Sinai 514 – Teil 5

Samstag, 14:15 est

Ich blickte aus dem Schlafzimmerfenster. Einige dunkle Wolken waren am Horizont aufgezogen, am liebsten hätte ich mich aufs Bett geworfen, eine Mütze voll Schlaf genommen, um mich nach dem Aufwachen wieder auf den Weg ins Krankenhaus zu meinem Liebsten zu machen. Aber da ich meine Versprechen zu halten pflege, meistens jedenfalls, kam ein Mittagsschlaf nicht in Frage.

Ich war Tischherr für Erdmute. Ich mochte diese Frau, zu der ich in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft so etwas wie großmütterliche Gefühle aufgebaut hatte. Meine letzte noch lebende Oma Maria konnte ja aufgrund ihrer Krankheit nicht mehr mit mir so agieren, wie sie es vielleicht gerne wollte.

Ich packte die Sachen aus den Kartons, hängte sie an den Schrank und griff mir aus selbigen ein paar frische Boxer und ein sauberes Unterhemd. Nackt, wie Gott mich erschaffen, betrat ich das kleine Badezimmer. Schon bei meinem ersten Besuch hier war ich mehr als verblüfft, denn der Architekt hatte es tatsächlich geschafft, Badewanne, Duschtasse, WC und ein Waschbecken so in dem knapp acht Quadratmeter großen Raum zu platzieren, das man selbst mit zwei Personen sich nicht im Wege stand.

Nach einer erfrischenden Dusche besah ich mich im nebelgeschwängerten Spiegel. Eine Rasur musste sein, da hatte Gordon Recht. Zur besseren Sicht auf mich selber schaltete ich die Absauganlage ein, nach einer Minute konnte ich mich wieder deutlich sehen. Nach beendeter, erfolgreicher Depilation des Gesichtshaares erschauerte ich, nicht nur nach dem Auftragen des After Shaves, sondern eher bei dem Blick auf die Badezimmeruhr. Ich hatte noch knapp 20 Minuten, dann würde der Fahrer vor der Tür stehen.

Das Anziehen des neuen Anzugs verlief ohne großartige Probleme. Unterwäsche, Strümpfe, Hose, Hemd, Hosenträger, Weste waren ja kein Problem. Die Schwierigkeiten tauchten erst bei dem Plastron auf. Zu meiner eigenen Schande muss ich gestehen, ich wusste nicht, wie man einen Ascot bindet. Krawatten sind ja kein Problem, aber Fliegen oder gar Abarten davon? Also steckte ich das regenbogenfarbig durchwirkte Stück Tuch in eine der Taschen des Rockes, der immer noch am Schrank hing.

Wieder im Bad gelte ich etwas mein Haupthaar und brachte es mit den Händen in Form. Ich steckte zwei von Scotts Parfümpröbchen, die er sammelt wie andere Leute Briefmarken, in eine der Taschen der Weste. Man konnte ja nicht wissen, wozu man einen guten Duft noch gebrauchen könnte.

Zurück im Schlafzimmer angelangt, zog ich den Rock über. Um allen Eventualitäten vorzubeugen, steckte ich mir eine Packung meiner zollfreien Zigaretten in eine der Innentaschen und deponierte eine Ersatzpackung im Mantel. In die anderen Taschen wanderten Brieftasche, Mobilknochen, ein zusätzliches Taschentuch, ein Kamm, und ein Notizblock samt Kugelschreiber. In die Tasche im Schoß wanderte eine kleine Gabe von Scott. Er hatte mir aus London mal einen silbernen Flachmann mit meinen Initialen mitgebracht. Zwar war der Inhalt nicht mehr im Originalzustand, aber ein guter Absinth, daraus bestand die aktuelle Füllung, ist ja auch nicht zu verachten.

Als Schmuck für den heutigen Tag wählte ich die goldene Deckeltaschenuhr meines Großvaters, die ich permanent mit mir rumschleppe. Auf das übliche Chronometer am Handgelenk verzichtete ich zugunsten eines zweiten Armbandes. Die Manschettenknöpfe waren von Scotts Vater, meine Verschlüsse lagen in ihrem Kästchen auf meinem Nachtschrank in der Heimat.

Das linke Revers des Cuts schmückte ich mit der goldenen Nadel, die mir aus Anlass der aktiven Teilnahme an der 1200-Jahr-Feier meiner Universitätsstadt verliehen worden. Sie sieht einfach besser aus, als das bronzene Bundeswehrverdienstkreuz, das ich für meine Mitarbeit an der Diensthundeverordnung der Bundeswehr bekommen hatte. Den Orden besaß ich zwar auch im Miniaturformat, aber das Stück lag leider in der passenden Schatulle in Düsseldorf in meinem Kleiderschrank.

In dem so aufgetakelten Cut ging ich in die Küche, trank ein Glas Orangensaft und harrte bei einem Glimmstengel der Dinge, die da auf mich zukommen würden. Nach einer halben Zigarette klingelte das Haustelefon. Der Portier informierte mich, dass ein Wagen für mich vorgefahren sei. Mit dem Mantel über den Arm und dem Stock in der Hand verließ ich die Wohnung und fuhr mit dem Fahrstuhl abwärts.

Ich verließ den Aufzug und der schwarze Hausdiener musterte mich. „Sir, something is missing.“ Er deutete auf meinen Hals. Der Kragen war immer noch offen. Ich lächelte ihn an und schaute auf sein Namensschild. „Yes, Jason, you are right. I cannot tie an ascot.“ Wie zum Beweis griff in die Jackentasche und holte das Stück Stoff hervor. Er schaute nur, nahm das Tuch und meinte: „Wait a minute!“ Geschickt hantierte er mit dem Wollprodukt an meinem Hals und kurze Zeit später war ich voll angekleidet.

An der Tür stand ein livrierter Fahrer. „Dr. van Aart?“ Ich nickte, er verbeugte sich und öffnete mir die Tür zur Strasse. Ich staunte nicht schlecht, vor dem Baldachin parkte ein nagelneuer silbergrauer Bentley, Modell Continental Flying Spur. Lediglich ein kleines, dezentes Hotellogo auf der Beifahrertür deutete auf einen Fahrservice.

Der Chauffeur umrundete mich und öffnete mir so die Tür zum Fond. Ich warf Mantel und Stock auf den leeren Sitz und ließ mich in den Ledersitz gleiten. Ein herrliches Gefühl, allerdings dauerte es etwas, bis ich die richtige Sitzposition fand, denn ich musste erst einmal mit den Schößen des Cuts kämpfen. Ich wollte ja nicht mit einem zerknautschten Stück Stoff auf der Hochzeit auftauchen.

Es roch nach Leder und Holz, ein kleiner Bildschirm war in die Rückenlehne des Vordersitzes eingelassen, eine Minibar und ein ebensolcher Kühlschrank waren zwischen den beiden Rücksitzen angeordnet. Ein Telefon durfte ebenfalls nicht fehlen. Ich nahm eins der Bleikristallgläser aus der Halterung und hörte ein Räuspern von vorne. „Sorry Sir, but I forgot to restock.“ Jetzt sah ich es auch, die beiden Glaskaraffen, die hinter den Gläsern in der Vertiefung standen, waren leer.

Der Fahrer griff in das Handschuhfach und hielt mir zwei Miniflaschen vor die Nase. Die Marke kannte ich nicht, Maker’s Mark war für mich ein Novum. Ich stellte das Glas wieder zurück, nahm die beiden Fläschchen und schaute mir das Etikett an, es war ein Kentucky Straight Bourbon Whisky. Wenn ich schon den Limousinenservice in Anspruch nehmen durfte, wollte ich das wenigstens standesgemäß tun. Ich goss den Inhalt in das gläserne Behältnis und roch erst einmal. Eine Mischung aus Honig und Rosinen drang an meine Geruchsrezeptoren. Ich öffnete den Minikühlschrank und entdeckte eine kleine Dose Cola. Ich griff danach und schon wieder kam ein räusperndes Geräusch von vorne.

„Sir, if I were you I wouldn’t mix it. Maker’s is the official Whiskey of White House.“ Gut, wenn das der Präsidententrank war, dann sollte man ihn auch ohne Verlängerung genießen können. Ich nippte an dem Glas und war erstaunt, sehr weich und doch leicht würzig, der Abgang eine Wohltat für die Geschmacksknospen. Ich genoss den Drink, schaute dem Treiben auf der Straße zu und fühlte mich nur wohl. Die Fahrt war leider nur von kurzer Dauer, ich war genötigt, die Neige mehr oder minder runter zu stürzen.

Der Wagen hatte kaum gehalten, da wurde die Tür auch schon geöffnet. Ohne nach oben zu blicken, reichte ich dem Türöffner Mantel und Stock und schwang mich aus dem Fond. Ich rückte den Rock zurecht und wollte mich beim Fahrer für die Tour bedanken, aber kaum hatte ich die Hand in der Tasche auf der Suche nach einem Trinkgeld, hatte der Wagenmeister die Tür auch schon wieder geschlossen und der Wagen fädelte sich in den zähfließenden Verkehr auf der 5th Avenue ein.

Ich nahm dem uniformierten Mann Mantel und Stock ab. „Bag your pardon. Do you know where I can find a flower shop?“ Er musterte mich. „Tippling-Reynolds Wedding?” Ich nickte. „If you need a boutonnière you should go to Stefano’s. It is just around the corner.” Er deutete nach links und ich setzte mich in Bewegung.

Der Blumenladen war ziemlich klein und wirkte reichlich überladen. Ein etwas stämmigerer Italiener von knapp 50 kam in einer Art Slalom durch die am Boden stehenden Vasen auf mich zu, eigentlich schwebte er mehr durch den Parcours als das er ging. „Signore! Come sta?“ „Bene, grazie, e Lei?“ „Anch’io.“ Wenn er jetzt noch das Verkaufsgespräch auf Italienisch führen wollte, hatte ich Schwierigkeiten. Mehr als die normalen Begrüßungsfloskeln hatte ich nicht in meinem Vokabular.

Um allen Eventualitäten vorzubeugen, legte ich sofort los und deutete auf mein Revers. „I need a boutonnière for a wedding.” Stefano betrachtete mich und meinen Aufzug etwas näher. „It seems to be very formal. Is it the Tippling Wedding at the Plaza?” Ich nickte und er unterzog mich eines noch strengeren Blickes. „But you are not the groom?” Ich schüttelte lachend den Kopf, nein, ich war nicht der Bräutigam. „No, it is not my wedding. My intended is in hospital, intensive care unit. I am only the partner at table of the groom’s grandmother. She is a good friend of mine.”

„Are you gay?“ Entweder war das regenbogenfarbendurchwirkte Plastron doch zu eindeutig für einen Insider wie den schwebenden Floristen oder der Ausdruck des Verlobten hatte mich verraten. Ich nickte ein zweites Mal. Er verschwand wieder in den hinteren Teil des Ladens und kam kurze Zeit später mit einem kleinen Blumengebinde zurück.

Er steckte mir das Arrangement gleich an das Revers. Eine weiße Dahlie neben einer blauen Schwertlilie auf einem kleinen Eibenzweig. Es sah gut aus, wie ich fand. Ich zahlte die geforderten zehn Dollar und verließ das Blumenparadies.

Ich bog schon wieder um die Hotelecke, als mir auffiel, dass ich kein Gastgeschenk für Erdmute hatte. Es war mir peinlich, aber zu ändern war das im Moment leider nicht. Gut, ich hätte zurückgehen und ihr einen Strauß binden lassen können, aber erstens kannte ich ihren Blumengeschmack nicht und zweitens drängte die Zeit. Es war schon viertel nach.

Sie würde mir sicherlich diesen Lapsus verzeihen, zumal die Zeitplanung ja durch die Ereignisse um meinen Göttergatten ziemlich durcheinander gewirbelt worden waren.

George sah ich nicht an seinem Platz in der Lobby, so wandte ich mich direkt an die Rezeption. Ich trug meinen Wunsch vor und eine freundliche Asiatin rief sofort einen Pagen, der mich in Empfang nahm und zu den Aufzügen eskortierte.

Die Fahrt endete im achten Stock. Der Page, ein leicht verpickelt aussehender Teenager mit kurzem, blonden Bürstenschnitt, führte mich nach rechts und kurze Zeit später klopfte er an eine der dicken Türen. Es ertönte ein beherztes „Come in.“ Er öffnete mir die Tür und ließ mich ein, ich stand in einer der Suiten. Ich griff kurz in die Tasche und drückte ihm einen Schein in die Hand.

Mit einem Gemurmel, was wohl so etwas wie Danke heißen sollte, verzog er sich und Mutzi kam aus dem angrenzenden Schlafzimmer in den Wohnbereich. Ich ging auf sie zu und wollte ihre Hand ergreifen, aber sie umfasste meine Schultern und zog mich an sich. Es folgte die französische Art der Begrüßung.

„Leg deinen Mantel über den Stuhl.“ Sie deutete auf den Esstisch respektive auf einen der davor stehenden Stühle. Ich tat wie mir geheißen und stellte den Stock daneben. Der Gebrauch der Gehhilfe war doch etwas ungewohnt. Gut, in den Alpen braucht man ihn zum wandern, aber in einer Großstadt?

„Gut schaust du aus. Lass dich mal richtig ansehen.“ Sie musterte mich von oben bis unten und kam mir vor wie ein Pennäler, dessen neuer Sonntagsanzug begutachtet wurde. „Da werden aber einige eifersüchtig sein. Ich kann kaum das Gesicht meiner Tochter abwarten.“ Sie lachte und ich konnte mir ein Grinsen auch nicht verkneifen. „Ich weiß, ich bin ja der Erbschleicher!“ „Genau, du bist der Kerl, der an ihr Geld will!“ „Wieso ihr Geld?“ „Sie ist unser einzig noch lebendes Kind. Wer soll es denn sonst kriegen?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Du kannst mit deinem Geld machen, was du willst.“ Sie schaute mich durchdringend an. „Nicht ganz. Es gibt ein Testament. Aber was rede ich. Setz dich erst einmal.“ Sie deutete diesmal auf die Couch und verschwand durch die Tür in den zweiten Teil der Suite.

Sie wirkte elegant in dem in vier verschiedenen Gelbtönen bodenlangen Kleid. Alte Damen tragen ja normalerweise uni oder, wenn sie die Queen sind, Pastellfarben. Ihr Aufzug jedoch wirkte ziemlich jugendlich und frisch.

Ich entschied mich für die Mitte des zweisitzigen Sofas, denn dort hatte ich keine Probleme, die Schöße knitterfrei neben mich zu legen. Als meine Gastgeberin aus dem Schlafzimmer kam, grinste sie mich nur an. „Na, du scheinst ja nicht oft Cut zu tragen.“ „Stimmt, heute ist meine Premiere.“ „Hier.“ Sie reichte mir ein paar zusammengeheftete Blätter. Ich warf einen Blick auf die erste Seite und war leicht verwundert. „Du reist mit deinem Testament?“ „Na, man soll doch die wichtigsten Papiere immer bei sich haben, oder?“ Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Mutzi, ein Testament ist zwar wichtig, aber du bist Deutsche, hast deinen Wohnsitz in Deutschland und das Testament ist vor einem deutschen Notar errichtet worden, da braucht man auch einen deutschen Erbschein und den kriegt man hier eh nicht. Darf ich mal lesen?“ „Dazu habe ich dir das Ding ja mitgebracht. Du wirst sehen, meine Tochter erbt alles!“

Ich überflog die erste, eher formale Seite, blätterte um, zog meine Augenbrauen hoch, las weiter, kraulte mir das Kinn, blätterte auf Seite drei, legte die Stirn in Falten, zog die Brille auf die Nasenspitze und fing an zu lachen. Auf der letzten Seite waren nur noch die Unterschriften.

„Was lachst du?“ „Tja, deine Tochter sollte sich wirklich Sorgen um das Geld machen.“ „Wie meinst du das denn jetzt?“ „Du und dein seliger Albert habt zwar eine sehr umfangreiche Nacherbenregelung getroffen, aber du, liebe Mutzi, hast das alleinige Verfügungsrecht über das Belzheimische Vermögen. So einfach ist das!“ Ich schaute in erstaunte Augen. „Alexander, Albert und ich haben damals, nachdem unser Sohn verschwunden ist, uns Gedanken um die Aufteilung gemacht und daher diese ganzen Regelungen getroffen. Das Geld gehört allein Veronika.“ „Theoretisch ja, aber du hast das wichtigste einfach übersehen, nämlich den letzen Halbsatz auf der ersten Seite. Hier!“

Ich legte wie zum Beweis das Papier auf den Tisch und deutete auf den entsprechenden Satz in dem Schriftstück. „Sofern der länger lebende Ehepartner keine anderweitigen Verfügungen trifft, gilt folgende Nacherbenregelung. Das heißt nichts anderes, als das du jederzeit dein eigenes Testament machen kannst.“ „Das verstehe ich jetzt nicht.“ „Ihr habt das Testament aufgesetzt, nachdem euer Sohn verschwunden war.“ „Ja, nachdem wir über ein Jahr nichts mehr von ihm gehört haben.“ „Deshalb ging alles an deine Tochter und ihre Kinder?“ „Natürlich!“ „Tja, aber was würde passieren, wenn dein Sohn wieder auftauchen würde?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Und wenn ich mal auf das Alter der Verfügung sehe, da war deine Tochter noch im gebärfähigen Alter.“ „Sie war damals 39!“ „Ja und? Ein paar Hormone und sie hätte noch Zwillinge gekriegt. In einem solchen Fall hätte der neue Enkel ja nichts von euch geerbt. Da hättet ihr eh eine neue Regelung treffen müssen.“ „Du meinst, ich bin nicht an diesen Willen gebunden?“ Ich nickte. „Genau, du kannst mit dem Geld machen, was du willst. Du kannst es deiner Tochter vermachen, dem Tierheim, der AIDS-Hilfe oder der Kirche. Es ist deine Sache!“

Erdmute setzte sich in den Sessel. „Ich glaube, ich brauche jetzt erst einmal einen Drink.“ Sie griff das Telefon und wählte die Nummer vom Zimmerservice. Neben Tee und Sandwichs orderte sie zwei Gläser Whiskey auf Eis. Nach dem hochgeistigen Getränk war der durch den Kellner aufgegossene Tee soweit, dass man ihn genießen konnte.

Wir unterhielten uns noch kurz über das Testament, dann musste ich ihr alles von Scott und seinem Weg der Besserung berichten. Sie kannte sich erstaunend gut mit Medizin aus. Wie sich herausstellte, war ihr Vater Apotheker im Bergischen gewesen und sie examinierte Krankenschwester. Allerdings hatte sie nur kurz in dem Beruf gearbeitet, denn schon im ersten Jahr nach der Lehre kam der frischgebackene Landesbankassessor Albert mit einem Oberschenkelhalsbruch auf ihre Station und ein Jahr später das erste Kind. Der mittlerweile verschwundene Wolfgang.

Nach der zweiten Tasse Tee und dem dritten Sandwich mit Putenbrust und Kresse zog ich die Taschenuhr aus der Weste. Bis zur Hochzeit war es noch fast eine halbe Stunde und ich wollte vorher noch dringend meinen Lungenschmacht befriedigen. Mutzi erkannte wohl mein Bedürfnis, denn sie deutete auf die Anrichte, dort stand neben der für Suiten üblichen Obstschale das Objekt meiner Begierde, ein Aschenbecher. „Während du die Luft hier verpestest, werde ich mich meinen Preziosen widmen.“ Sie verschwand im Schlafzimmer und ich eilte an die Anrichte.

Ihr Timing war bewundernswert. Ich hatte die Zigarette gerade ausgedrückt, als sie mit einer Kette in der linken und einem Gegenstand in der rechten Hand wieder ins Zimmer trat. Ich drehte mich zu ihr um und sie drückte mir ein Collier mit vier oder fünf Smaragdanhängern in die Hand. „Hilfst du mir mal!“ Plötzlich stand sie mit dem Rücken vor mir und ich entwirrte erst einmal das silberne Geschmeide, denn es war ziemlich filigran gearbeitet. Mit dem Verschluss hatte ich wider Erwarten keine Probleme. „Lass dich mal anschauen!“ Sie drehte sich um und gab den Blick auf ihr Dekolleté frei. Ich kratzte mich am Kinn. „Es gefällt dir nicht!“ „Mutzi, die Kette sieht gut aus, aber irgendwie … ich weiß nicht.“ Sie grinste mich an. „Hast ja Recht. Das ist ja auch das Geschenk für Victoria. Als alte Frau trägt man so etwas Feingliedriges nicht mehr. Aber warte mal.“

Sie ging mir mit der linken Hand an mein Plastron und hantierte mit einer Nadel in ihrer Rechten, sie suchte wohl die Mitte. Ich hoffte, sie würde mich nicht stechen, aber der Metallstift drang ohne äußere und innere Verletzung durch den Stoff.

„Jetzt nehm’ mir bitte die Kette wieder ab, Vicky müsste gleich kommen.“ Ich half ihr gerne, denn ich wollte ja auch sehen, was sie mir da angesteckt hatte. Mit der Kette in der Hand ging sie wieder nach nebenan und gab so den Blick auf den Spiegel frei. In Mitten des Tuches um meinen Hals prangte nun eine ziemlich alt aussehende Krawattennadel. Um einen trapezförmig geschliffenen Obsidian waren viele Brillantsplitter angebracht.

„Wie komme ich denn zu dieser Ehre?“ Aus dem Schlafzimmer drang ihre Stimme an mein Ohr. „Nur so. Das ist die Krawattennadel meines Vaters. Eigentlich sollte sie Wolfgang mal erben, aber der ist ja nicht mehr da. Und da ich jetzt weiß, dass ich mit meinem Geld machen kann, was ich will, schenke ich sie einem lieben Menschen, nämlich dir.“ Ich war perplex, stotternd kam ein Danke aus meinem Mund.

Ich würde sie für das Kleinod zu einem opulenten Essen einladen, das stand fest, denn ich kam mir in dem Moment vor wie ein geldgeiler Gigolo. Sie erschien wieder im Wohnzimmer, sie hatte sich den Schmuck schon selbst angelegt. Ein ziemlich altes, dreireihiges Rubincollier mit einem Anhänger. Die Form des Anhängers, eine Art französischer Lilie, setzte sich in der Brosche und den Ohrhängern fort. „Wenn du jetzt noch das passende Diadem hast, siehst du aus wie die Königinmutter.“

Intermezzo

Ich eilte vom Cafe aus zu meinem vorletzten Abend in New York. Scott wollte mich ja zum Essen ausführen. Den Abend würden wir wohl wieder alleine verbringen. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden, denn auch wenn ich Sebastian wirklich mag, aber meine Gedanken drehten sich im Moment eher um die Saftschubse, die da an mein Herz klopfte, als um den Freund aus Studientagen, mit dem mich eine sehr stressige und doch gleichzeitig amüsante Dreiecksbeziehung verband.

Der Kinderarzt hatte ja das gestrige Treffen wegen eines Notfalles abgesagt, aber uns gleichzeitig für den Mittwoch eingeladen. Er wollte wohl so etwas wie eine Art Abschiedsparty für mich organisieren. Ich freute mich schon darauf, obwohl es für mich bedeutete, dass ich den morgigen Tag zu einem großen Teil in der Küche verbringen musste. Am Sonntag hatte ich mich ja mehr oder minder breitschlagen lassen, einen Frankfurter Kranz zu backen. Ich weiß zwar auch nicht, was mich da geritten hatte, aber wenn, dann wollte ich auch zu meinem Wort stehen.

Wie man einen Frankfurter Kranz nun genau produziert, wusste ich zwar nicht, aber wozu gibt es Familie? Ich blickte auf meine Uhr, Oma war noch wach. Wenn nicht, wäre es bestimmt auch nicht schlimm, ich bin schließlich ihr Lieblingsenkel. Also auf zur nächsten Telefonzelle. Ich tippte zuerst die ellenlange Nummer der Telefonkarte ein und dann die gewünschte Rufnummer.

Meine Großmutter, die Haus- und Hofbäckerin der Familie, meldete sich am anderen Ende. Ich schilderte ihr mein Problem und Oma wusste, wie immer, guten Rat. Sie riet mir zu einem normalen Sandkuchenteig, jedoch sollte ich, des besseren Geschmacks wegen, die Eier vorher trennen und den Eischnee separat unterheben, der Kuchen würde dann lockerer werden. Den Hauptbestandteil, sprich den eigentlichen Kranz, könne ich auch ruhig heute schon herstellen; in Alufolie eingehüllt würde er die Zeit bis zur endgültigen Verarbeitung gut überstehen.

Die genauen Vorräte meines Liebsten kannte ich zwar nicht, aber ich wagte zu bezweifeln, dass er so banale Dinge wie Krokant, Vanillepudding und Johannesbeer-Gelee in seinen Küchenschränken, die eh nicht viel Essbares hergaben, aufbewahrte. Im Laden an der Ecke, einem Chinesen, erstand ich das zum backen Notwendige. Allerdings musste ich das Rezept etwas abändern, Johannesbeeren waren weder in Gelee- noch in sonstiger schmierfähiger Form vorhanden, ich entschied mich daher für ein Nussprodukt: Erdbeermarmelade.

Ich hatte den Kuchen gerade aus dem Ofen genommen, als die Haustür aufging und Scott, noch in Uniform, in den Flur trat, um beim Anblick des Chaos wieder zurück zu taumeln. Ich grinste ihn an. Ich koche und backe zwar leidenschaftlich gerne, aber dabei die Ordnung zu halten, die meine Großmutter dabei immer an den Tag legt, vermag ich leider nicht. Es sah etwas wirr aus, um es höflich zu formulieren.

Der letzte gemeinsame Abend begann in der Christopher Street. Unweit des berühmten Stonewall’s dinierten wir typisch amerikanisch; Hamburger und Pommes. Der Pianobar, in der ich Sebastian vor über einer Woche wieder getroffen hatte, statteten wir noch einen Abschiedsbesuch ab.

Das Klavier war verwaist, der Laden nur mäßig frequentiert. Scott kam mit zwei Bieren an und meinte, der Mann am Klavier hätte gekündigt und man hätte noch keinen Ersatz gefunden. Eigentlich schade, wollte ich doch noch einmal der singenden Tresenkraft, die von ihrem Stimmvolumen her ohne weiteres in jedem Musical hätte mitsingen können, lauschen. Aber mein Liebhaber grinste diabolisch und deutete auf den Hocker vor dem Piano. Besagte Mary, die schwarze Dame hinter dem Schanktisch, würde gleich nur für mich singen, ich müsste sie allerdings begleiten. Verdattert nahm ich einen großen Schluck aus der grünen Flasche und setzte mich auf den samtenen Bezug. Etliches an Notenblättern lag auf dem Pianoforte. Ich griff wahllos in einen der Stapel und beförderte ein Stück von 1933, Summertime vorn Gershwin, hervor. Ich fing an zu spielen und zu singen.

Die Geräuschkulisse sank erheblich. Beim zweiten Stück verzichtete ich jedoch auf den Gesang, denn ich wollte den Zuhörern Memories nicht als Bass-Solo zumuten.

Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner rechten Schulter, es war nicht mein kleiner Amerikaner, sondern besagte Mary, die auch vom Körperumfang her mit einer berühmten spanischen Primadonna keine Konkurrenz zu scheuen brauchte. Sie reichte mir den Zettel für ihre Eröffnungsnummer, das berühmte Willkommen, bienvenue, welcome aus Cabaret. Nachdem der Eröffnungsapplaus verebbt war, stellte sie sich und mich vor. Scott musste ihr beim Getränkeerwerb also etwas erzählt haben, denn ich wurde als musikalischer Leiter des schwulen Männerchores der deutschen Hauptstadt eingeführt. Der Regierungsumzug war zwar schon im Gange und aus Bonn war schon längst das Bundesdorf geworden, aber solche Marginalien dem Publikum zu erklären, wollte ich mir ersparen. Die Beförderung vom einfachen Mann am Klavier zum musikalischen Leiter nahm ich daher mit einem Lächeln dankend an.

Die erste Hälfte ihres Programms war ein Querschnitt aus alten Musicals, von Kiss me Kate über Porgy and Bess bis hin zu My Fair Lady. Nachdem wir die sieben Stücke abgespult hatten, verabschiedete sich Mary in die Pause und wünschte dem Publikum viel Spaß mit der Pausenmusik. Ihre 168 cm Körpergröße oder Brustumfang beugten sich zu mir herunter und sie meinte mit einem Lächeln zu mir: „You did a great job!“

Ich fragte sie, was sie denn als Pausenprogramm wünsche. „Play what you want! It’s up to you!“ Diese Aussage war keine große Hilfe, als Klavierschüler lernt man ja so einiges, aber mit Mozart, Bach, Brahms oder Tschaikowsky wollte ich das Publikum in diesem Etablissement nicht traktieren. Ich entschied mich daher für einen Querschnitt aus dem letzten Programm meines Chores, Lieder von Marlene Dietrich. Bei den ersten beiden Stücken, „Ich bin die fesche Lola“ und „The boys in the backroom“ summte das Publikum mit, bei „Sag mir, wo die Blumen sind“ sangen schon einige den englischen Text, einen ganzen Chor im Hintergrund hatte ich bei „Lili Marleen“.

Nachdem ich geendet hatte, drehte ich mich um und applaudierte selber in den Applaus des Publikums und erhob mich. „Sorry, I need another drink.“ Ich wollte mich dem Tresen zuwenden, um meinen Getränkewunsch der mittlerweile wieder hinter der Bar stehenden Mary kundzutun, als mir von zwei Seiten gleichzeitig einmal ein Whiskey und ein Bier gereicht wurden. Ich nahm beides an, trank zuerst das Destillat und spülte den bitteren Geschmack mit einem kräftigen Schluck Gerstensaft die Kehle hinunter.

Scott kam auf mich zu, umarmte und küsste mich, gab mir einen Klaps auf den Allerwertesten und bedeutete mir, mich wieder auf dem Klavierschemel zu setzen. Ich bat ihn, mir ein Zeichen zu geben, wenn Mary zum zweiten Teil ihres Auftrittes kommen wollte. Er nickte nur und ich begab mich wieder an den Platz am Klavier. Ich griff erneut in den Stapel Noten auf dem Klavier. Ich blätterte durch den Stoß, fand aber auf Anhieb nichts, was mir auf den ersten Blick gefiel. Die so entstandene Pause nutzte eine Dreiergruppe am Tresen, um etwas lauter zu werden. Ihrer Aussprache nach zu urteilen waren es Briten. Ich intonierte also die englische Nationalhymne, die drei verstummten und nahmen Haltung an. Die drei Proleten fingen an, aus tiefster Brust mitzugrölen.

Während sie bei dem “Gott rasier die Königin“ waren, drehte ich mich zum Publikum um und meinte ins Nirgendwo: „Where do you come from?“ Ich hörte als erstes Italien. Die Hymne kannte ich nicht, also spielte ich eine Tarantella, um von da aus auf den zweiten Zuruf, sprich Brasilien, zu reagieren. Das Musikstück ging in eine Samba über. Der nächste Übergang zu einem Tango, denn mir wurde als nächstes Argentinien zugerufen, gestaltete sich etwas schwieriger, aber, den Applaus beurteilend, schaffte ich auch diese Hürde.

Scott tippte mich auf die Schulter und meinte, Mary würde wiederkommen. Aus dem 7/8 Stück verfiel ich in den Triumpfmarsch aus Verdis Aida. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete ich die Kellnerin. Als diese sich anschickte, den Tresenbereich zu verlassen, wechselte ich von Verdi zu Chopin. Aber ehe sie mich erreichte, war ich vom Trauermarsch wieder bei dem Italiener angekommen. Mary grinste mich nur an, nahm das Mikrophon, begrüßte das Publikum zum zweiten Teil der Show und wünschte allen viel Spaß.

Die Stücke, die ich zu spielen hatte, waren einfach, denn es waren Musicals neueren Datums, hauptsächlich Andrew Lloyd Webber. Die Lieder waren leicht zu spielen, dem Komponisten sei Dank. Nach dem Schlussapplaus intonierte ich noch einmal das berühmte „Don’t cry for me Argentina!“. Allerdings nicht das Original, sondern die Version von Barbara Streisand, wobei ich Ihren Vornamen durch den meinigen ersetzte. Aus dem melancholischen Gesang der Präsidentengattin wurde also ein „Wein nicht um mich Alexander“.

Mary, die die ganze Zeit dabei gestanden hatte, fing auch an zu lachen und zu applaudieren. Zum Publikum gewandt meinte sie: „Give him a hug!“ Ich blickte singend zu ihr auf und grinste. Nach dem Schlussakkord umarmte ich sie und wir fielen uns um den Hals. Der Applaus war orgastisch.

Die normale Musik in dem Laden ertönte wieder. Ich wandte mich wieder meinem Scott und dem Biere zu, dass mittlerweile neben ihm einen Platz am Tresen erlangt hatte. Ich trank das Glas in einem Zug aus, denn Musik machen macht Durst!

Mary grinste mich die ganze Zeit an, war voll des Lobes. Wir quatschten etwas, bis sie zu einem der Kellner, einem Italiener, ging. Meine Hand wanderte über den Rücken meines Amerikaners, mein linker kleiner Finger lag in der Vertiefung seiner beiden Beckenwölbungen. Ich war einfach nur glücklich, froh, ausgebrannt, aber dennoch zufrieden. Die schwarze Bedienung kam kurze Zeit später auf uns zu. Sie reichte mir ein Bündel Geldscheine und meinte nur, dass das mein Anteil sei. Ich war mehr als erstaunt, als ich das ganze durchzählte, es waren mehr als 120 US-Dollar.

Sie meinte, ich hätte etwas drauf, ich könne mit dem Publikum umgehen, und wenn ich den Job haben wollte, ich könnte ihn sofort haben. Ich klärte die Tresenkraft über meine Situation auf und sie lachte nur; man könne ja nie wissen. Das Angebot würde jedenfalls stehen. Sie gab mir am Abschluss des Gespräches einfach nur ihre Karte und meinte, ich solle mich melden. Ich grinste freundlich, blieb aber eine endgültige Antwort schuldig.

Beschwingt und mit reichlich mehr Geld in der Tasche, als ich gekommen war, zogen wir von dannen. Die Nacht war zwar kurz, dafür umso intensiver. Im Gegensatz zu den anderen Nächten nahm die Saftschubse mich und nicht ich ihn. Es war mir letzten Endes egal, denn meinereiner ist ja flexibel.

Wir liebten uns in allen möglichen und unmöglichen Stellungen. Es war einfach nur bombastisch! Ich wollte ihm zwar nach einigen Stunden in Morpheus Armen noch ein reichhaltiges Frühstück bereiten, aber ein einfacher Kaffee reichte meinem Liebsten; er könne sein Tageswerk auch ohne ein reichhaltiges Frühstück beginnen, er würde ja binnen kurzer Zeit im Flugzeug einen kleinen Imbiss zu sich nehmen können, dass würde ihm reichen. Mir war es in diesem Moment egal, wie er seinen Kalorienbedarf befriedigen wollte, er war ja schließlich schon dreimal sieben.

Mein geliebter Engel ging also und ich war – leider Gottes – wach. Ich beschloss daher für mich selbst, mich erst einmal der Hauptaufgabe des heutigen Tages, sprich der Komplettierung des Frankfurter Kranzes, zu widmen. Ich brauchte, inklusive der Herstellung der Creme und sonstigen Handlungen, knapp eine Stunde. Ich betrachtete mein Werk und war zufrieden mit mir und der Welt.

Ich legte mich zufrieden wieder hin und wurde erst gegen Mittag wach. Munter war ich eigentlich immer noch nicht, Bäume würde ich heute bestimmt nicht ausreißen. Nach zwei Tassen Kaffee und zwei Zigaretten packte ich den Kuchen in eine Plastiktüte. Wenn ich das ganze heute Vormittag richtig verstanden hatte, wollten wir uns um 5:00 Uhr bei Sebastian und Richard treffen. Mir blieben also noch vier Stunden.

Den Kuchen transportsicher verpackt, machte ich mich auf den Weg und dieser führte mich erst einmal auf einen Friedhof. In irgendeinem Reiseführer hatte ich einmal gelesen, dass die Geliebte eines bayerischen Königs, Lola Montez, auf einem Totenacker hier begraben worden wäre. Ich fand schlussendlich auch gesuchte Grabstätte auf dem Friedhof mit Namen Green Wood in Brooklyn. Eigentlich war ich enttäuscht, ich hatte eine imposantere Grabstätte einer Gräfin von Landsfeld erwartet.

Nach diesem beschaulichen Ausflug in die Vergangenheit meines eigenen Landes machte ich mich auf den Weg in die Zukunft. Ich suchte Sebastian und seinen Richard in deren Loft auf. Das Verhältnis zu Richard war meinerseits immer noch etwas gespannt, richtig ins Herz geschlossen hatte ich ihn noch nicht.

Samstag, 17:30 est

Die Uhr auf der Anrichte zeigte genau halb, als es klopfte. „Das wird Vicky sein.“ Mutzi öffnete die Tür und ihre Gesichtszüge entglitten ihr. Anstelle der Enkelin stand deren Produzentin davor und begehrte Einlass. Sie begrüßte kurz ihre Mutter, um mich dann mit mehr als kritischen Blicken zu mustern. Ich erhob mich, ging auf sie zu und ergriff die mir dargebotene Vorderextremität zum Handkuss.

Meine Gastgeberin hatte sich anscheinend wieder gefangen. „Veronika, das ist mein Alexander. Alexander, das ist meine Tochter.“ Diese Vorstellung hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Wenn Blicke wirklich töten könnten, hätte man meine Gebeine innerhalb der nächsten drei Tage dem Krematorium zuführen können. Ich beugte mich vor und schaute sie, mehr oder minder, von unten an. Ihr Blick verfing sich an der Krawattennadel, sie schnappte ganz eindeutig nach Luft.

Aber ehe sie loslegen konnte, klopfte es erneut an die Tür und Victoria, die Enkelin, begehrte Einlass. Die Schwester des Bräutigams trug ein bodenlanges Seidenkleid mit einer etwas gewöhnungsbedürftigen Farbe, eine Mischung aus Oliv, Lindgrün und Mint. Aber das Designerstück strahlte jugendliche Frische aus, die zur Trägerin passte. Als ihre Großmutter sie mit dem Collier überraschte gab es für das rotblonde Wesen kein Halten mehr. Sie tanzte freudestrahlend wie ein sechsjähriges Mädchen um den Weihnachtsbaum zwischen den Damen hin und her.

„Oma! Ich danke dir. Die Kette ist einfach nur toll!“ Als ob es die Witwe geahnt hätte, die Farbe der Steine des Geschmeides passten hervorragend zum Kleid. Sie betrachtete sich ausführlich im Spiegel, drehte sich in alle möglichen Richtungen und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Durch ihre Freudensprünge hielt sie ihre Mutter von dem Hexentanz ab, den diese wohl gerne veranstaltet hätte.

„Mutter, ich glaube, es wird Zeit. Du kannst ja schließlich nicht als letzte in die zweite Reihe gehen.“ „Veronika, da hast du Recht. Wir wollen ja nicht mehr auffallen als unbedingt nötig. Alexander! Kommst du?“ Ich erhob mich, ging auf die Königinmutter zu und bot ihr meinen Arm zum Geleit an. Ihre dreifach beringte Hand legte sich auf meine Rechte.

„Hast du deine Codekarte?“ „In der Handtasche, mein Lieber. Schlüssel scheint es nicht mehr zu geben. Aber wie heißt es so schön: Tempora mutantur!“ Ich blickte sie an und vervollständigte den Satz: „Et nos mutamur in illis.“ Victoria schaute mich fragend an. Ich grinste, Latein steht anscheinend in den USA nicht auf dem Lehrplan weiterführender Schulen. „Die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen. Ein Spruch eines alten deutschen Kaisers, ich glaube von Lothar, aber bin mir nicht ganz sicher.“

Sie griente, umrundete uns und öffnete die Tür. Während ihre Mutter die hölzerne Pforte etwas heftiger schloss als notwendig, folgten wir ihr zu den Fahrstühlen. Am Lift angekommen öffnete sich schon der Zugang und wir betraten die Kabine. Wir fuhren hoch in den Palmengarten, denn dort sollte die Trauung über die Bühne gehen. Ich wunderte mich zwar, warum man keine Kirche als Ort der Bindung gewählt hatte, aber getraute mich nicht, diese Frage laut und öffentlich zu stellen.

Wir verließen den Aufzug und Victorias Mutter eilte in ihrem weinroten Kleid in Richtung eines Mannes, der sich mit einem älteren Ehepaar unterhielt. Vicky grinste. „Sie haben uns ja richtige Kopfschmerzen bereitet, Herr Doktor.“ „Waren wir nicht schon beim Du? Den Doktor wollten wir doch vergessen, oder? Wieso habe ich denn für Kopfschmerzen gesorgt? Ich bin mir keiner Schuld bewusst!“

Sie kicherte wie ein pubertierendes Mädchen. „Mama war außer sich, dass Oma ihren Liebhaber zur Hochzeit mitbringt.“ „Kind, wie oft soll ich es wiederholen? Alexander ist nicht mein Liebhaber, aus dem Alter bin ich schon längst raus, er ist nur ein sehr, sehr guter Freund und seit neustem auch mein Anwalt. Darüber sollte sich deine Mutter Sorgen machen und nicht über mein Liebesleben, das leider nicht mehr vorhanden ist.“ Erdmute seufzte hörbar und wir alle verfielen in ein Grinsen.

„Ist ja auch egal, aber der Sitzplan für das Bankett musste neu geschrieben werden und man konnte Papas alten Professor, der ja für dich als Begleitung vorgesehen war, ja auch schlecht wieder ausladen. Aber der alte Knacker sitzt jetzt neben Tante Ricarda.“ „Wo ist denn deren Mann? Max oder wie der hieß? Das war doch der schmierige Typ aus Washington, oder?“ „Genau der! Die Zwei sind seit einem Monat geschieden!“ „Tja, dann passt es ja!“ Sie lächelte verschmitzt.

„Alex, du bist doch kein Vegetarier oder Jude?“ Es ging also ums Essen und ich schüttelte den Kopf. „Nein, weder noch. Ich esse eigentlich alles außer kaltem Fisch und Broccoli.“ „Dann habe ich es ja richtig gemacht!“ „Was?“ „Dein Essen bestellt.“ Diesmal grinste ich. „Und das hat euch solche Kopfschmerzen bereitet?“ Ihr Gesicht wurde ernst. „Nein, aber die Sitzordnung. Granny und der Professor sollten ja am Ehrentisch sitzen, da auch der Gouverneur bei dem studiert hat. Das war vielleicht ein Akt! Mama regte sich tierisch auf, es wären etliche Wechsel notwendig gewesen!“ Ich stutzte. „Wie habt ihr denn dann den gordischen Knoten zerschlagen?“ Diesmal grinste sie. „Das war Wilson! Nachdem er mit Oma gesprochen hatte, hat er aus dem Zehner- einfach einen Zwölfertisch gemacht und alle Probleme waren vergessen.“

Die rotblonde Schönheit machte mich mit ihren anderen Großeltern, den Reynolds bekannt. Walter und Miriam schauten zwar erst etwas kritisch, aber als Erdmute mich als persönlichen Dolmetscher und etwas lauter als Leiter der Innenrevision eines der größten deutschen Unternehmen vorgestellt hatte, hellten sich die Gesichter der anwesenden Ehemänner auf. Geld regiert halt doch die Welt.

Wir hielten rauchend noch einige Minuten an der Palisade aus Rosenbögen, die den Palmengarten in einen Sitz- und einen Empfangsbereich teilte, Smalltalk. Der Altar, wenn man diesen mit Blumen und einem Kreuz geschmückten Tisch am Kopfende des Licht durchfluteten Raumes so bezeichnen durfte, wurde auf beiden Seiten von zwei Fahnenhaltern mit je fünf Flaggen eingerahmt. Das rechte Behältnis zeigte neben drei US-Fahnen auch die Deutsche und den “Vereinigten Jakob“. Aus dieser Kombination schlussfolgerte ich, dass einer der beiden anderen Großeltern, vermutlich die Ehefrau, im vereinigten Königreich geboren sein musste. Ich wandte mich an die in Eierschalfarbe gewandete Miriam. „Are you British?“ Sie nickte und fragte mich, wie ich darauf gekommen sei. Ich deutete auf die Flaggen und sie grinste. „Yes, I was born on the Isle of Wight.“

Wir unterhielten uns kurz über die Lieblingsinsel von Queen Victoria. Ich durfte als vierzehnjähriger Gymnasiast dort mal drei Wochen Sprachferien verbringen, denn meine damalige Note in Englisch hätte mich fast die Versetzung gekostet. Aber das sind Geschichten von Vorgestern.

Die Musik im Hintergrund hatte gewechselt. Hatte der Klangteppich beim Betreten des Palmengartens noch eher den Charakter von seichter Fahrstuhlberieselung wurden jetzt ernstere, feierlichere Töne angeschlagen. Der Mann am Flügel hatte anscheinend Pause, das Streichquartett setzte ein und es erklang das Largo aus Xerxes.

Bis auf die engeren Angehörigen hatten sich schon fast alle Besucher gesetzt. Einer der Platzanweiser kam auf uns zu und bat uns, die Plätze einzunehmen, die Zeremonie würde gleich beginnen. Er wollte der Großmutter des Bräutigams den Arm reichen, aber die lehnte dankend ab. Ich grinste ihn an: „Sorry! This is my job. I will usher her in!“ Er blickte mich an, machte einen Diener in Mutzis Richtung und sie legte ihre Hand auf meinen Unterarm. Gleiches tat Miriam mit Walter. Mit meiner Linken deutete ich eine leichte Verbeugung an und ließ sie vorgehen. Die Klänge im Hintergrund waren jetzt eindeutig die Ankunft der Königin von Saba aus der Oper „Salomo“ von G.F. Händel. Mutzi und ich folgten den Zwei bis zur zweiten Reihe im rechten Block, wo traditionell die Großeltern und die Paten des Bräutigams sitzen.

Wir hatten uns gerade gesetzt, da kamen von der Seite der Bräutigam und die Trauzeugen. Sie bauten sich mit dem Gesicht zur Gemeinde auf und warteten. Aus dem Hintergrund erschienen auch zwei Priester. Ihrem unterschiedlichen Ornat konnte man entnehmen, dass es sich wohl um eine ökumenische Trauung handeln würde. Beide begrüßten den Bräutigam und stellten sich hinter diesen vor den Altar.

Die Musik änderte sich erneut, es erklang der barocke Kanon in D-Dur von Johann Pachelbel, die Eltern und Geschwister des Brautpaares, bis auf den Brautvater, der ja gleichzeitig Brautführer ist, zogen nun ein. Als diese sich gesetzt hatten, hörte die Musik auf. Man räusperte sich noch einmal und langsam kehrte Ruhe in die Reihen ein.

Alles blickte nach hinten, ich schaute jedoch nach vorne auf den Bräutigam und unterzog ihn einer näheren Betrachtung. Er war etwas jünger als ich, ungefähr meine Größe, aber er schien etwas schlanker zu sein und ebenfalls Brillenträger. Vom Gesicht her glich er seinem Vater, die gleiche Augenpartie und der hohe Haaransatz. Die Haare waren etwas blonder als die seiner Schwester, aber ein rötlicher Einschlag war unverkennbar.

Die Festversammlung erhob sich auf ein Zeichen der Priester hin und es ertönte der Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn-Bartholdy aus dem Sommernachtstraum. Der Marsch wurde zwar schon 1831 komponiert, aber erst 16 Jahre später zum ersten Mal als solcher auch gebraucht. Seinen Durchbruch als Einzugsmelodie der Braut hatte er jedoch erst nach der Heirat der englischen Prinzessin Victoria mit dem preußischen Kronprinzen Friedrich, dem 99-Tage Kaiser im Jahre 1858.

Von der eigentlichen Liturgie der Feier verstand ich nicht viel, denn es war die erste Hochzeit auf dem amerikanischen Kontinent, an der ich teilnahm. Das Vater Unser sprachen Mutzi und ich auf Deutsch, wir fielen zwar auf, aber es ist ja der Gedanke, der zählt. Nach der Ansprache an das Brautpaar durch die beiden Geistlichen erklang das Domine Deus aus dem Gloria von Vivaldi, vorgetragen von einer Altistin, deren Stimme mir Gänsehaut verursachten. Ich drückte die Hand meiner Begleiterin, auch sie war ergriffen.

Nach der Traufrage, die beide selbstverständlich mit Ja beantworteten, auch wenn das von Wilson etwas gedrungen daherkam, intonierte dieselbe Sängerin das Ave Maria von Bach. Mutzi schluchzte und ich reichte ihr mein Taschentusch. Nach dem gegenseitigen Treueschwur und dem Tausch der Ringe kam es zum Höhepunkt, der Bräutigam durfte die Braut unter Applaus der Anwesenden küssen. Er lüftete ihren Schleier und ihre Lippen trafen sich, den herben Druck im Kusse zu versüßen. Ich erschrak. Mit Schleier sah die Braut mindestens vier- bis fünfmal besser aus als ohne Gesichtsbehang. Ich weiß zwar, dass der Mensch im Affen abstammt, aber das auch etwas Pferd dabei ist, war mir bis dato unbekannt. Ihr Gesicht, besser ihre beim Lächeln entblößten Zähne, erinnerten mich stark an das Haflinger-Pony meiner Schwester, an dem mit 12 ihr Herz hing. Nach dem Auszug des Brautpaares unter den Klängen von Händels Halleluja folgte die Gemeinde mit dem Präludium in F-Dur von Johann Sebastian Bach. Die Gesellschaft machte sich auf zum Ballsaal, besser gesagt zum Vorraum desselben. Den Grund erkannte ich erst später. Der Tanzsaal des Hotels war für First-Class-Herberge eher etwas klein dimensioniert. Aber die in Rot und Gold gehaltene Einrichtung entschädigte für die augenscheinliche Enge. Klein war er zwar auch nicht, aber mehr als 400 Bankettgäste konnte er nicht beherbergen.

Es folgte zu leiser romantischer Hintergrundmusik vom Band der für das Brautpaar obligatorische Gratulationsmarathon. Dank der Tatsache, dass ich der Begleiter der Großmutter des Bräutigams war, kam ich relativ früh zum Händeschütteln. Der neuen Frau Reynolds gab ich einen galanten Handkuss, sie schaute mich nur an wie ein Pferd. Sein Händedruck bei der Gratulation war fest und erheblich länger als gesellschaftlich notwendig, ich schaute ihm direkt in die Augen und zwinkerte, er blinzelte eindeutig zurück.

Die gelbe Witwe zog mich von ihrem Enkel weg und meinte beim Gang auf einen der Stehtische, ich solle es doch nicht zu auffällig machen. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, aber bei einem Glas Sekt und einer Zigarette, die ich nach dem Ritual auch brauchte, scherzen wir beide schon wieder.

Mehrere Bedienungen schwirrten durch den Saal. Die einen versorgten die Gäste mit Sekt, die anderen reichten das auf Platten liegende Fingerfood, Blätterteig- Happen und Bärlauch- Ecken. Victoria kam auf uns zu, einen gut aussehenden jungen Mann in ihrem Schlepptau. Ich erkannte ihn wieder, es war der Trauzeuge des Bräutigams, in den Staaten auch Best Man genannt. Nach einer kurzen Vorstellung von Brady, der mich an den jungen Christopher Reeve in Supermann erinnerte, entführte sie ihre Großmutter mit den Worten, sie würde sie mir gleich zurückbringen. Ich blickte in die stahlblauen Augen und grinste ihn an. Etwas verunsichert steckte er sich eine Zigarette an, Amerikaner mögen es nicht so, wenn man ihnen zu offensichtlich in die Augen schaut. „And you are the guy from Germany?“ Sein Guy klang wie Gay, ich nickte. „Yes, I am the gay from Germany.“ Er grinste, sagte aber nichts weiter.

Während ich mir auch ein Lungenbrötchen genehmigte, kam er ins Erzählen. Er und Wilson wären Studienkollegen und hätten sich in der Universität ein Zimmer geteilt. Ich blickte ihn an und fragte halblaut: „Only the room?“ Er war sichtlich verlegen ob der Frage und grinste mich fast schüchtern an. Eine Bedienung kam und präsentierte ihr fast leeres Tablett mit Fingerfood. Ich entschied mich für einen Happen aus Blätterteig, er genehmigte sich einen Bärlauch-Toast. Nach dem Imbiss blickte ich ihn an, etwas von dem köstlichen Brotaufstrich hatte sich in seinen Mundwinkeln verfangen. Ich deutete mit meinem kleinen Finger auf meinem Mundwinkel, aber anscheinend verstand er nur Bahnhof. „Sorry, you have …“ „Ähh?“ „I don’t know who to translate. May I ..?“ Er nickte und ich näherte mich mit dem Finger seinen Lippen. Mit der Kuppe meines kleinen Fingers wischte ich den Rest des Aufstriches weg und präsentierte es ihm. Er gluckste und ich entsorgte den Belag, indem ich meinen Finger ableckte. Er grinste mich an und ich griente zurück.

„Ich muss mal für kleine Tiger.“ Er schaute mich irritiert an. „Sorry! I have to go to the toilet. Can you tell me, where the restrooms are?“ Er nickte schelmisch. „If you need an escort?“ Diesmal nickte ich. Er legte die Hand auf meine Schulter, deutete in eine Richtung und schritt voran. Er öffnete die erste und ich die zweite Tür und wir standen nebeneinander an den Pissoirs, die durch eine marmorne Trennwand separiert waren. Der Raum war – bis auf uns – menschenleer.

Ich erleichterte mich, fühlte aber deutlich, wie seine Blicke auf meinem besten Stück ruhten. Ich blickte ihn direkt an, er linste eindeutig in meine Richtung. „Do you need a better look?“ Er schaute mich fragend an, ich hatte wahrscheinlich seine geheimen Wünsche erkannt. Ich schüttelte ab, deutete auf eine der abschließbaren Toiletten, suchte die letzte Anlage in der Reihe auf und wartete ab.

Keine 15 Sekunden später öffnete sich die Tür und Brady trat ein. Er verriegelte das Schloss und betastete mich. „You are uncut.“ Ich grinste. „As the most Europeans.“ Er ging vor mir auf die Knie und bestaunte meine Vorhaut wie ein Kleinkind seine Geschenke zu Weihnachten. Er zog sie zurück und fuhr sich mit der Zunge über seine Lippen. Ich machte eine einladende Bewegung und schon hat der er die Krone meiner Männlichkeit in seinem Mund.

Er fing an, meine Kuppe und deren natürlichen Schutz, zu erkunden, um dann in ein schnelles, fast begieriges Blasen überzugehen. Es mag die Anspannung der letzten Tage oder die Situation auf dem Empfang als Solche gewesen sein, es dauerte nicht lange, da spürte ich das übliche Zucken im Bein, dass mein Kommen ankündigt. Ich warnte ihn, aber er meinte lapidar: „Please! Give it to me. I want to taste you.“ Ich entlud mich wunschgemäß in seinem Rachen und er hatte leichte Schwierigkeiten, die aufgestaute Menge zu schlucken. Nach einem Moment des Verharrens erhob er sich und unsere Lippen trafen aufeinander und unsere Zungen verknoteten sich. Ich schmeckte den Rest meiner eigenen Explosion.

Wir grinsten uns an, ich verstaute mein bestes Stück und gab ihm noch einen Kuss. „Next time the other way round! OK?“ Er nickte spitzbübisch und öffnete langsam die Tür. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, gab er mir ein Zeichen und wir verließen beide den Ort der Erleichterung in Richtung der Waschbecken im Vorraum. Wir wuschen uns ordentlich und brav die Hände und gingen wie alte Freunde wieder zu unserem Stehtisch, an dem mittlerweile Erdmute und ihre Enkelin auf uns warteten.

„Wo wart ihr denn?“, wollte die Oma wissen. „Wo auch selbst der Kaiser zu Fuß hingeht, er Klein, ich Groß. Brady hat dann auf mich gewartet. Er wollte mich in der Fremde wohl nicht alleine lassen.“ Erdmute und ihre Enkelin schauten uns an und grienten, die Gründe hierfür mögen wohl andere gewesen sein.

„Wir können hinein.“ „Gut!“ Ich reichte der Dame in Gelb meinen Arm, sie war ja meine Tischdame, Brady tat das gleiche mit der Enkelin in Türkis. Gemeinsam zogen wir dann in den Ballsaal ein, der für das festliche Bankett geschmückt war.

Die beiden brachten uns zu unserem Tisch, ich schob meiner Tischdame noch den Stuhl in die richtige Stellung. Bevor ich mich setzte, nickte ich den Damen und Herren am Tisch zu. Brady begrüßte eine der Damen mit einem Kuss auf die Wange, ihrem Begleiter klopfte er jovial auf die Schulter und meinte nur: „Hey Grandpa!“ Im Verlauf des Abends stellte es sich heraus, dass der graumelierte Herr der Gouverneur des Staates New York war.

Das Essen und die dazugehörende Tafelmusik standen unter einem gemeinsamen Motto: RMS TITANIC! Das Menü war dem letzten Essen auf dem Luxusschiff nachempfunden. Die Eröffnung bestand aus Garnelen- Canapés mit einem halben Wachtelei, gefolgt von einer Kraftbrühe Olga. Der Fischgang bestand aus pochierten Lachs mit Senfschaumsauce, danach Hühnchen Lyonnaise mit Kürbis-Eierbrötchen. Sehr schmackhaft, auch wenn es außergewöhnlich klingt.

Vor dem Rebhuhn auf Madeira-Bohnen gab es einen Punch Romaine. Die letzten Gänge waren ein Spargelsalat mit Champagner-Safran-Vinaigrette und eine Trüffelleberpastete an Waldorf-Salat. Die einzig erkennbare Änderung gegenüber dem Original war das Auslassen der beiden Nachspeisen, dafür gab es ein Stück der fünfstöckigen Hochzeittorte.

Während der Gänge wurden die obligatorischen Reden, die auf einer Hochzeit notwendig sind, gehalten. Die Gespräche bei Tisch drehten sich hauptsächlich um das Essen, aber ein Thema war auch die eheliche Treue von Politikern. Ich hörte halbbelustigt zu, bis mich der Großvater meines Bläsers plötzlich nach meinem Standpunkt fragte. Ich schluckte erst einmal, nahm die Serviette, tupfte meine Lippen ab und legte sie wie in Zeitlupe wieder ab.

„An escapade is an escapade. The profession of one of the participants is from no importance in my eyes.” Der Beruf eines der am Seitensprung beteiligten Personen spielt in meinen Augen keine Rolle, denn der Schmerz, den der andere Teil empfindet, ist der gleiche. Ich wandte mich an seine Frau und fragte sie, ob sie ihrem Mann, wenn der einfacher Bäcker wäre, einen Ehebruch eher verzeihen würde? Sie verneinte natürlich und die anwesenden Damen stimmten ihr lautstark zu.

Der Politiker ließ sich aber auch dadurch nicht von seiner Meinung abbringen, die Folgen eines Ehebruchs wären bei einem Senator erheblich schlimmer als wenn der Bäcker das Wort Begehren außerehelichen buchstabiert. Ich schüttelte den Kopf und meinte augenzwinkernd zu ihm, ein Senator könne ja zurücktreten und wieder in seinem ursprünglichen Beruf arbeiten, um weiterhin sein Geld zu verdienen, der Bäcker aber würde immer Bäcker bleiben und Brötchen für seinen Lebensunterhalt backen müssen. Spätestens 14 Tage nach Aufdeckung der Affäre des Politikers wäre sie aus der Berichterstattung und somit auch aus den Köpfen der Leute verschwunden, dem Bäcker würde sein Fremdgehen jedoch noch 14 Jahre danach durch die Nachbarschaft auf das Butterbrot geschmiert. Ich erntete von dem graumelierten Herrn fragende Blicke und Szenenapplaus von den Damen.

Von der Hochzeittorte aß ich nur einen Anstandslöffel, denn sie schmeckte einfach nur widernatürlich süß. Ich winkte einen der Kellner heran und bat um einen Magenbitter. Miriam, die andere Großmutter, blickte mich mitfühlend an. „Don’t you feel well?“ Ich deutete auf den Kuchen und auf meinen Magen und winkte ab. Nach dem Schnaps und einer Zigarette, das Essen war mittlerweile beendet, ging es mir erheblich besser.

Auch die Frau des Landesoberhauptes, die links neben mir saß, blickte mich besorgt an und drückte mir die auf der Serviette ruhende Hand. Ihre Bemerkungen, ich würde noch viel Kraft für meinen Kampf noch brauchen, verstand ich nicht so recht und daher fragte ich sie nach dem Grund ihrer Bemerkung. Sie deutete auf das Blumengebinde an meinem Revers. Ich verstand immer noch nichts und bat um Aufklärung. „You are so smart, clever, handsome and intelligent but you do not know anything about the language of flowers!” Blumensprache? Ich wusste nur, dass rote Rosen ein Zeichen von Liebe sind, aber das war es auch schon. Sie deutete auf die Eibe. „You are in an everlasting love …” Ihr Finger deutete auf die Dahlie. „… and out of circulation.“ Als sie auf die Iris zeigte, meinte sie ernst. „It seems something bad has happened. You are in a fight for your love. I suppose she had an accident.” Ich war mehr als erstaunt, was man aus diesem kleinen Gebinde so alles herauslesen konnte, aber es stimmte vollkommen, abgesehen von der Tatsache, das es sich um einen Mann und um keine Frau handelte.

Das Brautpaar eröffnete den Tanz mit einem Walzer. Ich beobachtete die beiden, naja, mein Hauptaugenmerk lag eher auf Wilson und nicht auf dem Pferd. Nach und nach holten sie, je nach Ansage des Zeremonienmeisters, weitere Personen auf die Fläche. Gott sei Dank sind Walzer von Johann Strauß ja etwas länger, am Ende des ersten Titels befanden sich neben den Brautleuten sämtliche Trauzeugen und die Eltern auf dem Parkett. Nach den Geschichten aus dem Wienerwald musste die schöne blaue Donau her, um weitere Personen auf die Tanzfläche zu kriegen.

Nach dem Fersenschwingen mit Erdmute, die sich wirklich hervorragend führen ließ, bat ich den Gouverneur um Erlaubnis, auch mit seiner Frau das Tanzbein schwingen zu dürfen. Er schaute mich fragend an und Regina, so hieß die Landesmutter, meinte nur, ich sei Europäer und in der alten Welt sei das so üblich, denn man dürfe nicht ungestraft Hand an die Frau eines anderen Mannes legen. Ich lächelte sie an und dachte mir meinen Teil. Während der ersten beiden Tanzrunden absolvierte ich die Pflichttänze mit den Damen am Tisch.

Die Brautleute kamen nach der dritten Tanzrunde an unseren Tisch. Man umarmte, herzte und beglückwünschte das Paar des Tages und stieß auf ihr Wohl und eine glückliche Ehe an. Sie bedankten sich brav und artig für alle guten Wünsche, die man ihnen da auf den Lebensweg mitgab. Es wirkte alles gekünstelt und aufgesetzt.

Ich war ja schon auf einigen Hochzeiten, aber so etwas Steifes hatte ich noch nicht erlebt. Partyspiele oder gar eine Brautentführung waren unbekannt. Letzteres leuchtete mir ja auch gerade noch ein, denn vor 100 Jahren wurde Pferdediebstahl in einigen Bundesstaaten ja noch mit der Todesstrafe bestraft und diese Frau war eindeutig eine Haflingerstute.

Brady kam um kurz vor elf in Begleitung von Vicky wieder an unseren Tisch. Eine etikettenmäßige Sitzordnung gab es aufgrund verschiedener Tanzkonstellationen nicht mehr. Er setzte sich zwischen seine Oma und mich. Seine rechte Hand tätschelte auf dem Tisch die Linke seiner Großmutter, während seine linke Extremität gleiches mit meinem Knie tat.

Die Dame in Gelb an meiner Seite beobachtete das Ganze mit einem unverhohlenen Schmunzeln. Sie dachte sich wohl ihren Teil. Die Musik war im Verlauf der letzten Tanzrunden immer moderner geworden, die ersten Gäste, besonders die Vertreter der älteren Generation, hatten den Ballsaal bereits verlassen. Die Hand am Knie wurde mir etwas zu indiskret, ich forderte kurzerhand die Enkelin zum Tanze auf.

Das Talent zum Tanzen hatte sie anscheinend von ihrer Großmutter geerbt, sie bewegte sich leicht wie eine Feder. Plötzlich wurde jedoch abgeklatscht. Himmel! Ich musste nun mit dem Pferde tanzen! Allerdings dauerte der Ritt nicht lange, der Landesvater erlöste mich nach einem halben langsamen Walzer.

Ich beobachtete eine Weile die Tänzer und wollte schon wieder zurück zum Tisch gehen, als Brady sich neben mich stellte. Er steckte mir heimlich eine Codekarte zu und verließ mich so schnell, wie er gekommen war. Um eins sollte ich ihn in seinem Zimmer aufsuchen. Ich war hin und her gerissen. Zugegeben, ab und an essen Scott und ich auch außer häuslich, denn aufgrund der Entfernung zwischen uns ist es nicht immer einfach, mal kurz zum Kaffee vorbeizuschauen, aber ein Fremdnaschen während er im Krankenhaus lag?

Mit dem Kopf voller Gedanken ging ich zurück zu meinem Tisch, der bis auf Erdmute verweist war. „Wo sind denn die anderen?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Die sind entweder auf der Tanzfläche oder drüben an der Bar. Der Professor ist Gott sei Dank schon gegangen.“ Sie grinste wie ein Schulmädchen. „Und was wollte der Trauzeuge von dir?“ „Äh, nichts Besonderes. Es ging um eine After-Show-Party. Er hat mich eingeladen und gefragt, ob ich auch teilnehmen würde …“ „Und? Willst du?“ Diesmal zuckte ich mit den Schultern. „Ich weiß nicht so recht.“

Sie nahm meine Hand und drückte sie. „Du solltest dir etwas Abwechslung gönnen, lieber Alexander. Die Situation ist stressig genug für dich. Du hast in den letzten Tagen schon genug durchgemacht, dein Freund wurde fast ermordet und liegt jetzt im Koma. Morgen kommen auch noch seine Eltern, das wird schwer genug für dich werden! Also tu dir selber einen Gefallen und geh auf diese Feier für junge Leute.“ Ich blickte sie an. Meinte sie das ernst? Konnte sie wissen, zu welcher Art Party ich eingeladen war?

Die Dame in Gelb orderte für uns zwei Kaffee und zwei Cognac. „Mutzi! Willst du mich betrunken machen? Was hast du vor mit mir?“ Sie grinste mich nur an. „Ich? Alexander, ich bitte dich! Ich hätte zwar den Professor betrunken machen können, damit er mit mir … aber bei dir, entschuldige bitte, bei dir ist Hopfen und Malz verloren.“ Sie kicherte wie ein Schulmädchen über ihren eigenen Witz.

„Aber wenn du zu dieser Fete gehst, könntest du mir einen Gefallen tun.“ Ich schaute sie erstaunt an. „Welchen Gefallen?“ „Dieser Brady scheint ja meinen Wilson sehr gut zu kennen. Sie haben zusammen studiert und sich ein Zimmer geteilt. Wenn einer es genau weiß, dann er!“ Ich schmunzelte. „Ich soll also herausfinden, ob dein Enkel nun wirklich verzaubert ist. Ist es das, was du möchtest?“ Sie nickte verschwörerisch. „Und was bekomme ich dafür?“ Sie stutzte. „Du willst Geld?“ Ich schüttelte den Kopf. „Meine Liebe! Wer spricht hier von Geld? Mich würde brennend interessieren, wie und wobei du vor einem Jahr deinen Enkel erwischt hast.“

Sie sackte leicht in ihrem Stuhl zusammen. „Ich habe die beiden unter der Dusche erwischt.“ Ich zog die Augenbrauen hoch und runzelte die Stirn. „Unter einer Dusche also? Aber das kann ja dann nicht so schlimm gewesen sein.“ Sie blickte mich erstaunt an. „Du weißt ja nicht, wie sie geduscht haben!“ Ich nahm meine Brille ab und rieb mir die Augenwinkel. „Oups, bitte keine Details! Na dann: Prost!“ Wir stießen an und ließen uns das braune Getränk schmecken.

Um Mitternacht gab es dann doch noch etwas, was an eine normale Hochzeit erinnerte: den Schleiertanz. Die Brautjungfern nahmen der Braut das weiße Stück Stoff vom Haupt. Sie hätten es besser nicht getan, denn ihre Haare unterstrichen den Eindruck, den ich von ihr hatte. Sie tanzte noch einmal mit ihrem Göttergatten, dabei flatterten ihre Haare bei jeder Drehung. Die Ähnlichkeit mit dem Haflinger meiner Schwester wurde immer größer, je mehr sie über die Tanzfläche wirbelte.

Während der Schöne und das Biest so über das Parkett schwebten, eilten plötzlich etliche Kellner mit Tabletts voll Champagner bewaffnet in den Saal. Der Tanz endete, die ganze Gesellschaft erhob sich, ließ das Brautpaar noch einmal hochleben und die Band intonierte das altbekannte Volkslied „Nehmt Abschied, Brüder“, allerdings in der englischen Variante „Auld Lang Syne“. Eigentlich wird dieses Lied in den Staaten nur zu Beginn des neuen Jahres gesungen, aber anscheinend wird es auch als Abschlusslied einer Festivität genommen.

Die Oma des Bräutigams seufzte. „Die Feier wird wohl jetzt zu Ende sein?“ „Denke ich auch mal.“ „Eigentlich schade! Ich hätte noch gern mein Lieblingslied gehört.“ „Und das wäre?“ Sie grinste. „Das letzte Lied auf meiner eigenen Hochzeit war Mackie Messer aus der Dreigroschenoper.“ Ich erhob mich, reichte ihr meine Hand und bat sie, mir zu folgen.

Die Band packte gerade ein, ich tippte dem Pianisten auf die Schulter und bat ihn, mir sein Musikgerät einmal zu borgen. Mutzi stellte sich hinter mich, sie wunderte sich zwar, aber sagte nichts. Ich lockerte meine Finger, machte ein paar Übungen auf der Tastatur und verfiel dann in die gewünschte Moritat.

Ich blickte in die Runde, etliche Blicke waren plötzlich auf das Pianoforte gerichtet. Ich unterbrach daher das Spiel, erhob und verbeugte mich und meinte etwas laut in den Raum: „The granny of the groom wants a special song which remembers of her own wedding and I hope she – and you as well – will enjoy it. I bag your pardon but I will sing this song in its original language.” Ich legte los und begann das Lied vom Haifisch und seinen Zähnen zu singen.

Die anwesenden Personen applaudierten, die Dame in Gelb wirkte erschüttert. „Ich glaube, ich brauche jetzt ein Taschentuch. Alexander, ich danke dir.“ Ich griff in meine Innentaschen und gab ihr mein Ersatzschnupftuch. Sie war wirklich bewegt. „Ich wusste gar nicht, dass du so gut Klavier spielen kannst und darüber hinaus auch noch singst.“ Ich erhob mich und ging auf sie zu, um sie zu umarmen. „Mutzi, du weißt so vieles noch nicht von mir, aber das können wir in der Heimat ja beheben. Ich hoffe doch sehr, wir bleiben in Kontakt!“ Sie umarmte mich und meinte nur: „Bestimmt! Dich lasse ich bestimmt nicht mehr los! Jetzt möchte ich gehen.“ Ich verbeugte mich vor der Dame, die ich schon längst als Adoptivoma in mein Herz geschlossen hatte. „My lady, your wish is my order!“

Ich erhob mich und reichte ihr meine Hand, um den Ballsaal zu verlassen. Der Landesvater und seine Ehefrau kamen auf uns zu und schüttelten mir meine vordere Extremität. Die Landesmutter war gerührt und auch ihr Ehemann dankte mir für die Wunscherfüllung der Großmutter, das wäre eigentlich unüblich. „Here!“ Er gab mir seine Karte und meinte, wenn ich jemals in Schwierigkeiten geraten würde, ich solle mich sofort an ihn wenden.

Mutzi und ich verließen nun endgültig den Ballsaal und waren auf dem Weg zu den Aufzügen, als Victoria uns einholte. Die junge Dame wollte wissen, wohin wir wollten. „Vicky, ich bringe deine Großmutter, wie es sich für einen Gentleman gehört, wieder auf ihr Zimmer.“ „Aber du kommst auch gleich noch? Ich warte dann unten bei den anderen.“ Der Abschied von Mutzi fiel mir unheimlich schwer. Wie brauchten mehr als fünf Minuten, aber schließlich und endlich schafften wir es doch uns zu verabschieden. Sie entließ mich mit den Worten, ich solle mich amüsieren. Also auf zum Enkel des Gouverneurs!

Mit Stock und Mantel machte ich mich auf dem Weg. Ich schaute auf die Uhr, es war 00:45. Ich stoppte den Lift auf Bradys Etage. Da man auf mein Klopfen nicht reagierte, öffnete ich mittels Karte die Tür. Was ich dann dort sah, verschlug mir die Sprache. Der frischgebackene Ehemann war an den Enkel des Landesvaters angedockt. „Sorry to disturb you! But you two are expected downstairs.” Meinen Mantel und den Stock legte ich auf den Sessel ab und wartete, dass die beiden voneinander abließen. Es war ihnen augenscheinlich mehr als peinlich, dass sie überrascht wurden, ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Vor der Fahrstuhltür stehend meinte ich zu Wilson, er bräuchte sich keine Sorgen zu machen, seine Frau würde von mir nichts erfahren. Brady wirkte schon gefasster. Aber als sich die Tür öffnete sackte der Ehemann erneut zusammen, seine Mutter stand im Lift. „Da bist du ja! Wir suchen dich schon die ganze Zeit. Deine Frau wartet unten auf dich!“ Erst dann sah sie auch Brady und mich.

„Was machen Sie denn noch hier?“ Ich blickte sie, zugegeben leicht grinsend, an. „Gnädige Frau! Ich habe, wie es sich gehört, meine Tischdame zu Bett gebracht.“ Ein weiterer tödlicher Blick traf mich. „Und falls es ihnen nichts ausmacht, wir wollen das spritzige Ereignis noch etwas feiern.“ Ich schlug Wilson auf die Schulter.

„Machen sie, was sie wollen!“ „Das werden wir auch, gnädige Frau! Das werden wir auch! Wir nehmen aber den nächsten Fahrstuhl, sie fahren ja sicherlich rauf und nicht wieder runter!“ Wilson starte mich an. „Danke!“ „Kein Problem!“ Ich meinte zu den beiden, es wäre kein Problem für mich, ich würde gern den bösen Buben spielen. Seine Mutter würde mich eh für einen Erbschleicher halten, daher käme es für ihre Wut auf einen Grund mehr oder weniger auch nicht an, denn schließlich müssten wir Schwestern ja zusammenhalten. Jetzt grinsten die beiden!

Im Vorraum des Ballsaals angekommen warteten schon die Damen auf uns. Victoria ergriff sofort meine Hand und führte mich zu dem einsam und verlassen stehenden Piano in der Vorhalle. Ich setzte mich also ans Klavier und begann zu spielen: Gershwin, Beethoven, Beatles, Andrew Lloyd Webber, Bernstein, Mozart, alles durcheinander. Teilwiese summten oder sangen die Anwesenden mit. Es war mehr als lustig.

Ich spielte und achtete nicht auf mich und meine Umgebung. Irgendwann waren wir nur noch zu sechst. Das frischgebackene Ehepaar, Victoria und ein gut aussehender schwarzer Mitbürger, Brady und meinereiner, der mittlerweile neben mir auf dem Klavierschemel hockte. „So, dear friends! And now the end is near!“ Ich intonierte den entsprechenden Sinatra-Song und interpretierte diesen in meiner ureigensten schwulen Art. Das Pferd wieherte, alle anderen in der Runde schmunzelten. Mit einem lauten Knall klappte ich die Abdeckung zu.

„This was it! I wish you a very pleasant and a good night! Sleep well and tight and so on …” Ich grinste. Das Pferd zog seinen Reiter in die eine Richtung, Victoria und ihr Angebeteter trotteten in die Andere. Ich blickte Brady an, gab ihm einen Kuss. „Let’s move!“ Er nickte und wir erhoben uns und gingen Hand in Hand in Richtung Fahrstuhl.

Zu einer zweiten Runde des Austausches von Körperflüssigkeiten kam es jedoch nicht. Er erzählte mir, während wir die Minibar plünderten, von Wilson und sich und ihrer komplizierten Beziehung zueinander. Aus Freundschaft wurde Liebe und wieder Freundschaft, die durch die heutige Hochzeit arg strapaziert worden war.

Nach dem dritten Whiskey musste ich mal meine Blase entleeren. Als ich wieder in den Raum betrat, lag er schlafender Weise auf dem Bett. Ist ja auch schon spät, dachte ich, und zog ihn aus. Es war zwar nicht einfach, den nackten Körper unter das Laken zu kriegen, aber schlussendlich bewerkstelligt kenne ich auch diese Aufgabe.

Ich nahm meine Sachen und verließ gegen kurz vor fünf endgültig das Hotel. Vom Nachtportier ließ ich mir ein Taxi rufen, einen Wagenmeister war um diese Uhrzeit nicht mehr anwesend. Eine halbe Stunde später begab ich mich auch in Morpheus Arme. Intermezzo

Um viertel vor fünf klingelte ich bei Sebastian in Brooklyn. Der Hausherr öffnete selber. Nach einer kurzen Begrüßung gingen wir in den Kochbereich, wo ich zuerst den Kuchen auspackte und neben einem Brotmesser auch eine Kanne heißen Wassers und ein Trockentuch verlangte. Man kommt halt mit einem angewärmten Messer besser durch die Buttercreme als mit kaltem Stahl.

„Hast du in der Zwischenzeit eigentlich mal wieder was von Peter gehört?“ Ich stutzte und schaute auf den Kinderarzt, der gerade dabei war, die Kaffeemaschine zu beschicken. „Nein! Das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe, war knapp anderthalb Jahre nach deinem Abflug.“ „Aha! Und wo hast du ihn gesehen?“ „Da, wo wir uns das erste Mal auch getroffen haben, in der Sauna.“ Es wunderte mich, dass er gerade jetzt auf Peter, den dritten Mann in unserer Dreiecksbeziehung, zu sprechen kam. Wir hatten zwar in den letzten Tagen einiges über die gemeinsame Vergangenheit gesprochen, aber beim Thema Peter blieb er immer mehr oder minder einsilbig.

„Und was hat er in der Sauna gemacht?“ Ich schaute ihn an. „Willst du das wirklich wissen?“ Er nickte, ich holte hörbar Atem, denn das Thema war mir auch nicht so angenehm, denn auch ich hatte mich damals nicht gerade mit Ruhm bekleckert, jedenfalls am Ende der Geschichte.

„Er lag im Sling, den Rest kannst du dir denken.“ Er verzog das Gesicht und blickte mich direkt an: „Hast du ihn auch?“ Die Frage ging zwar etwas weit, aber die Geschichte war fast sechs Jahre her und somit schon längst verjährt. „Ja, habe ich. Aber um ehrlich zu sein, habe ich erst später bemerkt, dass er es war.“ „Wie das? Hatte er sich so verändert?“ Ich nickte, es war kein schöner Anblick, der sich mir damals bot. Zu Beginn der Ménage à trois war Peter der sportlichste von uns dreien, ein wohl definierter Bauernbursche vom Lande. Zum Zeitpunkt unseres letzten Treffens wirkte er jedoch aufgedunsen und irgendwie weggetreten. Gut, die geistige Entrückung konnte auch andere Gründe gehabt haben, ich war der siebte oder achte, der ihn hintereinander bearbeitet hatte, dass erklärte aber nicht das Andere.

„Würdest du mir einen Gefallen tun, Alex?“ „Welchen?“ „Könntest du ihn in Deutschland für mich ausfindig machen?“ Ich überlegte kurz und zuckte mit den Schultern. „Versprechen kann ich dir nichts, aber ich werde es versuchen. Falls ich ihn finden sollte, soll ich ihm etwas ausrichten?“ „Nein! Gib ihm das!“ Er reichte mir ein kleines Päckchen und nahm mich in die Arme. Unsere Lippen trafen sich.

In diesem Moment ging die Eingangstür auf und wir ließen voneinander ab. Ich hörte die Stimmen von Richard und Scott. Zwei weitere Personen waren auch zu vernehmen.

Die vier traten in den Hauptraum und begrüßten uns. Ich ging auf meine Saftschubse zu und schob ihm meine Zunge in den Mund. Er schaute zwar erst leicht verstört, ging dann aber auf das Spiel ein. Nach dem intensiven Speichelaustausch nahm ich die beiden anderen, die mit gekommen waren, erst richtig wahr. Der größere von den beiden stellte sich als Richard vor, wollte aber Rick genannt werden. Der um knapp fünf cm kleinere Philipp stellte sich als Ricks Freund und ehemaliger Liebhaber von Sebastian vor.

Während wir alle da um den Kaffeetisch saßen und die Amerikaner sich den selbst gemachten Frankfurter Kranz schmecken ließen, war mein Freund aus Studientagen das Hauptgesprächsthema. Philipp, seines Zeichens Krankenpfleger an dem Hospital, an dem auch Sebastian arbeitete, berichtete ausführlich und genüsslich – beim dritten Stück des Gebäcks – über die Anfänge ihrer Beziehung. Kennen gelernt hätten sich die beiden in Chicago und wären dann nach seinem Examen gemeinsam nach New York gegangen. Während der Arzt nur noch seine Arbeit kannte, wäre er, der quirlige Krankenpfleger, den Verlockungen der Großstadt erlegen. Man hätte sich dann vor drei Jahren mehr oder minder einvernehmlich getrennt und heute wäre es die beste Freundschaft, die man sich vorstellen könne.

Die Geschichte kam mir irgendwie bekannt vor, ich fragte mich jedoch, ob es mir je gelingen würde, in ähnlicher Konstellation mit Felix um eine Kaffeetafel zu sitzen? Die Aussichten hierfür waren meiner Ansicht nach nicht so rosig, was allerdings nicht an mir liegen würde, ich habe ja keine Probleme, auf neue Leute zuzugehen. Meinen ehemaligen Lebensabschnittsgefährten traute ich ihn beziehungstechnischen Fragen keine Eigeninitiative zu.

Um kurz nach sieben klingelte es erneut, ein weiteres Pärchen gesellte sich, voll bepackt, in die Runde. Den dunkelhaarigen des Duos meinte ich zu kennen, er hatte gewisse Ähnlichkeiten mit dem Kellner aus der Pianobar, in der gestern meine Urlaubskasse aufgebessert worden war. Wie es sich herausstellte, hatte ich recht, es war Roberto, so hieß der agile Gläserschwinger, der für das heutige Abendessen verantwortlich zeichnete. Seine überbackene Hühnerbrust in Sahnesauce mit Tomaten und Basilikum war einfach eine Wucht.

Sein Begleiter war ein blonder Hüne, sowohl vom Umfang seiner Oberarme als auch vom karierten Hemd hätte man auf einen schwedischen Waldarbeiter tippen können, aber Simon, der vermeintliche Holzfäller, stellte sich als Gesangsrepetitor an der Met im Hauptberuf und als Chorleiter des New York Gay Men Chorus im Nebenberuf vor.

Während Richard den Auflauf in den Ofen stellte und Roberto sich um den Rest des Essens kümmerte, machten wir anderen es uns auf dem Sofa bequem. Sebastian schenkte den Wein ein und wir stießen auf einen gemütlichen Abend an. Ich wurde gefragt, wie mir New York gefallen hätte, wie es auf einen Touristen wirken würde? Ich beschrieb meine Eindrücke, die ich im Laufe meines Aufenthalts in der Megacity gewonnen hatte und endete damit, dass man die Stadt entweder lieben oder hassen würde. „Either you love New York or you hate it. There is no other possibility!” Man stimmte mir zu. Der dunkelblonde Philipp fragte mich, wie es bei mir sein würde? Ich schaute auf Scott, drückte ihm die Hand und meinte in seine Richtung: „I love this city and especially one of its inhabitants.“ Ich gab ihm einen Kuss und die Anwesenden applaudierten.

Auf die Frage, wann ich den wiederkommen wolle, berichtete ich von dem Angebot, dass mir Maximilian Bendler gemacht hatte. Ich würde es, wenn es klappen sollte, auch gerne annehmen wollen. Meine Saftschubse grinste wie ein Kleinkind, dem man in Aussicht gestellt hat, dass sein größter Wunsch in Erfüllung gehen könnte.

In der Küche hatte Roberto wohl nur das Wort Rückkehr mitbekommen. Er ließ den Löffel fallen und kam auf mich zu, umarmte und herzte mich. Mary, die Barsängerin, wäre sicherlich hocherfreut über diese Nachricht. Die Blicke der anderen wechselten zwischen Roberto und mir, sie wunderten sich augenscheinlich. Der kochende Italiener klärte die Situation auf und erzählte in blumigen Worten, was sich da gestern Abend in der Pianobar zugetragen hatte. Ich wurde ein weiteres Mal befördert, diesmal zum Chorleiter.

Simon war sehr interessiert. Ich sah mich genötigt, die Situation aufzuklären. „No, I am not the head of the choir and I am its artificial director. I am only the man at the piano. Of course, if Jan, that’s our leader, plans something new he asks me first, but I am only a normal member.” An den Chorleiter gewandt, meinte ich, er bräuchte sich keine Sorgen um seinen Job machen. Er lachte ob dieser Bemerkung und berichtete von einem schwulen Chorfestival, dass er im nächsten Jahr plane und fragte, ob wir nicht Lust hätten, als Hauptstadtchor daran teilzunehmen. Ich grinste, auch hier war Aufklärung von Nöten. Nach einem kurzen Ausflug in die jüngere deutsche Geschichte meinte der Blonde, der normale Durchschnittsamerikaner würde eh nicht viel über Europa und die Verhältnisse dort wissen. Daher sei es mehr oder minder egal, ob wir aus der Bundeshauptstadt oder aus der Bundesstadt kämen. Es wäre auf alle Fälle dann ein internationales Festival, das würde sich auch gegenüber den Sponsoren besser verkaufen lassen. Ich versprach ihm, sein Angebot weiterzuleiten und wärmstens zu bewerben, eine definitive Zusage könne ich ihm im Moment leider nicht geben.

Roberto rief zum Essen und wir verlagerten uns wieder an den Esstisch. Nach der obligatorischen Nudelvorspeise gab es den Hähnchenauflauf mit Reis. Den Rotwein dazu fand ich zwar nicht so passend, aber ich war nur Gast. Als Nachtisch gab es Kaffee und gekaufte Liebesknochen. Die Eclairs waren ziemlich süß und schmecken eigentlich nach nichts. Sebastian bedankte sich bei Roberto für das Essen. Er und sein Richard wären ja nur das Kantinenessen gewöhnt und daher über jede Ausnahme dankbar. Ich schaute fragend auf die beiden und wunderte mich. Sebastian zuckte mit den Schultern und meinte entschuldigend, wenn man Wasser anbrennen lassen könnte, hier wohnten die Weltmeister in dieser Disziplin. Wir feixten und die beiden Betroffenen lachten am Lautesten.

Es war ein lustiger und sehr geselliger Abend, mit viel Scherzen und Lachen. Um elf aber wurde zum allgemeinen Aufbruch geblasen. Die Anderen mussten morgen wieder arbeiten und ich musste noch Koffer packen, denn morgen galt es für mich endgültig Abschied zu nehmen von dem großen Apfel, den ich zu lieben gelernt hatte. Außerdem wollte ich mich noch von Scott privat verabschieden, da hätten die anderen eh nur gestört.

Mit Roberto und Simon gingen wir zur Metro und fuhren gemeinsamen nach Manhattan. Wir unterhielten den gesamten U-Bahnwagen, aber auch dieser Spaß endete an der Lexington, Scott und ich mussten aussteigen, die anderen fuhren noch auf einen Drink ins Village. Der Chorleiter war bisher der einzige meiner neuen Bekannten, der über einen eigenen Wagen verfügte, alle anderen nutzten die öffentlichen Verkehrsmittel, kein Wunder, die Garagenmieten waren extrem hoch und die Parkregelung in der Stadt spottete oftmals wirklich jeder Beschreibung.

Simon hatte versprochen, mich am nächsten Tag so gegen zwei Uhr mit dem Wagen raus nach Newark zu bringen. Mein Flieger Richtung Düsseldorf ging erst spätnachmittags, diese direkte Verbindung gibt es heutzutage leider nur noch für Businessflieger, die Preise sind entsprechen.

Zum Schlafen kamen wir erst am frühen Morgen, aber das könnte ich auch im Flugzeug machen. Zum Frühstück bekam ich kaum etwas runter und mein Magen verkrampfte sich, als ich den Deckel des Koffers schloss. Ich wollte einfach nicht weg, mein Herz hing stärker an der Saftschubse, als ich zugeben wollte.

Wir duschten gemeinsam und liebten uns mit den üblichen Folgen unter dem Wasserstrahl. Zu einem richtigen Mittagessen hatten wir nicht mehr die Zeit, so entschieden wir uns, für einen Imbiss in den Park der Vereinten Nationen zu gehen. Der Garten war kaum besucht, zu dieser Jahreszeit eigentlich auch kein Wunder. Unter der Skulptur mit dem verdrehten Revolverlauf nahmen wir Hot Dogs und Bagels zu uns und spülten das Ganze mit einem Softdrink runter. Gegen kurz nach eins verließen wir den Park und schlenderten Hand in Hand zurück zur 44.sten Straße.

In seiner Wohnung angekommen tranken wir noch etwas, unser Scheidebecher bestand aus altem französischem Cognac. Wir umarmten uns und seine Hände tasteten sich in meine Körpermitte. Er ging auf die Knie und zog mir langsam den Reißverschluss herunter, seine Hand wanderte gerade unter den Stoff meiner Unterhose, als es klingelte. Er schaute hoch, ich blickte herunter und wir beide fingen an zu lachen. „I will do it next time I promise, my love!”

Simon war da, um mich abzuholen. Wir luden meine Sachen in den Chevy und durchquerten in besserem Schritttempo Manhattan, der Lincoln-Tunnel führte uns auf die andere Seite des Hudsons und die Schnellstraße brachte uns zum Flughafen.

Wir hielten kurz und luden aus. Während Scott und ich uns zum Check-In-Schalter aufmachten, parkte Simon das braune Ungetüm. Mein Freund kannte sich besser aus, denn er lotste mich ziemlich schnell zum richtigen Counter. Er sprach kurz mit der Dame hinter dem Tresen, die dann freundlich lächelnd mein Ticket in Empfang nahm. Sie reichte mir meine Bordkarte, ich flog plötzlich Business. Ich blickte meinen

Kleinen an, er grinste nur. „Next time you fly with my company!“

Wir schlenderten durch die imposante Halle, blicken uns immer wieder verliebt an. Als wir einen dieser Fotoautomaten entdeckten, blickten wir uns nur an und stürzen uns wie verliebte Teenager hinter den Vorhang. Das letzte Kleingeld ging für die Fotos drauf, aber das war mir egal. Eine Serie war für ihn, eine für mich. Wir kehrten schließlich zu dem Chorleiter zurück und für einen letzten Kaffee in einen Starbucks ein. Simon besorgte die Getränke, Scott und ich hielten am Tisch Händchen. Wir schlürften das braune Gebräu, es sah aus wie Kaffee, es roch wie Kaffee, aber schmeckte weder nach ihm noch nach ihr. Mein Engel schob mir einen Umschlag zu. Ich blickte ihn erstaunt an, er meinte, ich solle den Brief erst im Flugzeug öffnen.

Ich war mehr als erstaunt. An ein Abschiedsgeschenk für meinen Kleinen hatte ich gar nicht gedacht. Was sollte ich ihm jetzt als Liebesgabe schenken? Ich war auf mich selber böse. Ich griff nach den Zigaretten und verteilte eine Runde, Simon lehnte jedoch dankend ab. Scott wollte mir Feuer geben, aber sein Feuerzeug funktionierte nicht. Ich griff daher in meine Hosentasche und beförderte mein Zippo zutage. Da wusste ich, was ich ihm überreichen könnte. Zwar verschenkt man keine Geschenke, und das Feuerzeug hatte ich mal von Felix an Nikolaus bekommen, aber in der Not frisst der Teufel bekanntlicherweise Fliegen, und ich war in Not! Nach dem ersten Zug steckte ich das silberfarbige Stück in seine Brusttasche und küsste ihn.

So langsam wurde es Zeit für mich, ich wollte im Duty-Free-Shop noch einige Sachen erstehen. Wir schlenderten daher sehr schweren Herzens zu den Gates, die Uhr tickte unaufhörlich. Der Abschied von Simon war freundlich, der von Scott innig und eher nicht jugendfrei. Mit einem Kuss, der in keinem Film gezeigt worden wäre, da er mindestens fünf Minuten dauerte und somit zu lang für ein cineastisches Produkt war, nahm mich endgültig Abschied von dem Knaben, an dem tatsächlich mein Herz hing. Schweren Schrittes ging ich durch die Passkontrolle, drehte mich noch einmal um, winkte ihm zu und drehte mich um. Er sollte meine Tränen nicht sehen! Ich erstand das, was ich kaufen wollte, versuchte mich in der Lounge noch etwas abzulenken, aber das gelang nicht. Traurigen Schrittes machte ich mich auf in den Flieger. Als erstes öffnete ich den Briefumschlag, neben einem Brief fand ich das Polaroid vom Vergnügungspark und einen permanenten Hausausweis für die 44.ste Straße. Den Brief las ich mindestens 20mal – ich war gleichzeitig glücklich und unglücklich.

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