Margie 38 – Ronald

Dann ertönte der Türsummer. Ein leiser Geruch nach Wäscheweich, Essen, Zigarettenrauch und anderem Kram schlug mir entgegen, gleichzeitig war die Luft in dem Hausflur angenehm kühl.
Vor mir lagen rechts und links je eine Wohnungstür, geradeaus die Treppe nach oben. Musik war zu hören, nicht übermäßig laut, aber auch keine Zimmerlautstärke mehr. Irgendwo weinte ein Baby. Meine Güte, wie konnte man so wohnen..
Dem Hausschild nach lebten hier fünf Parteien und der Lage von Angelos Klingelknopf nach zu urteilen wohnte er oben. Bedächtigen Schrittes ging ich die Treppen hoch. Auch im ersten Stock zwei Wohnungstüren, also noch eins weiter. Ein kleinerer Hund schien mich bemerkt zu haben und kläffte an der Tür.
Die Geräusche wurde leiser, die Luft stickiger. Wärme steigt nach oben, sinnierte ich. Und dann stand ich vor der einzigen Tür im zweiten Stock, weiter hoch ging es nicht mehr. Eine Dachwohnung, mutmaßte ich, da die Wände des Flurs schon schräg waren.
Welchen Geschmack hatte Angelo eigentlich? Sein Zimmer zu Hause war neutral, kein Kitsch, kein unnötiger Krimskrams in dem Sinn. Modern halt. Vielleicht erwartete mich ja nur ein einziges Zimmer, mit einem großen Bett drin.
Und ne Menge Platz für die Technik. Beleuchtung, Kamera- und Videostative. Ein Studio halt. Mein Herz pochte wild, nun ging es aufs Ganze. Alles oder Nichts.
Ich klopfte an die Tür, da es hier keine Klingel zu geben schien.
Tja, dann öffnete sie sich. Einen Spalt breit. Gut, es könnte ja immerhin mehrere Ralfs in Angelos Leben geben, wer außer ihm wusste das schon. Da musste er eben erst mal sehen welcher von denen hier draußen stand.
Eine Wolke, bestehend aus dem Geruch nach frischen, grünen Äpfeln schlug mir entgegen. Wie eine kühle Brise. Mir stockte der Atem, als die Tür weiter aufgezogen wurde. Mein Blick erfasste einen halbnackten Körper, das war so das erste was ich wahrnahm.
Dann schwarze, kurze Haare, die nass und wirr auf dem Kopf saßen. Wassertropfen glitzerten an der Nasenspitze und in langen Wimpern. Schöne, volle Lippen formten ein

»Ja, bitte?«

Kein Zweifel, der Typ aus dem Auto. Schöne Gesichter kann ich mir merken, Zweifel ausgeschlossen. Seine Stimme hatte Ähnlichkeit mit Angelos, weshalb ich das an der Sprechanlage nicht gemerkt hatte.
Aber nun hielt ich erst mal die Luft an. Welche Fragen muss man eigentlich noch stellen, wenn man an der absolut richtigen Tür steht und der absolut falsche Mann aufmacht? Noch dazu Halbnackt, wohl gerade der Dusche entsprungen.
Aber ich war nun mal da. Klein beigeben und umdrehen, das verbat mir mein Stolz. Wer konnte wissen, wozu genau das jetzt gut war. Und ich dachte an Werner, meine Eltern. Onkel Herbert würde ebenfalls sozusagen Ergebnisse haben wollen.
Mann, warum nur war das Ganze nicht allein meine Sache geblieben? Verflucht noch mal. Und wo blieb überhaupt Angelo? Lag der da hinten irgendwo im Bett? Der Gedanke drängte sich auf und machte mich zunehmend nervös.

»Ist Angelo hier?«

»Ähm, nein, der.. ist mit seinem Vater Möbel einkaufen. Aber, komm doch rein.«

Gut, er war nicht da. Wenigstens blieb mir die gefürchtete Schmach erspart. „Geh rein, du Depp. Oder willst kneifen?“ „Nein, ich kneif nicht.“ „Dann setz deinen Arsch in Bewegung, der wird nicht ewig warten bis du in die Gänge kommst.“ „Ja doch.“

Der Mensch machte die Tür weit auf und ging schon mal voraus. Nun betrat ich Angelos geheiligte Hallen. So es seine überhaupt waren. Aber mich erwartete dann kein Studio und auch keine Wohnung im gewöhnlichen Sinn. Zusammengefasst bezeichnet man das, was sich mit bot, als das blanke Chaos.

Der Fremde blieb stehen, dann hielt er mir die Hand hin.

»Ich heiße übrigens Ronald Fischer. Und.. Ralf? Richtig?«

Ich nickte und schüttelte ihm die Hand. Ein sehr schöner, angenehmer Händedruck.

»Ralf Bach«, ergänzte ich der Vollständigkeit halber.

»Ach ja, Angelo hat schon von dir erzählt.«

Ich rang nach Luft. Was hatte er denn.. über mich erzählt? Nein, nicht jetzt. Das hatte Zeit.

»Tschuldige, ich zieh mir rasch was an. Such dir einen Platz, vielleicht am besten auf dem Balkon«, sagte der Kerl, der Ronald Fischer hieß und den ich um die Zwanzig schätzte.

Vor mir Kisten und Kasten, das wirklich völlig unüberschaubare Durcheinander eines Umzugs. Mir fiel nur die Helligkeit das Raumes auf, bedingt durch die großen, schrägen Dachfenster, die hereingeklappt waren und fast den Eindruck vermittelten, man befände sich in einem Gewächshaus.
Eine Studiowohnung, ganz im Sinne des Architekten. Ach so, ich vergaß, natürlich. Die hatte sein Vater ausgesucht und unter den mir bekannten Aspekten würde Angelo keine Miete bezahlen. Garantiert war diese Wohnung Kassini’sches Eigentum.
Aber das ging mich vorerst nichts an. Viel wichtiger – was passierte denn da grade um mich herum? Dieser Fischer ließ mich in die Wohnung, als gehörte sie ihm. „Kann es sein, dass die beiden zusammen wohnen?“
Möglich. Dann war das natürlich mein letzter Besuch hier und in diesem Zusammenhang fragte ich mich, ob ich Angelo überhaupt noch einmal sehen wollte. Die männliche Gestalt tapste nackten Fußes Richtung Bad und diese Tat wurde von mir genau beobachtet.
Der Knackarsch, der sich unter dem Badetuch verbarg, sagte so einiges aus. Abgesehen davon, dass der Junge überhaupt eine fabelhafte Figur abgab. Sportler, kam mir dabei so in den Sinn. Kein Wunder, dass Angelo eine gewisse Entscheidung getroffen hatte.
„Hat der das?“
Ich ging ein paar Schritte, bahnte mir einen Weg durch die Gerätschaften in die Mitte des großen Raumes. Platz, jede Menge Platz. Und, trotz dem heillosen Durcheinander, mir gefiel diese Wohnung, auf Anhieb kann man sagen.
Natürlich fielen meine Blicke auch auf bereits ausgepackte Gegenstände. Ich mein, bestimmt hätte ich bei dem einen oder anderen Interieur gesehen, ob das von Angelo stammen könnte oder etwa Ronald gehörte. Vor allem suchte ich Wäsche.. also nicht dass ich Fetischist bin, aber ich denk das ist irgendwie normal.
Aber ich fand nichts. Einzig, ein bekannter Kasten fiel mir auf. Einsam und weitab vom Durcheinander sah ich den Geigenkasten auf einer Kommode liegen: Margie..
Auf dem unerwartet großen Balkon, der in der Dachschräge so halb eingebaut war, standen Stühle herum und ein kleiner, runder Tisch. Pappschachteln- und Becher einer hiesigen Fast-Foot-Kette lagen auf dem Boden, anscheinend das Mittagsmahl der beiden.
Damit fiel mir ein, dass ich seit dem Frühstück keinen Bissen zwischen den Zähnen gehabt hatte. Nun gut, ich war ja auch nicht zum Lunch gekommen. Vervollständigt wurde das Balkonmilieu durch Blumentöpfe- und Kästen. Scheinbar vom Vormieter zurückgelassen fristeten die paar Blümchen ein ausgesprochen ärmliches Dasein.
Ich setzte mich und zündete mir eine Zigarette an. Die Sonne brannte vom blauen Himmel und täuschte gut Wetter vor. Ich mein, das war wohl so, aber in mir war alles andere als eitel Sonnenschein.
Ich war immerhin allein mit einem zwar fremden, aber hübschen Mann in einer – noch – fremden Wohnung und das alles zusammen in einer Stadt, die ich auch nicht kannte wie meine Hosentasche.
Die Kippe schmeckte nicht, außerdem brach der Durst langsam durch. Dass ich mich wohl gefühlt hätte, nein, das konnte ich keinesfalls behaupten.

Dann kam Ronald auf den Balkon. Nur in Shorts. Gut, es war heiß genug um mit Nichts herumlaufen zu können, aber wenn man einen Gast hat, ist ein Hemd.. „Spinnst du?“ Ja, mag sein. Ursprung meiner Meinung, man könnte sich ja etwas gesitteter anziehen, lag einzig darin, weil es mir schwer fiel meinen Blick von dem schönen Oberkörper und dem Sixpack zu nehmen.
Gleichzeitig war ich war wütend und konnte es nicht mal zeigen. Das heißt, ich wollte es nicht. Erst die Lage sondieren was hier abging, dann konnte ich ja immer noch rotieren.

»Möchtest du was trinken?«, wurde ich gefragt.

Wie schön, man war sogar um mein leibliches Wohl bemüht.

»Ja.«

»Und … was?«

»Ein Bier wäre jetzt nicht schlecht«, log ich.

Das war das dümmste was ich auf leeren Magen bei der Hitze machen konnte, aber nur so würde ich dem drohenden, innerlichen Kollaps entgehen.

»Klar. Kommt sofort.«

Wenige Augenblicke später stellte er mir das gewünschte Getränk hin und setzte sich gegenüber. Mittlerweile hatte ich mir so einigermaßen zurechtgelegt, wie ich anfangen wollte. Eigentlich war das die Chance schlechthin: Angelo konnte mich nicht unterbrechen und so würde ich ganz bestimmt an die Wahrheit kommen.
Ich nahm einen großen Schluck und lehnte mich dann lässig zurück. Ich hoffte, dadurch meine Aufregung besser verbergen zu können. Denn die war wirklich am Anschlag.
So betrachtete ich mir meinen Gastgeber ziemlich genau.
Aber wie ich schon einmal bemerkt hatte, er war niemand den man gern eine Nacht allein ließ. Geschmack hatte Angelo, beneidenswert eigentlich schon. Na ja, für ihn war es mit Sicherheit kein Problem an diese Sahneschnitte zu kommen. Aber das gehörte nun nicht an diese Stelle.

»Kennst du Angelo näher?«, begann ich meine Fragerunde.

Sicher war das ne blöde Frage, aber ich hatte keinen Bock auf langes Herumgerede. Übers Wetter im Allgemeinen und die Wohnung im Besonderen konnten wir immer noch quatschen. Jetzt erst mal das Eingemachte.

Ronald nahm sich eine Zigarette aus einer Schachtel auf dem Tisch. Angelos Marke..

»Nun, was heißt näher. Wir sind befreundet, ja. Und du?«

Befreundet. Dieses Wort ist ziemlich schwammig, da kann nämlich alles drin sein, sogar das Bett.

»Ich bin auch mit ihm befreundet.«

Der Junge nickte.

»Bist du hier aus Frankfurt..«

Dann rieb er sich plötzlich das Kinn und starrte mich an.

»Aber sag mal, kenn ich dich nicht?«

Huch, jetzt wurde es verfänglich. Wenn er ein guter Beobachter war, dann gab’s ein paar Stellen..

»Möglich«, antwortete ich nur und merkte, wie die Rädchen in seinem ohne Zweifel schönen Kopf herumsausten.

Er dachte sehr angestrengt nach. Mal sehen, wie gut sein Erinnerungsvermögen war.

»Doch, ja«, sagte er und schnippte mit den Fingern.

»Das war neulich, als ich bei Angelo war. Du standest da mit dem Fahrrad am Straßenrand. Stimmt’s?«

Nun, Leugnen half ja wohl keinem von uns beiden, zudem, Hut ab. Es waren nur ein paar Sekunden und trotzdem wusste er es noch. Bin ich eine derart auffällige Person?

»Ja, das stimmt.«

Gut, damit hatte ich mich verraten, denn nun wusste er dass ich auch ihn kennen musste. Denn wer merkt sich schon irgendwelche fremden Leute in Autos oder an Straßenrändern..? Aber er ging auf diese denkwürdige Begegnung gar nicht näher ein.

»Hm. Dann wohnst du.. da wo Angelo..«

»Im gleichen Ort, ja.«

Dann deutete er in die Wohnung.

»Tja, wie du siehst, wir sind noch voll im Umzug.«

»Ich seh’s«, brummte ich missmutig.

„Wir“ sagte er. So ganz einfach und selbstverständlich.

»Kennt ihr euch schon länger?«, wollte, nein musste ich unbedingt wissen.

»Eigentlich nicht. Ein paar Wochen oder so.«

„Oder so.“ Das klang nun nicht, als würde er die Tage zählen. Dabei tut man das doch wenn man verliebt ist..

»Und.. dann zieht ihr schon zusammen?«

Ich wusste, das war eine sehr private Frage und im Grunde sollte ich sie gar nicht stellen. Aber nur so konnte ich herausfinden, was hier überhaupt gespielt wurde.

Er lachte. Ja, das stand ihm übrigens gut. Grübchen wie Angelo.. Die beiden waren eigentlich fast wie Brüder, stellte ich so nebenbei fest.

»Nein, wir ziehen nicht zusammen. Ich helfe Angelo nur beim umziehen. Wohne eine Straße weiter.«

„Ich dachte es mir“, wollte ich beinahe sagen und damit auf sein Nummernschild am Auto hinweisen. Aber ich atmete zunächst einmal auf, obwohl ich noch nicht im grünen Bereich war; dass sie nicht zusammenzogen musste ja nichts heißen.
Im Gegenteil: So war’s ja viel leichter zu tarnen. Mein nächster Schritt musste deshalb daraus bestehen, die Beziehung der beiden untereinander zur durchleuchten. „Aber mach keinen Scheiß.“ „Nein, schon nicht.“

»Was.. hat Angelo denn so über mich erzählt?«

Vielleicht kam ich auf diese Schiene an eine entsprechende Information.

»Ihr hattet wohl diesen schweren Unfall.«

»Oh ja, das war schon so ne Sache.«

»Eigentlich.. sonst nichts.«

Sonst nichts? Kein Kuss erwähnt, Badefreuden? Behandlung von Sonnenbränden und deren Folgen? Das war nicht mehr als die Manske auch wusste. Also ging ich zunächst davon aus, dass Ronald keine Ahnung hatte was Angelo und ich sonst noch so getrieben hatten.
„Krieg raus ob er schwul ist. Dann ist die Sache klar.“ „Geil. Hey, Ronnybaby, bist auch schwul wie wir?“ „Haha.“ „Ja wie denn sonst?“ „Fingerspitzengefühl. Zufällig schon mal was davon gehört?“

»Und.. du wohnst allein?«

Sowas konnte man ja fragen.

Er lachte wieder.

»Ja, seit zwei Jahren.«

Wie, zwei Jahre? Ich spürte langsam das Bier, von dem ich nun den letzten verbleibenden Schluck die Kehle hinunterschickte. Dann setzte ich meinen berühmt-berüchtigten Frageblick auf.

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