Wege – Teil 7 – Umwege

Mic schielte zur Decke hinauf, an die sein Wecker die Uhrzeit projizierte. 5.23 Uhr, noch ein paar Minuten Zeit, bis er raus musste. Dennoch schaltete er das Licht neben sich ein, wenn auch sehr gedimmt. Neben sich spürte er Richards warmen Körper, aber er wollte ihn auch sehen, als müsse er sich vergewissern, dass es wahr war, dass Richard da war, neben ihm lag und schlief.

Entzückt stellte Mic fest, dass Richard im Schlaf einen richtigen Schmollmund hatte, richtig niedlich mit dem kleinen Grübchen am Kinn. In aller Ruhe studierte er seine Gesichtszüge, die jetzt gerade noch weicher wirkten als sonst. Die vielen kleinen Lachfältchen um die Augen waren auch jetzt da, auch um den Mund herum hatten sie sich niedergelassen, die hellen Stoppeln betonten sie zusätzlich. Und dann diese Sommersprossen, hell, aber deutlich sichtbar. Im Sommer würden sie wohl viel dunkler sein, gerade auf der Nase, die ein ganz klein wenig nach oben zeigte. Die Schwellung der Nase und das beginnende Farbenspiel drum herum verliehen seinem Gesicht etwas Bizarres. Helle Augenbrauen, über den geschlossenen Augen ganz gerade, dann zum Ende hin einen kurzen, kräftigen Bogen beschreibend. Wären sie dunkel, würde die doch ungewöhnliche Form mehr auffallen in diesem sonst eher runden Gesicht. Kein schönes Gesicht im klassischen Sinne, eher sehr eigen und vor allem unglaublich lebendig.

Mics Blick wanderte zurück zu dem blassen Mund und seine Gedanken zum vorigen Abend … wie zögerlich Richard auf seinen Kuss reagiert hatte, als habe er Angst, irgendetwas falsch zu machen. Eigentlich ja auch kein Wunder nach den vorausgegangenen Ereignissen, und mit der Zeit hatte sich seine Zurückhaltung ja auch ein wenig gelegt. Aber nur ein wenig. Ganz verschwunden war sie nicht. Mic war es vorgekommen, als sei Richard die ganze Zeit irgendwie auf der Hut gewesen, bereit, jederzeit die Flucht zu ergreifen. Der Schlag, an den Mic sich nicht einmal ansatzweise erinnern konnte, musste wirklich gesessen haben, nicht nur physisch.

Doch trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – Richards Zaghaftigkeit war es schön gewesen, ihn zu spüren, zu berühren, zu streicheln, sich an ihn zu schmiegen und ihn zu küssen. Viel mehr war es nicht gewesen. So wenig … und auf einer anderen Ebene doch so viel. Ganz warm wurde Mic, wie er Richard so betrachtete, in Gedanken an den vorigen Abend, und er fluchte innerlich darüber, dass er gleich würde zur Schule fahren müssen. Aber Richard musste ja auch früh raus, hatte er gesagt.

Vorsichtig küsste er den schlafenden Schmollmund. So weiche Lippen … Mic war inzwischen hellwach. Richard bewegte sich seufzend, als er langsam aus dem Schlaf auftauchte und ihn lächelnd anblinzelte.

„Guten Morgen …“, brachte Mic gerade eben so heraus und bemerkte dabei, dass seine Stimme irgendwie … heiser klang.

Richards Lächeln wurde breiter, sein Gesicht begann geradezu zu strahlen. Wieder war es ein bisschen so, als würde die Sonne aufgehen, wie beim Pizzaessen vor 5 Wochen. So unwillkommen ihm das seinerzeit gewesen war, so willkommen war ihm dieser Effekt jetzt.

„Hello. Welcome to heaven. Excuse me, could you just sign here, please.”

Dabei deutete Richard auf seinen Mund.

Das war so typisch. Mic küsste ihn erneut und seufzte, als Richard zusammenzuckte und seine Hand zu seiner Nase fuhr.

„Tut noch weh, hm? Hoffentlich ist sie nicht doch gebrochen …“

„Nee, bestimmt nicht, aber ja, tut noch weh.“

„Tut mir so leid …“, murmelte Mic.

„Hey, hör auf damit, ja? Das hast du gestern schon 1000 Mal gesagt und außerdem war‘s ja keine Absicht.“

„Am liebsten würde ich mir heute frei nehmen, aber das geht einfach nicht …“, nuschelte Mic an Richards Hals.

„Ich weiß. Geht bei mir heut auch nicht. Hab ´nen Termin um halb acht. Aber wir können uns heute Abend sehen, oder? Argh … hey, lass das. Ich muss da wirklich hin.“

Mic, der versonnen die zarte Haut an Richards Hals geküsst hatte, riss sich los.

„Na gut. Aber ich merk mir die Stelle.“

Richard grinste.

„Ich bitte darum. Und ich hoffe doch, du findest noch mehr. Aber jetzt … duuuschen!“

„Zusammen?“

Richard schüttelte lachend den Kopf.

„Nee, dann komm ich nie pünktlich zu meinem Termin.“

Damit sprang er auf und zog Mic dabei die Decke weg.

Mic setzte die Kaffeemaschine in Gang, während Richard duschte, und suchte sich was zum Anziehen raus. Dann packte er seine Tasche für den Unterricht. Richard erschien in den Sachen, die Mic ihm am Abend geliehen hatte.

„Ich muss noch schnell nach Hause, mich umziehen. Muss ja nicht sein, dass ich bei dem Termin nach Kotze rieche … wenn ich schon mit ´ner Matschnase da auftauche …“

Mic blickte auf die Uhr.

„Schaffst du das noch?“

„Klar. Wenn ich noch eben ´nen Kaffee bekomm … ansonsten hab ich heut eh Flügel. Hallo birds! Hallo trees! I’m alive!“

Richard stürzte den Kaffee runter als sei es ein Glas Wasser und zog dann Jacke und Schuhe an.

Eine schnelle Umarmung.

„Bis heute Abend? Kommst du zu mir? Die anderen wollen heut irgendwas Thailändisches kochen, in der Küche stapeln sich grad Currys in allen Farben. Wird bestimmt spannend.“

Mic überlegte. Eigentlich hätte er ja ganz gern Richards Mitbewohner besser kennengelernt, dennoch lehnte er ab.

„Ich muss mich doch um das Monster da oben kümmern.“

„Ach stimmt ja. Ok, dann umgekehrt?“

„Ich weiß nur noch nicht genau, wann ich da bin. Ich hab heute auch noch Bandprobe.“

Richard küsste ihn.

„Kein Stress. Ich bin heut Abend zu Hause, ok? Ruf einfach an. So, ich muss.“

Damit hüpfte Richard die Treppe runter und spurtete los, ohne sich nochmal umzudrehen.

Irgendwie hatte das plötzlich etwas Ernüchterndes für Mics Empfinden, aber auch er hatte keine Zeit mehr, sich irgendwelchen Gedanken hinzugeben. Predos Dschungel wollte eingesprüht werden und die Schule wartete. Nach den letzten Wochen hatte er da immer noch einiges auszubügeln.

Es war schon längst dunkel, als Mic nach Hause kam und als erste Aktion Predo versorgte. Dann rief er Babs im Krankenhaus an.

„Die wollen meine Gallenblase klauen. Ist angeblich entzündet. Morgen früh geht’s in den OP“, verkündete sie erstaunlich gut gelaunt.

„Wie geht’s meinem Predo?“

Mic erzählte von der Heimchen-Jagd des vorigen Abends und Babs lachte herzlich.

„Ist mir auch schon passiert. Leg mal vorsichtshalber eine Falle aus, ja? Im Schrank unter dem Terrarium müssten noch welche sein, so Klebestreifen. Steht drauf, was du machen musst.“

Mic versprach es, dann rief er Richard an, der sich gar nicht lange am Telefon aufhielt, sondern nur meinte: „Bin unterwegs.“

Für einen sprunghaften Anstieg der Herzfrequenz reichte die Bemerkung aber trotzdem.

Mic ließ sich aufs Sofa plumpsen. Erst mal in Ruhe eine rauchen. Der Tag war anstrengend gewesen. Nicht nur der Unterricht, auch die Bandprobe hatte es in sich gehabt. Den einen oder anderen Vorwurf wegen der verpassten Proben hatte er sich gefallen lassen müssen. Mic hoffte, das wieder in Ordnung gebracht zu haben.

Und was war das jetzt eigentlich mit Richard? Wohin sollte das führen? Er freute sich auf ihn. War er jetzt irgendwie … verliebt? Vermutlich konnte man das wohl so bezeichnen. Ein wenig seltsam fand Mic das schon, aber auch schön. Es fühlte sich gut an und vielleicht sollte er ja einfach mal aufhören, immer alles analysieren zu wollen? Und stattdessen dieses Gefühl einfach genießen? Ohne jetzt schon planen zu wollen, wie es weitergehen würde? Das fiel ihm zugegebenermaßen schwer. Richard dagegen strahlte so viel Sorglosigkeit und Leichtigkeit aus. Vielleicht war ja gerade das, was Mic so anzog. Richard war so ganz anders als er selbst … und genau das tat ihm auch gut. Das hatte Babs auch schon festgestellt und sie hatte wohl Recht gehabt.

Also einfach mal die Grübelei lassen? Es klingelte und Mic sprang freudig auf. Ein wenig musste er über sich selbst lachen. Er hatte doch tatsächlich weiche Knie! Sowas aber auch …

Mit ganz viel Herzklopfen stand er an der Tür, lauschte auf die Schritte unten im Flur und dann sah er… Jörn. Jörn?!

„Was zum Teufel … Was willst DU denn hier?“

Jörns schiefes Lächeln sah schuldbewusst aus.

„Mich entschuldigen. Wegen gestern. Ich hatte die ganze Nacht nicht gepennt und bin eingeschlafen.“

„Du hättest anrufen sollen.“

„Im Schlaf?“

„Nein, jetzt …“

„Damit du wieder auflegst? Du wärst doch sofort wieder hochgegangen. Außerdem … ich wollt mich nicht am Telefon entschuldigen.“

Mic ging auf, dass er den ganzen Tag nicht eine Sekunde an Jörn gedacht hatte, aber jetzt, wo er so vor ihm stand … brachte ihn das doch wieder gefährlich durcheinander.

Jörn kam näher.

„Das wollte ich persönlich tun.“

Dabei berührte er Mics Ohr, strich darüber. Was nun?

„Sollen diese Flurgespräche jetzt Tradition werden oder lässt du mich mal rein?“

„Ehm … passt grad nicht so gut, Jörn. Du hättest wirklich anrufen sollen. Ich bekomm gleich Besuch.“

Jörn trat einen Schritt zurück und legte den Kopf schief.

„Besuch? Ok … und warum wirst du jetzt rot?“

Und als Mic nicht antwortete: „Lass mich raten. Du hast gestern jemand kennengelernt, als du auf mich gewartet hast.“

„Nein, ich hab niemanden kennengelernt. Richard hat mich eh da weggeholt, weil Babs im Krankenhaus ist.“

Mic seufzte. Am besten raus damit, bevor es peinlich werden konnte.

„Weißt du, ich glaub …“

„Was ist denn mit ihr?“, unterbrach Jörn ihn. „Was Schlimmes?“

„Nein, nicht wirklich. Aber sie wird morgen operiert, die Gallenblase muss raus. Was ich aber sagen wollte …“

„In welchem Krankenhaus ist sie? Meinst du, sie würd sich über Besuch freuen?“

Dieser Typ hatte wirklich ein Talent, ihn nicht sagen zu lassen, was er sagen wollte. Zumal ihm das aus irgendeinem Grund schwerfiel.

Es klingelte.

„Da ist dann wohl dein Besuch …“

Jörns Stimme klang ein wenig enttäuscht.

„Ja. Das ist Richard.“

Mic drückte auf den Türöffner und wieder spürte er, wie er rot wurde. Jörns Gesichtsausdruck entnahm er, dass diesem das nicht entging.

„Also doch! Ich hatte schon so eine Ahnung … nur befreundet, hm?“

„War auch so … bis gestern. Das wollte ich doch grad die ganze Zeit sagen, aber du hast mich ja dauernd unterbrochen“, gab Mic lauter und ärgerlicher zurück als gewollt.

Jörns Blick wanderte zur Treppe und damit zu Richard, der gerade die letzten Stufen raufgelaufen war und jetzt für einen Moment stehen blieb. Dann grinste er breit.

„Jörn! Na, Entschuldigung fällig?“

Dabei deutete er mit dem Kinn in Richtung Mic.

Zu Mics großem Erstaunen grinste Jörn zurück.

„Bin eingepennt gestern … Handy-Akku war auch leer … Was ist mit deiner Nase passiert?“

Richard lachte.

„Kleiner Unfall. Eingepennt … du lernst es nie, was?“

Damit umarmten die beiden sich … und küssten sich zur Begrüßung.

„Also ihr zwei jetzt?“, hörte er Jörn fragen und Richard strahlte ihn an.

„Alles noch ganz frisch, also frag nicht weiter, ja?“

Mic sah, wie Jörn Richard in den Bauch pikste.

„Ja, du siehst auch irgendwie ganz … frisch aus heute. Ausgenommen die Nase. Aber hey, ich hatte mir sowas schon gedacht.“

Worauf Richard nur kicherte.

Jörn räusperte sich.

„Gut, gut, Dann will ich das junge Glück heut mal nicht stören. Mic, ruf mal an und sag mir, wenn’s besser passt, ja?“

Mic, der angesichts dieses Dialogs verwirrt war und dem außerdem die Vertrautheit zwischen den beiden einen kleinen Stich versetzte, hatte zu allem Überfluss nun auch noch ein schlechtes Gewissen. Warum auch immer … eigentlich gab es keinen Grund dafür. Dennoch fühlte er sich nun seinerseits noch mal  zu einer Entschuldigung bemüßigt.

„Tut mir leid, Jörn. Ich wollt‘s ja sagen, aber …“

„Mach dir mal keinen Kopf. Ich glaub, du verkennst die Situation, aber dazu ein andermal mehr. Jetzt macht, dass ihr reinkommt.“

Kuss und Umarmung für Richard, ein Winken in Richtung Mic und Jörn verschwand.

„Komm erst mal rein. Ich hab eben gedacht mich trifft der Schlag, als Jörn die Treppe raufkam. Ich dachte du wärst es.“

Richard lachte.

„Eingeschlafen. Das ist so typisch …“

Eine Bemerkung von Jörn hallte in Mics Gedanken nach.

„Was meinte Jörn eigentlich mit du verkennst die Situation? Hast du eine Idee dazu?“

Richard schüttelte den Kopf.

„Musst du ihn schon selbst fragen.“

Mic sah ein wenig betreten zu Boden und versuchte, seine Reaktion auf Jörn einzuordnen. Eigentlich hätte er es wissen müssen seit der versuchten Aussprache am Dienstag. Da hatte es ihn auch ziemlich kalt erwischt, dass er sich am liebsten auf ihn gestürzt hätte. Und er fühlte sich mies deswegen. Was war das nur? Mal ehrlich, er kannte Jörn wirklich kaum. Also einfach nur eine körperliche Anziehung? Der Sex mit ihm war schön gewesen. Allein der Gedanke daran jagte ihm eine angenehme Gänsehaut über den Rücken. War es einfach nur das? Eine sanfte Berührung unterbrach diesen Gedankenfluss.

„Mic? Was ist los?“

„Jörn …“

Mehr brachte Mic nicht raus.

„Aha. Jörn. Was ist mit ihm?“

„Mit mir meinst du wohl. Wenn ich das wüsste …“

Richard holte seine Zigaretten raus.

„Mal wieder Zeit für ein Frage-Antwort-Spiel? Kannst du haben. Du bist ziemlich geil auf ihn, oder?“

„Ich war … überrascht. Über mich. Meine Reaktion“, gab Mic ausweichend zurück.

Richard tippte ihm auf die Nase.

„Du wirst ja schon wieder rot. Ich weiß schon, dass er ein ziemlich attraktives Kerlchen ist“, grinste er.

„Ja, ist er. Und was gibt es da zu grinsen?“

„Ooch, ich dachte nur grad, das kann ja noch interessant werden.“

„Bist du sauer?“

„Nein. Sollte ich?“

„Na ja …“

„Was? Hast du jetzt ein Eifersuchtsdrama von mir erwartet? Überraschung: Mir ist schon klar, worauf ich mich hier einlass.“

Mic war völlig irritiert.

„Wie meinst du das?“

„Du bist doch gar nicht fertig mit Jörn. Wärst du vielleicht gern, bist du aber nicht. Für wie blöd hältst du mich denn?“

Mic schluckte. Am liebsten hätte er es abgestritten, musste sich aber eingestehen, dass Richard Recht hatte.

„Und jetzt?“

Richard zuckte immer noch grinsend die Schultern.

„Werden wir sehen. Montag hatte ich Schiss deswegen, weils ausgerechnet Jörn ist. Gestern dann nicht mehr. Solltest du ja gemerkt haben …“

Mics Verwirrung steigerte sich.

„Und es macht dir nichts aus?“

Plötzlich war jedes Grinsen aus Richards Gesicht verschwunden.

„Keinen Plan. Weiß ich noch nicht. Können wir‘s nicht einfach auf uns zukommen lassen? Ich denk es ist ok, solang du mir nicht irgendwas vorspielst. Sei einfach ehrlich zu mir und vor allem auch zu dir … und dann sehn wir, wie‘s geht und was draus wird.“

Mic schluckte.

„Also … alles offen sozusagen oder wie meinst du das?“

„Ich meine, wir werden sehen, was aus uns wird, was aus euch wird, wie‘s uns damit geht.“

Mic verstummte vollends. Damit, dass Richard das so relativ locker nahm, hatte er nun gar nicht gerechnet. Aber nahm er das wirklich so locker? Oder tat er nur so? Immerhin hatte das Montag noch ganz anders geklungen. Und was sollte er davon halten? Er an Richards Stelle könnte das nicht so entspannt sehen, da war Mic sich sicher. Erwartete er dasselbe am Ende auch umgekehrt?

„Du meinst das ernst, oder?“

Richard verdrehte die Augen.

„Nein, ich verarsch dich nur grad. Permission to panic …”

Dann lachte er.

„Und außerdem hab ich Hunger. Das Curryhuhn war noch nicht fertig, als ich los bin. Was gibt’s bei dir? Geröstete Heimchen?“

Mic, dem in diesem Moment eigentlich gar nicht nach Scherzen war, musste wider Willen mitlachen.

„Nein, marinierte Chamäleon-Füße.“

„Schade. Kein Spam Spam Spam … lovely Spam?”

Kurz darauf standen sie zusammen vor Mics Kühlschrank, inspizierten dessen Inhalt und einigten sich schließlich auf Thunfisch-Salat mit Kräuterbaguette. Einträchtig schnippelten sie in der Küche Tomaten, Gurken und Zwiebeln, putzten Salat, stellten eine Vinaigrette her.

Es machte Spaß, mit Richard in der Küche zu stehen, stellte Mic mal wieder fest. Immer wieder beobachtete er ihn und fand, dass er sich ziemlich geschickt anstellte.

Richard, der diese Blicke zu bemerken schien, fragte irgendwann grinsend: „Und? Bin ich alltagstauglich? Kartoffeln schälen kann ich auch. Und dass ich putzen und Betten beziehen kann, weißt du ja schon.“

Mic fühlte sich mal wieder ertappt und wurde rot.

„Ehm … vermutlich ja.“

„Entzückend. Ist so leicht, dich dazu zu bringen, rot zu werden.“

Mics Röte vertiefte sich, Richards Grinsen wurde breiter, als er auf Mics Schneidebrett deutete.

„Was wird‘n das? Tomatenpüree? Über DEINE Alltagstauglichkeit sollten wir uns dann noch mal unterhalten …“

Damit fing er dann an, den Tisch zu decken.

Mic lächelte in sich hinein, als er dieses geballte Bündel guter Laune namens Richard beim Essen beobachtete. Dieses Bündel redete ohne Punkt und Komma, und auch wenn Mic der Marketing-Kram, von dem Richard grad erzählte, nicht sonderlich interessierte, so war es diese lebendige Art zu reden, die ihn dennoch gebannt zuhören und immer wieder lachen ließ. Richard sprach mit Händen, Füßen, Gesicht … eigentlich unter Ganzkörpereinsatz.

Richard arbeitete bei einem Lebensmittelhersteller und berichtete von der Verkostung neuer Fertiggerichte, die in der Entwicklung waren. Die heutige Verkostung vor dem Frühstück. Erste Verkostung einer Fertigsuppe. Mic wurde allein vom Zuhören ein wenig übel. Das war also der Termin am frühen Morgen gewesen.

Richard erzählte weiter, schilderte das Vorgehen von sogenannten Trendscouts, die auf der Suche nach neuen Ideen ausschwärmten und ließ sich über ein sogenanntes Zukunftsforum für Ernährung aus sowie über die ewige Jagd auf prominente, markenpassende Testimonials, die sich für Firmenzwecke einspannen ließen. In Mics Ohren klang das alles ziemlich verrückt und davon abgesehen ziemlich überflüssig. Was für ein Job … passte eigentlich gar nicht zu Richard, fand er.

Richard redete immer noch, als sie gemeinsam die Spülmaschine einräumten.

Mic wollte nicht mehr reden – zumindest nicht über Richards Job. Immer wieder hatte er in den letzten Minuten an das Gefühl denken müssen, wie es war, Richard ganz nah bei sich zu spüren, ihn zu berühren, zu küssen. Gleichzeitig schwirrte ihm immer wieder Jörns Bild durch den Kopf.  Verdammt. Und Richard redete unentwegt und machte keinerlei Anstalten, damit aufzuhören. Ob Richard damit vielleicht einfach nur die etwas seltsame Situation zwischen ihnen überspielen wollte? Oder ob das doch mit Jörn zu tun hatte? Er sah ihn ja nicht mal richtig an. Oder … konnte es sein, dass Richard auch einfach unsicher war nach den Geschehnissen gestern? Einem Impuls folgend zog er Richard etwas fahrig an sich. Nur nicht wieder nachdenken und ins Grübeln geraten.

Und tatsächlich, Richard war abrupt still, seinen Blick deutete Mic als abwartend, vielleicht auch fragend. Er hatte sich also wohl nicht getäuscht, Richard war unsicher.

Er küsste ihn und wie am Abend zuvor ging Richard eher zögerlich darauf ein.

„Hey, was ist los?“, traute Mic sich dann doch irgendwann zu fragen.

Dunkle, grüne Augen, in denen er hätte versinken mögen. Ein Blick, der seine Knie wieder weich werden ließ, aber keine Antwort, das sommersprossige Gesicht ganz ernst. Mic sah, wie Richard schluckte, nach Worten zu suchen schien.

Er strich vorsichtig über Richards Nase.

„Ist es deswegen?“

Richard zuckte mit den Schultern.

„Das wird nicht wieder passieren. Glaube ich. Hast du Angst vor mir?“

„Nein, nicht vor dir. Vor dem, was ich auslösen könnte eher. Nach allem, was du mir gestern erzählt hast, sollte dich das nicht groß wundern.“

Richards Stimme starb ab.

„Ich hab dir gar nicht so viel erzählt.“

„Ist nicht so schwer zu erraten, was passiert ist.“

Mic seufzte.

„Steht das jetzt zwischen uns?“

Wieder ein Schulterzucken.

„Willst du … soll ich dich in Ruhe lassen?“

Und dann, plötzlich wütend:

„Ich will das nicht. Ich will hier keinen Bernd haben. Ich hab mich lang genug von all dem bestimmen lassen. All die Jahre … es kotzt mich an. Das soll einfach nur aufhören, mich immer und immer wieder einzuholen. Und jetzt holt es sogar dich ein. Uns. Scheiße! Ich will das einfach nicht. Ich hätte sie gar nicht erzählen sollen. Diese scheiß Geschichte. Das ist mein Leben, nicht seins. Der Typ ist tot und immer noch hier. Der soll einfach verschwinden! Der hat hier nichts zu suchen. Ich hab die Schnauze voll davon! Immer, wenn …“

„Mic! Komm wieder runter!“

Richards Schrei war wie ein Donner und ließ Mic verstummen. Erst jetzt merkte er, dass er schon wieder mal heulte. Diesmal vor Wut. Eine Wut, die er in diesem Augenblick ganz klar spürte. Wut auf Bernd, aber auch auf sich. Darauf, dass er es zugelassen hatte, sein Leben so fremdbestimmt zu leben.

„Tut mir leid, Richard. Ich bin nur plötzlich so wütend wegen all dem …“

„Ja, das merk ich. Wird auch Zeit.“

„Ich will mir das mit dir nicht kaputt machen lassen von …“

Mic machte eine hilflose Geste. Dann musste er plötzlich unter Tränen lächeln, als ihm klar wurde, was er da gesagt hatte.

„Hab ich das grad gesagt? Aber wo ich grad dabei bin … eben, als es geklingelt hat und ich dachte, du wärst es, da hatte ich richtig weiche Knie. Herzklopfen. Kribbeln im Bauch. Als wär ich verliebt. Ich musste immer wieder an dich denken, den ganzen Tag, und ich hab mich auf jetzt gefreut. Und jetzt ist da plötzlich wieder diese Scheiße …“

Diesmal erstickte ein Kuss von Richard Mics Redeschwall. Gar nicht mehr so zögerlich. Kein bisschen zögerlich. Ganz im Gegenteil.

„Armes Vieh. Ganz allein in dem blöden Glaskasten. Der ist bestimmt neidisch auf uns. Was meinst du? Steht der auf Mädels oder auf Jungs?“

Richard war in seinem Element und alberte rum.

Nach den letzten Stunden, in denen sie sich sehr intensiv miteinander beschäftigt hatten, war ihnen eingefallen, dass sie das Grünzeug im Terrarium nochmal befeuchten sollten, und so sprühte Richard mal wieder, während Mic eine Banane aufschnitt.

„Ich weiß nicht, ob dieses Reptil überhaupt auf irgendwas steht …“, brummte Mic angeekelt.

Er konnte dem Chamäleon einfach nichts abgewinnen. Entsetzt beobachtete er, wie Richard das Tier hochhob und es von allen Seiten ausgiebig betrachtete, worauf Predo dunkel wurde, sich regelrecht aufpustete und fauchte. Mit erschrockenem Gesichtsausdruck setzte Richard das Chamäleon wieder zurück – und zog seine Hand nicht schnell genug weg.

„Au! Mistvieh!“

Predo hatte zugeschnappt.

„Savage little blighters, aren’t they? Ich wusste nicht, dass die beißen können …“

Richards kleiner Finger blutete, während das Chamäleon noch immer fauchte. Mic zog Richard zum Waschbecken.

„Spül das lieber ab. Bei Predos Speiseplan entzündet sich das sonst noch …“

„Du blödes Reptil! Und ich mach mir Gedanken um dein Sexleben …“, knurrte Richard Predo an, musste aber schon wieder grinsen.

„Dabei mach ich mir viel lieber Gedanken um unseres.“

„Unseres?“

Richards Grinsen wurde breiter.

„Ja, unseres. All these form of stimulation can now take place.“

Und dann nach kurzem Schweigen: „Ich schätze, wir sind jetzt wohl doch sowas wie ein Paar …“

Richard hatte die letzte Feststellung so leise gemacht, dass Mic notfalls hätte so tun können, als hätte er sie nicht gehört, und genau das tat er jetzt auch. Was hätte er darauf auch sagen sollen? Sowas wie ein Paar? Was sollte das denn sein?

Er fand Pflaster und Jodsalbe in Babs Medikamentenschrank, trug etwas Salbe auf das Pflaster auf und klebte es auf die kleine Bisswunde an Richards Finger.

„Das breeeennt!“

Richard verzog theatralisch das Gesicht.

Fast 3 Uhr in der Nacht.

Mic war müde, konnte aber nicht einschlafen. Richard und er hatten beschlossen am nächsten Abend mal wieder in die Bar zu gehen. Eigentlich wollte Mic das gar nicht, aber Richard hatte darauf bestanden.

„Du kannst doch nicht ewig vor Jörn wegrennen.“

Das war ein Treffer gewesen. Tatsächlich störte ihn der Gedanke, dort Jörn begegnen zu können, und wie um zu beweisen, dass dem nicht so war, hatte Mic schließlich zugestimmt, in die Bar mitzukommen.

„Warum habt ihr euch eigentlich getrennt?“, hatte Mic wissen wollen, aber Richard hatte nur zwischen zwei Gähnern gegrinst.

„Das erzähl ich dir ein anderes Mal. Ich bin echt müde jetzt.“

„Alles sehr seltsam“, hatte Mic gefunden.

„Gar nicht seltsam“, hatte Richard darauf gegähnt und kurz darauf waren ihm die Augen zugefallen.

Und jetzt lag Mic hier und dachte immer wieder an Richards Bemerkung. Sowas wie ein Paar … tsss! Er wusste selbst nicht so recht, was ihn daran so beschäftigte. Irgendwas stimmte nicht und das war nicht nur das „sowas wie“. Er sollte doch eigentlich jetzt glücklich sein. Und irgendwie war er das auch. Trotzdem störte ihn irgendetwas, das er einfach nicht greifen konnte.

Es war dunkel. Mic bedauerte jetzt, das Licht schon gelöscht zu haben. Zu gern hätte er in Richards schlafendes Gesicht gesehen.

„Wenn es nach mir geht, sind wir das … ja“, flüsterte er eine Erwiderung auf die vor fast einer Stunde gemachte Bemerkung.

Mic hörte Richard seufzen, spürte, wie er seine Hand kurz drückte. War Richard wach gewesen? Oder hatte er ihn geweckt? Kurze Zeit später sagte ihm ein regelmäßiges Atmen, dass Richard nun auf jeden Fall wieder schlief. Mic rückte noch ein paar eigentlich unmögliche Zentimeter näher an ihn heran, bevor seine Gedankenschleifen den Kampf gegen die Müdigkeit verloren.

Mic fühlte sich wie betrunken. Er tanzte mit Jörn, der gerade Anstalten machte, ihn zu küssen. Wie war er nur wieder in diese Situation geraten?

„Ich wusste, ich krieg dich, wenn ich es nur will“, sagte er.

Was bildete der sich eigentlich ein? Dass er nur mit den Fingern schnipsen musste, und er, Mic, würde ihm zu Füßen liegen? Ganz sicher nicht! Mic versuchte, sich der Umarmung zu entwinden, aber aus irgendeinem Grund schaffte er es nicht. Jörns Arme waren plötzlich wie Schraubstöcke, er kam nicht weg. Er schrie erst Jörn an, der ihn völlig ausdruckslos und ungerührt festhielt, dann in die Menge, aber niemanden um ihn herum schien das zu interessieren. Lauter tanzende Menschen um ihn mit desinteressierten Gesichtern. Moment, eigentlich hatten die gar keine richtigen Gesichter. Richard! Da stand er, sah ihn an und grinste. Er sollte nicht grinsen, sondern ihm helfen. Ein brennender Schmerz durchflutete ihn. Ein Schmerz, der ihn endlich schweißnass aufwachen ließ. Er schmeckte Blut, hatte sich die Unterlippe aufgebissen.

Mic brauchte eine Weile, um zu realisieren, dass er nur geträumt hatte. Was für ein bizarrer Traum … Verstört lag er den Rest der Nacht grübelnd wach.

„Wenn alles gut geht, komm ich Montag raus hier. Und vielleicht bekomm ich nachher sogar einen Zwieback. Toll, was? Das wird ein Festessen!“

Babs schien es tatsächlich recht gut zu gehen. Die OP war überstanden, essen durfte sie dennoch noch nicht, was ihrer Laune offensichtlich nicht sonderlich zuträglich war.

„Bald hast du das ja hinter dir. Dann gehen wir Pizza essen, ok?“ versuchte Mic sie zu besänftigen.

„Nur wir beide?“

Ein strenger Blick von Babs, aber Mic sah, dass sie versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken.

„Heute Mittag hat Richard mich angerufen. Wie kannst du es wagen, mir das mit euch zu verheimlichen?!“, spielte sie die Beleidigte.

„Du bist krank“, verteidigte Mic sich. „Ich wollte erst mal hören, wie es dir geht.“

„Gut, das weißt du jetzt. Und jetzt erzähl. Erzähl mir ALLES! Na ja, vielleicht nicht wirklich alles, du weißt schon …“

„Keine Ahnung. Was soll ich schon wissen?“

Mic bemühte sich gerade um einen unschuldigen Gesichtsausdruck, als ihm ein Kissen an den Kopf flog.

„Ich krieg dich schon zum Reden. Infusionsständer können verheerende Waffen sein …“

Mic seufzte.

„Ach Babs, ich fürchte, das ist komplizierter als du denkst.“

Babs verdrehte die Augen.

„Neee, is klar. Ist ja immer alles schwer, kompliziert und dramatisch bei dir. Ich hoff mal, Richard kann das ausgleichen. Also gut, was ist denn jetzt wieder so schwierig? Richard hat sich nämlich einfach nur glücklich angehört.“

Glücklich hatte er sich also angehört. Mic schwieg. Er fühlte sich immer mieser, je länger er über sein Gefühlschaos nachdachte. Babs machte Anstalten aufzustehen.

„Solltest du nicht besser liegen bleiben?“

Energisch schüttelte Babs den Kopf.

„Ne du. Ich soll mich sogar bewegen von wegen Luft im Bauch und so. Außerdem war ich heut schon im Raucherraum. Guck mich nicht so an, als wär ich ein Geist. Rauchen kann man auch ohne Gallenblase. Kommst du?“

„Rauchen sollst du aber bestimmt nicht …“

Babs packte sich den Infusionsständer.

„Ja, ja. Soll ich wohl nicht. Ich will aber, und wenn du nicht mitkommst, dann geh ich eben alleine. Außerdem …“

Babs Blick wanderte vielsagend zu ihrer Zimmergenossin.

„… wollen wir doch Frau Gehrer nicht mit schwulen Liebesgeschichten belästigen.“

Babs Mitpatientin warf dann auch wie zur Bestätigung giftige Blicke zu ihnen herüber.

„Die ist echt furchtbar, blöde Schnepfe. Hat sich bei der Stationsleitung wegen Sofia beschwert, von wegen wir würden rumknutschen. Zum Glück beißt die da auf Granit“, bemerkte Babs, als sie den Krankenhausflur langgingen.

„Aber jetzt erzähl endlich. Was ist jetzt schon wieder?“

„Ach Babs. Ich weiß auch nicht. Irgendwie bin ich mir nicht sicher, ob es richtig ist, was ich tu.“

„Hm? Wie jetzt? Doch nicht schwul oder was?“

Und während Mic überlegte, wie er das mit Jörn erklären sollte, blieb Babs plötzlich stehen.

„Jetzt komm mir nicht mit dieser soll-aber-keiner-wissen Nummer. Als Coming-Out-Hebamme bin ich total ungeeignet.“

Mic musste lachen.

„Nee, das ist es nicht. Es geht eher um Jörn.“

„Aha. Doch noch. Und weiter? Was ist mit Richard?“

„Das ist es ja gerade. Ich will ja mit ihm … hm … zusammen sein? Aber da ist eben auch noch Jörn. Babs, ich brauch den nur anzusehen und schon …“

Babs kicherte.

„Schon gut, keine Details bitte.“

Mic wurde mal wieder rot.

„Also ich muss schon sagen, dafür, dass da jahrelang nix war bei dir, hältst du dich ja jetzt ganz schön ran.“

„Babs! Das ist nicht witzig!“

„Nee, ich weiß. Komm, hier rein. Da darf man rauchen.“

Babs öffnete eine Tür und vor ihnen lag ein kleiner, schmierig wirkender Raum, der nach kaltem Rauch stank. Immerhin war sonst niemand darin. Es gab ein paar gelblich verfärbte Stühle und einen Tisch, auf dem überquellende Aschenbecher standen. Fleckige, beige Wände und ein abgelaufener, grauer Teppichboden rundeten das heimelige Bild ab. Hier bemühte man sich offensichtlich darum, den Patienten das Rauchen so unangenehm wie möglich zu machen.

Babs schien das nicht mal wahrzunehmen, sah Mic nach den ersten Zügen an ihrer Zigarette auffordernd an.

„Und jetzt? Was hast du vor? Die beiden kennen sich doch gut. Du glaubst doch nicht, dass Richard das nicht erfährt oder merkt?“

„Nein. Muss er auch nicht mehr merken. Er weiß es.“

„Und?“

„Was und?“

Babs verdrehte die Augen.

„Na was sagt er dazu? Irgendwas wird er doch wohl gesagt haben? Lass dir doch nicht immer alles so aus der Nase ziehen. Das nervt.“

„Er nimmt es so hin und meint, wir werden sehen, was aus uns wird, und aus Jörn und mir.“

„Okay … und denkst du, ihm geht’s gut damit? Glaubst du ihm das? Jedenfalls hat er am Telefon kein bisschen bedrückt geklungen. Eher total glücklich.“

„Ja. Aber ich könnte das umgekehrt nicht so locker sehen.“

Babs schien amüsiert.

„Nein. Natürlich nicht. Du machst ja auch aus jeder Mücke einen Elefanten. Sag mal, fehlt dir was, wenn mal was unproblematisch ist? Er weiß es, es scheint ihn nicht sonderlich zu stören … so what? Warum bläst du das jetzt so auf?“

„Aber … aber … ich fühl mich mies dabei.“

„Also, mein Lieber, wie ich das seh, hast du zwei Möglichkeiten: Nimm es wie es ist oder lass die Finger davon.“

Mic seufzte tief. Babs verstand es einfach nicht.

„Ich hab die ganze Zeit irgendwie ein schlechtes Gewissen.“

„Dann geh in den Keller und geißel dich ein bisschen. Vielleicht leiht Sofia dir ja ihre Reitgerte. Oder geh beichten. Soll ja auch helfen.“

„Danke. Gut zu wissen, dass du mich ernst nimmst.“

Mic war ein wenig eingeschnappt.

„Ich nehm dich ernst, du Spinner. Aber Mic, kannst du das nicht einfach auf dich zukommen lassen? Tut Richard doch auch. Wo also ist das Problem?“

„Wenn Richard das bei mir so locker sieht, dann erwartet er das bestimmt auch umgekehrt. Was, wenn er dann irgendwann auch jemanden trifft …“

„Ach, daher weht der Wind. Ungelegte Eier. Du willst vorher schon alles ganz genau wissen, hm? Dieses Gespräch, Liebes, solltest du dann aber nicht mit mir führen. Das musst du schon Richard fragen.“

Mic sackte immer weiter in sich zusammen.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich wissen will.“

Babs atmete tief durch, offensichtlich um Fassung bemüht.

„Sag mal, was willst du eigentlich, außer alles komplizierter zu machen als es ist?“

Mic starrte vor sich hin. War er wirklich so? Jemand, der alles kompliziert macht?

„Ich wünschte, ich könnte das so sehen wie Richard und du. Kann ich aber nicht. Das bin einfach nicht ich.“

Babs zündete sich eine weitere Zigarette an, drehte einen Stuhl zu Mic.

„Jetzt hör mir mal gut zu“, hob sie an und bei diesem Tonfall war Mic klar, dass nun eine längere Ansprache folgen würde.

„Du bist mit Richard zusammen. Toll, das freut mich für euch beide. Ich hab es dir schon mal gesagt, der Typ tut dir gut. Trotzdem fährst du noch auf Jörn ab. Und? Nimmt das Richard irgendwas weg? Was du von dir gibst, ist alles graue Theorie. Du hast keine Ahnung, wie es wirklich wäre. Du machst dir Sorgen um Dinge, von denen du nicht mal weißt, ob sie je passieren. Man könnte denken, du hast die Versicherung erfunden. Willst du das wirklich? Dir ständig um irgendwas Sorgen machen? Ein Drama nach dem anderen produzieren? Hattest du nicht schon genug Drama? Du sagst, du kannst das nicht so sehen, das wärst nicht du. Aber woher willst du das überhaupt wissen? Vielleicht wäre es ja ganz anders, als du glaubst. Aber nein, du legst alles schon vorher fest. Denk mal drüber nach. Und noch was, Mic. Was ist mit der Therapeutenliste? Hast du dir die mal angesehen? Drüber nachgedacht?“

Thematisch vom Regen in die Traufe, stellte Mic fest.

„Nachgedacht ja, aber ich weiß noch nicht, ob ich das kann.“

„Siehst du? Genau das mein ich. Manchmal muss man etwas tun, um zu wissen, ob es geht. Erinner dich mal an das Theaterprojekt. Hat doch auch geklappt. Trotz aller Bedenken.“

„Das ist ja wohl auch was anderes!“, echofierte sich Mic.

„Ja und nein. Deine Denke war dieselbe. Immer diese ewige Panik von dir wegen allem Möglichen und Unmöglichen. Tu dir selbst den Gefallen und tu da was dran.“

Mics Mund brannte wie Feuer. Er hatte mit Richard begonnen, die Hühnchen-Reste des Vortags zu verputzen und dabei feststellen müssen, dass man in Richards WG offensichtlich gern scharf aß. So scharf, dass ihm Tränen übers Gesicht liefen.

Katja riss ihm das Wasserglas aus der Hand und stellte ihm stattdessen grinsend ein Glas Milch hin.

„Wasser macht‘s nur schlimmer. Da hilft nur Fett …“

Tatsächlich, die Milch half.

Mic beäugte misstrauisch seinen Teller, wobei er vom Rest der WG beobachtet wurde. Er kam sich ein wenig vor wie ein Versuchstier vor der Kamera.

Katja, die ihm die Milch gebracht hatte, faltete sich wieder auf die Eckbank in der Küche, während Nele und Nils Bierflaschen öffneten.

Richard schaufelte völlig ungerührt, ja sogar mit offensichtlichem Vergnügen, das scharfe Zeugs in sich hinein.

Nele und Nils hatten sich in der WG kennengelernt und waren ein Paar. Das wusste Mic aus Richards Erzählungen, und die Art, wie sie sich auf der Bank aneinander kuschelten, ließ auch keinen Zweifel daran aufkommen. Gut so, die waren erst mal miteinander beschäftigt.  Katja dagegen versuchte Mic in ein Gespräch zu verwickeln.

„Woher kennt ihr euch eigentlich? Richard macht ja ein riesiges Geheimnis daraus“, verlangte sie zu wissen.

Richard begann zu husten.

„Katja! Das geht dich gar nichts an.“

„Stimmt doch aber!“, bekam Katja Unterstützung von Nele, die sich nun auch an Mic wandte.

„Damit macht Richard uns nur noch neugieriger.“

„Neeele!!!! Ihr seid echt peinlich! I’ve got no option, but to sell you all for scientific experiments! Mic, ignorier die einfach, ja?”

Mic schob sein Hühnchen auf dem Teller hin und her und hoffte, dass niemand merken würde, dass er nichts mehr davon aß.

Eigentlich fand er die drei ganz nett. Ein alberner Haufen, passte zu Richard. Mic ließ – wie er hoffte unauffällig – den Rest des Hühnchens im Restmüll verschwinden, während die anderen sich über ihre Wochenendpläne austauschten.

„Wann wollte Jörn denn hier sein?“

Die von Nils gestellte Frage ließ Mic aufhorchen.

„Gegen neun. Warum? Was willst du von ihm?“

„Ach, ich hab doch noch diese alte DAT-Cassette, wo das Gebrabbel von Clarissa drauf ist. Ich wollt Jörn fragen, ob er mir das im Studio auf einen Stick ziehen kann … ich dachte, ich könnte es zusammenschneiden mit Musik und so. Und dann schenk ich es meiner Mutter zum Geburtstag.“

„Clarissa? Ach ja, deine Schwester …“

Nils nickte.

„Ja, ich habs aufgenommen, als sie noch klein war. Ich weiß gar nicht mehr so genau, was sonst noch drauf ist. Seit die Reportage-Einheit verschwunden ist …“

Den Rest des Gesprächs bekam Mic kaum noch mit. Wie wunderbar. Jörn kam also hierher und sie würden dann wohl zu dritt in die Bar gehen – oder wie? „Danke, Richard, dass du mich vorgewarnt hast …“, dachte er gerade, als Richard ihn auf den Nacken küsste.

„Willst du auch ein Bier?“

„Nein. Aber du hättest mir ruhig sagen können, dass Jörn hier auftaucht“, nörgelte Mic.

„Komm mal mit.“

Richard zog Mic hinter sich her in sein Zimmer.

„Sag mal, was ist denn jetzt los? Muss ich dich jetzt fragen, ob Jörn herkommen darf?“

Richard war offensichtlich sauer.

„Nein. Es ist nur … na ja … du weißt doch …“

„Ja, ich weiß. Aber wenn du glaubst, ich denk jetzt jedes Mal drüber nach, ob es dich stören könnte, wenn ich mich mit Jörn treffe, dann irrst du dich gewaltig.“

Bestürzt versuchte Mic einzulenken.

„Nein, aber sagen könntest du es mir wenigstens. Einfach nur, damit ich mich drauf einstellen kann.“

Richard ließ sich mit einer resignierten Gebärde in einen Sessel fallen.

„Ok. Kann ich versuchen, aber nicht versprechen. Verdammt, Mic, du bist anstrengend.“

„Zwingt dich ja keiner dazu, dich mit sowas Anstrengendem wie mir abzugeben“, schnappte Mic zurück und sah Richard finster an. Aber der grinste schon wieder.

„Stimmt. Mich zwingt keiner. Ich will mich aber mit dir abgeben.“

Er schnappte sich Mics Hand und zog ihn zu sich auf den Sessel.

„Du bist nur immer so unentspannt. Mal sehen, was ich dagegen tun kann …“

„Richard!“

„Jetzt tu mal nicht so entrüstet …“

Mic fühlte sich fast ein wenig überflüssig, als er an der Theke neben Richard und Jörn stand, die ausgelassen rumalberten. Wieder versetzte die offensichtliche Vertrautheit der beiden miteinander ihm einen Stich, gleichzeitig ärgerte er sich über sich selbst.

Bei Richard zu Hause hatte eine laute Stimme Mic erschrocken hochfahren lassen. Die lange Nacht hatte wohl ihren Tribut gefordert, jedenfalls waren sie offenbar eingeschlafen und Jörn hatte mit anzüglichem Grinsen vor dem Bett, in dem sie dann doch gelandet waren, gestanden und sie geweckt. Peinlicher ging‘s ja wohl kaum noch. Mic hatte spontan das Bedürfnis gehabt, sich in Luft aufzulösen, während Richard einfach gähnend aufgestanden war mit der Bemerkung: „Sorry, wartest du schon lange? Dann geh ich mal schnell duschen.“ Und Jörn hatte sich ganz unmissverständlich köstlich amüsiert, denn sein Grinsen war noch breiter geworden, als Mic sich eine Decke geschnappt hatte, um sie bis zur Nasenspitze über sich zu ziehen. Dann hatte Jörn gnädigerweise doch noch Richards Zimmer verlassen.

Mic ließ Richard und Jörn an der Theke stehen und schaute sich um. Er entdeckte Sofia und begrüßte sie. Dabei wäre ihm fast „Heather“ rausgerutscht, konnte es sich aber gerade eben noch verkneifen. Er sollte sich das abgewöhnen, beschloss er, sonst würde er sie tatsächlich irgendwann mal mit Heather ansprechen.

Marc und Dieter entdeckte er noch, sonst kannte er niemanden in der Bar, aber Dieter schien sich darüber zu freuen, ein Opfer gefunden zu haben, dem der neueste Tratsch aus der Tanzschule noch unbekannt war. Mic war nicht ganz bei der Sache, schielte immer wieder zu Richard und Jörn rüber. Den beiden schien nicht mal aufzufallen, dass er nicht mehr neben ihnen stand.

„Tanzen?“

Die Frage kam von Marc.

„Wer? Wir beide?“

„Ich schiele doch nicht.“

Marc hatte immer noch diese etwas spröde, wortkarge Art an sich. War wohl auch gut so, dachte Mic. Dieter schwatzte immer so viel, das reichte für beide.

Ein Tango.

„Also gut. Warum eigentlich nicht? Aber ich führ.“

„Kein Problem.“

Marc tanzte gut, das wusste Mic. Er hatte ihn ja lange mit Trixie tanzen sehen. Allerdings führte Marc normalerweise. Trotzdem klappte es ganz gut, machte Spaß, auch wenn sich nicht andeutungsweise der Zustand einstellte, in dem Mic sich befunden hatte, als er damals mit Jörn getanzt hatte.

Nach einer Weile wurde eine Rumba gespielt und plötzlich war Jörn neben ihnen. „Darf ich?“, schob er Marc grinsend weg, der Jörn mit übertrieben gönnerhafter Geste das Feld überließ.

Mic riss die Augen auf. Offensichtlich hielt es niemand für nötig, ihn zu fragen, was er davon hielt. Allerdings hätte er auch keine Antwort darauf gehabt. Wie in Trance begann er, mit Jörn zu tanzen. Perfekt. Warum passte das nur so perfekt? Jörn, der sich so wunderbar geschmeidig bewegte. Jörn, der jedes Signal, jeden Führungsimpuls schon zu spüren schien, bevor Mic ihn gab. Jörn, der immer wieder seinen Blick suchte. Sign your name … ausgerechnet Terence Trent D’Arby … fehlte nur noch, dass er anfangen würde mitzusingen …

Für einen kurzen Moment trafen Mics Augen die von Richard, der nun an einem der Spiegel lehnte und sie lächelnd beobachtete. Der lächelte doch tatsächlich so, als würde ihn freuen, was er sah. Mic fragte sich, was er nun wieder davon halten sollte. Einem Impuls folgend ließ Mic Jörn los, schob ihn regelrecht von sich weg. Der jedoch zog ihn recht energisch wieder zu sich und damit in den bizarren, verstörenden Traum von letzter Nacht. Diesmal völlig ohne Vorwarnung, einfach so, fühlte Mic sich von jetzt auf gleich in einen Zustand der Starre katapultiert, bevor er gefangen in einer viel zu real anmutenden Erinnerung anfing, um sich zu schlagen.

Kopfweh. Und Durst. Das waren die ersten Dinge, die Mic wahrnahm, als er langsam zu sich kam. Er versuchte, die Augen zu öffnen, aber seine Augenlieder waren so schwer, dass ihm das nicht auf Anhieb gelang. Ebenso schwer waren seine Arme und Beine, bleischwer, also blieb er vorerst einfach ruhig liegen und versuchte sich zu erinnern. Da war Musik gewesen. Er hatte getanzt. Aber was war dann geschehen? Und wo war er jetzt? Der Geruch, der ihn umgab, war ihm nicht vertraut. Mic lauschte. Er hörte Atemgeräusche. Er war also nicht allein. Wieder versuchte er, die Augen zu öffnen, was auch diesmal nicht recht gelingen wollte, aber immerhin schaffte er es, Arme und Beine zu strecken. Sofort nahm er eine Bewegung neben sich wahr, dann eine Stimme. Richards Stimme.

„Mic? Bist du wach?“

Der dritte Versuch, die Augen zu öffnen, gelang schon besser. Es war hell hier. Für einen Moment sah er in Richards besorgtes Gesicht, bevor er die Augen wieder schloss.

„Was …“

Mehr brachte er nicht heraus. Sein Mund fühlte sich viel zu trocken zum Sprechen an.

„Später. Hast du Durst?“

„Ja …“

Mic hörte, wie auf der anderen Seite von ihm eine Flasche geöffnet wurde. Wieder öffnete er die Augen und sah in Richtung des Geräuschs. Jörn goss gerade Wasser in ein Glas und hielt es ihm dann hin.

„Wart mal“, hörte er Richard sagen, der Mic half, in eine sitzende Position zu kommen. Als Jörn dann Anstalten machte, ihm das Glas an die Lippen zu halten, wehrte Mic ab und griff nach dem Glas.

Er trank in großen Schlucken, fühlte sich tatsächlich wie ausgetrocknet.

Langsam wurde sein Sichtfeld klarer und auch sein Denkapparat schien seine Arbeit wieder aufzunehmen.

Mic sah sich um. Ganz eindeutig: Er befand sich in einem Krankenhauszimmer. Es war ganz offensichtlich Tag, verriet ihm ein Blick zum Fenster, und … war das etwa … tatsächlich! Es schneite. Mic sah von Richard zu Jörn, der eine aufgeplatzte Lippe hatte.

„Ich bin im Krankenhaus. Was für ein Tag ist heute?“

Mics Hals fühlte sich rau an und schmerzte.

„Samstag“, antwortete ihm Jörn, „und du bist seit gestern Abend hier.“

„Aber … warum? Und was ist mit deinem Gesicht passiert?“

Richard griff nach Mics Hand.

„Woran kannst du dich denn erinnern?“

„Wir waren in der Bar. Und ich hab mit Marc getanzt. Und danach … wird es ziemlich wirr.“

Jörn räusperte sich.

„Danach haben wir beide getanzt. Weißt du das echt nicht mehr? Rumba.“

Mic versuchte, die wirren Bilder in seinem Kopf zu sortieren.

„Sign your name …“, murmelte er.

„Ja, ich glaube, ich erinnere mich … irgendwie. Und dann?“

„Dann bist du total ausgetilgt“, gab Jörn zurück.

„Wie … wie meinst du das?“

Betretenes Schweigen. Mic sah, wie Jörn und Richard bedeutungsschwangere Blicke austauschten.

„Jetzt redet schon. Was ist …“

Eine Befürchtung machte sich in ihm breit.

„Jörn? War ich das etwa? Dein Gesicht?“

Jörns und Richards Mienen reichten ihm als Antwort.

„Scheiße …“

Mic war entsetzt, zog seine Hand von Richard weg.

„Jetzt redet schon. Ich muss wissen, was passiert ist.“

„Also gut“, fing Richard an.

„Du hast mit Jörn getanzt. Das sah so geil aus … ich hab euch zugesehen. Es sieht so … vollendet aus, irgendwie perfekt, wie ihr zusammen tanzt. Dann hast du zu mir rüber geguckt. Ich weiß nicht, was es war, aber irgendwas muss dich megamäßig erschreckt haben oder so. Du hast Jörn losgelassen, mitten in `ner Drehung.“

„Ich wär fast in den Spiegel geflogen und hab mich grad noch an dir festkrallen können“, ergänzte Jörn.

„Dann hast du plötzlich angefangen, um dich zu hauen und unter anderem Jörn im Gesicht getroffen. Wir haben zu zweit versucht, dich festzuhalten, aber du hast dich gar nicht mehr eingekriegt, hast voll rumgeschrien und ganz gut ausgeteilt. Ich kannte das ja schon von dir, aber gestern hat das alles gar nicht mehr aufgehört. Siggi wollte dich rauswerfen, aber dann hattest du sowas wie `nen Asthmaanfall und bist irgendwann umgekippt. Da hat er dann doch lieber den Notarzt gerufen. Tja, und jetzt bist du hier.

„Wo genau ist hier?“

Eigentlich wollte Mic wissen, ob er sich in einer Psychiatrie befand.

„Städtisches, Innere. Die wollen dich hier bestimmt durchchecken.“

Mic atmete erleichtert auf. Es war also Wochenende und er befand sich auf einer internistischen Station, wo heute und morgen ohnehin nichts passieren würde. Schließlich war Wochenende.

„Wie spät ist es?“

Jörn sah auf seine Uhr.

„Gleich 11.“

„Ok. Ich will nach Hause.“

Richard schüttelte den Kopf.

„Keine gute Idee. Du warst immerhin bewusstlos. Außerdem kommen deine Eltern gleich her.“

Mic schwang die Beine aus dem Bett und wollte aufstehen, ließ es dann aber, weil ihm schwindelig wurde, und außerdem entdeckte er einen Schlauch, der sich unter einer Art Nachthemd heraus neben das Bett schlängelte und dort in eine Flasche mündete. Wie wunderbar. Man hatte es also für nötig gehalten, ihm einen Katheder zu legen. Hinzu kam eine Infusion, die er erst jetzt bemerkte. Ringerlösung … nur Kochsalz und ein paar andere Mineralstoffe. Nichts Dramatisches also.

„Wieso meine Eltern?“, fragte er also nur und blieb sitzen.

„Ich hab die angerufen, ist ja in deinem Telefon gespeichert. Babs hat mir den Schlüssel gegeben, ich hab auch Predo gestern Abend noch versorgt. Und heute Morgen.“

„Danke. Aber wie kommst du dazu, meine Eltern anzurufen?“

Das hatte Mic gerade noch gefehlt, dass er die nun würde beruhigen müssen.

„Hallo? Du kapierst es nicht, oder? Du bist gestern umgekippt. So richtig, mein ich. Das war nicht lustig. Natürlich hab ich deine Eltern angerufen. Was hättest DU denn an meiner Stelle getan?“

„Wo ist mein Handy?“

Jörn griff in die Schublade des Nachtschränkchens, das neben Mics Bett stand und reichte ihm das Handy. Mic wählte eilig die Nummer seiner Eltern.

„Mama? Hier ist Mic … Ja, ich bin wach. … Nein, ihr müsst nichts mitbringen und auch nicht herkommen. Alles in Ordnung. Ich kann wieder nach Hause. … Kreislauf … Nein, ich geh Montag zum Arzt. … Ja, versprochen. … Morgen? Ok, aber wirklich nur auf ein Stündchen oder zwei, ok? … Gut, dann bin ich gegen vier da. … Nein, wirklich, alles halb so wild. … Mach ich. … Sag ich ihm. … Ein guter sogar. … Ich weiß nicht. Ich frag ihn und sag noch Bescheid. … Gut, bis morgen dann. Grüß Papa von mir, ja?“

Mic war zufrieden mit sich. Seine Mutter schien ruhiger, vor allem, weil er einem Besuch zugestimmt hatte, vermutete er. Richard sah ihn immer noch fassungslos an.

„Schau nicht so entsetzt. Ich soll dir danke von meiner Mutter sagen und dich fragen, ob du morgen mitkommen magst, zum Kaffee bei meinen Eltern.“

„Mic, du spinnst. Ganz im Ernst.“

„Nein, ganz im Gegenteil.“

Jetzt musste er nur noch irgendwie diese Infusion und den verdammten Katheder los werden. Hinter sich fand er einen Klingelknopf. Na, es würde schon jemand kommen, wenn er den drückte.

„Ich fass es nicht. Du bist echt nicht ganz zurechnungsfähig …“

Jörn starrte Mic mit ungläubiger Mine an, und Richards Gesichtsausdruck sprach Bände.

„Das ist jetzt wirklich `ne total hirnverbrannte Aktion. Warum willst du jetzt so voreilig weg hier? Willst du gar nicht wissen, warum du so `nen Blackout hattest?“

Aber Mic war jetzt innerlich nicht nur ganz ruhig,  sondern er war sich auch sicher, dass seine Ohnmacht – oder was immer das gewesen sein mochte – keine physischen Ursachen hatte.

„Ich weiß, ihr haltet das jetzt für eine Kurzschluss-Reaktion, aber das ist es nicht. Ich muss nach Hause. Ich muss in Ruhe nachdenken. Mit meinem Körper ist alles ok. Sieh dich nur an, Jörn. Wenn nur mit meinem Kreislauf oder so irgendwas wär, dann wär dein Gesicht noch heile. Ich sollte wohl zum Arzt, ja, aber sicher nicht zu einem Internisten.“

Jörn berührte seine aufgeplatzte Lippe.

„Aber …“

In diesem Moment tauchte eine kleine, dunkelhaarige Krankenschwester mit dunklem Teint  auf und strahlte Mic an.

„Oh, sie sind wach. Ich bin Schwester Latifa. Wie fühlen sie sich? Sie haben ja ganz schön lange geschlafen. Diazepam macht‘s möglich.“

„Mir geht es gut. Könnten Sie die Infusion bitte abmachen? Und pinkeln kann ich jetzt auch wieder selbst. Ich möchte nach Hause.“

Schwester Latifa griff nach Mics Handgelenk, kontrollierte den Puls und nickte dann offensichtlich zufrieden mit dem Ergebnis.

„So, so. Nach Hause wollen sie. Bitte warten sie ein paar Minuten, ich hole einen Arzt, das können sie nämlich nicht mit mir besprechen.“

Wieder ein strahlendes Lächeln, bevor sie schnellen Schrittes wieder verschwand.

Mic wendete sich wieder an Richard.

„Muss ich irgendwas packen?“

Richard deutete mit dem Kinn auf eine Reisetasche.

„Nee. Ist ja nichts ausgepackt. Das hab ich dir heute Morgen erst mitgebracht.“

Mic schaute an sich herunter. Er trug nichts als ein langes, weißes Hemd, das hinten gebunden zu sein schien.

„Und … hab ich noch was zum Anziehen hier?“

„Was du anhattest ist da im Schrank.“

„Würdest du mir die Sachen bitte holen? Und mich nach Hause bringen, wenn ich abgekabelt bin und hier weg kann?“

Richard und Jörn tauschten mal wieder vielsagende Blicke aus, dann nickten sie beide.

„Machen wir. Aber wir bleiben erst mal bei dir, nur für den Fall, dass was sein sollte … falls du überhaupt hier weg kannst.“

„Kann ich sicher. Ihr werdet sehen, es ist alles ok mit mir.“

Mic ließ sich auf sein Sofa fallen. Es hatte zwar einige Diskussionen mit dem Arzt gegeben, aber schließlich hatte er ihn gehen lassen. Die Blutwerte würde er telefonisch abfragen können, aber er ging davon aus, dass soweit alles in Ordnung sein würde – bis auf den THC-COOH-Wert vermutlich. Mic hatte gefragt, warum ein Drogenscreening gemacht worden war, und als Begründung war ihm seine Ohnmacht genannt worden.  Er hatte so seine Zweifel, ob das rechtens war, hatte sich aber nicht weiter darüber ausgelassen.

Natürlich hatte man noch weitere Untersuchungen in Erwägung gezogen, da seine Ohnmacht immerhin über eine Stunde angehalten hatte. Nach dem Aufwachen war er wohl wieder panisch geworden, was die Bemerkung von Schwester Latifa bezüglich des Diazepams erklärt hatte. Dennoch hatte man ihn mit einem Kurzbericht für seinen Hausarzt ziehen lassen, und Richard und Jörn hatten ihn eher widerwillig nach Hause gebracht.

Jetzt wuselten die beiden in der Küche rum. Er hatte sie nicht davon überzeugen können, ihn allein zu lassen.

Dabei musste er wirklich dringend nachdenken. So konnte es tatsächlich nicht weitergehen. Selbst er erkannte mittlerweile, dass seine Panikattacken, oder was auch immer das war, immer heftiger wurden, immer unkontrollierbarer.

Schon im Krankenhaus hatte er sich vorgenommen, sich die Therapeutenliste, die Babs ihm ausgedruckt hatte, mal genauer anzusehen. Er wollte aber nicht bei irgendwem landen und so holte er sich sein Laptop und begann zu recherchieren: Die Homepages, soweit vorhanden, Foreneinträge, Erfahrungsberichte, was auch immer er finden konnte, notierte er zu den entsprechenden Therapeuten. Einige auf der Liste konnte er schon aufgrund der Schwerpunkte aussortieren, andere, weil sie ihre Praxen einfach zu weit entfernt hatten oder weil sie keine Kassenzulassung hatten.

Mic hatte sich gerade bis zum letzten Drittel durchgekämpft, als Richard ihn zum Essen in die Küche bat. Er und Jörn hatten doch tatsächlich Hühnersuppe gekocht, was ihm ein Lachen entlockte.

„Leute, ich hab doch keine Grippe … aber danke. Ich hab jetzt doch Hunger.“

Jörn quittierte das mit einem zufriedenen Lächeln.

„Was arbeitest du denn so fleißig da drüben?“, wollte er wissen und Mic erklärte es ihm, worauf sein Lächeln noch etwas zufriedener aussah. Richard wischte sich imaginären Schweiß von der Stirn.

„Sehr gut. Ich hab echt schon überlegt, wie ich dich dazu krieg, es wenigstens mal zu versuchen.“

„Eigentlich muss ich euch beide nur ansehen …“, murmelte Mic.

Richards Nase sah immer noch lädiert aus und Jörns Lippe tat ein Übriges.

Nach dem Essen recherchierte Mic noch eine Weile weiter, merkte aber schon, dass er sehr müde wurde. Dennoch kämpfte er sich weiter durch seine Liste, er war doch fast durch damit …

 

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