel um 19:00 Uhr, merkwürdig. Auch wenn man einen Platz hatte, sollte man doch eine Stunde vorher da sein, man musste sich ja mit dem Üblichen eindecken. Und erst um acht Uhr, also eine Stunde nach Spielbeginn, sich in die Arena zu begeben, macht keinen Sinn. Das wäre pure Geldverschwendung. Ich schlug den letzten Monat auf. Auch hier fand ich drei Mal Richards Namen, mal mit 8pm, mal mit 7:30pm.
Während ich da so grübelte, klingelte erneut das Telefon. Es war Gordon. „Wie geht es dir, mein Alter!“ „Immer noch nicht besser. Und? Schon was herausgefunden?“ „Jein!“ Ich hasse unklare Antworten.
„Ich hab mir erst einmal den Gesetzestext aus dem Internet geholt. Aber das Problem ist, dass es keine einheitlichen Durchführungsbestimmungen gibt.“ „Wie?“ „Na, bei einigen Länden ist das Standesamt zuständig, in Bayern ein Notar, im Saarland die Gemeindeverwaltung. Aber davon will ich jetzt gar nicht reden.“ Er atmete tief durch. „Das Problem ist, du bist Deutscher und Scott Amerikaner. Ihr könnt zwar eine Partnerschaft eingehen, aber dass müsst ihr in Deutschland machen.“ „Aber ihr fungiert ja auch teilweise als Standesamt!“ „Stimmt, aber laut Ministererlass sind wir dafür nicht zuständig. Die Regelung ist Ländersache, wir sind leider nicht berechtigt, in deinem Sinne zu handeln.“ Diesmal atmete ich tief durch. Es war ja mehr oder minder eine Schnapsidee, die ich da gehabt hatte.
„Also keine Möglichkeit?“ „Mach dir keine großen Hoffnungen, außerdem müssen da ja noch einige andere Papiere unterschrieben werden, und das ist ja nicht möglich, im Moment!“ Er spielte wohl auf das Koma an, indem Scott noch immer lag. „Ja, ich weiß, die Eheschließung ist ein höchstpersönliches Rechtsgeschäft, bei dem man sich nicht vertreten lassen kann.“ „Stimmt. Außer bei der Hochzeit und Testament kann man alles die anderen machen lassen.“ Er lachte. „Dadurch, dass bei euch zwei Staaten betroffen sind, müssen zumindest in Deutschland auch noch die Bestimmungen des Ausländergesetzes beachtet werden. Als Ami hat dein Scott ja keine Probleme, er braucht kein Visum, hat also auch keine Schwierigkeiten bei der Aufenthaltsgenehmigung, aber …“
„Aber was?“ „Alex, wann war Scott zuletzt bei dir in heimischen Gefilden?“ „Lass mich überlegen – wir waren … ja, Ostern. Er war Ostern bei mir. Wir sind dann nach München gefahren.“ „Ostern, gut. An irgendeinem Arbeitstag?“ „Wie meinst du?“ „War er Gründonnerstag da oder am Dienstag?“ „Ich weiß zwar jetzt nicht, worauf du hinaus willst, aber er ist Dienstagabend erst wieder geflogen.“ „Gut.“ „Was?“ „Lass mich mal machen. Deine Adresse in Düsseldorf stimmt noch?“ „Natürlich!“ „Gut!“ „Engelchen, du sprichst in Rätseln!“ „Mach dir nichts draus. Können wir uns in einer Stunde sehen?“ „Ähh, ..“ „Ich brauch hier noch was. Sagen wir um fünf an der New York Library?“ „Gut. Treffen wir uns bei den Löwen!“ „Bis gleich dann!“
Ich wusste zwar nicht, was er wollte, aber ich ließ ihn machen. Ich hatte eine gute Stunde Zeit – Zeit für mich und meine Gedanken. Jetzt brauchte ich doch etwas zu trinken. Ich ging ins Wohnzimmer und öffnete das Barfach. In der hinteren Ecke entdeckte ich die Flasche Otard 1795, immer noch jungfräulich, wie wir sie vor zwei Jahren bei unserem Besuch im Chateau de Cognac geschenkt bekommen hatten. Wir hatten auf unserer Frankreichrundfahrt einen Halt auf besagtem Weingut gemacht und hatten nach der öffentlichen Verkostung eine Verkostung der besonderen Art. Der Enkel des Kellermeisters hatte Dank uns seinen ersten Dreier und er schenkte uns, quasi als Morgengabe, halt zwei Flaschen dieses besonderen Weinbrands, der mehr als 6 Jahre in einem Barriquefass lagerte.
Nach Cognac war mir jetzt aber nicht. Ich brauchte etwas anderes. Ich entschied mich für die Flasche daneben, einen 12 Jahre alten irischen Whiskey aus dem Hause Tullamore Dew. Das Getränk hatte den enormen Vorteil, es brennt nicht im Abgang, es ist weich und sanft und umschmeichelt den Gaumen.
Ich schüttelte mich trotzdem und beschloss, mich langsam auf den Weg zu machen. Aus dem Haus raus rechts in Richtung Hong. Ich stellte einige Sachen wie Brot und Butter in meinen Einkaufskorb und ging zum Tresen. Der knapp 50jährige kam auf mich zu. „Anything else?“ Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste wirklich nichts. Appetit hatte ich eigentlich nicht. „To your account?“ Ein Nicken. Ich wusste, wenn ich wieder die Wohnungstür öffnen würde, würde der Korb vor Selbiger stehen.
Ich verließ Hong und ging über die First in Richtung Grand Central Station, dessen Halle größer ist als das Kirchenschiff von Notre Dame in Paris. Nachdem ich den Bahnhof passierte, ging ich kurze Zeit später links in Richtung Fünfter. An der Ecke steht die New York Public Library, zu deren Kostbarkeiten unter anderem ein von Jefferson handschriftlicher Entwurf der Unabhängigkeitserklärung gehört. Die Gutenbergbibel und Handschriften von Galilei lasse ich jetzt mal unerwähnt.
An den steinernen Löwen, die den Eingang zu der 1911 im Beux-Arts-Stil gebauten Bibliothek flankieren, wartete ich sitzend auf Gordon. Ich war etwas zu früh. Es dauerte keine Zigarettenlänge, bis mich jemand an der Schulter tippte. Ich blickte hoch und sah in seine grünen Augen.
„Hallo, mein Alter. Du siehst ja schrecklich aus!“ „Danke!“ Er sagte nichts, sondern zog mich hoch und umarmte mich aufs herzlichste. „Komm, lass uns eine Kaffee trinken!“ Ich nickte und ließ mich hochziehen. Wir schauten uns um und entdeckten schräg gegenüber einen Coffee-Shop.
Gordon übernahm die Bestellung und kehrte mit zwei Plastikbechern mit der Aufschrift „CAUTION – HOT“ wieder an den Tisch, an den ich mich gesetzt hatte, zurück. „Hier!“ Er warf mir drei Packungen Süßstoff zu. „Du magst es ja süß!“
Wie in Trance entließ ich die jeweils zwei Tabletten ihrer papierenen Umhüllung und ließ sie in meinen Kaffee plumpsen.
„Bitte!“ Er reichte mir einen Umschlag. „Das ist alles, was ich für dich tun kann!“ Ich öffnete das Kuvert, entnahm das Schreiben, es sah offiziell aus. Briefkopf des Generalkonsulats und die Unterschrift des deutschen Geschäftsträgers. Ich begann zu lesen. Nachdem ich die ersten zwei Zeilen des offiziellen Schreibens durchgelesen hatte, nahm ich meine Brille ab und rieb mir erst einmal die Nase. Das, was da stand, konnte – oder besser wollte – ich nicht glauben. Da stand in bestem Juristenenglisch, dass ich Scott ehelichen wollte und wir nach deutschem Recht als Verlobte gelten, mit allen Konsequenzen, die sich aus einer solchen Verbindung ergeben.
„Das dürfte wohl für das Krankenhaus reichen!“ Ich schaute ihn fragend an. „Gordon! Das kann dich deine Stellung hier kosten!“ „Wieso?“ „Ja, das ist doch falsch!“ „Beruhig dich mal. Was steht denn da? Da steht lediglich, das ein Alexander van Aart vor mir versichert hat, dass er nach deutschem Gesetz einen gewissen Scott Allister McWilliams die Lebenspartnerschaft versprochen hat und ich beglaubige seine Aussage. Der Rest ist mehr oder minder eine Erklärung, welche Auswirkung dieser Schritt in Deutschland hat.“ Ich warf noch einmal einen Blick auf das Blatt Papier, er hatte Recht.
„Gordon, aber wie bist du an die Unterschrift des Generalkonsuls gekommen?“ Er grinste. „Alex. Der ist wie der alte Hindenburg, der unterschreibt einfach alles! Und wenn du richtig gelesen hast, steht da meine Durchwahl drauf. Sollte das Krankenhaus irgendwelche Rückfragen haben, landen sie bei mir.“
Ich blickte ihn dankbar an. Den Brief verstaute ich wieder im Umschlag und steckte ihn in die Innentasche meines Mantels. „So, und was machst du heute Abend?“ „Nach dem Krankenhaus?“ „Jepp!“ „Sebastian und sein Richard kommen vorbei und spielen Babysitter! Was die mit mir vorhaben, kann ich noch nicht sagen. Wieso fragst du?“ „Ich wollte mit dir eigentlich um die Häuser ziehen und dir jemanden vorstellen!“ „Neue Flamme?“ Meine Lieblingshete hat mir schon dreimal im letzten Jahr seine Gespielinnen zwecks Begutachtung vorgestellt. „Ja! Du wirst überrascht sein, aber diesmal ist es anders! Es ist mir ziemlich ernst!“ „Herr Levsen, das hast du bei den letzten Damen auch gesagt und wie lange hat es gehalten?“ Ich grinste.
Er konnte sich ein Schmunzeln auch nicht verkneifen. „Klappt es denn morgen?“ „Schlecht! Ich bin ausgebucht!“ „Also wirklich! Dein Gatte liegt im Koma und du treibst dich rum!“ Gespielte Entrüstung lag in seiner Stimme. „Engelchen, ich treibe mich nicht rum. Ich bin mit einer sehr noblen Dame, die fast meine Oma sein könnte, zum Tee verabredet und hinterher fungiere ich als ihr Tischherr bei der Hochzeit ihres Enkels.“
Diesmal hatte er die Fragezeichen in den Augen. Ich klärte ihn über Erdmute auf und er musste lachen. „Du machst doch immer so komische Bekanntschaften in Fliegern.“ „Stimmt, da hab ich dich ja auch kennen gelernt, also beschwer dich nicht!“ Die Runde ging eindeutig an mich.
„Aber wenn es dir eine Herzensangelegenheit ist, kann ich deine Eroberung ja morgen Mittag inspizieren.“ Er grummelte. „Ich weiß nicht, ob C.D. morgen arbeiten muss.“ „So heißt sie also. Aber du kannst mich ja morgen früh um acht wecken. Und bis dahin wirst du sicherlich herausgefunden haben, ob deine Holde Zeit zum Lunch hat. Ansonsten müssen wir es verschieben, denn Sonntag kommen Scotts Eltern und die will ich nicht alleine lassen.“ „Kann ich verstehen! Also, dann bis morgen früh!“ Wir verabschiedeten uns mit einer Umarmung und jeder machte sich auf den Weg. Er nach Hause oder zu C.D. und ich ins Krankenhaus.
Zum dritten Mal innerhalb von 20 Stunden betrat ich den eher trostlos aussehenden Betonklotz. Ein Funktionsbau – Gesundheit als Massenware. Aber das Bellevue ist auch ein Universitätsklinikum und die Hauptklinik der Megacity für Notfallmedizin. Scott war also in guten Händen. Wie ich den Tafeln im Eingangsbereich entnahm, während ich da auf den Fahrstuhl wartete, der mich in den fünften Stock bringen sollte, war es auch das älteste Krankenhaus der Vereinigten Staaten. Im Jahre 1736 waren es zwar nur sechs Betten, heute sind es weit über 1.000, und eins der wenigen Krankenhäuser, die den US-Präsidenten behandeln dürfen. Aufgrund der Nähe zu den Vereinten Nationen kann man es auch als Diplomatenklinik bezeichnen. Selbst ein ehemaliger deutscher Außenminister wurde hier ärztlich versorgt, allerdings nicht im öffentlichen Bereich der Heilanstalt.
Am Empfang der Intensivstation wieder das gleiche Spiel. Zu wem ich denn wollte. Ich sagte es der Schwester, einer rubenshaften Schwarzen mittleren Alters. Sie schaute mich ungläubig an und rief die Krankenakte meines Liebsten im Rechner auf. Sie schüttelte den Kopf, auch der Hinweis auf Doktor Rubinstein, dem Arzt, mit dem ich ja am Vormittag gesprochen hatte und der mich als Familienmitglied eintragen wollte half nichts. Sie meinte, es wäre zwar möglich, aber es sei noch nichts im Rechner und sie könne den Arzt im Moment nicht stören, da dieser im OP stehen würde. Ich wollte schon resignierend aufgeben, da fiel mir das Schreiben von Gordon ein. Ich griff in die Innentasche meines Mantels und reichte ihr das Schreiben.
Sie las es und ihr Gesichtsausdruck wandelte sich in ein Erstaunen. Sie las es wohl ein zweites Mal und schüttelte den Kopf. „Do you have an identity card?“ Ich reichte der rotgefärbten Afroamerikanerin meinen Reisepass und meinen Personalausweis. Sie verglich die Daten und meinte: „Just a moment.“ Sie tippte irgendetwas in den Rechner und reichte mir mit einem Lächeln auf den Lippen das Schreiben zurück. „Germany is more modern than the US in its attitude towards same sex couples.“ Ich nickte dankbar. Sie meinte, sie hätte mich als Familienmitglied eingetragen, denn auch als Verlobter resp. Verlobte, je nach Sichtweise, wie sie grinsend hinzufügte, könne es bei einigen ihrer Kollegen zu Problemen kommen und um diesen aus dem Weg zu gehen, sei das die bessere Alternative. Ich nickte zustimmend.
Sie wies mir den Weg zur Umkleide, wo ich meinen Mantel ab- und sterile Kleidung anlegte. Mit dem grünen Stock Stoff an meinem Leib machte ich mich auf den Weg zu Zimmer 114, der Stuhl stand noch immer am Bett, das Deckenlicht war ausgeschaltet. Es war es zwar nicht richtig dunkel im Raum, von außen fiel noch etwas Helligkeit der einsetzenden Dämmerung herein und diffuses Licht drang auch durch die Glasscheibe zum Gang in das Krankenzimmer, aber zum Wohlfühlen war das wohl nicht. Ich betätigte den Schalter am Fenster und die Jalousie fuhr automatisch nach oben.
Ich rückte mir den Stuhl zurecht, ergriff Scotts Hand und versuchte ihn zu streicheln. Weit kam ich zwar nicht, denn drei Infusionsnadeln waren am Unterarm befestigt, aber ich konnte wenigstens seine Hand halten und so seine Wärme spüren.
Intermezzo
Ich war immer noch sauer auf Scott, mein aufs Foto gebannter Gesichtsausdruck beim Verlassen der Gondel schrie förmlich nach Rache. Aber mir fiel noch nichts Passendes ein. Aber, wie sagte schon Mark Aurel, der römische Kaiser: Die beste Art der Rache ist nicht Gleiches mit Gleichem zu gelten. Aber da Rache, sprichwörtlich gesprochen, ein Gericht ist, das kalt serviert werden sollte, hatte ich noch genügend Zeit, mir etwas auszudenken, um ihm das warm aufs Butterbrot zu schmieren.
Wir mussten knapp zehn Minuten auf die Linie F warten, die uns zum Ziel des Nachmittags, der Wohnung von Sebastian und seinem Richard, bringen sollte. Auch wenn ich mich wiederholen sollte, das New Yorker U-Bahn-System hat anscheinend ein besoffener Taxifahrer erfunden. Es macht einfach keinen Sinn. In der Nähe der beiden gibt es zwar eine Station, aber wollte man zu dieser gelangen, hätte das von Coney Island mindestens ein zweimaliges Umsteigen erfordert.
Wir fuhren ergo bis zur Station York und gingen dann südlich in die Prospect Street, durch den kleinen Park links in die Henry, um dann nach drei Blocks rechts in die Pineapple einzubiegen. Nun mussten wir noch die Nummer 50 finden und wir waren am Ziel, sprich bei Sebastian und Richard.
Wir betraten beide zum ersten Mal das Loft der beiden. Bisher hatte ich mich mit Sebastian, entweder mit oder ohne seinen Richard, immer irgendwo in der Stadt getroffen. War ja auch für die Ausflüge sicherlich auch angebrachter, zumal da ja die permanente Eifersucht von Richard war. Und ich wollte alles, aber ihm nicht noch mehr Grund für dieses mehr als überflüssige Gefühl geben. Hätte ich mich mit meinem alten Freund in seinem Revier getroffen, wer weiß, wie er reagiert hätte. Aus mir unerfindlichen Gründen empfand er mich als Rivalen um die Gunst seines Angebeteten.
Auch Scott hatte sich mit seinem Cousin mütterlicherseits immer nur in der Stadt getroffen. Wie er mir auf der Fahrt erzählte, hatte er sich auch über die Einladung etwas gewundert. Verbunden hat die beiden, ihn und Richard, nie viel, außer vielleicht einer gemeinsamen Großmutter und der Tatsache, dass beide auf Männer standen.
Gut, sie gingen zwar auf die gleiche Highschool, allerdings nicht zusammen, sie waren ja auch fünf Jahre auseinander. Richard, der Ältere, ging dann hinterher aufs College und zur Universität, um Medizin zu studieren, während Scott nach der Highschool direkt die Ausbildung zum Flugbegleiter absolvierte und nach zwei Jahren zum International Flight Attendant, sprich Saftschubse auf Interkontinentalflügen, avancierte.
Das Loft war ziemlich spartanisch eingerichtet. Na ja, so enthaltsam nun auch wieder nicht. Allerdings fielen die Möbel in dem mehr als 200 Quadratmeter großen Hauptraum kaum auf. Küche, Ess- und Wohnbereich gingen nahtlos ineinander über. An einem der großen Fenster stand ein alter Flügel, daneben eine Jukebox. In der anderen Ecke zwei Schreibtische. Etliche offene Regale mit Hunderten von Büchern fungierten als Raumteiler.
Es waren nur wenige Wände eingezogen, um separate Räume zu bilden. Ich hatte richtig vermutet. Einmal ein kleines Badezimmer und ein Abstellraum, der einen Zugang zur Küche hatte in der einen Ecke des Raumes. Auf der gegenüberliegenden Ecke waren die Privatgemächer der beiden, sprich Bad und Schlafzimmer.
Es roch herrlich nach Kaffee und frischem Kuchen. Sebastian hatte uns die Tür geöffnet und wir begrüßten uns. „Na, Alter! Wie ich sehe, kommst du nicht alleine. Scheint wohl Spaß gemacht zu haben!“ Er zwinkerte mir zu und umarmte auch Scott. Was er ihm ins Ohr geflüstert hat, habe ich nicht verstanden. Richard stand mit dem Rücken zu uns und stocherte im offenen Kamin. Er winkte nur herüber.
Ich zog meinen Mantel aus und hängte ihn an den Garderobenständer, der neben der Tür stand, und ging in die Mitte des Raumes. So sah also ein Loft aus. Ich hatte zwar schon einige in irgendwelchen Journalen gesehen, aber persönlich hatte ich noch keinen in Augenschein genommen. Es sah ja gut aus, aber ich bin doch eher der Typ für eine Behausung klassischen Zuschnitts.
Wir gingen in die Mitte des Raumes zum Esstisch. Dort war schon für vier Personen gedeckt. Auf einem Teller in der Mitte lagen vier Stücke Frankfurter Kranz. Ich schaute sie an und mein Magen zog sich zusammen. Ich mag seit Kindertagen keine Buttercreme, ist mir einfach zu mächtig.
Richard tat uns auf und Sebastian schenkte den Kaffee ein. Ich schaute mich um, fand aber nur Zucker und keinen Süßstoff. Auf meine Frage nach Selbigen erhielt ich von Richard einen Vortrag über die Krebsgefahr, die von den Pillen angeblich ausgehen soll und von Sebastian die Zuckerdose gereicht. Ich stocherte derweil mit der Kuchengabel in dem Sandkuchenteig der hessischen Kuchenspezialität und schaltete meine Ohren auf Durchzug.
Als höflicher Mensch nahm ich dennoch einen Bissen und mir würde übel. Die Creme, die da unter dem Krokant war, schmeckte nach allem, aber nicht nach Buttercreme. Gut, es gibt verschiedene Arten der Herstellung, aber Basis der klassischen Buttercreme ist immer noch eine Crème anglaise. Ich frage Richard, er war gerade bei irgendwelchen Wechselwirkungen von Kombinationen von natürlichen und chemischen Süßstoffen angelangt, aus welchen Bestandteilen denn die Pampe, die da um den Kuchen geschmiert war, sei. Er stockte und Sebastian fing an zu lachen. Er ging in die Küche und kam mit einer Cellophantüte zurück und reichte sie mir. Ich erschrak, denn bei den Inhaltsstoffen, die da abgedruckt waren, fand ich nur wenige natürliche Bestandteile.
„Ah, Richard?“ Er schaute mich an. „Do you like this cake?“ Er nickte, sein Freund schaute mich fragend an. „Was willst du machen?“ „Einen Kuchen backen, sozusagen als Abschiedsgeschenk. Ich flieg ja Donnerstag wieder.“ Sebastian grinste, er kannte mich und meine Kochleidenschaft.
Er übersetzte kurz und was machte Scott? Er meinte, ich könne seine Küche benutzen, denn in meinem Hotelzimmer wäre ja kein Ofen. So ein Schelm, aber ein ganz lieber und angenehmer.
Der Verwaltungshansel klärte mich auf: Selbstgemachter Frankfurter Kranz wäre soviel wie eine Delikatesse, jedenfalls hier in New York, und würde, je nach Bäckerei, zwischen fünf und acht Dollar kosten, nicht der Kranz, sondern pro Stück. Es gäbe ja auch nur noch wenige Bäckereien, die in Handarbeit ihre Produkte herstellten. Das meiste würde hier industriemäßig hergestellt, der Masse und der Menge wegen.
Nach der zweiten Tasse Kaffee erhob ich mich und schlenderte in Richtung Flügel. Unsere Gastgeber räumten den Tisch ab und Scott folgte mir. „Can you play piano?“ Ich nickte und faltete meine Hände ineinander und ließ die Gelenke krachen. Er schaute leicht irritiert. Ich setzte mich an den Flügel, ein schönes Exemplar von Steinways & Sons, dem Schriftzug nach zu urteilen, ein restauriertes Modell. In meiner Studentenbude in Münster stand nur ein einfaches Piano von Schimmel, ein Geschenk meines Großvaters Ferdinand, des alten Knickers, zur Konfirmation.
Ich öffnete die Abdeckung und begann mit leichten Fingerübungen. Ich hatte ja anderthalb Wochen nicht mehr gespielt und meine Finger waren etwas eingerostet, jedenfalls was das Spiel auf den Tasten betraf. Die Geräusche in der Kochecke verstummten und die beiden kamen her. Nachdem ich mich vom tadellosen Klang des Instruments überzeugt hatte, überlegte ich kurz, was ich denn da spielen könnte. Ich entschied mich für ein leichtes Stück, dessen Noten ich auswendig konnte. Das Ave Maria von Schubert, denn für mein Lieblingsstück, das Klavierkonzert Nr. 1 von Tschaikowsky, fehlten mir leider die Noten.
Meine Zuhörer lauschten gebannt und applaudierten. In den Applaus hinein intonierte ich Beethovens Elise. Weltbekannt und vielgespielt in Aufzügen. Als drittes Stück der Nachmittagsvorstellung kam der Minutenwalzer.
Der Walzer in Des-Dur ist wohl das bekannteste Stück von Chopin und selbst ein guter Pianist braucht mindestens anderthalb Minuten. Horowitz soll es mal in einer Minute 18 Sekunden geschafft haben, aber der letzte Romantiker unter den Klaviervirtuosen war ja auch was ganz besonders. Er hat mal gesagt: „Es gibt nur drei Sorten von Pianisten: Jüdische, homosexuelle und schlechte.“ Das erste war er, beim zweiten munkelt man, er wäre es gewesen, das dritte war er ganz bestimmt nicht.
Ich wollte eigentlich aufhören, aber ich sollte weiterspielen. Na, das konnten die drei haben, allerdings hatte ich nicht vor, den Alleinunterhalter zu spielen. Ich fing an mit einem Musical. Aus dem Zauberer von Oz das berühmte, leicht angeschwulte, „Somewhere“. Scott fiel als erster ein, ich wiederholte den Anfang und er sang dann mit, zwar leicht holprig, aber in bester Baritonstimmlage: „Somewhere over the rainbow way up high. There’s a land that I heard of once in a lullaby.” Allerdings war er nicht sehr textsicher, ab der zweiten Strophe ging er zu Lalala über. Ich grinste, er knuffte mich in die Seite, auch ich musste abbrechen.
Sebastian kam applaudierend auf mich zu. „Ich wusste zwar, dass du Klavierspielen kannst, aber seit wann singst du auch?“ „Seitdem knapp einem Jahr, aber als Singen möchte ich das nicht bezeichnen.“ Unsere amerikanischen Freunde schauten ob der deutschen Töne, so setzen wir unser Gespräch auf Englisch fort.
Mit Klavier fing ich mit sechs Jahren an, mein Vater hatte darauf bestanden, dass alle seine Kinder ein Instrument lernen mussten. Meine Schwester entschied sich für die Violine und übte dann zu Hause. Ich jedoch konnte, in Ermangelung eines Pianos im heimischen Wohnzimmer, meine Übungsstunden auf ein Minimum reduzieren. Mit Elf bekam ich dann eine kleine Bontempi und musste dann leider auch öfters an die Tasten.
Zum Singen kam ich eigentlich vor einem Jahr mehr oder minder zufällig durch einen unserer Nachbarn. Wir wohnten ja zusammen in Bonn-Dottendorf in einem Mehrfamilienhaus, hatten aber mit den Mitbewohnern – dank Felix Einstellung – kaum was zu tun, außer vielleicht mal ein Hallo oder Guten Tag im Flur. Jan, ein urgemütlicher Holländer, wohnte auf der gleichen Etage schräg gegenüber von uns und war Sänger und Chansonier. Man konnte ihn ab und an üben hören. Er kam mir dann vor einem Jahr mit gebrochenem Arm im Hausflur entgegen und sah ziemlich betrübt aus. Ich fragte ihn, wieso er denn nach sieben Tage Regenwetter aussah, zum Singen bräuchte er ja keinen Arm. In dem kurzen Gespräch kam raus, dass er Leiter des Regenbogenchors war, der sich im Schwulenzentrum einmal wöchentlich traf, und die heutige Probe müsse wohl ausfallen, da er keinen Ersatz für ihn als Klavierspieler hätte auftreiben können.
Da ich eh brastig auf Felix war, er hatte mir beim Frühstück mal eben so mitgeteilt, er müsse als Ersatzdelegierter zum Parteitag und aus dem geplanten Wochenende bei meinem besten Freund Volker in Münster zu dessen Geburtstag würde nichts werden. Wieder mal typisch, außer zu Parteiterminen und zur Arbeit verließ er kaum noch das Haus! Spontan sagte ich meine Hilfe zu. Jan solle mir die Noten geben, ich würde die Stücke, die er singen lassen wollte, nachmittags mal durchspielen. Er nahm das Angebot dankbar an und stand dann, eine halbe Stunde später, mit Kuchen vom Bäcker und den Noten vor der Tür.
Bei Kaffee und Kuchen hat sich das Einarbeiten etwas hingezogen. Als Felix dann um kurz nach fünf aus dem Büro kam und wie üblich fragte, was es denn zu essen geben würde, meinte ich nur, er solle sich eine Pizza aus dem Eisschrank nehmen, ich würde gleich als Tastenquäler einspringen und nach der Probe essen. Sein Gesicht sah verärgert aus, aber er sagte mal wieder nichts.
Die Probe verlief besser als erwartet, konnte sich Jan, im Chor auch KDC (kleines dickes Chorleiter) genannt, so ganz auf seine Arbeit als Chorleiter konzentrieren. Auch als sein Arm wiederhergestellt war, blieb es bei der Arbeitsteilung; er am Pult, ich am Klavier, wo ich immer mitgesummt habe. In einer Pausenprobe meinte Jan dann mal, ich solle doch auch mal mitsingen und nicht nur immer mitsummen. Zwar wäre ein Basso profondo, der noch unterhalb eines normalen Basses, dessen Tonumfang ungefähr von E bis e’ reicht, für einen schwulen Chor eher ungewöhnlich, aber durchaus eine Bereicherung. Ich freute mich, ich hatte endlich Anschluss in Bonn gefunden. Der Chor hat mich dann auch bei der Wohnungssuche und bei meinem Auszug tatkräftig unterstützt.
Richard reichte mir einige Notenblätter. Unter anderem ein Stück aus dem Broadway Musical Everybody’s Welcome von Herman Hupfeld aus dem Jahre 1931. Richtig bekannt wurde „As time goes by“ allerdings erst 11 Jahre später im Film Casablanca mit Bogart und der Bergman. Ich schaute in grinsend an. „If I should sing this I need a Whiskey, an ashtray and a cigarette.” Im Film wurde der Song ja vom Barpianisten mit viel Timbre in der Stimme gesungen. In einer Anwandlung von Freundlichkeit, die selbst Sebastian zu überraschen schien, ging er in die Küche und kam mit einem Bourbon zurück. Von einem der Regale gab er mir einen Aschenbecher, der ziemlich jungfräulich aussah. Kein Wunder, beide waren Nichtraucher.
Scott, der neben mir auf der Klavierbank saß, steckte zwei Zigaretten an und reichte mir eine davon. Ich begann zu spielen und inszenierte eine kleine Show. In den kleinen Gesangspausen zog ich an dem Glimmstengel und nahm kleine Schlucke von dem Maisschnaps, denn die Maische dieser Art des Branntweins besteht zu dreiviertel aus Mais.
Die Zeit verging wie im Flug, ich spielte und die anderen sangen. Es war schon weit nach sechs, als ich zum ersten Mal auf die Uhr schaute. Mein blonder Begleiter sah mir tief in die Augen, umfasste meine Hand, drückte sie und deutete in Richtung Tür. Er wollte also gehen. Ehrlich gesagt, mir war das in dem Moment auch viel lieber. Ich hatte je genügend zur Belustigung beigetragen und hatte keine Lust mehr, weiterhin den Alleinunterhalter spielen zu müssen. Gegen jemanden, der mich jetzt amüsieren wollte, sei es seelisch oder körperlich, hätte ich dagegen nichts einzuwenden gehabt.
Wir machten uns dann auf den Weg, nicht ohne uns für den nächsten Abend zu verabreden. Wir vier würden eine Bar in SoHo aufsuchen. Den Namen verstand ich zwar nicht, aber mir sollte es gleich sein: Ich freute mich, einen weiteren Abend und vermutlich auch die Nacht mit meiner neuen amerikanischen Errungenschaft verbringen zu können.
Freitag, 19:45 est
Die Zeit verging, ich hatte meinem regungslos daliegenden Scott alles erzählt, was in den letzten Tagen passiert war, von Erdmute, von Gordon, von Paul und Barbara und überhaupt von allem, was mir gerade so einfiel. Mein Gehirn konnte einfach keinen klaren Gedanken fassen, ich plapperte und plapperte, was mir gerade so in den Sinn kam. Ich wusste nicht, wie lange ich da am Bett gesessen hatte. Durch das Fenster drang nur noch Dämmerlicht hinein und die medizinischen Apparate, die da das Leben meines Engels garantierten, nahmen wieder ihr bedrohliches Aussehen an.
Ich hatte ihm gerade berichtet, dass mich Erdmute morgen als Tischherr für die Hochzeit ihres Enkels zwangsverpflichtet hatte, als ein Krampf im rechten kleinen Finger das Händchenhalten für einen Moment ziemlich unangenehm machte. Ich versuchte, meine Hand von meinem Göttergatten zu lösen. In diesem Moment, als die Brücke zwischen uns gelöst wurde, hörte ich ein Röcheln. Ich blickte auf das aschfahle Gesicht. „Scott.“ Er hatte die bisher geschlossenen Augen aufgeschlagen.
Ich vernahm wieder ein Grummeln und ein leises A. Ich deutete es als Alex. Ich war sofort wieder hellwach, Adrenalin schoss durch meinen Körper. Ich suchte den Knopf für die Schwester. Ich konnte ja nicht wissen, ob gerade eine Schwester oder ein Pfleger auf Scotts Monitor im Zentralbereich der Intensivstation blickte, in dem die wichtigsten Daten sämtlicher Patienten zusammenliefen. Da half meistens ein altherkömmliches akustisches Signal.
Es dauerte keine Minute, die mir aber unheimlich lang vorkam, bis ein Pfleger ins Zimmer stürzte. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, hantierte er an einigen Geräten, legte ein, zwei Schalter um, drehte an zwei Rädchen an den Schläuchen und eilte wieder aus dem Zimmer. Nach einer Ewigkeit, die real nur zwei Minuten dauerte, kam er wieder zum Krankenlager, diesmal begleitet von einem Arzt. Ich erkannte Doktor Rubinstein vom Vormittag wieder.
Auch er hantierte und las einige Displays ab. Er schaute mich an und wollte wissen, was passiert sei. Ich sagte ihm, dass ich hier brav am Bett gesessen, seine Hand gehalten und ihm alle möglichen Sachen erzählt hätte. Das ich vom Händchenhalten einen Krampf bekommen hatte, ließ ich unerwähnt. Ich hätte dann meine Hand weggenommen und dann hätte er geröchelt.
Er nahm eine Nadel, ging zum Fußende des Bettes, schlug die Decke zurück und steckte sie in Scotts „großen Onkel“, er zuckte und sein Bein schüttelte sich. Er wiederholte den Stich, der mir allein vom bloßen Zusehen selbst ziemlich wehtat, am linken Fuß. Auch hier die gleiche Reaktion. Der Arzt wirkte erfreut, ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Er nahm eine Lampe und ging zurück zum Kopf. Er würde jetzt wohl einen Augenreflextest machen, dachte ich. Auch nach diesem lächelte er.
Doktor Rubinstein drehte sich zu mir um. „I don’t know what you have done but you did a great job!“ Ich wusste wirklich nicht, was er mir damit sagen wollte. Ich hätte Dank dessen, was ich irgendwie auch immer getan hätte, seinen GCS von 5 auf mindestens 11 erhöht. Ich war genau so schlau wie vorher. Ärzte!
Er meinte, ich solle dem Patienten jetzt Ruhe gönnen und mir selbst auch. Er komplimentierte mich mehr oder minder aus dem Krankenzimmer. Ich solle doch morgen früh das gleiche machen, was ich heute Abend gemacht hätte, vielleicht würde dann Scott aus dem Koma erwachen, indem er seit der Messerattacke lag.
Ich stand wieder auf dem Platz vor dem Krankenhaus und blickte auf die Uhr. Für einen Fußmarsch eindeutig zu weit, denn meine beiden Ärzte wollten mich ja um Neun besuchen. Kurzerhand nahm ich ein Taxi zu unserer Wohnung. Ich brauchte ja Gott sei Dank nur nach Norden auf der gleichen Straße. An der Ecke Erster und 44.ster Ost ließ ich den Kutscher halten, zahlte und verließ die Droschke. Ich stürmte zu Hong. Der Chinese kam auf mich zu. Er sah erstaunt aus und fragte, ob mit der Lieferung alles klar sei. Ich wusste im ersten Moment auch nicht, da fiel mir mein nachmittäglicher Besuch in seinem Laden wieder ein. „Oh no, everything is perfect. I only need a bottle of champagne! He woke up and talked to me.” Der grauhaarige Krämer erstarrte eine Sekunde, kam dann auf mich zu und umarmte mich herzlichst. Er erdrückte mich fast. „Great!“
Er ging in den hinteren Teil des Ladens, wo wohl sein Lager war und kam mit einer gekühlten Flasche zurück, die er mir freudestrahlend überreichte. „Here, for this really good news!“ Mit der Flasche unter dem Arm verließ ich den Laden und machte mich auf den Weg zu unserer Wohnung.
Im Fahrstuhl würdigte ich die Flasche eines näheren Blickes. Es war, wie zu vermuten, kein französischer sondern kalifornischer Champagner, auf gut Deutsch: ganz normaler Sekt. Es gibt hier ja nicht wie in der Europäischen Union den Namensschutz. Und seien wir mal ehrlich: Champagner klingt besser als Schaumwein, gleiches gilt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, nur das es da Champagne und sparkling wine heißt.
In der Wohnung angekommen legte ich die Flasche erst einmal ins Eisfach, ging dann ins Schlafzimmer und blickte auf die Uhr. Ich hatte noch 10 Minuten, also für eine kurze Dusche sollte es reichen. Ich zog hastig meine Sachen aus, warf die Klamotten aufs Bett und trabte Richtung Dusche. Nach drei Minuten unter dem Wasserstrahl war ich zwar geruchlich wieder frisch, aber mein Magen machte sich bemerkbar. Ich duschte noch kurz den Schaum ab, nahm das Handtuch und rubbelte mich trocken. Wieder auf dem Weg ins Schlafzimmer hörte ich den Türgong. Sebastian und Richard waren also fast pünktlich. Ich sagte dem Portier über das Haustelefon, dass die beiden rauf kommen könnten, machte die Wohnungstür auf und ging ins Schlafzimmer, um mich wieder anzuziehen.
Ich hatte gerade die Hose an, als es an der Tür klopfte. „Herein!“ Ich hörte Schritte im Flur und wie die beiden ihre Jacken oder Mäntel auszogen. Ich hatte gerade mein Shirt in die Hose gestopft, da steckte Sebastian den Kopf durch die Tür. „Hier bist du!“ „Ja, hab mich gerade noch geduscht.“ Ich ging auf ihn zu, drückte ihm ein Kuss auf die Lippen. „Geh doch schon mal an den Kühlschrank, im Eisfach liegt eine Flasche Sekt, es gibt was zu feiern. Nehmt euch schon mal was zu trinken und schütt mir auch ein Glas ein. Ich bin gleich fertig.“ Er tat wie ihm geheißen, denn keine Minute später hörte ich ein Plopp in der Küche und einen deutschen Kraftausdruck, es schien wohl einiges übergelaufen zu sein.
Ich betrat das Wohnzimmer und begrüßte Richard, zwar ohne Kuss, dafür mit Umarmung. Er schaute mich erst leicht irritiert an, dann auf die Flasche, die Sebastian mitbrachte. Ich ging an die Bar und holte drei Sektgläser, die ich Sebastian reichte. Er schenkte ein und wieder dieser Kraftausdruck. Richard eilte jedoch, dienstbeflissen und gründlich wie er nun einmal ist, in die Küche, um ein Spültuch zu holen.
Nachdem der Schaden behoben worden war, erhob ich das Kristall und stieß mit den anderen an. „Scott spoke to me!“ Jetzt hatte ich zwei Gesichter vor mir, die zwischen Frage und Erleichterung schwankten. Ich erzählte den beiden das, was da im Krankenhaus geschehen war. Sie wirkten besonders erleichtert, als ich den GCS Wert von 11 erwähnte. „That’s fantastic!“ Ich starrte Richard an wie ein Kind den Weihnachtsmann. Was zum Teufel war GCS?
Sebastian, der mir meine Verzweifelung wohl ansah, klärte mich auf. Bei der GCS handelt es sich um die so genannte Glasgower Komaskala, die in der Mitte der Siebziger von zwei Ärzten in der schottischen Handelsmetropole entwickelt worden war. Es gibt drei Rubriken, für die jeweils Punkte vergeben werden: Augenöffnung, Sprache und Motorik. Die maximale Punktzahl ist 15, die minimale 3 Punkte. Bei weniger als neun Punkten können Atmungsstörungen auftreten, sodass der Patient beatmet werden muss, was bei Scott ja der Fall war.
Das Händchenhalten und mein permanentes Gequatsche hat also Scott halb gesund gemacht. Oder wie sollte man das ausdrücken? Ich war jedenfalls froh, dass es meinem Schatz besser ging. Von fünf auf elf, also nur noch fünf Punkte unter Normalzustand. Noch so eine Aktion, und er müsste wieder unter den Lebenden weilen.
Ich musste vom Sekt aufstoßen. Bis auf das lukullische Mahl in Form eines Burgers hatte ich den ganzen Tag ja nichts besonders gegessen. Nach dem Rülpser meldete sich auch mein Magen zu Wort. Sebastian lachte und fragte, wonach mir sei. Mir war es egal, es sollte nur schnell und gut sein. Nach einem einfachen Brot mit etwas Aufschnitt, über solches verfügte der Haushalt Dank der Lieferung von Hong wieder, war mir überhaupt nicht.
„What do you think about Pietro’s?“ Die beiden waren einverstanden und so machten wir uns zu Fuß auf den Weg. Es war ja auch nicht weit. Scotts und meine Stammfutterstelle, jedenfalls was italienisches Essen betraf, lag in der 43.sten zwischen Zweiter und Dritter. Es war ein Weg von knapp fünf Minuten. Um kurz nach halb zehn saßen wir am Tisch, hatten unsere Bestellung aufgegeben und die beiden harrten ihrer Pizza, ich wartete auf mein Steak mit Kräuterbutter und Folienkartoffeln. Der Kellner kannte mich, er wusste, dass ich mein Steak well done, also durchgebraten, haben wollte. Einige werden jetzt mit Sicherheit sagen, so etwas könne man nicht essen, aber man kann und sollte es sogar. Je nach Gegend auf dieser unserer Erde, kann ein nicht durchgebratenes Stück Fleisch ziemlich unangenehme Spätfolgen haben.
Das Essen verlief mehr oder minder schweigend. Erst beim obligatorischen Espresso wurden wir gesprächiger. Ich erzählte den Beiden von Gordon und dem Schreiben, was er für mich aufgesetzt hatte. Sie staunten nicht schlecht.
„And he wants to introduce me to his new favorite.” Sebastian schaute mich an und grinste. „So he separates from Francesca? Or what was her name? I mean the girl from the Italian embassy to the UN.“ Ich schaute ihn fragend an. Mir fiel der Name seiner ehemaligen Flamme auch nicht ein, aber das war bei Gordon ja auch kein Wunder. Er wechselte seine Gespielinnen wie andere Leute ihre Unterhosen oder so ähnlich.
Ich berichtet von dieser ominösen C.D., die ich wahrscheinlich am Mittag treffen würde, so sie es denn einrichten könne. Richard schaute etwas erstaunt, als ich von den weiteren Plänen berichtete: dem Tee und der Hochzeit mit Erdmute. Die beiden kannten sie ja nicht und ich hatte ihnen ja auch noch nichts von den Geschehnissen auf dem Hinflug erzählt. Dazu hatte ich ja noch keine ausreichende Gelegenheit gehabt. Wir bestellten noch einen Pinot Grigio und übersiedelten in die Raucherlounge, denn nach den neusten Gesundheitsrichlinien herrschte in den meisten Restaurants der Stadt striktes Rauchverbot.
Ich steckte mir eine Zigarette an und fing an zu erzählen, über den Flug, die bevorstehende Hochzeit, den Tee. Beide waren auch der Ansicht, es wäre ausreichend, wenn ich den Vormittag am Krankenlager verbringen würde und mich dann wieder auf mich selbst konzentrierte.
Richard erwähnte, dass man als Angehöriger eines Opfers eines Gewaltverbrechens oftmals dazu neigt, sich selbst aufzugeben und alle Handlungen auf den Geschädigten zu konzentrieren, auch wenn das in eigenen Schaden ausartet.
Es war bereits nach Mitternacht, als ich mich auf den Weg in Scotts Wohnung machte. Die beiden wollten noch einen Drink im Village nehmen, für sie war ja schließlich und endlich Wochenende. Ich hatte dazu keine Lust, denn ich wollte und müsste ja früh raus. Der morgige, besser der heutige Tag, war ja voll mit Terminen und Aktivitäten.
Daheim angekommen legte ich ab und zog mich mit dem Rest der Sektflasche und einem sauberen Glas auf die Couch zurück. Ich goss mir ein Glas ein und stellte den Fernseher an. Es lief nichts Vernünftiges, auch nach dreimaligen Durchzappen durch sämtliche Kabelprogramme fand ich keinen Sender, der meiner ungeteilten Aufmerksamkeit wert war.
Ich überlegte kurz, ob ich eine DVD auflegen sollte, entschied mich dann aber doch für die Stereoanlage. Meine Wahl fiel auf KV 620. Dem Nicht-Mozartianer sei gesagt, es handelt sich um die Zauberflöte. Ich liebe diese Oper, nicht nur weil man sie ungetrost als die für Schwule am besten passende Oper bezeichnen kann. Vom Stehen vor dem Spiegel, widergespiegelt in der Arie des Tamino „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“, über die zweite Chance bei einem Kerl in dem Terzett der drei Knaben: „Seid uns zum zweitenmal willkommen“ bis hin zu einer Abfuhr verkörpert in der Arie der Königin der Nacht: „Zum Leiden bin ich auserkoren“. Ach ja, es gibt noch mindestens zwei weitere Stücke, die eindeutig sind. Zum einen fällt mir da die Arie „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“ – ein, passt wohl auf jede abrupte Trennung – und das Duett „Bei Männern, welche Liebe fühlen“ – passt zu allem.
Ich schüttete mir den Rest der Flasche ein und lauschte der Musik.
Intermezzo
Scott übernahm die Führung. Wir gingen nicht in die Richtung, von der wir am Nachmittag gekommen waren, sondern uns führte der Weg zur Station in der Cranberry Street mit dem High Street/Brooklyn Bridge. Wir würden folglich eine andere Linie nehmen, aber viele Wege führen bekanntlicherweise nach Rom respektive, in unserem Fall, nach Manhattan.
Wir hielten zwar nicht Händchen, während wir da durch die Dämmerung an den alten Brownstones, diesen typischen, vier- bzw. fünfgeschossigen New Yorker Einfamilienhäusern, vorbeigingen, aber es bestand reger Körperkontakt. Die Luft war ausgesprochen mild für die Jahreszeit, ich ließ den Mantel offen. Kurz vor dem Eingang der Metro hielt mich meine Saftschubse am Revers zurück, zog mich an sich und legte seine Hände um meine Hüften. Unsere Lippen vereinigten sich. Scott legte seinen Kopf auf meine Schultern und brummte zufrieden vor sich hin.
Ich streichelte seinen Hinterkopf, der urplötzlich zurückgezogen wurde. Ich blickte in zwei glasklare Augen, unter denen sich eine Nase zusammenzog. Sollte ich etwa? Ich roch an mir selber und konnte meinem Begleiter nur zustimmen. Es wurde allmählich Zeit, die Kleidung zu wechseln.
Während wir da auf die nächste Bahn warteten, beratschlagten wir, wie wir den Rest des Abends zu- bzw. verbringen wollten. Ich hatte ja keine großen Pläne gemacht für den heutigen Sonntag. Eine Kleinigkeit essen, was man an fast jeder Ecke machen konnte, es gibt ja mehr als 18.000 Restaurants, und dann ab ins Nachtleben. Also das typische Touristenprogramm.
Wenn ich seine Zeichen vorhin in der Wohnung richtig gedeutet hatte, wollte er wohl das heutige Nachtlager wieder mit mir teilen. Da ich bereits die letzte Nacht bei ihm verbracht hatte und ich als Hygienefanatiker morgen früh nicht in drei Tage alte Wäsche steigen wollte, war ein Aufsuchen meines Hotels unvermeidlich. Auch vermisste ich meine Kamera, das typische Erkennungszeichen eines Touristen. Gut, abends und in der Nacht braucht man sie weniger, aber bei Entdeckungstouren bei Tageslicht war ein Fotoapparat schon angebracht. Ich hätte auch gerne ein paar Bilder von uns geschossen, während wir da auf dem Riesenrad uns die Atlantikluft um die Nase hatten wehen lassen. Zwar nicht unbedingt von der intimen Szene, der ich da mehr oder minder unfreiwillig ausgesetzt war, aber Nathan’s oder den einen oder anderen Vergnügungspark, an denen wir vorbei gekommen waren, hätte ich dennoch gerne aufs Celluloid gebannt.
Wir nahmen eine der blauen Linien und fuhren so knappe 20 Minuten bis zum Columbus Circle, einer der wichtigsten Knotenpunkte der Metro. Wir verließen die Station und schauten nach oben. In etwas über 20m Höhe thronte eine marmorne Statue des Entdeckers der neuen Welt, errichtet aus Anlass der 400-Jahrfeier dieses historischen Augenblicks. Scott bemerke nebenbei, dass von diesem Punkt aus sämtliche Entfernung von und nach New York gemessen werden.
Kurz hinter der Statue des Seehelden, der allerdings selbst nie einen Fuß auf das Festland getan hat, steht einer der 11 Trump-Towers der Stadt, es ist das Trump International Hotel & Tower, nur 178m hoch und daher nur ein kleiner Wolkenkratzer.
Jetzt nur noch zwei Blocks hoch und dann um die Ecke rum und da waren wir. Wir standen vor dem größten YMCA der USA, 5 West 63. Der nur 50m hohe Komplex beherbergt auf sechs Etagen Einrichtungen der Organisation, und die nächsten sieben dienen ausschließlich dem Hotelbetrieb. Toll sieht das Gebäude, dass 1930 seiner Bestimmung übergeben wurde, zwar nicht aus, aber es erfüllte seinen Zweck: Es beherbergte mich.
Ehe jetzt falsche Gedanken aufkommen, das YMCA an der Westside ist eher ein ganz normales Hotel als eine Jugendherberge im herkömmlichen Sinne. Mit meinen damals knapp 27 Jahren war ich sogar einer der jüngeren Hotelgäste.
Es galt zwar seit dem Song von den Village People Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts als leicht angeschwult, aber zu meiner Ehrenrettung muss gesagt werden, es war ausgerechnet meine Mutter, Tochter eines Kirchmeisters und Vorsitzende der Frauenhilfe, die diese Beherbungsstätte wohl über den Jugendsekretär des Kirchenkreises ausfindig gemacht und über das internationale Büro des CVJM telegrafisch für mich hat reservieren lassen, zu einer normalen Buchung war ja keine Zeit mehr gewesen. Denn zwischen Reiseplanung und Start lagen weniger als zwei Wochen
Ich griff in die Innentasche meines Mantels und holte den Hotelschlüssel hervor und wedelte damit in Richtung Rezeption. Der unverkennbare Anhänger diente als eine Art Ausweis, der mich als Hotelgast identifizierte. Irgendwie mussten ja die Damen und Herren an der Rezeption, die ständig wechselten, wenigstens einen gewissen Überblick über die Hotelgäste halten. Scott ging wie selbstverständlich an meiner Seite. Man konnte zwar mich als Hotelgast erkennen, nicht aber, dass ich da nur ein Einzelzimmer in der Herberge gebucht hatte.
Wir fuhren in den neunten Stock und ich öffnete mein zum Innenhof gelegenes Zimmer. Durch das Fenster konnte man durch eine Baulücke direkt auf den Central Park blicken. Der einzige Lichtblick in diesem Zimmer, dessen Bett viel zu weich war, die Farbe von den Wänden blätterte, der Wasserhahn des Waschbeckens – soviel Luxus bot die Räumlichkeit tatsächlich – tropfte, der Fußboden so aussah, als ob er seit Inbetriebnahme keiner Grundreinigung mehr unterzogen worden war.
Ich begann mich auszuziehen und achtete gar nicht auf meinen Begleiter, der in Ermangelung einer normalen Sitzmöglichkeit es sich auf dem Bett bequem gemacht hatte. Ich stand nackt in Badelatschen und umgebundenen Handtuch vor ihm und meinte, ich würde jetzt duschen gehen. Auf die Idee, dass er eventuell mitkommen wollte, kam ich nicht. Das Problem war, ich verfügte zwar über ein Einzelzimmer, aber Dusche und WC waren auf dem Gang. Das Handwaschbecken war, vom obligatorischen Fernseher abgesehen, der einzige Luxus im Zimmer. Sechs Duschen nebst verriegelbaren Toiletten dienten dem gesamten Flurabschnitt von zwanzig Zimmern als zentraler Sanitärbereich. Da es keine Duschkabinen gab, wäre ein Liebesspiel ziemlich öffentlich gewesen.
Ich habe zwar nichts gegen Sex mit einem süßen Partner, und Scott war wirklich eine Sahneschnitte, aber ich hatte schon immer etwas gegen Selbigen in der Öffentlichkeit.
Ich setzte mich neben ihn und erzählte von einem kleinen Erlebnis gleich zu Anfang meines Aufenthaltes hier. Das YMCA verfügt über einen eigenen ziemlich großen Fitnessbereich, mit Trocken- und Dampfsauna, Schwimmbad, Gymnastikraum und allen möglichen und unmöglichen Gerätschaften zum Muskelaufbau und zur Formung derselben. Dieser Bereich konnte auch von den Hotelgästen genutzt werden, was ich auch gerne und oft tat. Der Vorteil für mich war, er war nach Geschlechtern getrennt, ich brauchte meine Augen also nicht dem Anblick nackter oder verschwitzter Frauenbrüste aussetzen.
Mein normaler Tagesablauf in der Stadt, die niemals schläft, sah ungefähr so aus: aufstehen, duschen, kurzes Frühstück im Park, danach waren acht bis zehn Stunden Sightseeing und Shopping angesagt, dann zurück in die Herberge an der West Side, dort einige Runden Schwimmen und ab in die Sauna, um wieder fit zu werden für die Nacht. Und die Nächte verbrachte ich ja in der Szene, seit meinem vierten Tag hier hauptsächlich mit Sebastian und seinem Richard.
Aber Schwimmen und Sauna hatten die Wirkung eines Akkuladegerät für mich. Ich hatte mich mittlerweile auch an die Leute, die da mit mir schwammen und schwitzten, gewöhnt. Denn bei meinem ersten Besuch in der Dampfsauna traute ich meinen Augen kaum: da saßen tatsächlich Leute, wohl aus Scham oder falsch verstandener Prüderie, in T-Shirt auf den gekachelten Bänken und das Handtuch fest um die Hüften gebunden.
Als Europäer geht man ja normalerweise nackt in die Sauna und setzt sich dann auf das Handtuch. In den Staaten bleibt das Handtuch in der Sauna die ganze Zeit um, egal ob man Dampf- oder Trockensauna aufsucht.
Jedenfalls am zweiten Tag meines Aufenthalts passierte es. Ich hatte beim ersten Gang in die finnische Art dieser Körperreinigungsstätte einen kleinen Asiaten entdeckt, vielleicht zwei, drei Jahre jünger als ich, ziemlich nettes Gesicht, wohlgeformte Proportionen, nicht zu muskelbetont, gerade der richtige Anblick für mein vom Museum of Modern Art, kurz MOMA genannt, gestresstes Auge. Ich zwinkerte ihm zu und er konnte seine Augen wohl nicht von einem bestimmten Körperteil lassen.
Ich spielte mit meinen Sehorganen ein kleines Spiel mit ihm und er konnte oder wollte sich meinen Blicken nicht entziehen. Raus unter die Dusche, kalt gebraust, er hinter mir her. Wieder ab in den Vorraum, dort einige Wechselbäder für die Füße, er folgte mir. Also war er wohl auch verzaubert, ich grinste ihn an.
Ich trieb das Spiel auf die Spitze, nahm das Handtuch, warf es mir über die Schulter und bin, wie Gott mich erschaffen, in die Dampfsauna. Ohne Brille sehe ich normalerweise nicht viel, aber soviel erkannte ich noch, die Bank links vom Eingang war frei. Ich setzte mich, legte meine Hände auf die Knie und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Es dauerte keine Minute, da kam au der kleine Asiate durch die Tür. Er setzte sich direkt neben mich.
Ob er mich anschaute, vermochte ich ob des Nebels nicht zu sagen, aber ich spürte plötzlich eine kleine zierliche, aber dennoch kräftige Hand auf meinem rechten Oberschenkel. Sie verharrte dort. Meine linke Hand legte sich direkt hinter besagte Extremität und mein Daumen drückte sie nach oben. Ich vernahm ein lustvolles Stöhnen und die Hand ging auf Wanderschaft. Ich ließ es geschehen. Meine Linke wechselte das Knie und lag urplötzlich auf seinem linken Oberschenkel, auch bestrebt, bald den Weg nach Oben anzutreten.
Ich hatte ob der Behandlung eine Latte, er aber auch. Ich spürte den beschnittenen Schwanz und konnte nicht sagen, ob es das kondensierter Dampf war, den ich auf seiner Spitze fühlte, oder eine andere Körperabsonderung.
Es verging einige Zeit und ich genoss es einfach, allerdings wollte ich das Spiel noch verlängern. Plötzlich und ruckartig stand ich auf, warf das Handtuch so über meine Schulter, dass es die Kronjuwelen gerade noch bedeckte, und verließ die Dampfsauna. Meine Schritte führten mich nach links in den zweiten, kleineren und weniger frequentierten Duschraum. Ich war allein, stellte das Wasser an und genoss den Strahl. Es dauerte keine Minute und mein Spielkamerad stand im Durchgang. Er schaute mich an und grinste. Er warf sein Handtuch auf einen der dort stehenden Stühle und ging sofort vor mir auf die Knie und machte da mit dem Mund weiter, wo er mit der Hand vor kurzem aufgehört hatte.
Die Situation wurde mir zu brenzlig, der offene Durchgang zum Saunabereich, die vielen Leute dort, es hätte jeden Augenblick jemand auftauchen können. Ich tippte meinem Bläser auf die Schulter, seine Augen schauten mich fragend an. „I stay here. Let’s go into my room to have a little more privacy!“ Seine Augen waren große Fragezeichen. “What do you want?” Ich wiederholte meine Ansage, dass ich hier wohnen würde und wir diese Tätigkeit doch zwecks privaterer Atmosphäre gerne in meinem Zimmer fortsetzen könnten. Ich blickte in erstaunte Augen. Dann kam etwas, was ich mein Lebtag nicht mehr vergessen werde! Er, mein bestes Teil immer noch auf den Lippen, meinte todernst: „Why? I am not gay!“ Ich war erst baff und sprachlos, dann konnte ich mich aber nicht mehr halten vor Lachen. Die Spinnen, diese Amis!
Scott grinste, als ich geendet hatte. Er meinte aber, wohl zur Ehrenrettung seiner Landsleute, es sei eine natürliche Reaktion: Man wolle immer mit dem spielen, was man selbst nicht hat. Diesmal schaute ich ihn fragend an. Er zog an dem Badetuch und ich saß nackt da. Er nahm mein bestes Teil in die Hand und spielte mit der Vorhaut, von der ich mehr als genug habe.
Ich musste grinsen. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Es stimmte, die Zirkumzision war in den USA im Gegensatz zum westlichen Europa ziemlich weit verbreitet. Allerdings werden heutzutage nicht mehr alle Jungen automatisch beschnitten wie noch bis Mitte des letzten Jahrhunderts. Der Anteil beträgt nur noch etwas mehr als die Hälfte, Tendenz fallend. Amerika kann anscheinend auch von Europa lernen.
Während er da an mir herummanipulierte, fragte mein amerikanischer Liebling so quasi in einem Nebensatz, ob ich mir es denn nicht vorstellen könnte, die restlichen Tage meines Aufenthalts in der Megacity bei und vor allem mit ihm zu verbringen.
Diesmal war die Verwunderung auf meiner Seite. „You mean, we …“ Er nickte. „Alex, I like you and that’s an invitation from the bottom of my heart. You can say yes and you can say no. It’s up to you.“
Anstatt einer Antwort beugte mich zu ihm hinüber und küsste ihn leidenschaftlich. „That’s a good answer! So come on, Alex! Let’s move.“ Er grinste und ich war einfach nur glücklich.
Ich erhob mich vom Bett und holte aus dem Wandschrank meinen Koffer und legte ihn aus Bett. Scott schaute mich mit seinen blauen Augen an und meinte, ich solle ruhig duschen gehen. Er würde für mich packen. Ich sah ihn dankbar an, gab ihm noch einen Kuss und verließ das Zimmer in Richtung Dusche.
Nach erfolgter Reinigung des Körpers kam ich nur in Shorts zurück ins Zimmer. Scott schaute kurz auf, warf mir einige Sache zu und meinte, ich solle mich beeilen, was ich dann auch tat. Eine Stunde, nachdem wir das Zimmer betreten hatten, verließen wir es wieder mit gepackten Koffern.
Das Auschecken an der Rezeption verlief ohne größere Probleme. Der Puertoricaner an der Rezeption meinte mit einem süffisanten Blick auf Scott, so eine Gesellschaft wäre ihm auch lieber als dies alte Gemäuer hier. Ich grinste nur zurück und nickte zustimmend.
Er druckte die Rechnung aus und gab sie mir, dort war der volle Betrag bis zum eigentlichen Urlaubsende und die entsprechenden Daten aufgeführt. Er erkannte wohl den Fehler auf seinem Exemplar und bat mich, etwas zu warten. Einige Zeit später hielt ich das korrigierte Ergebnis in Händen, gegen ein kleines Trinkgeld konnte ich dann aber auch das falsche Papier einstecken. Man weiß ja nie, wofür man das noch mal gebrauchen könnte.
Wir fuhren dann mit dem Taxi zu Scott in seine bzw. unsere Wohnung. Am Empfang bekam ich meinen ersten Hausausweis, der mich zum Betreten des Hauses berechtigte. Zwar nur gültig bis Monatsende, aber immerhin. Ich packte aus und wir verließen kurz darauf wieder das altehrwürdige Gebäude in der 44.sten zwecks Nahrungsaufnahme. Er lud mich ein zu Pietro’s.