Margie 44 – Nachts, im 5. Stock

Ein laues Lüftchen regte sich und eigentlich war meine plötzlich aufkommende Idee, den Rest der Nacht hier draußen zu bleiben, so schlecht gar nicht. Müde, ja, war ich, aber eben noch nicht tot.
Also ging ich ins Wohnzimmer, brachte die angebrochene Flasche in den Kühlschrank, schnappte auf dem Rückweg zum Balkon mein Glas, setzte mich da draußen auf einen der Stühle und legte meine Füße hoch, auf das Geländer. Genau. Den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, das war jetzt angebracht. An nichts denken, vor allem erst mal keine Angst haben, dass Sebastian nach mir greift.

Ich lehnte meinen Kopf weit zurück, eröffnete mir somit den Blick auf die Sterne. Gut, man sah hier in der Nähe der Großstadt nur die hellsten, aber immerhin. Das letzte Mal sah ich zu ihnen hoch, als ich mit Angelo auf der Terrasse saß. Ja, ein schöner, sehr schöner Abend. Ich wollte das wiederhaben, egal wie. Gewalt ging zwar nicht, aber aufgeben nur, wenn es wirklich keine Aussicht auf Erfolg gab. Und bis zu diesem Moment glaubte ich einfach an den roten Teppich. „Er wird ein berühmter Solist.“ „Ja, aber nicht bei Willard. Das soll er gefälligst anderen überlassen.“

Gerade als meine Augen zufallen wollten, nahm ich einen Lichtschweif wahr. Droben, im Weltall über mir. Dünn und schwach war er erst, wurde aber schnell heller während er so dahinraste, sich dabei zu in einer grell leuchtenden Kugel entwickelte und dann in einem kleinen Funkenregen endete. Im selben Atemzug wünschte ich mir was. Ja, man soll das, wenn man eine Sternschnuppe sieht. „Wenn du nicht an schwarze Katzen und Freitag, den 13. glaubst, dann ist das jetzt auch Unfug.“ „Meine Sache.“ Dummerweise waren es gleich mehrere Wünsche: Nicht krank werden, viel Geld und ein langes Leben. Zusammen mit Angelo. Damit war ich auf der sicheren Seite, denn eins davon sollte ja wohl in Erfüllung gehen. Allerdings wäre mir das Letztere am liebsten gewesen.

Die Gedanken begannen sich wieder zu drehen, obwohl ich diesem Reigen eigentlich keinen Platz mehr einräumen wollte. Wenigstens hier und jetzt nicht.
Glas leer.. Ich hatte es gar nicht gemerkt. Ob Sebastian huft, wenn ich mich so einfach über den Rest der Flasche hermachen würde? Sicher nicht. Sekt steht außerdem ab, der schmeckt jeden Tag fader. Musste ja auch nicht sein.
Schade, dass da hier keinen Paul gab, dann müsste ich nicht wieder aufstehen. Aber so blieb mir keine andere Wahl.

Gerade als ich in die Küche einschwenken wollte, erkannte ich eine Gestalt in der Schlafzimmertür. Gut, es gab keine andere Möglichkeit, das musste Sebastian sein.
Vielleicht konnte er nicht schlafen, was natürlich sehr bedauerlich für ihn war. Oh, ich kannte nämlich das Ergebnis schlafloser Nächte sehr gut; der folgende Tag war von vorneherein im Eimer.

Er stand nur da, so im Halbdunkel. Ob er doch.. auf mich gewartet hatte? »Kannst nicht schlafen?«, fragte er mich dann leise.

»Nicht wirklich«, log ich. Natürlich wäre ich weggepennt wenn ich mich einfach nur hingelegt hätte. »Ich.. wollte mir noch etwas zu trinken holen.«

»Diese verdammte Hitze. Ich trink noch was mit – falls es dir recht ist.«

Ich lachte. »Hey, wessen Wohnung ist das denn?«

Er kam dann zu mir und zusammen betraten wir die Küche. Sebastian sah wirklich total kaputt aus. „Guck ihn dir an. Der hat doch was.. gefällt dir das nicht?“ Was hatte er denn? Eine recht passable Figur, ohne Zweifel. Aber zu alt. „Doch nur, weil du es weißt.“ „Nein, verdammt noch mal. Ich will aber nichts von ihm.“

Er nahm sein Glas von der Spüle, während ich die Flasche aus dem Kühlschrank fischte. Ich schenkte uns ein. »Wird ein blöder Tag für dich. Ich kenn das.«

»Hm, ich überlege grad, ob ich überhaupt arbeiten gehen soll.«

Au fein. Das würde ich tatkräftig unterstützen, dann war ich nämlich nicht alleine. »Wenn das möglich ist..«

Sebastian setzte sich auf einen Küchenstuhl und fuhr mit den Händen nachdenklich durch seine Haare. »Möglich ist das schon. Wirklich wichtige Dinge gibt’s erst ab Montag, wenn Angelo auftaucht.«

»Oh. Gibt das etwa einen großen Empfang?«

Sebastian kicherte. »Nee, noch nicht. Aber er wird erwartet, dummerweise haben wir im Orchester zwei Ausfälle. Angelo muss also so schnell wie möglich einspringen.«

Aha. Zwar noch kein roter Teppich, aber immerhin, alle haben schließlich mal klein angefangen.

»Ähm, etwas anderes: Wie nennen dich eigentlich deine Freunde?« Das war ja nun nicht allzu anzüglich. Allerdings bekundete ich ihm damit so durch die Blumen, dass ich ihn mochte.

»Die sagen seit jeher Sebi zu mir. Einige rufen aber auch Basti. Kannst es dir aussuchen, mir sind beide lieb.«

Ich hielt das Glas zu ihm hin. »Na denn, Prost Sebi.«

Gläserklirren.

Türklingel. Ja, kein Traum, es klingelte wirklich. Wir sahen uns völlig ratlos an.

»Erwartest du jemanden? Es ist gleich Mitternacht..«

Sebastian saß da wie aus Stein gemeißelt und starrte mich an. »Ich hab nicht den leisesten Schimmer.«

Wieder die Klingel.

»Willst du.. nicht nachsehen, wer das ist? «

Nichts. Sebastian rührte sich nicht. »Hallo? Bist du noch da?«

Erst jetzt bemerkte ich so etwas wie Leben in ihm. Er stand auf und ging hinaus in den Flur, ohne dabei in sonderliche Eile zu verfallen.

Ich hörte, dass er „Ja?“ in die Sprechanlage sagte, aber nicht, was als Antwort kam. Beobachten konnte ich nur, dass er den Knopf für den Türöffner drückte. Also, ohne Zweifel, da kam gleich jemand. Sebastian öffnete die Tür einen Spalt und kam zurück in die Küche.

»Wer ist das denn, mitten in der Nacht?«

»Ronald.«

Aha. Weckte dieser Name grade Assoziationen in meinem müden Geist und Körper? Nein, musste es nicht. Ronald ordnete ich spontan in die Liga „Unparteiischer“ ein. So entsetzlich müde, ihm in Sachen Schwulsein nicht die Leviten zu lesen zu können, war ich nun nicht mehr. Im Gegenteil. In anbetracht der Tatsache, dass kein Wecker weit und breit für ein schnelles Ende dieser Nacht sorgen würde sowie der Umstand, dass ich durch die Alkoholika eher Angriffslustig war, beflügelte mich wieder. Sollte er kommen. Kein Gift, keine Galle. In einfach erst mal anhören, falls er etwas zu sagen hatte.
Gelassen nahm ich deswegen mein Glas. »Ich geh auf den Balkon, mir ist nach einer Zigarette.«

Sebastian nickte nur und schon befand ich mich wieder unter freiem Himmel. Ich setzte mich auf jenen Stuhl und parkte meine Haxen auf dem Geländer. Vielleicht musste ich ja überhaupt nichts sagen. Nur wenn es um Angelo ging, da würde ich mich dann schon einmischen. Womöglich verschwand Ronald auf der Stelle, wenn er mich sah. Immerhin hatte ich den Eindruck, der Arme leidet unter einer Schwulenallergie. Alles möglich. Und mir egal. Genüsslich steckte ich mir eine Kippe an und nippte an dem Glas. Alles weitere würde man eben sehen.

Ich hörte die Abschlusstür, Ronald musste in der Wohnung sein. Stimmen. Leise, nicht verständlich für mich da draußen. Aber der Ton blieb gleich laut. Also gab’s anscheinend keine Eskalation. Dann war Ruhe, gespenstische Ruhe. Das machte mich etwas unruhig, erinnerte mich an den Vorgang in Angelos Wohnung.

»Guten Abend«, vernahm ich dann. Ronalds Stimme beschallte mich von hinten.

Langsam drehte ich mich zu ihm um. »Hallo Ronald.« „Bleib bloß freundlich. Er hat dir nichts getan und Angelo nicht mal angerührt.“ Das war es, was mich zum Glück zutiefst beruhigte. Wäre er mein Rivale, hätte ich bereits jenen Müllcontainer da unten ausgesucht, auf dem sein sündiger Körper aufschlagen würde. Aber so gab’s überhaupt keinen Grund. Er konnte mich verbal angreifen ja, aber ich würde drüberstehen, das spürte ich.

Auch er sah müde aus. Abgekämpft. Was würden gleich für Fragen kommen? Warum ich hier bin? Warum ich schwul bin? Ob ich Angelo damit angesteckt habe und wenn ja, warum? Weil’s ja in manchen Köpfen noch ne Krankheit ist.. Keine Ahnung. Ich würde es gleich wissen, falls er überhaupt mit mir reden wollte. Er war ja wohl nur wegen Sebastian gekommen.

»Ich.. ich wusste nicht, dass du hier bist..«

Klar, woher auch. Ich lächelte. »Und ich dachte nicht, dass du kommst.« Das war ein dummer Spruch, aber mir fiel nichts besseres ein.

Sein antwortendes Lächeln kam leicht gequält herüber.

Sebastian trat zu uns auf den Balkon, ein weiteres Glas in der Hand. Was wurde das nun? Ein spätes Treffen der besonderen Art?

Ronald setzte sich zu mir an den Tisch, während Sebastian noch mal im Zimmer verschwand.

»Ralf.. also.. ich glaub, ich hab mich saublöd benommen heut Mittag.«

Hoppla, ich wurde wach, hellwach. »Aber mir gegenüber doch nicht?«

»Nein. Angelo.. ich hab.. ich hab ihn so fertig gemacht, nachdem du weg warst.«

Oh weh. Da plagten jemand die Gewissensbisse. Nun gut, immerhin ging es trotz allem um Angelo und ich war scheinbar überhaupt kein Thema. Noch nicht, jedenfalls. »Was.. hastn angestellt?«

Sebastian kam zurück, mit so ner kleinen Glaswanne, bunte Steinchen und zwei Teelichter waren da drin. Er stellte sie auf den Tisch und sofort wurde es durch das Licht der Kerzen heimelig. Ronalds Augen spiegelten das weiche Licht wider und mir wurde ganz anders. Ja, diese gewisse Ähnlichkeit mit Angelo.. hier wurde sie wieder deutlicher. Meine Müdigkeit flatterte allmählich davon.

»Ich hab ja.. nicht gewusst dass er schwul ist. Ich mein, das stört mich nicht.. aber er hätte es mir sagen müssen. Ich war auf einmal so wütend.. also nicht auf seine Gefühle. Ich dachte, wir wären Freunde geworden. Haben viel zusammen gemacht, waren sogar mal eine Nacht lang am Silbersee. Er kann so schön erzählen, wie du sicher weißt. Und er hat mir vorgeschwärmt, dass er sicher bald berühmt sein würde.. Aber ich empfinde für ihn nur das, was.. also was normale Freunde so füreinander empfinden. Es war eben.. ein Schock für mich. Bitte versteh das jetzt nicht falsch.«

Aha, Felix ließ grüßen und die Sache mit der Nacht war endlich geklärt. Berühmt werden.. hoffentlich nicht ohne Margie. »Schon nicht. Und nun habt ihr Krach deswegen«, mutmaßte ich.

»Ja. Er hat so giftig reagiert.. dabei wollte ich doch nur wissen, warum er es mir nicht gesagt hat. So ergab eben ein Wort das andere. Ich.. so kannte ich ihn überhaupt nicht.«

Aha, Angelos Dickkopf war durchgebrochen. Ich nippte an meinem Glas, dann hob ich es Ronald hin. »Komm, das wird wieder.«

Wir stießen an und ich fuhr fort: »Hör mal, ich kenne keinen Schwulen, der ein Schild um den Hals trägt, wo das draufsteht. Vielleicht war das einfach nur noch zu früh. Schon mal dran gedacht, dass ein überstürztes Coming Out Freundschaften zerstören kann? Im übrigen, ihr wart doch.. in diesem Schwulenfilm.. ist dir denn dabei so gar nichts eingefallen?« Nun war ich aber wirklich sehr gespannt.

»Nein. Angelo schwärmte mir von der Musik darin vor. Und.. er sagte auch, dass nicht nur ein Film für Schwule sei. Da gingen alle rein. Aber.. woher weißt du das überhaupt?«

Dass es mir Angelo erzählt hatte, das konnte ich nicht bringen. Also blieb ich bei der Wahrheit. »Ein paar Freunde von mir haben euch gesehen.« Also eins war für mich klar: Wenn jemand Schwule eklig findet, geht er auf keinen Fall in so einen Schmachtfetzen. Dennoch, mir kam Ronny dann doch ein bisschen arg naiv daher. »Also, ich glaub in deinem Fall wird er eine Entschuldigung annehmen.«

»Meinst du?«

Er wollte gar nicht wissen, woher meine Freunde sie kannten. Auch recht. »Na ja, ich würde zwar nicht grade meine Hand dafür ins Feuer legen, aber ich denke schon.«

»Und.. was ist.. mit euch?«

»Mit Angelo und mir?« Das war eine sehr gute Frage, auf die ich liebend gern eine Antwort gewusst hätte. »Ich fürchte, er ist ziemlich sauer weil ich ja sozusagen der Grund für euren Streit bin.«

»Das.. tut mir leid.«

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