Irgendwie war es merkwürdig. Werner, mein Vorgesetzter und Ausbilder; Ansprechpartner in allen Dingen was meinen Beruf betraf. Ich hatte nie eine Auseinandersetzung mit ihm, kein böses Wort.
Vielleicht konnte ich ihn sogar als väterlichen Freund bezeichnen. Aber in der letzten Zeit kam da noch etwas anderes dazu, das spürte ich nun sehr deutlich. Ich wusste ja dass er und seine Frau keine Kinder hatten, aber nicht, ob sie überhaupt welche haben wollten.
So kam mir in den Sinn, dass er mich nicht nur als Mitarbeiter ansah, sondern dass seine Beziehung zu mir noch andere Gründe haben könnte. Vielleicht wollten sie ja Kinder und es klappte nicht.
Darum stürzte ich dann auch in diesen Gewissenskonflikt was meine Entscheidung zu der Montage betraf. Es würde ihm aus vielerlei Gründen Leid tun wenn ich nicht mitkomme.
»Ich mach dir einen Vorschlag zu Genüge«, sagte er dann. Aber ich hörte schon am Ton, dass ihm das nicht sehr leicht fiel. »Du hast, wenn ich richtig rechne, noch fünfzehn Tage Urlaub, richtig?«
Das kam hin, ich wollte diese Urlaubstage im Winter nehmen. Vielleicht gelang es mir, meinen Paps bis dahin weich zuklopfen, ich wollte unbedingt einmal in verschneiten Bergen Urlaub machen. Den stellte ich mir nämlich richtig schön vor.
»Ja, hab ich.«
»Und die Schule beginnt nächste Woche«, setzte er fort.
»Richtig.«
»Momentan liegt nicht soviel an Arbeit an. Damit du endlich diese Sache hinter dich bringen kannst, egal mit welchem Ausgang, wäre es mir recht wenn du zwei Tage Urlaub nehmen würdest.«
Ich drückte meinen Oberkörper in die Rückenlehne. Werner war wirklich rührend um mich besorgt, wobei er das mit Sicherheit nicht völlig Uneigennützig vorschlug. Ich hörte aus diesem Vorschlag heraus, dass er mich unter allen Umständen mit auf der Baustelle haben wollte.
Bestimmt gab er mir deshalb die Gelegenheit, mein wirres Seelenleben so einigermaßen auf die Rolle zu kriegen.
»Krieg raus wo er wohnt und fahr hin.«
Das war eben keine Frage oder Bitte, sondern eine Anweisung sozusagen. Hatte ich auf so etwas gewartet? War es das, was ich wollte ohne es wirklich selbst zu wissen? Er ahnte wahrscheinlich, dass ich von allein nie auf die Idee gekommen wäre.
Und wenn, hätte ich mich wahrscheinlich gar nicht getraut. Jetzt gab’s kein Zurück mehr. Einwände, mein Onkel würde da vielleicht einen Strich durch die Rechung machen würde ebenso wenig ziehen wie die Vermutung, meine Eltern könnten was dagegen haben.
Zu beiden hatte Werner den besten Draht und sein Wort war bei denen gewichtig. Es lag nur an mir und im Grunde konnte ich überhaupt nicht anders. Er schickte mich geradezu in Urlaub beziehungsweise zu Angelo und je länger ich darüber nachdachte, desto mehr verstand ich Werner und seine Ratschläge.
Ich wollte ja auch endlich einen Strich ziehen; wie es unter dem weiterging konnte ich erst nach einem Gespräch mit Angelo sagen.
Du hast recht«, druckste ich herum.
Mein Entscheidung fiel mir aber weder schwer noch leicht.
»Schön. Dann besorg dir die Adresse und fahr hin.«
Na ja, er stellte sich das alles doch ein bisschen einfach vor. Aber woraus bestand denn das Ganze? Eine Frage bei Kassinis und eine Fahrt nach Frankfurt. Mehr war nicht. Beides Dinge, die den Fortbestand der Welt nicht in Schwierigkeiten brachte. Also nickte ich.
»Komm, mach nicht so ein Gesicht. Niemand sagt, dass die Liebe immer einfach ist, das hast du ja selber schon gemerkt. Aber man muss ihr manchmal in die Gänge helfen. Weißt du, es wäre mir ja wirklich völlig egal, aber du machst dich ja kaputt. Und ich bin nun mal verpflichtet, für dein Wohlergehen zu sorgen.«
Ob diese Fürsorge so weit gehen musste, da hatte ich meine Zweifel. Aber es tat unheimlich gut, jemanden um mich zu haben, dem mein einigermaßen desolater Zustand nicht egal war. Meine Eltern würden vielleicht ein paar Fragen haben, aber durch Werners Vorschlag war ich aus dem Schneider.
Wieder nickte ich bloß. In Gedanken befand ich mich bereits unterwegs und genau das spürte Werner denn auch.
»Ich fahr dich in die Firma. Wir machen deinen Urlaubsschein fertig und am Donnerstagmorgen möchte ich einen Ralf sehen, wie er ist. Nicht mehr den, der grade neben mir sitzt.«
Oha, das klang dann schon wie ein Befehl. Richtig genommen war’s auch einer. Dem durfte ich nichts entgegensetzen, denn ich wollte es mir mit Werner auf keinen Fall verscherzen. Nichts Schlimmeres als ein Ausbilder, der einen auf dem Kieker hat.
»Ok.«
Wir ließen alles stehen und liegen und fuhren los. Weit war es eh nicht, wobei ich mir auf der Fahrt meine weiteren Schritte überlegte. Als erstes musste ich an die Adresse kommen, alles andere waren Routinesachen. Fahrkarte, Fahrplan.
Freute ich mich auf einmal? Keine Ahnung, ich wurde nur ein bisschen aufgeregt, was aber unterschiedliche Ursachen haben konnte. An erster Stelle stand sowieso das Wiedersehen mit Angelo. Kam da plötzlich Sehnsucht dazu?
Was war das für ein seltsames Gefühl, das mich dann beschlich? Sicher war da auch die Angst. Furcht vor einer bitteren Enttäuschung. Aber egal, die Dinge kamen in Gang, wie auch immer.
Mein Onkel war nicht da, was für Werner aber kein Hindernis bedeutete. Er vertrat den Cheffe nämlich schon mal, wenn der außer Haus war. So hatte ich nach zwei Minuten meinen Urlaubsschein ausgefüllt und Werner kritzelte seine Unterschrift in Vertretung darunter.
Damit war ich auf alle Fälle aus dem Schneider.
»Was wirst du meinem Onkel sagen, warum ich so schnell Urlaub genommen habe?«
»Die Wahrheit, was sonst. Oder glaubst du, Herbert ist blind?«
Nein, wahrlich nicht. Er wusste zwar den Grund meines Zögerns nicht, aber dass einen gab, das wusste er schon. Und wenn Werner ihm die Sache mit Angelo stecken konnte, dann musste ich wenigstens nichts dazu sagen.
Kurz vor Zehn schneite ich zu Hause ein.
»Mein Gott, ist was passiert?«, fragte mich meine Mutter und war innerhalb Sekunden völlig aufgelöst.
Sie musterte mich, denn außer eines Unfalls konnte es kaum einen Grund geben, warum ich um diese Zeit zu Hause aufschlug.
»Nein, nicht direkt.« Ich sah ihr an, dass sie tausend Fragen auf einmal hatte.
»Ich muss endlich die Sache mit Angelo klären. Nur, der ist mittlerweile nach Frankfurt gezogen und.. ich fahr zu ihm hin. Die Firma, oder besser gesagt Werner, hat mir dafür frei gegeben.«
Noch mehr Fragen in ihrem Gesicht. Sie trocknete sich die Hände ab und nahm mich am Arm.
»So, jetzt setzt du dich dahin und ich will alles, alles hören.«
Ich schnaufte, aber da kam ich nicht drum herum. Allzu viel Neues gab ja nicht, wichtig war eben an dieser Stelle die Sache mit dem Foto. Es fiel mir nicht leicht darüber zu reden, aber ich konnte auf Verständnis hoffen. Dass ich mir nämlich dergleichen Bilder im Internet ansah, das konnten sich meine Eltern sowieso denken. Sie waren ja beileibe nicht von Gestern.
»Ein Foto? Von ihm?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher.. aber genau das will und muss ich von ihm wissen.«
Sie grübelte eine Weile, nachdem ich mit Punkt und Ende meine Rede geschlossen hatte.
»Also, dann.. Aber du wirst es möglicherweise.. gar nicht schaffen an einem Tag.«
Daran hatte ich auch schon gedacht.
»Ich hab noch was auf dem Konto. Falls ich in Frankfurt übernachten muss, das kommt schon hin.«
Erst jetzt, als ich das sagte, dämmerte mir die wahre Tragweite meines Vorhabens. Ich, ganz allein in dieser Riesenstadt. Noch nie war ich auf eigene Faust irgendwo unterwegs gewesen. Immer in Begleitung und immer alles geplant.
Das hier wurde nun eine richtige Fahrt ins Blaue. Fast jedenfalls.
Ich griff zum Telefon.
»Bach hier. Ähm.. Ralf..«
Ich war ganz schön nervös, obwohl Paul das Telefon abgenommen hatte.
»Ich möchte Angelo in Frankfurt besuchen.. aber.. könnten Sie mir bitte.. ich mein.. freundlicherweise.. die Adresse geben?«
Für Paul war ich ja immerhin kein Fremder mehr. Hatte er mich doch schon bedient und halbnackt gesehen..
»Moment bitte«, hörte ich ihn sagen.
Was wurde das nun? Musste er nachfragen, ob er das dürfe? Ich lauschte angestrengt, aber ich hörte keine Stimmen im Hintergrund. Eher sowas wie rascheln von Papier.
»Hören Sie?«
Was sollte ich sonst tun..
»Ja?«
»Kastanienallee dreizehn.«
Kurz und knapp. Kein Warum und Wieso. „Angelo, ich bin so gut wie da.“
»Vielen Dank.«
Mein Herz pochte mal wieder. »Ich hab die Adresse«, sagte ich und Mutter lächelte. Vielleicht weil sie mir ansah, dass ich einen Tick erleichtert war.
Flugs eilte ich nach oben, schmiss meine Kiste an und suchte die Adresse. Wie schön dass es Programme gibt, wo man sich die Gegend sogar via Satellitenaufnahmen vorab ansehen kann.
Rasch einen Fahrplan zusammenstellen – und dann warten. Ich hatte noch eine knappe Stunde Zeit bis mein Zug ging. Angelo anrufen, das kam nicht in Frage. Ich wollte ihn überraschen, gleichgültig wie die auch ausgehen sollte. Da er offenbar noch mit dem einrichten der Wohnung beschäftigt war, würde ich sicher nicht lange auf ihn warten müssen, sollte er nicht da sein.
Vorfreude? Angst? Ein mulmiges Gefühl hatte ich schon, alles andere wäre gelogen gewesen. Aber ich fuhr ja immerhin auch unter Befehl. Man wollte, dass ich meine Sachen in die Reihe bekam und das wollte ich nun auch.
Genauer betrachtet wäre es sogar gut, wenn ich ihn mit diesem Typen erwischen würde. Natürlich nicht in einer verfänglichen Situation, daran wollte ich nun doch nicht denken. Aber Auge in Auge, mit beiden, das wäre bestimmt nicht schlecht. Angst hin oder her, auf gewisse Dinge hatte ich von nun an keinen Einfluss mehr, es sei denn ich würde mich ankündigen. Aber das wollte ich auf keinen Fall.
»Du solltest dir sein paar Sachen mitnehmen«, rief meine Mutter zu mir hoch. Gott ja, stimmte, immerhin musste ich damit rechnen, eine Nacht in Frankfurt zu verbringen. Daran hätte ich in der Aufregung beinahe nicht gedacht.
Also, die kleine Rucksack gepackt, mit Dingen, die man eben so braucht für vierundzwanzig Stunden. Länger würde es sicher nicht dauern. Hoffte ich.
Dann noch mal kurz nachsehen, ob es in der Nähe ein Hotel oder Pension gab. Tief in meinem Inneren hoffte ich natürlich, am Abend alles geklärt zu haben. Oder dass ich, was viel gewagter gedacht war, bei Angelo übernachten konnte.
Wie nah war ich denn nun eigentlich jenem Teenie, der seinem Idol nachreist? Arg weit weg war das nicht. Sonderbar nur, dass es keine Gegenstimme gab. Die ganze Zeit nicht. Kein Wenn und Aber. Vielleicht hatte sie es ja aufgegeben.
Meine Nervosität nahm erst richtige Formen an, als ich in Biblis in den Zug stieg. Die Türen schlugen zu und die Fahrt begann. Es war eine Reise ins Ungewisse, ganz bestimmt. Es gab viel zu viel Möglichkeiten, was mich am Ende erwarten würde. Alles war drin und gleichzeitig nichts.
Nach einer knappen Stunde stand ich im Hauptbahnhof. Drückende Hitze lastete unter den überdachten Gleisen und die vielen Menschen dort machten mich eher noch nervöser. Rasch begab ich mich zur Haltestelle, mit der Tram Nummer 11 musste ich das letzte Stück meiner Reise fortsetzen. Eine Seitenstraße nach der Haltestelle, und ich war dort.
Die Gegend kam mir sicher nur deshalb so bekannt vor, weil ich sie ja schon so quasi von oben gesehen hatte. Ein schmuckes Haus, die Nummer dreizehn. Kurzzeitig dachte ich wieder an unser Gespräch, von wegen dem Aberglauben.
Ich sah mich um, aber diese Ecke lag sehr ruhig. Kein Straßenlärm, kein Kinderspielplatz, keine Schule, keine Firma. Einfach nur ein Fleckchen, um ruhig zu wohnen.
Mein Herz befand sich in Hodenbodennähe, als ich an den Eingang kam. Türschilder.. Ganz oben, provisorisch mit Kuli auf Pappe geschrieben, stand jener Name, der schon so viel Bewegung in mein Leben gebracht hatte. „A. Kassini“. Nun wollte ich wissen, ob es damit vorbei war.
Ich drückte den Klingelknopf. Es gab eine Gegensprechanlage und wenn er sich jetzt gleich..
»Hallo?«, krächzte es entsetzlich aus dem Kasten in der Hauswand.
Ich holte tief Luft. Bauch rein, Brust raus.
»Ich bin es, Ralf.«
Ließ er mich überhaupt rein? Die Sache könnte schon in dem Augenblick eine Wendung nehmen, wenn er jetzt fragen würde, was ich will.
Ich hörte ein Klicken, die Sprechanlage war aus.